Kapitel 16

 

 

 

Mike hatte tatsächlich bei Lena übernachtet und Lena war sehr froh darüber. Seine Gegenwart hatte sie abgelenkt und beruhigt, sodass sie tief und traumlos geschlafen hatte.

Als sie am nächsten Morgen gemeinsam in die Küche schlurften, rutschte Lenas Mutter beinahe die Kaffeetasse aus der Hand. Für Lena war Mike so selbstverständlich eine Art Bruder, dass sie erst jetzt daran dachte, wie das auf ihre Mutter wirken musste.

»Oh, Mike, das ist ja eine Überraschung.«

»Keine Sorge, Greta. Ich bin nur in meiner Eigenschaft als beste Freundin hier«, sagte Mike zwinkernd.

Lenas Mutter lachte, aber sie wirkte ein wenig enttäuscht. Lena rollte mit den Augen und ging zum Wasserkocher, um sich einen Tee zu machen.

»Habt ihr heute was Besonderes vor?«, fragte ihre Mutter, während sie Mike eine Tasse Kaffee einschenkte.

»Ja, wir wollen ins Stadtarchiv.«

»Ach? Wieso das denn?«

»Frau Hofstetter hat uns ein Referat aufgegeben und meinte, dass wir im Stadtarchiv vielleicht Informationen finden«, erklärte Lena.

»Ich hoffe nur, dass das Archiv samstags geöffnet hat«, sagte Mike zwischen zwei Schlucken Kaffee.

»Bestimmt. Der Archivar ist ein Workaholic. Er ist eigentlich immer da. Er freut sich so über Besucher, dass er sogar seine Privatnummer angeschrieben hat, falls jemand außerhalb der Öffnungszeiten etwas nachschauen möchte. Merkwürdiger Kerl.«

Mike kicherte. »Das nenne ich Einsatz für die Stadt. Das treibt dem Bürgermeister sicher Tränen der Rührung in die Augen.«

Ihre Mutter fiel in Mikes Lachen ein, ebenso wie Lena. Sie konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wann sie sich das letzte Mal so entspannt mit ihrer Mutter unterhalten hatte.

Wenig später schnappten sie sich ihre Räder – Lena hatte ihren kaputten Gepäckträger vor ihrer Mutter geheim gehalten, um keine Fragen beantworten zu müssen – und fuhren in die Stadt.

»Schade, dass es auf dem Schloss keine Bücher darüber gibt. Das wäre viel einfacher gewesen.« Lena keuchte bei jedem leichten Anstieg; die schlaflose Nacht steckte ihr immer noch in den Knochen.

»Vielleicht ist das auch gut so. Irgendwie scheint das Schloss keine gute Umgebung für dich zu sein.« Mike sah starr nach vorn auf die Straße.

»Wie meinst du das?«

»Du wurdest fast von einem … Bären gefressen, reicht das nicht? Und das war schon das zweite merkwürdige Ereignis, da war ja noch der Schatten im Wald. Außerdem stehst du in letzter Zeit total neben dir. Du wirkst so niedergeschlagen, seit du immer dort rumhängst.«

Lena biss sich auf die Lippen. Mike hatte es also auch gemerkt. Sie überlegte, ob sie ihm von dem Bild erzählen sollte, das schließlich hauptsächlich an ihrer Niedergeschlagenheit schuld war. Ob ihn das überzeugt hätte, dass das Schloss ihr nicht schadete? Wohl eher im Gegenteil.

»Du weißt doch, ich schlafe einfach so schlecht zurzeit. Ich mache mir so viele Gedanken wegen Cay und dem Stipendium.«

»Ich weiß. Nimm es mir nicht übel, aber vielleicht solltest du dir noch mal überlegen, ob du Cay wirklich wiedersehen solltest. Außer im Kurses, meine ich.«

Lena trat in die Bremse und blieb mitten auf der Landstraße stehen. »Willst du mir jetzt auch noch Vorschriften machen? Da musst du dich hinten anstellen, falls du es noch nicht gemerkt hast.«

Mike seufzte. »Ich will dir gar nichts vorschreiben, ich sage nur meine Meinung. Ich erkenne dich in letzter Zeit manchmal gar nicht wieder, das ist alles. Ich finde es nicht richtig von ihm, dass er dich in so eine Zwickmühle bringt. Er als der Ältere sollte sich zurückhalten.« Er lächelte Lena schief an. »So, jetzt hab ich das gesagt und jetzt sage ich dazu nichts mehr, es sei denn, du fragst mich. Okay?«

Mike stieg auf und fuhr weiter, aber Lena verharrte in Gedanken versunken auf der Straße, bis ein Auto laut hupend an ihr vorbei raste und sie fast vor Schreck in den Straßengraben gefallen wäre.

Es war ja nicht so, als hätte sie sich nicht schon darüber Gedanken gemacht, nur dass sie das nicht weiterbrachte. Lena stieg wieder auf und radelte Mike nach.

Sie beschloss, das Thema zu verdrängen so gut es ging. Sie wollte sich einfach ablenken und nicht mehr an das komische Monster denken, nicht an Cay, der allem Anschein nach ein Magier war, und vor allem nicht an das Bild.

Das verdammte Bild. Wenn sie doch nur hätte glauben können, dass alles nur Einbildung gewesen war. Das Problem war nur, dass ein untrüglicher Beweis für alles vor ihrer Nase baumelte. Der kleine goldene Drache. Sie löste eine Hand vom Lenker und warf den Anhänger auf ihren Rücken, damit sie ihn nicht ständig sah.

Bald erreichten sie die Stadt und ließen ihre Fahrräder vor dem Friedhof stehen. Lena warf einen kurzen Blick hinüber zum Grab ihrer Großmutter. Vielleicht würde sie später noch einen Abstecher hierher machen. Es war schon ziemlich lange her, dass sie das letzte Mal hier gewesen war. Das immerhin hatte sie Cay zu verdanken. Zumindest gab es sehr viele Leute in ihrem Umfeld, die es als positiv einstufen würden, dass sie nicht mehr dauernd auf dem Friedhof anzutreffen war.

»Lena, wo bleibst du?«, rief Mike. Er war schon zum Stadttor hinaufgegangen und stand bereits mit einem Bein in der Fußgängerzone.

»Ich komme schon.«

Bald erreichten sie das Rathaus. Es war eine protzige Miniaturausgabe der Rathäuser, wie man sie aus großen Städten kannte, mit gotischen Spitztürmchen und Wasserspeiern.

Das Stadtarchiv schmiegte sich auf einer Seite klein und schmal an den Sandstein des Rathauses, als wollte es keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Man konnte es beinahe für einen Erker des anderen Gebäudes halten. Es hatte jedoch einen eigenen Eingang, und wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass die Stockwerke auf einer anderen Höhe lagen als die des Rathauses. Lena ging zum Häuschen und zeigte auf die niedrige Tür, an der ein Schild mit den Öffnungszeiten hing. »Guck mal, da steht echt die Telefonnummer von dem Typen drauf. Verrückt.«

»Na, dann gehen wir mal rein.« Mike drückte die schwere Tür auf. Im Inneren des kleinen Hauses roch es nach altem Holz und Pergament. Eine steile, enge Treppe führte in die oberen Stockwerke. Neben der Treppe war eine Tür, die so niedrig war, dass sogar Lena den Kopf ein wenig einziehen musste, um hindurchzugehen. Archiv, Anmeldung stand darauf.

In dem kleinen dunklen Raum saß ein Mann an einem Schreibtisch, der so vor Dokumenten überquoll, dass man nicht einmal sagen konnte, aus welchem Material der Tisch bestand. Der Mann wirkte uralt und zeigte mit keiner Regung, dass er sie gehört hatte. Tatsächlich bewegte er sich überhaupt nicht. Unwillkürlich kontrollierte Lena, ob er noch atmete, und registrierte erleichtert das Heben und Senken seiner Brust.

Mike räusperte sich. »Grüß Gott.«

Der Mann schrak auf. »Oh, Besuch, wie schön.« Eifrig stand er auf und ging um den Schreibtisch herum. Lena hatte erwartet, dass er sich langsam und vielleicht sogar gebückt fortbewegen würde, aber seine Schritte waren geschmeidig und elegant.

»Ich bin Eckart Obermaier, der Archivar.«

»Das ist meine Freundin Lena und ich bin Mike.«

»Sehr schön, sehr schön. Wie kann ich euch helfen?«

»Wir suchen Hinweise zu ein paar Ereignissen aus dem Mittelalter.«

»Ach, das freut mich aber. Die meisten Leute, die herkommen, wollen immer nur wissen, wo die öffentliche Toilette ist.«

Mike lachte und Lena kicherte. »Die denken wohl, das ist die Stadtinformation.«

»Alles dasselbe, oder?«, sagte Mike.

Der Archivar grinste gutmütig. »Worum geht es denn genau?«

»Wir suchen Informationen über diese seltsamen Todesfälle um 1500.«

Schlagartig verschwand das Lächeln aus dem Gesicht des Mannes und sein Blick wurde hart. »Dazu kann ich euch nichts sagen.«

Enttäuscht sah Lena ihn an. »Wirklich? Ich hatte so gehofft, dass wir hier etwas finden. Nachdem ich schon mit dem Schloss Pech hatte …«

Warum kam es Lena so vor, als wären die Augen des Archivars viel zu jung für sein Gesicht? Oder war es nur der wachsame Blick, den sie plötzlich ausstrahlten?

»Welches Schloss?«, fragte er.

»Das mit dem Wasserfall. Ich weiß, es ist nicht sehr bekannt, aber Sie als Stadtarchivar kennen es vielleicht?«

»Oh, ich kenne das Schloss. Sehr gut sogar. Was haben Sie damit zu tun, junge Dame?« Bildete sie sich den empörten Klang seiner Stimme nur ein?

»Ich helfe dort jemandem bei einem Projekt. Es geht übrigens um das Archivieren von Büchern.« Sie lächelte Herrn Obermaier an.

Für einen kurzen Moment blitzte etwas in seinen Augen auf. Bevor Lena sich darüber klar werden konnte, was es war, lächelte er schon wieder. »Kommen Sie, ein bisschen was kann ich Ihnen zeigen. Nicht zu den Morden, darüber weiß ich nichts, aber zu dem Schloss. Natürlich nur, wenn es Sie interessiert.«

Zwar war es nicht das, weswegen sie gekommen waren, aber natürlich interessierte es sie brennend. Lena nickte. »Das wäre toll.«

Der Archivar ging an ihnen vorbei und stieg die steile Treppe hinauf. Er führte sie mehrere Stockwerke nach oben bis unter das Dach.

»Das ist eine etwas ungewöhnliche Anfrage, die bekommen wir so gut wie nie. Deswegen sind die Unterlagen hier oben.«

Lena verkniff sich einen Kommentar. Es wunderte sie überhaupt nicht, dass niemand nach dem Schloss fragte. Niemand kannte es. Im Internet gab es nichts dazu. Wer sollte sich also dafür interessieren?

Mit einem alten Eisenschlüssel schloss der Archivar eine schwere Tür mit rostigen Metallbeschlägen auf. Dahinter lag ein düsterer Raum, in dessen Mitte ein Lesepult stand. Die Wände waren komplett mit Regalen und Aktenschränken zugestellt. Herr Obermaier ging zu einem der Regale und holte eine alte Metallkiste heraus. Die Scharniere der Kiste quietschten, als er sie aufschloss und ein einzelnes, vergilbtes Blatt herausholte. Er reichte Lena einen Füller. »Da müssen Sie sich eintragen. Mit Datum und Uhrzeit.«

Lena nahm den Füller und schrieb ihren Namen sorgfältig in schwarzer Tinte in die erste freie Zeile. Der letzte Eintrag stammte aus den Fünfzigerjahren.

»Das wollte aber lange niemand mehr sehen.«

Der Archivar nickte und nahm den Zettel wieder an sich. Dann stellte er die Kiste vor Lena auf das Lesepult. Vorsichtig blickte Lena in die Kiste und wollte gerade hineingreifen, als der Archivar ihre Hand beiseite schubste. Empört sah sie ihn an.

»Entschuldigung, aber das dürfen Sie natürlich nicht.« Er zog sich weiße Handschuhe an, legte ein weißes Papier auf das Lesepult und hob vorsichtig einen Bogen vergilbtes Papier aus der Metallkassette. »Die Säure Ihrer Haut schadet dem Papier. Ich habe ohnehin kaum Budget, um meine Schätze zu schützen.«

Vor Lena lag nun ein Dokument, offensichtlich sehr alt und in Latein verfasst, aber auch wenn es auf Deutsch gewesen wäre, hätte sie die verschnörkelten Buchstaben kaum entziffern können.

»Was ist das?«

»Das ist eine Besitzurkunde. Sie stammt aus dem Jahr 1475 und ist auf den damaligen Schlossherrn ausgestellt. Richard von Hohengreif. Das ist das letzte offizielle Dokument, das es von dem Schloss gibt.«

»Was? Aber das kann doch nicht sein, da muss es doch was im Grundbuchamt geben …«, sagte Mike.

Der Archivar schüttelte den Kopf. »Nein, da war ich schon, weil ich es so unglaublich fand. Es gibt nichts.« Er legte das Dokument vorsichtig wieder in die Kassette und holte ein anderes Blatt heraus. Es war die Miniatur einer Frau. Sie war in dem für das Mittelalter typischen, etwas ungelenk wirkenden Stil gemalt. Die Haare der Frau waren von einem Schleier bedeckt und sie hielt einen Rosenkranz in den Händen. Irgendwie kam sie Lena bekannt vor, aber ihr Gesicht war einfach zu klein, um zu sagen wo sie sie vielleicht schon mal gesehen hatte.

»Wunderschön, nicht wahr? Das ist Catherine von Hohengreif.«

»Sie war Engländerin«, sagte er auf Lenas fragenden Blick hin. »Ist aus England ausgewandert, war damals kein gutes Pflaster für Katholiken. Sie hat dann Richard von Hohengreif geheiratet. Die Miniatur wurde ein paar Jahre danach gemalt.«

»Hatten sie denn Kinder? Sicher lässt sich doch die Linie zurückverfolgen.«

Der Archivar schüttelte den Kopf. »Nein. Zwar hatten sie Kinder, aber das Einzige, was wir wissen, ist, dass alle ihre Kinder das Kleinkindalter überlebt haben. Das war für die damalige Zeit recht ungewöhnlich. Abgesehen davon ist das Bild von Catherine die letzte Information, die wir zum Schloss und der Familie von Hohengreif haben.«

Lena runzelte die Stirn. »Merkwürdig.«

Der Archivar zuckte die Achseln. »Nun ja, es ist möglich, dass die Dokumente entwendet oder bei einem Brand oder Wassereinbruch zerstört wurden.« Lena nickte nachdenklich. Cay hatte ja ebenfalls einen Brand erwähnt. Möglich, dass dabei auch alle Dokumente über das Schloss und die Familie zerstört worden waren.

Herr Obermaier räumte die Sachen wieder in die Kiste und schloss sie ab.

»Das war alles. Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht bei Ihrem Schulprojekt helfen kann, aber wenn Sie noch einmal etwas brauchen, können Sie mich gern anrufen. Tag und Nacht.« Er zwinkerte, aber seinem Blick nach meinte er das Angebot durchaus ernst.

Kurze Zeit später verließen Lena und Mike das Archiv.

»Schade. Was machen wir denn jetzt?«

»Wir könnten uns einfach etwas ausdenken«, schlug Mike vor.

Lena kicherte. »Ich glaube, das würde einer genaueren Prüfung nicht standhalten.«

»Was dann?«

Einen Augenblick erwog Lena, die Geschichte des Schlosses in einem Aufsatz zu verarbeiten. Nur hatte sie das Gefühl, dass das dem Schlossherrn nicht recht gewesen wäre. Es fühlte sich so an, als hätte man ihnen diese Informationen im Vertrauen gegeben, auch wenn der Archivar das nicht so deutlich gesagt hatte. Außerdem waren die Informationen auch ziemlich mager und würden nicht für ein ganzes Referat herhalten.

Mike blieb stehen. »Er hat uns angelogen.«

»Wieso, was meinst du?«

»Ist dir nicht aufgefallen, dass er meinte, er weiß von den Morden nichts? Das Wort Mord haben wir aber nicht benutzt.«

Lena winkte ab. »Ach, das bedeutet doch nur, dass er nichts Genaueres weiß. Er weiß bestimmt auch alles, was Frau Hofstetter uns erzählt hat.«

»Ja, das mag schon sein«, sagte Mike. Er sah nicht überzeugt aus.

Schweigend gingen sie durch die Fußgängerzone.

»Gehen wir noch ein Eis essen?«, fragte Mike.

Instinktiv wollte Lena ablehnen, denn sie hatte wie immer noch viel Arbeit zu erledigen, aber die Aussicht, zu Hause wieder ihren Gedanken ausgeliefert zu sein, gefiel ihr gar nicht. Also nickte sie.

»Unfassbar. Wirklich?«

Sie lachte und knuffte Mike in die Seite. »Ja, wirklich.«

Sie bestellten sich große Eisbecher und aßen schnell, um dem Eis keine Chance zu geben, bei den Temperaturen zu schmelzen.

»Sag mal, glaubst du das eigentlich, mit dem Bären?«

Lena wäre fast der Löffel aus der Hand gefallen. »Klar, wieso denn nicht?«

»Vielleicht, weil ein Bär kein schwarzes, samtiges Fell hat.«

Er hatte also doch mehr gesehen, als Cay vermutet hatte. Sie hatte sich ja von Anfang an gefragt, wie Mike das mit dem Bären auch nur ansatzweise hatte glauben können. Schon allein, weil das Biest so riesig gewesen war. Die einzige Erklärung war, dass er es glauben wollte, dass sein Gehirn die Verarbeitung dessen verweigerte, was er gesehen hatte. Sie wünschte, ihr Gehirn täte das auch.

»Quatsch. Das hast du dir eingebildet«, sagte sie schließlich.

Mike schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin ganz sicher.«

»Das war nur der Schreck und es war ja auch so dunkel.«

»Ich weiß nicht.«

»Also wirklich, ich war ja wohl viel näher dran als du. Du kannst es mir ruhig glauben!«

Sie wusste selbst nicht, warum sie Mike nicht einfach alles erzählte. Sie hatte Cay schließlich nichts versprochen. Vielleicht, weil sie erst seine Version hören wollte? Dabei wusste sie überhaupt nicht, ob sie ihn noch einmal wiedersehen wollte. Nein, das stimmte so auch nicht. Die Sehnsucht, Cay wiederzusehen und sich endlich ihre Gefühle für ihn einzugestehen, schnürte ihr beinahe die Luft ab. Auf der anderen Seite war das alles so unglaublich und verwirrend. Es bedrückte sie, raubte ihr den Schlaf und ließ sie alles vergessen, was ihr wichtig war. Genauso, wie sie es von Anfang an befürchtet hatte.

Mike hatte recht. Es tat ihr nicht gut. Vielleicht hatte er auch recht damit, dass Cay sie nicht so bedrängen, sondern sich zurückhalten sollte. Ganz bestimmt sogar. Cays Worte fielen ihr wieder ein, die Worte, die sie neben allem anderen verfolgten: Ich wünschte, ich könnte so lange warten. Meinte er damit nur, dass er bald nach München zurückmusste? Das erschien ihr zu banal, vor allem, wenn sie an den verzweifelten Ausdruck in seinen Augen dachte, als sie ihn gestern im Wald zurückgelassen hatte. Außerdem war da noch die winzige Kleinigkeit mit der Magie.

»Ach verdammt.« Sie sprang auf. Der kleine runde Tisch wackelte.

Mike starrte sie mit großen Augen an. »Was ist denn jetzt passiert?«

»Du hast recht, Mike. Es ist nicht richtig von ihm, mich in alles reinzuziehen, was auch immer das überhaupt ist.«

»Ähm, okay. Ich weiß nicht, wie du jetzt darauf kommst, aber wenn du meinst.«

Wut lag ihr wie ein Klumpen im Magen. Ein Klumpen, der langsam wuchs. Sie war nicht nur wütend auf Cay, sondern auch auf sich selbst, weil sie es einfach nicht geschafft hatte, sich von ihm fernzuhalten, wie sie es eigentlich von Anfang an vorgehabt hatte. Jetzt musste sie eben ausbaden, wie kompliziert alles geworden war.

»Verliebt sein sollte nicht so sein. Es sollte so sein wie mit Adrian damals. Bauchkribbeln, Austausch von verliebten Blicken, faule Tage am See, in denen man nichts tut, als nebeneinander auf einem Handtuch zu liegen und Händchen zu halten.« Und dann hat er dich verlassen, einfach so, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Sie ignorierte sie.

Mike stand auf und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Vielleicht ist das wirklich genau das, was du brauchst.«

Sie sah ihn fragend an.

»Ein fauler Tag am See. Mal alles vergessen.«

Der Gedanke war wunderbar. Keine Schule, kein Cay, kein Grübeln und keine Pflanzen. Eigentlich genau das, was sie gestern schon vorgehabt hatte. Einfach mal alles loslassen. »Ich glaube, das wäre toll.«

»Wie bitte? Kein Ich muss lernen?«

Sie lächelte. »Mut zur Lücke, sagst du doch immer. Das probiere ich jetzt auch mal. Ich lege mein Schicksal in deine Hände. Tu damit, was du willst.«

Mike strahlte. »Klasse! Ich kann mich gar nicht erinnern, wie lange es her ist, dass wir einen ganzen Tag zusammen hatten.

»Ein ganzes Wochenende.«

»Schweig still, mein Herz.« Er fasste sich theatralisch an die Brust.

Lena lachte. Plötzlich bedauerte sie, dass aus ihr und Mike nicht mehr werden konnte als nur Freunde. Mit ihm war alles so einfach. Er würde ihr nie wehtun so wie Adrian und sie nicht so in Grübeleien stürzen wie Cay. Leider entschied das Herz, wen man liebte, nicht der Verstand.

»Hör sofort auf«, sagte Mike im Befehlston.

»Wie bitte?«

»Mit der Grübelei. Ich bin jetzt dafür zuständig, dass du dich völlig kopflos amüsierst, und diese Aufgabe nehme ich ernst. Jetzt iss dein Eis und dann fahren wir unsere Badesachen holen.«

Lena grinste. »Danke Mike, du bist der Beste.«