Kapitel 18

 

 

 

Was auch immer Lena erwartet hatte, als sie Cays Wohnung betrat, es wurde nicht erfüllt. Insgeheim hatte sie sich dunkles Holz vorgestellt, Möbel, die zum restlichen Schloss passten, oder vielleicht auch etwas ganz Modernes mit viel Glas.

Als er ihr die Tür offen hielt, die gegenüber der Bibliothek lag, und sie das große Wohnzimmer betrat, fiel ihr als Erstes die rohe Felswand auf, die eine ganze Seite des Raums einnahm.

Sie ging zum Felsen und betrachtete die Stelle, an der das Mauerwerk auf den Stein traf. »Wie hält das?« Lena suchte nach Spalten zwischen Mauer und Fels. »Ist das nicht zugig?«

Cay zog amüsiert eine Augenbraue hoch. »Mit Magie. Deshalb ist es auch nicht zugig.«

Es wirkte auch nicht ungemütlich, vielleicht weil nahezu der gesamte restliche Raum mit einem dicken, weißen Teppich ausgelegt war, auf dem zwei dunkelgrüne Sofas standen. Nur vor dem Kamin konnte man den Dielenboden sehen. Irgendetwas an der Wohnung kam Lena merkwürdig vor. Als sie die Wände betrachtete, fiel ihr auch auf, was es war: Es gab keine Bilder und nichts Persönliches.

»Sieht aus, als wärst du gerade erst eingezogen.«

»Das kommt daher, dass ich gerade alles neu eingerichtet habe, das mache ich immer, wenn …« Er stockte, aber Lena bemerkte es kaum, weil die Bücherregale an den Wänden ihre ganze Aufmerksamkeit beanspruchten. Sie ging auf das Regal zu und betrachtete die Buchrücken. Das meiste waren Romane aus allen Genres, aber auch viele Sachbücher unterschiedlicher Themen waren zu finden.

»Eine ziemlich wilde Mischung.« Sie zog ein paar Bücher heraus und tastete sich auf die Art am Regal entlang, bis sie auf eine Tür stieß. »Was ist dort?«

»Mein Schlafzimmer.«

Natürlich. Ihre Wangen wurden heiß. Auch er musste schlafen.

»Möchtest du etwas trinken?«

Sie nickte und setzte sich auf eines der Sofas, während Cay durch eine Tür am anderen Ende des Raums ging, wo sich wohl die Küche befand und wenig später mit Mineralwasser und Tee zurückkam. Dann ging er zum Kamin und stapelte einige Holzscheite hinein.

»Wenigstens muss ich jetzt nicht so tun, als würde ich das Feuer auf herkömmliche Art anzünden.« Er zwinkerte ihr zu. Ohne dass er irgendeine sichtbare Geste machte, begannen die Scheite zu brennen.

Er kam auf sie zu und sie wünschte sich, dass er sich neben sie setzen würde. Jetzt, da sie beschlossen hatte, ihren Gefühlen nachzugeben, sehnte sie sich nach seiner Berührung, so als müsste sie aufholen, was sie bisher versäumt hatte. Cay schien jedoch entschlossen zu sein, erst mit ihr zu reden, denn er setzte sich in die andere Ecke des Sofas, sodass sich nicht einmal ihre Beine berührten. »Wo soll ich anfangen?«

Sie überlegte, was sie wissen wollte. Ohne es zu wollen, hatte sie wieder das Bild vor Augen. Das Gesicht des Jungen.

»Kann ich dich was fragen?«

Er nickte. »Alles, was du willst.«

»Das Bild. Du hast gesagt, das ist wirklich passiert.« Sie sprach nicht weiter, als sie seinen Gesichtsausdruck sah. Der Schmerz in seinen Augen war so intensiv, dass sie ihn fast als ihren eigenen spürte.

»Entschuldige. Ich hätte das nicht fragen sollen«, sagte sie hastig.

»Schon gut. Ich werde es dir erzählen. Irgendwann. Nur jetzt noch nicht.« Er starrte einen Moment in seine Teetasse. Dann sah er auf. »Ist es denn immer noch so schlimm für dich?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, es ist besser geworden. Heißt das, dass ich dich …«, sie biss sich auf die Lippen, »… dass du mir weniger bedeutest?«

»Nein. Es wird besser mit der Zeit. Gleich, nachdem man es gesehen hat, ist es am schlimmsten. Irgendwann vergisst man es.« Er sah nicht so aus, als könnte er es jemals vergessen.

Lena schluckte schwer. Sie hatte nur das Bild gesehen, er hingegen hatte es tatsächlich erlebt. Sie hielt sich an der Teetasse fest, während sie überlegte, was sie sagen konnte, aber es gab nichts, was nicht banal geklungen hätte, und er wollte ohnehin nicht darüber reden.

»Gibt es etwas anderes, was du vielleicht wissen möchtest?«, fragte er leise.

Ich will wissen, ob das zwischen uns eine Zukunft hat. Langsam setzte sie sich auf. Wenn er hier wohnte, dann … »Du gehst nicht nach München zurück, wenn der Kurs vorbei ist, oder? Nicht für immer jedenfalls.«

Er nickte. Erleichtert atmete sie auf. »Das ist gut. Ich hatte Angst, dass du mich verlässt, so wie Adrian.« Sie fluchte innerlich. Sie hatte nicht vorgehabt, jetzt über ihren Ex zu reden.

Der Ausdruck auf Cays Gesicht war schwer zu deuten. Beunruhigung und Schmerz?

»Entschuldige. Ich wollte nicht über ihn reden.«

»War Adrian dein Freund?«

Sie seufzte. Das hatte sie sich wohl selbst eingebrockt. »Ja, mein erster und einziger.« Sie versuchte, an seiner Miene abzulesen, ob er ihre Unerfahrenheit zur Kenntnis nahm, aber er schwieg mit unbewegtem Gesicht. »Wir waren ziemlich lange zusammen. Dann ist er eines Tages einfach verschwunden.« Die Erinnerung daran tat immer noch weh.

»Empfindest du noch etwas für ihn?«, fragte er leise.

»Nein«, antwortete sie tonlos. »Aber wenn man einfach so zurückgelassen wird, das hinterlässt Spuren.«

Cay musterte sie lange, bevor er antwortete. »Hast du deshalb so lange gezögert?«

»Vielleicht auch. Ich hatte Angst davor, dass du weggehst und mich zurücklässt. So wie er.«

Er erwiderte nichts.

»Das ist jetzt die Stelle, wo du sagst, dass du mich nie verlassen wirst.« Es sollte wie ein Scherz klingen, aber ihre Stimme schwankte viel zu sehr.

Unvermittelt stand er auf, ging zum Kamin und starrte ins Feuer. Sie ging zu ihm hinüber und legte ihm eine Hand auf den Arm.

»Was ist?«

Er schüttelte den Kopf. »Nichts.«

»Gut, ich gebe zu, für solche Geständnisse ist es vielleicht noch etwas früh.« Ihr Lächeln fühlte sich starr an.

Der Blick aus seinen grünen Augen war so durchdringend, dass es ihr beinahe den Atem verschlug. Sie legte ihm eine Hand auf die Brust und spürte sein Herz schlagen. Er nahm ihre Hand in seine und küsste sie.

»Ich will dich nicht zurücklassen, niemals.« Was sie in seinen Augen sah, berührte sie viel mehr als seine Worte.

Langsam legte sie ihm eine Hand um den Hals, spürte seine Haut unter ihren Fingern. Kurz zögerte sie noch, dann hob sie ihm ihr Gesicht entgegen und streifte seine Lippen mit ihren. Er erwiderte ihren Kuss, vertiefte ihn und presste sie fest an sich, als wollte er sie nie wieder loslassen. Als er sie schließlich doch von sich schob, tat er es nur, um sie zum Sofa zu führen. Sie ließ sich hineinsinken und zog ihn neben sich. Zögerlich hob sie eine Hand, fuhr damit durch seine schwarzen Haare und spürte sie weich zwischen ihren Fingern. »Das wollte ich schon die ganze Zeit machen«, flüsterte sie.

Er nahm ihre Hand, küsste die Handfläche, dann das Handgelenk und schließlich wieder ihre Lippen, während Lenas Hände seinen Nacken streichelten, seine Schultern, seinen Rücken. Sie sehnte sich danach, seine Haut zu spüren, ihn nicht nur durch den Stoff zu berühren. Vorsichtig schob sie sein Hemd hoch und fuhr mit einer Hand darunter. Seine Haut fühlte sich wunderbar an, weich und dennoch fest. Makellos bis auf eine merkwürdige winzige Erhebung knapp über seiner Hüfte. Vielleicht eine Narbe?

Sanft folgte sie der Erhebung mit den Fingerspitzen. Cay sog scharf die Luft ein. Sein Kuss wurde drängender und die Berührung seiner Hände fordernder. Er schob ihr T-Shirt ein wenig nach oben und seine Finger berührten ihre nackte Taille und dann ihren Bauch. Lena hob sich ihm entgegen. Sie wollte dieses Kribbeln überall spüren, dieses sanfte Ziehen in ihrem Unterleib, das jede seiner Berührungen in ihr weckte. Sie streichelte ihn weiter, seinen Rücken, immer weiter nach unten, bis zum Bund seiner Hose. Ohne richtig darüber nachzudenken, schob sie die Fingerspitzen unter den Stoff.

Er löste sich von ihr und sah auf sie herunter. »Ich glaube, das ist keine so gute Idee«, sagte er heiser. Seine Augen leuchteten vor Verlangen. »Es sei denn, du willst …«

Hastig zog sie ihre Hand weg, als hätte sie sich verbrannt. Er lachte leise. Sie kam sich plötzlich viel zu jung und unerfahren vor. Obwohl sie mit Adrian auch geschlafen hatte, kam ihr der Altersunterschied von immerhin sieben Jahren in den Sinn. Langsam setzte sie sich auf und sah ihn unsicher an. »Es tut mir leid, ich …«

Er schüttelte den Kopf. »Mir tut es leid, dass ich fast über dich hergefallen wäre wie ein ausgehungerter Wolf über ein unschuldiges Reh.«

Der Vergleich brachte sie zum Lachen. »Na ja, ganz so unschuldig bin ich nun auch wieder nicht. Ich muss mich nur erst an alles gewöhnen.« Sie schmiegte sich in seine Arme, den Kopf auf seiner Brust. Er küsste sanft ihre Stirn.

»Was ist das für eine Narbe an deiner Hüfte?«

Sie spürte, wie er kurz zusammenzuckte. »Ach das. Eine Jugendsünde. So könnte man es wohl nennen.«

Sie lachte. »Jugendsünde. Das klingt, als wäre es mindestens dreißig Jahre her.«

Ein ironisches Lächeln umspielte seine Lippen. »Nein, dreißig Jahre sicher nicht.«

»Was war dann genau diese Jugendsünde?«

Er zuckte die Achseln. »Ein paar Freunde und ich haben uns ein Zeichen in die Haut gebrannt. Sozusagen als Zugehörigkeitszeichen zu einem Magierzirkel.«

»Darf ich mal sehen?«

Erst sah es aus, als wollte er Nein sagen, aber schließlich drehte er sich zur Seite und schob sein T-Shirt hoch. Auf seinem Rücken, ein Stück über seinem rechten Hüftgelenk, war eine kleine Narbe in Form einer Acht. Sie musste schon etwas älter sein, denn sie war sehr blass, farblich kaum noch von der umgebenden Haut zu unterscheiden. Unwillkürlich hob Lena die Hand und fuhr die Form noch einmal mit den Fingerspitzen nach. Das Verlangen, ihn dort zu küssen, kribbelte plötzlich in ihren Lippen. »Das erscheint mir ganz schön extrem. Hat das nicht ziemlich wehgetan?«

Er griff nach ihrer Hand, setzte sich auf und fuhr mit dem Finger den dünnen hellbraunen Strich nach, der sich von Lenas Handgelenk bis zum Ellenbogen zog. Kaum noch sichtbar. »Ich habe meine Mittel und Wege.« Er lächelte. »Kam es dir nicht merkwürdig vor, dass der Kratzer so schnell verheilt ist?«

»Oh. Ja, ich … doch, aber ich wollte es wohl nicht wahrhaben.« Wie so vieles. Wie oft hatte er ihr schon geholfen, ohne dass sie es gemerkt hatte? Lena runzelte die Stirn. »Als es mir so schlecht ging, nachdem ich das Bild gesehen hatte, und Frau Hofstetter unbedingt mit mir sprechen wollte, da hast du mir an die Stirn gefasst. Hast du mich da auch geheilt?«

Er nickte. »So ähnlich. Ich habe dir etwas von meiner Energie gegeben. So gut wie zehn Stunden Schlaf.« Er lächelte.

»Ist das schwierig, Heilen meine ich?«

»Wenn man weiß, wie der Körper funktioniert, dann ist es eigentlich recht einfach.«

»Warum lässt du dann die Narbe nicht einfach verschwinden?«

Er zog die Augenbrauen zusammen. »Manche Dinge hinterlassen Narben, nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Die sollte man nicht einfach auslöschen.« Er deutete auf die Narbe an ihrem Arm. »Oder möchtest du etwa, dass ich die Narbe entferne?«

Nachdenklich betrachtete sie ihren Unterarm, erinnerte sich daran, wie er sie dort zum ersten Mal berührt hatte. An das wunderbare Kribbeln, das sie schon damals empfunden hatte. Stumm schüttelte sie den Kopf.

Er schwieg eine Weile, dann stand er auf und ging zu einem der Schränke an der linken Wand. Er schob eine Tür beiseite und dahinter kam eine Stereoanlage zum Vorschein. Daneben stand ein alter Plattenspieler und im Regal gab es eine riesige Plattensammlung. Lena stand ebenfalls auf und ging zu ihm hinüber. Fasziniert zog sie hier und da eine Platte heraus. Die Hüllen waren allesamt vergilbt und sahen stark benutzt aus. Es war eine beeindruckende Sammlung, viel Klassik, aber auch Rock ‘n’ Roll und Jazz. Ihre Mutter hatte auch noch ein paar Platten im Wohnzimmer stehen, aber nicht eine solche Menge. Auf der anderen Seite der Anlage stand das ganze Regal voll mit nagelneuen CDs. Viele waren sogar noch eingeschweißt.

»Hast du einen Großeinkauf gemacht?«

Er nahm eine CD aus der Hülle. »Ja. Ich bin gerade auf CDs umgestiegen.«

Sie sah ihn mit großen Augen an. »Jetzt erst? Wo warst du die letzten zwanzig Jahre? Hinter dem Mond?«

Er lachte, doch seine Augen blieben ernst. »Sozusagen. Mir haben die Platten immer gereicht, aber jetzt war es mal an der Zeit für etwas Neues. Ich hab mir auch einen MP3-Player zugelegt. Da passt so viel Musik drauf, das hat fast etwas von Magie.«

»Okay, ich versteh schon, du nimmst mich auf den Arm.«

Er zwinkerte sie an, sagte aber nichts mehr. Stattdessen legte er eine CD auf und zog sie dann zurück zum Sofa.

 

*

 

Lena musste an seiner Schulter eingeschlafen sein.

Als sie hochschreckte, fiel bereits das graue Licht des Morgens durch die Fenster. Sie setzte sich im Bett auf. Moment. Im Bett? »Was …?«

Sie rieb sich die Augen und sah sich um. Sie saß in einem riesigen Himmelbett aus dunklem Holz, das wirkte, als wäre es sehr alt. Die Vorhänge fehlten, auch das restliche Zimmer war schlicht gehalten. Ein zum Bett passender Schrank stand in einer Ecke und eine Kommode mit marmorner Deckplatte an einer Wand. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, dass darauf früher ein Waschgeschirr gestanden hatte. Ob die Einrichtung wirklich original war?

Sie schlug die Decke zurück und setzte die Füße auf den Boden. Ihre nackten Fußsohlen sanken in einen weichen Teppich. Als sie an sich heruntersah, bemerkte sie entsetzt, dass sie statt ihrer Sachen eines von Cays schwarzen Hemden trug. Was war letzte Nacht passiert? Wo war er? Sie sah sich um. Die andere Seite des Bettes sah unberührt aus. Hatte er im Wohnzimmer geschlafen?

Sie suchte überall, konnte ihre Sachen aber nicht finden. Zum Glück reichte ihr das Hemd im Stehen immerhin bis auf die Hälfte der Oberschenkel. Auf Zehenspitzen ging sie zur angelehnten Schlafzimmertür und schob sie ein Stück auf. Erleichtert sah sie, dass er nicht im Wohnzimmer war. Sie wollte sich erst anziehen, bevor er sie sah. Dass er sie in der Nacht umgezogen haben musste, trieb ihr die Schamesröte ins Gesicht und sie versuchte, nicht daran zu denken.

Sie schlich ins Wohnzimmer und suchte überall nach ihren Sachen. »Verdammt.« Sie fluchte, als sie nirgends eine Spur davon entdecken konnte.

»Dir auch guten Morgen.«

Lena erstarrte und drehte sich langsam um.

Er stand in der Tür, die zur Küche führte. Seine Augen glitzerten amüsiert.

Sie packte den Saum des Hemdes und zog es sich etwas tiefer über die Oberschenkel. »Hast du meine Sachen weggeräumt, damit ich dir nicht davonlaufe?«

Er lachte. »Könnte dich das wirklich aufhalten?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Dachte ich mir. So leicht geht das nicht.« In seinen Worten war plötzlich ein ernster Unterton, den sie nicht ganz einordnen konnte. »Sie sind im Bad.«

Verwirrt sah sie ihn an. »Wie bitte?«

»Deine Sachen.«

»Ach so.« Sie grinste verlegen. »Ich glaube, ich bin noch nicht ganz wach.«

»Das sehe ich.« Der liebevolle Blick, mit dem er sie musterte, drang bis tief in ihre Seele. »Steht dir übrigens gut, mein Hemd.«

Hitze stieg ihr in die Wangen. Sie räusperte sich. »Wie hast du … hast du mich … du hättest mich doch einfach in meinen Sachen lassen können.«

Er zuckte mit den Schultern. »Die waren dreckig von der Höhle. Ist dir das nicht aufgefallen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich war wohl mit anderen Dingen beschäftigt.« Sie grinste schief.

Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Außerdem dachte ich, so wäre es bequemer für dich. Ich habe Magie benutzt, um dich umzuziehen, falls dir das Sorgen macht.«

Sie atmete erleichtert auf und wollte etwas erwidern, als ein leises Klingeln ertönte. »Mein Handy! Das ist bestimmt meine Mutter.« Sie hastete zu ihrem Rucksack, der in einer Ecke des Zimmers stand, und kramte darin herum. Endlich fand sie ihr Handy, zog es heraus und warf einen Blick auf das Display. Es war tatsächlich ihre Mutter. »Hallo?«

»Lena? Gott sei Dank! Ich hab gerade gesehen, dass du nicht da bist. Was ist los, wo steckst du?«

»Ich … ähm … es wurde gestern so spät und da bin ich eingeschlafen. Aber es ist alles in Ordnung, wirklich. Ich gehe dann von hier aus gleich zur Schule.«

»Meine Güte, Lena. Weißt du eigentlich, was für einen Schrecken du mir eingejagt hast?«

»Tut mir leid.« Immerhin hatte sie versprochen, in Zukunft Bescheid zu sagen und sie konnte ja auch verstehen, dass ihre Mutter sich Sorgen machte, wenn sie einfach die ganze Nacht wegblieb. Trotzdem, sie war volljährig und es wurde langsam Zeit, dass sich ihre Mutter daran gewöhnte. Aber sie wollte jetzt keine Diskussion anfangen.

Ihre Mutter schwieg, wahrscheinlich überrascht, dass sie so schnell einlenkte. Dann seufzte sie. »Schon gut. Ich bin nur froh, dass es dir gut geht. Wir sehen uns dann nachher.«

»Ja, bis später.« Sie legte das Handy beiseite.

Cay sah sie belustigt an. »Wollte sie gar nicht wissen, wo du bist?«

»Bestimmt denkt sie, ich bin bei Mike. Ich übernachte da ja öfter.«

Sofort war das amüsierte Glitzern aus seinen Augen verschwunden. Lena seufzte. »Finde dich damit ab. Das machen wir, seit wir kleine Kinder waren.«

»Entschuldige. Ich werde mir Mühe geben, mich daran zu gewöhnen.« Er kam auf sie zu und nahm eine Strähne ihrer Haare, die sich über Nacht aus der Frisur befreit hatte. Als er sie hinter ihr Ohr schob, kribbelte ihre Haut. Seine Finger wanderten weiter ihren Hals hinunter und folgten der Kontur ihres Schlüsselbeins. Sie schloss die Augen und hielt den Atem an. Wie konnte eine so unschuldige Berührung sich so verboten anfühlen?

Seine Finger glitten zu ihrer Schulter und schoben das Hemd ein wenig zur Seite. Immer noch stand sie nur da und ließ ihn gewähren. Sie keuchte auf, als sie seinen Atem warm auf ihrer Schulter spürte und schließlich seine Lippen auf ihrer nackten Haut. Er küsste ihre Schulter, ihren Hals, die empfindliche Stelle hinter ihrem Ohr. Sie erschauderte und drehte ihm ein wenig den Kopf entgegen. Seine Lippen streiften sanft ihren Mundwinkel, während seine Fingerspitzen unter den Stoff des Hemdes glitten und eine kribbelnde Spur über ihren Rücken zogen. Lena drängte sich an ihn, damit er sie richtig küsste.

»Ich glaube, das sollten wir besser verschieben«, murmelte er an ihren Lippen. Er küsste sie einmal ganz sachte, dann schob er sie sanft von sich.

Enttäuscht leckte sie sich über die Lippen. Sie meinte, ihn dort noch schmecken zu können.

»Sonst kommst du zu spät.« Seine Stimme klang heiser, als fiele es ihm auch nicht leicht.

Sie räusperte sich. »Ja. Das ist … sicher besser. Ich gehe mich anziehen.«

Immer noch leicht atemlos ging sie ins Bad. Es war eine größere Version des winzigen Bades in der Eingangshalle. Halb in den rohen Fels geschlagen, halb gefliest. Nur dass es hier noch eine Badewanne und eine Dusche gab. Ihre Sachen lagen ordentlich zusammengefaltet und sauber auf einer kleinen Kommode, in der sie ein paar frische Handtücher fand. Sie zog das schwarze Hemd aus und duschte. Als sie fertig war, trat sie vor den Spiegel und betrachtete ihre Frisur. Zum ersten Mal seit Langem überlegte sie, ob sie die Haare vielleicht anders tragen sollte. Offen. Sie bürstete sie und ließ sie über ihre Schulter fallen. Es kam ihr irgendwie komisch vor, nach so langer Zeit, als würde es nicht richtig zu ihr passen. Außerdem verriet es zu viel über ihre Gefühle. Als würde sie damit herausschreien, wie es in ihr aussah. Lena raffte die Haare zusammen und sah in den Spiegel, um sie hochzustecken.

Die Haarspange fiel ihr aus der Hand und landete mit lautem Geklapper auf dem Boden.

»Was …?« Sie trat näher an den Spiegel heran und betrachtete ihr rechtes Schlüsselbein. Dort, wo sie Cays Kuss noch spüren konnte, war eine winzige Acht zu sehen. Nur so groß wie der Nagel ihres kleinen Fingers und ganz zart gezeichnet, wie eine merkwürdige Sommersprosse. Sie lag auf ihrem Schlüsselbein, anstatt aufrecht zu stehen, wie es eigentlich sein müsste, aber es war unverkennbar eine Acht. Genau wie seine Narbe.

»Verdammt, das gibt’s doch nicht.« Sie wollte aus dem Bad stürzen und Cay zur Rede stellen, bis ihr einfiel, dass sie nichts anhatte. Hastig zog sie sich an, steckte sich die Haare hoch und ging in die Küche. Cay war gerade dabei, das Frühstück herzurichten.

Sie baute sich vor ihm auf, zog ihren Ausschnitt zur Seite, sodass man das »Tattoo« sehen konnte. »Was soll das?«, fauchte sie.

Er wollte etwas sagen, aber sie ließ ihn gar nicht zu Wort kommen.

»Ist das ein Zeichen? Damit jeder sieht, dass ich dir gehöre? Ich bin doch nicht dein Eigentum! Mach das sofort wieder weg!«

»Keine Sorge, selbst wenn es jemand sieht, wird er nicht wissen, was es bedeutet«, versuchte er, sie zu beruhigen.

Da war etwas dran. Wer immer es sah, würde es einfach nur für ein spleeniges Tattoo halten. »Ich will das trotzdem nicht.«

»Entschuldige, ich hätte es dir vorher erklären sollen …«

Sie ließ ihn nicht ausreden. »Das ist doch vorsintflutlich. Macht man das so unter Magiern? Die Freundin markieren, damit die anderen wissen, wer zu wem gehört?«

Seine Mundwinkel zuckten, aber er bemühte sich, ernst zu bleiben. »Nein, damit hat das nichts zu tun.«

Sie funkelte ihn an. »Womit dann?«

»Das ist der Schutzzauber, von dem ich dir gestern erzählt habe. Eine Art Verbindung zwischen dir und mir, damit ich dich finden kann.«

Ihr Ärger legte sich etwas, aber so richtig gefiel es ihr trotzdem nicht. »Wenn ich aber gar nicht will, dass du immer weißt, wo ich bin?«

Er schüttelte den Kopf. »So funktioniert das auch nicht. Der Zauber wird nur aktiv, wenn du in Gefahr gerätst.«

Sie fuhr sich mit einer Hand über ihr Schlüsselbein. »Hm. Ich weiß nicht.«

»Es ist nur, solange wir nicht wissen, wer es auf dich abgesehen hat, und ob du noch in Gefahr bist. Danach entferne ich es wieder. Versprochen.«

Ihr Ärger legte sich. »Na gut.« Grummelnd setzte sie sich an den bereits gedeckten Tisch.

»Der Zauber ist etwas aufwendiger, deswegen habe ich ihn heute Nacht gemacht, als du geschlafen hast. Ich wollte dich nicht wecken, aber ich wollte auch nicht länger warten.« Er verstummte, aber Lena wusste auch so, was er sagen wollte.

Er befürchtete, dass der Angreifer noch einmal zuschlagen würde. Vielleicht bald. Ihr Mund wurde trocken. »Ich verstehe das einfach nicht. Glaubst du wirklich, der Angriff war Absicht? Und auf mich ausgerichtet? Warum sollte gerade mir jemand etwas antun wollen?«

Cay stellte ein paar Teller auf den Tisch. Seine Miene wirkte grimmig. »Ich weiß es nicht. Es wäre möglich, dass derjenige über dich an mich herankommen will.«

Sie schüttelte den Kopf. »Das ergibt doch keinen Sinn. Als das passiert ist, waren wir doch noch gar nicht …« Sie wusste nicht, wie sie es ausdrücken sollte. Waren sie schon zusammen? Oder noch kurz davor? Und wer sollte an ihn herankommen wollen?

»Es muss jemand sein, der weiß, wie wichtig du für mich bist.« Einen Moment lang sah er ziemlich wütend aus, fast so, als hätte er einen Verdacht. Dann legte sich der Ausdruck wieder und er sah Lena an. »Möchtest du etwas essen?«

Benommen blinzelte sie ihn an. Wie konnte er jetzt so etwas Banales sagen? Wie konnte er so nebenbei erwähnen, dass sie ihm wichtig war und dann einfach weitermachen?

»Das kommt darauf an«, murmelte sie.

Eigentlich hätte sie gern gewusst, ob sie recht hatte. Ob er wirklich ahnte, wer hinter alledem steckte. Nur war ziemlich offensichtlich, dass er jetzt nicht darüber reden wollte. Sie beschloss, ihn ein anderes Mal danach zu fragen.

»Worauf?«

Sie verscheuchte die Gedanken. »Ob das Essen besser ist als in der Schulkantine.«

Er lachte. »Das will ich doch hoffen.«