Kapitel 19

 

 

 

Der grüne Bentley hielt ein paar Ecken von der Schule entfernt. Ohne darüber zu reden, waren sie sich einig, dass niemand sie außerhalb des Kurses zusammen sehen sollte.

»Danke fürs Fahren«, sagte Lena.

»Gern.«

»Gut, dann sehen wir uns nachher?«

Er nickte. Sie fasste an den Türgriff.

»Warte.«

Sie drehte sich fragend zu ihm um.

Er beugte sich zu ihr und küsste sie auf die Lippen. Viel zu kurz.

»Na toll.« Lena verdrehte die Augen. »Jetzt werde ich mich wieder den ganzen Tag nicht konzentrieren können.«

Er lachte. »Nachher wieder hier?«

Sie nickte und stieg aus. Cay wartete, bis sie aus der kleinen Seitengasse heraus und ein Stück die Straße zur Schule entlanggegangen war, bevor er in die entgegengesetzte Richtung davonfuhr.

»Lena, da bist du ja!« Mike kam auf sie zugelaufen und musterte sie von oben bis unten. »Gott sei Dank!«

»Was ist denn los? Ist was passiert?«

»Deine Mutter hat vorhin bei uns angerufen. Offenbar dachte sie, dass du bei uns bist.«

Lena stöhnte. Wahrscheinlich hatte sie noch ein zweites Mal versucht, sie zu erreichen, als sie mit Cay durch den Wald geritten war. Im Schloss gab es offensichtlich stellenweise Netz, im Wald nicht. »Und?«

»Ich hab natürlich so getan, als wärst du unter der Dusche und gesagt, dass ich dir ausrichte, dass sie heute Abend nicht da ist. Was ich hiermit getan habe.«

»Du bist ein Schatz«, sagte Lena erleichtert. Sie hakte sich bei Mike unter und gemeinsam gingen sie auf das Schulgebäude zu.

»Dann habe ich mir gesagt, wie dumm das von mir war, falls du entführt wurdest und es auf jede Minute ankommt. Wenn ich dich nicht bald gefunden hätte, hätte ich die Polizei alarmiert.«

»Das ist doch lächerlich«, sagte sie. Das Lachen blieb ihr im Hals stecken, als sie Mikes Gesicht sah. Er meinte es ernst. Anscheinend hatte er sich wirklich Sorgen um sie gemacht. Zerknirscht verzog sie das Gesicht. »Tut mir leid.«

»Wo warst du?«

»Ich war …« Sie überlegte zu lügen, etwas zu erfinden, aber Mike würde es sofort durchschauen. Außerdem war er ihr bester Freund. Er hatte es verdient, die Wahrheit zu erfahren. So viel davon, wie sie ihm sagen konnte. »Ich war bei Cay.«

Mike entglitten die Gesichtszüge. »Was?«

»Es war keine Absicht. Es ist einfach so passiert.«

Er atmete tief ein. »Was. Ist. Passiert?«

»Ich bin eingeschlafen und in seinem Bett aufgewacht und dann …«

Mike unterbrach sie. »Das glaub ich jetzt nicht. Gestern wolltest du ihm noch eine Abfuhr erteilen und stattdessen landest du mit ihm im Bett? Mann, der Typ ist gut, das muss man ihm lassen.«

Lena versuchte, die Hitze zu ignorieren, die ihr in die Wangen stieg, und bemühte sich, empört auszusehen. »Was du gleich wieder denkst. Es ist nichts passiert. Er hat auf dem Sofa geschlafen. Glaube ich.« Tatsächlich hatte sie nicht die geringste Ahnung, wo er die Nacht verbracht hatte.

Mike verzog zweifelnd das Gesicht. »Du willst ihm sagen, dass du ihn nicht mehr sehen willst, und verbringst stattdessen die Nacht bei ihm? Das klingt nicht so, als wäre nichts passiert.«

Unwillkürlich legte Lena die Fingerspitzen an ihre Lippen. Sein Kuss, seine Küsse, brannte dort immer noch. »Na ja, vielleicht nicht nichts.«

»Aha. Ich wusste es. Lena, hast du sie noch alle? Nach allem, was du gesagt hast?«

»Ich weiß.« Sie räusperte sich. »Aber das wurde irgendwann unwichtig.«

»Ich verstehe. Dann küsst er also gut?«

Das brachte Lena zum Lachen. Sie knuffte Mike in die Seite. »Ja, aber das hab ich nicht gemeint.«

Trotz allem musste auch Mike lächeln. »Ich verstehe. Und ich nehme an, die Details bekomme ich nachher noch zu hören?«

Lena nickte. »Ob du willst oder nicht. Ich erzähl dir alles.« Ihr Gewissen regte sich bei dieser Lüge. Sie drängte es zurück. Einige Dinge konnte sie Mike einfach nicht sagen.

»In der Freistunde beim Beet«, rief Lena ihm zu, bevor sie sich trennten, um in den Unterricht zu gehen.

 

*

 

Zwei Schulstunden später saßen sie beim Gemüsebeet. Der ideale Ort, um unbehelligt über alles zu reden, denn außer Lena interessierte sich sowieso niemand dafür. Sie erzählte Mike alles von der Nacht. Nur die Magie ließ sie weg, was ziemlich schwierig war, denn irgendwie war alles ineinander verwoben. So merkte sie erst, kurz bevor sie ihm von der Acht auf ihrem Schlüsselbein erzählen wollte, dass sie ihm das auf keinen Fall würde erklären können, ohne Magie ins Spiel zu bringen. Auch wenn der Gedanke, noch mehr vor ihm verbergen zu müssen, auf ihre Stimmung schlug.

Sie erzählte ihm allerdings von der Narbe auf Cays Haut und erklärte ihm das mit der Jugendsünde, wobei sie aus dem Magierzirkel eine Studentenverbindung machte.

»Er scheint ja von der Acht ziemlich besessen zu sein. Erst der Anhänger und jetzt diese Narbe?«

»Ich habe mich auch schon gefragt, ob das eine besondere Bedeutung hat.« Lena kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum. »Wir könnten ja mal im Internet nachsehen.«

Mike zog sein Smartphone heraus, das er sich von seinem Gehalt im Gipfelstürmer zusammengespart hatte. Er tippte auf das Display und seufzte. »Akku leer.«

Lena verdrehte die Augen. »War ja klar. Dann müssen wir wohl den Computer oben im Aufenthaltsraum benutzen. Vielleicht finden wir was. Wir haben sowieso noch Zeit totzuschlagen.«

»Klar, gute Idee. Hoffentlich ist er nicht schon besetzt.«

Wenig später traten sie in den Aufenthaltsraum. Sie hatten Glück, der Computer war frei, was wahrscheinlich der Tatsache zu verdanken war, dass mittlerweile die meisten ein Smartphone besaßen. Sie warteten, bis er hochgefahren war, und suchten dann nach Bedeutungen der Zahl Acht.

»Hm. Zahl des Eingeweihten, der sein Ziel erreicht hat. Auferstehung und Regeneration. So Zeug halt. Ich schätze, das passt zu so einer durchgeknallten Studentenverbindung«, murmelte Mike.

»Guck mal da, auf der Linkliste. Skurrile Geschichten um die Acht: www.okkulte-legenden.de. Klick mal drauf.« Lena tippte auf den Bildschirm, an die Stelle, wo der Link hervorgehoben war. Gehorsam klickte Mike sich zu der Seite durch und Lena las die ersten paar Zeilen.

»Das gibt’s doch nicht. Mike, das ist die Geschichte, die meine Großmutter mir immer erzählt hat. Das hatte ich ganz vergessen. Hier: Der Kreis der Acht.« Sie verstummte. Ein Kreis von acht Magiern, die die Gegend beschützten. Es waren immer acht. Und Cay hatte eine Acht auf seinem Rücken. Es passte perfekt. Er hatte es ja selbst als Zugehörigkeitszeichen zu einem Magierzirkel bezeichnet. Er musste einer von ihnen sein. Dumm nur, dass sie das Mike nicht sagen konnte.

»Hey Lena, sag mal, du kennst diese Legende doch in- und auswendig.«

Sie nickte. »Ja, wieso?«

»Ist dir noch nicht aufgefallen, dass das mit dem, was Frau Hofstetter uns erzählt hat, zusammenhängen könnte? Du weißt schon, die Morde im Mittelalter? Zeitlich passt das doch gut.«

Lena starrte fassungslos auf den Bildschirm. »Dass ich da nicht eher drauf gekommen bin. Du hast recht. Das passt …« Sie verstummte. Beinahe hätte sie sich verplappert. »Du willst doch damit nicht sagen, dass es die Magier wirklich gegeben hat, oder?« Prüfend sah sie ihn an. War es eine Falle? Wollte er ihr vielleicht eine Antwort entlocken?

Mike lachte. »Natürlich nicht. Das ist nur das, was später daraus gemacht wurde, um eine Erklärung zu haben, und eine gute Geschichte, schätze ich. Aber wenn wir versuchen, die Legende zurückzuverfolgen, vielleicht finden wir dann etwas heraus?«

»Ja. Gute Idee. Wir versuchen es noch mal im Stadtarchiv. Bestimmt gibt es dort zu dieser Geschichte etwas zu entdecken. Diesmal lassen wir uns nicht so leicht abspeisen.«

»Genau, das machen wir gleich nachher.«

»Ähm, ich fürchte, das geht nicht.« Lena druckste herum.

Mike warf ihr einen genervten Blick zu. »Sag nicht, du musst lernen. Das ist doch gewissermaßen lernen, es ist ein Schulprojekt und irgendwann müssen wir es machen.«

Sie senkte den Kopf und zupfte am Saum ihres T-Shirts herum.

Erkenntnis breitete sich auf Mikes Gesicht aus. »Ah, ich verstehe.« Er presste die Lippen zusammen.

»Wir haben noch ein paar Tage Zeit. Lass uns das doch einfach auf morgen verschieben, ja?«

»Ja, gut«, grummelte er.

»Ach komm schon, kannst du dich nicht ein bisschen für mich freuen?«

»Wenn es sein muss.«

Sie seufzte. »Mike, bitte. Wenn du wüsstest, wie es sich anfühlt, ich hab noch nie so etwas gespürt. Ich muss einfach darüber reden. Ich brauche dich jetzt als meinen Freund. Bitte. Ich verspreche auch, dass ich trotzdem immer Zeit für dich haben werde.«

Er lächelte zaghaft. »Wirklich? Ich erinnere mich noch, damals bei Adrian, da war ich ein paar Wochen lang ganz schön abgemeldet.«

Lena verzog schuldbewusst das Gesicht. »Ich weiß. Aber den Fehler mache ich nicht noch mal, versprochen. Um es zu beweisen, werde ich heute Abend noch vorbeikommen und dir mit deinen Chemieaufgaben helfen. Wie klingt das?«

Mike nickte und lächelte, aber es wirkte bemüht. Lena selbst fühlte sich, als würde sie ihn mit einem Trostpreis abspeisen.

 

*

 

Nach der Schule traf Lena Cay wieder in der kleinen Seitenstraße, wo niemand den grünen Bentley sehen würde. Sie stieg ein.

»Und, konntest du dem Unterricht folgen?«

Sie lachte. »Erstaunlicherweise ja.«

Er ließ den Wagen an und fuhr los, aber er schlug nicht den Weg zum Schloss ein, sondern zu ihrem Zuhause. Enttäuscht sah sie ihn an. »Das hättest du mir vorher sagen können, dann hätte ich mich mit Mike getroffen.«

Er warf ihr einen verwunderten Blick zu. »Was meinst du damit?«

»Na, offensichtlich fährst du mich nach Hause.«

»Nur, damit du deine Badesachen holen kannst.«

»Wir gehen baden?« Ihr Herz machte einen Satz.

»Ja. Ich dachte, nach allem, was in letzter Zeit passiert ist, könnten wir auch mal was Normales machen.«

»Aber wir gehen nicht ins Schwimmbad, oder?«

»Nein, das geht natürlich nicht. Das ist sicher voll von deinen Mitschülern. Aber der See beim Schloss ist angenehm warm.«

Sie schluckte. »Ich weiß nicht so recht …«

Er zog spöttisch eine Augenbraue hoch. »Also Nessie habe ich noch nicht bei mir einquartiert, falls du davor Angst hast. Der See ist garantiert monsterfrei.«

Sie atmete erleichtert auf und musste sogar ein wenig grinsen. »Hätte ja sein können.«

»Ich muss zugeben, dass man auf den Gedanken kommen könnte.« Cay hielt den Bentley an. »Ich glaube, es ist besser, wenn ich außer Sichtweite warte.«

Lena nickte. »Ich bin gleich wieder da.« Sie sprang aus dem Auto und rannte um die nächste Ecke und zu ihrem Haus. Sie hoffte, dass ihre Mutter nicht da war, damit sie keine Fragen beantworten musste.

Ihre Hoffnung wurde nicht erfüllt. Sie hörte das Rattern der Nähmaschine schon beim Aufschließen der Tür. So leise wie möglich schlich sie nach oben in ihr Zimmer. Mit etwas Glück hörte ihre Mutter nichts, weil die Nähmaschine so laut war.

Sie zog ihren Bikini aus dem Schrank und sah ihn nachdenklich an. Ob sie ihn gleich anziehen sollte?

»Ich wusste doch, ich hab etwas gehört.«

Lena fuhr herum. »Mama!« Mist.

»Du warst also bei Mike letzte Nacht?«

Lena fixierte ihren Bikini und nickte.

»Lena, du weißt, dass ich nichts dagegen habe. Ich würde es so schön finden, wenn …« Sie brach ab, als ihr Blick auf den Bikini in Lenas Händen fiel. »Geht ihr baden?«

»Ja. Ich zieh mich nur um, dann bin ich wieder weg.«

»Oh, das freut mich aber. Endlich macht ihr mal wieder was anderes als Schule und Pflanzen.«

Wenn du wüsstest, dass es nicht Mike ist, mit dem ich mich treffen will, würdest du das nicht sagen. Sie zog sich ihr T-Shirt über den Kopf und drehte ihrer Mutter den Rücken zu. Dann streifte sie sich das Bikinioberteil über und fingerte nach dem Verschluss.

»Warte, ich helfe dir.« Ihre Mutter trat hinter sie und hakte die beiden Plastikteile ineinander. Lena drehte sich zu ihr um.

»Danke.« Sie lächelte.

»Lena.« Ihre Mutter war plötzlich kreidebleich. »Woher hast du das?«

Erst jetzt fiel ihr ein, dass es keine so gute Idee gewesen war, sich vor ihrer Mutter umzuziehen. Sie hatte die Acht auf Lenas Schlüsselbein entdeckt. Schnell verdeckte Lena sie mit ihrer Hand.

»Ach, das ist nur so ein Spaß-Tattoo. Du kennst die doch, oder? Aufkleben, Wasser drauf, fertig«, plapperte sie drauflos.

Lenas Mutter hatte plötzlich einen harten Zug um den Mund. »Lüg mich nicht an, du weißt, ich kann das auf den Tod nicht ausstehen.«

»Schön. Dann eben nicht. Es geht dich nichts an. Besser?« Sie drehte sich um und zog sich hastig das T-Shirt wieder über den Kopf.

»Lena, bitte, du kannst mir alles sagen, rede mit mir. Ich möchte dir so gern helfen.«

Es klang wirklich verzweifelt. Fast hätte Lena Mitleid bekommen, aber sie zog sich weiter um, ohne ihre Mutter anzusehen. Dann packte sie ihr Handtuch und stopfte es in ihren Rucksack.

»Du gehst nicht zu Mike, nicht wahr?«, fragte ihre Mutter. »Wahrscheinlich warst du auch gestern Nacht nicht bei ihm.«

Lena hatte plötzlich Angst, dass ihre Mutter sie nicht gehen lassen würde. Sie sah ihr ins Gesicht, so kühl, wie sie nur konnte. »Wie ich schon sagte, das geht dich gar nichts an.«

»Ich bin immerhin deine Mutter, ich möchte doch nur, dass du dich richtig entscheidest.«

»Im Leben geht es nicht immer um richtig oder falsch. Das habe sogar ich inzwischen kapiert«, sagte Lena schnippisch. »Manchmal muss man einfach dem Gefühl folgen.«

»Oh, Lena.« Die Augen ihrer Mutter glänzten verräterisch. Das verunsicherte Lena mehr als alles Andere. Sie schüttelte den Kopf. Sie würde sich den Nachmittag mit Cay nicht verderben lassen. Ein normaler Nachmittag klang unheimlich verlockend. Trotzdem ließ die Verzweiflung ihrer Mutter sie nicht kalt.

»Ich kann schon auf mich aufpassen. Ich verspreche dir, dass ich mich zu nichts überreden lasse, was ich nicht wirklich will«, sagte sie besänftigend.

Ihre Mutter sah auf. »Hast du dieses Zeichen auch gewollt?«

Lena starrte sie an. »Ja.« Zumindest, nachdem er mir erklärt hat, wofür es gut ist. »Jetzt muss ich weg. Ich gehe nachher noch zu Mike, warte nicht auf mich.«

Sie stürmte aus dem Zimmer und hinaus um die Ecke, wo Cay immer noch wartete. Sie sprang ins Auto und wollte sich anschnallen, aber ihre Hände zitterten so sehr, dass ihr der Gurt immer wieder wegrutschte. Schließlich griff Cay über sie hinweg und schnallte sie an.

Er nahm ihre Hand in seine und küsste die Innenseite, wie er es schon einmal getan hatte. Nur dass es diesmal eine unglaublich beruhigende Wirkung hatte. Langsam ließ das Zittern nach.

»Was ist passiert?«

»Meine Mutter ist passiert. Sie hat das Zeichen gesehen.«

War das Triumph, was in seinen Augen glitzerte? Nein, unmöglich, sie musste sich geirrt haben. »Das tut mir leid.«

»Es macht mich so wütend, dass sie sich immer und überall einmischen muss. Warum kann sie mich nicht einfach in Ruhe lassen?«

»Sie ist eben deine Mutter, ich glaube, das ist ganz normal.«

Lena schnaubte. »Du verteidigst sie? Nur zu deiner Information: Ich glaube, sie hasst dich.«

Sein Lachen klang freudlos. »Ja, das glaube ich nur zu gern.«

»Aber warum? Ich verstehe das nicht.«

Er zuckte die Achseln. »Das Übliche, schätze ich. Ich bin älter als du und sie bezweifelt wahrscheinlich meine Absichten.«

Er startete den Motor und fuhr los. Die Landschaft zog an Lena vorbei, während sie über alles nachdachte.

»Was genau sind denn deine Absichten?«, fragte sie, als er gerade in die kleine Teerstraße einbog.

»Ist das nicht offensichtlich?« Er sah sie unter schweren Lidern heraus an. »Ich will dich mit auf das Schloss nehmen und nie wieder gehen lassen.«

Lena prustete los. »Sehr witzig.«

Cay lachte nicht. »Ich gebe zu, das ist etwas extrem ausgedrückt«, sagte er beiläufig. »Aber immerhin ist das eine ernste, ehrliche Absicht, oder nicht? Das müsste deiner Mutter doch gefallen.« Er warf ihr einen Seitenblick zu. Seine Augen glitzerten amüsiert und ein winziges Lächeln lag auf seinen Lippen.

»Stimmt. Also gut, lass mich überlegen. Dann möchte ich ein eigenes Turmzimmer, das wollte ich schon immer. Natürlich bräuchte ich einen Kräutergarten und …«, sie überlegte. »Ja, vielleicht ein eigenes Labor?«

»Ist das alles?«

»Lach jetzt nicht, aber ich habe mir schon immer ein paar schöne Kleider gewünscht. Du weißt schon, mit weiten Röcken und Schleppe. Die würden ja auch gut zum Schloss passen.«

»Ich wusste gar nicht, dass hinter der pragmatischen Fassade eine Prinzessin steckt«, neckte er sie.

»Jeden Tag möchte ich natürlich nicht so herumlaufen, aber ab und zu mal, warum nicht?«

Das Auto kam an der üblichen Stelle zum Stehen. Cay hatte wieder die Pferde heruntergebracht und sie ritten zum Schloss hinauf. Diesmal brauchte Lena keinen Entspannungszauber, sie fühlte sich so schon viel sicherer als das letzte Mal. Auch die Übelkeit hielt sich in Grenzen, wahrscheinlich, weil sie inzwischen etwas mehr mit den Bewegungen des Pferdes mitgehen konnte.

Bald kamen die Pferde aus dem Wald auf die große Wiese und der See schimmerte vor ihnen in der Sonne. Sie ritten zum Ufer und stiegen ab. Cay nahm den Pferden Sattel und Zaumzeug ab. Sie schüttelten wild die Köpfe und trabten dann zum Ufer. Zuerst nur, um zu trinken. Dann gingen sie hinein und traten mit den Hufen nach dem Wasser, sodass es hochspritzte und sogar Lena am Ufer ein paar Tropfen abbekam.

Als sie sich nach Cay umsah, war er gerade dabei, eine große Decke auf dem Gras auszubreiten. Dann zog er sich das schwarze T-Shirt über den Kopf.

Verstohlen betrachtete Lena das Spiel seiner Muskeln unter der nackten, leicht gebräunten Haut, während er sich der Hose entledigte. Als er sich bis auf dunkelgrüne Boxershorts ausgezogen hatte, kam zu ihr herüber und warf einen vielsagenden Blick auf ihre Jeans.

»Soll ich dir helfen?«, fragte er mit einem wölfischen Grinsen, das ihr den Atem stocken ließ. Sie wich ein Stück zurück.

»Nein, schon gut.« Hastig begann sie, sich Jeans und Oberteil abzustreifen. Als ihr klar wurde, dass der Bikini eigentlich nicht mehr viel verdeckte und sie fast nackt vor ihm stand, umklammerte sie unwillkürlich ihren Bauch mit den Armen und sah zu Boden. Wie konnte sie nachts davon träumen, dass er sie überall berührte, wenn sie tagsüber sogar sein Blick verunsicherte?

Cay reichte ihr eine Hand. »Keine Sorge, ich fresse dich nicht.«

Langsam löste sie ihre Hände voneinander und legte eine in seine. Sanft zog er sie zum Ufer und dann ins Wasser, bis sie bis zu den Oberschenkeln im See stand.

Cay ließ ihre Hand los und stürzte sich kopfüber in das kristallklare Wasser, das für einen Bergsee erstaunlich warm war. Ein paar Meter weiter tauchte er wieder auf und wandte sich zu ihr um.

»Was ist? Ist es dir zu kalt?«, fragte er.

»Das erste Reingehen kostet mich immer Überwindung. Obwohl ich weiß, wie angenehm es ist, wenn man erst mal drin ist.«

Cay kam langsam auf sie zu gewatet. »Dann lass mich dir dabei behilflich sein«, sagte er mit einem spöttischen Lächeln.

Sie wich ein paar Schritte zurück. »Lieber nicht.«

Er ließ sich nicht davon abbringen. Als er gerade die Hand nach ihr ausstrecken wollte, drehte sie sich um und rannte zurück auf die Wiese. Sie hörte ihn nicht hinter sich und blieb verwirrt stehen, als sie sich umsah und ihn nicht mehr entdecken konnte. Sie drehte den Kopf wieder nach vorn und wäre beinahe in ihn hineingerannt.

»Hey, Magie einzusetzen, ist nicht fair!«

Er lachte. »Aber so praktisch.« Seine Arme fuhren unter ihre Knie und ihre Arme und sie schrie auf, als er sie hochhob.

»Lass mich runter. Ich gehe ja rein.«

Mit todernstem Gesicht schüttelte er den Kopf. »Tut mir leid, aber dazu ist es jetzt zu spät.« Er trug sie mit großen Schritten zum Wasser und watete hinein, bis er bis zur Hüfte im See stand.

»Also gut, dann mach schon, bringen wir es hinter uns«, sagte sie, kniff die Augen zusammen und hielt die Luft an. Doch anstatt im Wasser zu landen, wie sie es erwartet hatte, spürte sie plötzlich seine Lippen auf ihren. Ihr Bauch kribbelte und sie umklammerte seine Schultern etwas fester, während er sie langsam an sich hinab ins Wasser gleiten ließ. Die Berührung seiner nackten Haut hallte in ihrem Körper wider und setzte sich bis zwischen ihre Beine fort. Sofort waren die Bilder wieder da, die sie nachts vor sich sah. Lena stöhnte leise, als sie sich vorstellte, wie er sie hier am Seeufer ins Gras drückte. Zum Glück konnte er es nicht hören, seine Lippen erstickten jedes Geräusch.

Schließlich löste er sich von ihr und Lena bemühte sich, die Fassung zurückzugewinnen.

»Feigling.« Sie lächelte zittrig. »Du hattest wohl Angst davor, was ich mit dir mache, wenn du mich ins Wasser …«

Bevor sie den Satz beenden konnte, packte er sie mit beiden Händen an der Hüfte, hob sie aus dem Wasser und warf sie wieder hinein. Sie kreischte auf und ging unter. Als sie wieder hochkam, wischte sie sich lachend über die Augen. »Na warte! Das wirst du mir noch büßen.«

Sie stürzte sich auf ihn und spritzte ihm Wasser ins Gesicht, bis er lachend aufgab.

Er hob eine Hand vors Gesicht. »Schon gut, ich ergebe mich.«

Lena hielt inne. »Hm, und was bekomme ich als Zeichen, dass du es ernst meinst?«

»Du willst ein Unterpfand?«

Sie nickte.

»Darüber muss ich erst nachdenken.« Er runzelte die Stirn.

»Na gut, aber glaub nicht, dass ich es vergesse«, sagte sie.

Sie schwammen zurück zum Ufer und gingen zu der Decke, die er ausgebreitet hatte. Lena ließ sich darauf fallen und streckte die Arme von sich. Cay legte sich neben sie und nahm ihre Hand. Die Sonne schien warm auf sie herunter und trocknete ihre Haut in kurzer Zeit. Sie hatte nicht gedacht, dass es sich so normal anfühlen konnte, mit ihm auf einer Decke zu liegen und in den Himmel zu sehen.

Nach einer Weile rollte er sich herum, beugte sich über sie und küsste sie sanft.

»So könnte es meinetwegen für immer bleiben.« Sie seufzte mit geschlossenen Augen.

Er streichelte ihr Haar. »Das würde mir auch gefallen.«

Mit einem Finger fuhr er die Linie ihres Kinns nach, hinter ihr Ohr und dann auf ihr Schlüsselbein. Als sie seinen Mund ganz nah an ihrem Ohr spürte, erschauderte sie. Seine Finger wanderten über ihre Schulter, zogen eine kribbelnde Spur über ihren Oberarm.

Lena seufzte leise.

»Bedeutet das, dass du mir die Strafe erlässt?«, flüsterte er. Sein warmer Atem streifte die winzigen Härchen in ihrem Nacken.

Sie schlug die Augen auf. »Das könnte dir so passen.« Es sollte entschlossen klingen, aber das Schwanken ihrer Stimme ruinierte den Effekt. »Was hast du denn so zu bieten?«

Eine Mischung aus Belustigung und Verlangen glitzerte in seinen Augen und ließ ihr den Atem stocken. Offensichtlich hatte er eine ziemlich genaue Vorstellung, was er ihr anbieten wollte. Sie rückte ein Stück von ihm ab.

Er hob spöttisch eine Augenbraue, erwiderte aber nichts. »Wie wäre es mit etwas, das dir mit deinen Pflanzen weiterhilft?«, sagte er schließlich.

Lena blinzelte. »Oh. Ja. Natürlich, daran hab ich gar nicht mehr gedacht. Du hattest etwas herausgefunden.«

Cay runzelte die Stirn. »Woher weißt du davon?«

»Du hast meiner Mutter doch die Nachricht für mich hinterlassen, weißt du nicht mehr? Deswegen war ich doch überhaupt mit Mike hier, als dieses Monster mich angefallen hat.« Sie schluckte und versuchte, nicht an die riesigen Zähne zu denken.

»Die Nachricht an deine Mutter.« Einen Moment wirkte er abwesend, als ob er über etwas nachdachte. Dann schüttelte er den Kopf und sah sie wieder an. »Ich hoffe nur, du bist nicht enttäuscht, es ist wirklich nur so ein Verdacht, womit es zusammenhängen könnte.«

Sie setzte sich auf. »Das ist mehr, als ich in den vergangenen Wochen zustande gebracht habe. Was ist das denn für eine Spur?«

»Ich habe darüber nachgedacht, was die Übersetzung deiner Liste bedeuten könnte. Es sind doch alles Gefühle. Vielleicht …«

Lena unterbrach ihn. »Vielleicht muss man Pflanzen finden, die mit diesen Gefühlen in Verbindung gebracht werden? Daran hab ich auch schon gedacht.« Die Hoffnung, endlich wieder Fortschritte zu machen, ließ ihr Herz schneller schlagen. »Nur, dass ich keine Ahnung habe, wo ich mit der Suche anfangen und was ich dann mit den Pflanzen machen soll.«

»Aber ich vielleicht. Erinnerst du dich noch an das Buch, das ich dir am ersten Tag in der Bibliothek gezeigt habe?«

»Das mit den Tränken gegen Liebe und Trauer und …« Sie verstummte. »Ja. Natürlich.« Es waren alles Rezepte für Tränke, mit denen man angeblich Gefühle beeinflussen konnte.

»Soweit ich gesehen habe, sind es die gleichen Gefühle, die auch auf der Liste sind.«

Lena sprang auf. »Wirklich? Das sagst du mir erst jetzt?«

»Eigentlich wollte ich mir die Sache noch einmal ansehen, bevor ich es dir sage, aber da du nun gefragt hast …«

»Ich muss das Buch sehen. Sofort. Es könnte wirklich die Lösung sein.«

»Mach dir nicht zu große Hoffnungen. Es ist sehr gut möglich, dass deine Großmutter das Buch gar nicht kannte. Es könnte ein Zufall sein, dass es zu deiner Liste passt.«

»Das glaube ich nicht. Gromi war krank. Sie wusste, dass sie sterben würde«, flüsterte Lena. »Vielleicht wusste sie, wie schwer das für mich sein würde, vielleicht wollte sie, dass ich mir mit diesen Tränken helfen kann.«

»Ja, vielleicht«, stimmte Cay zu. Sein Blick drückte Bedauern aus. »Die Sache hat nur einen Haken. Die Tränke funktionieren nicht.«

Lenas Finger, die gerade den Reißverschluss ihrer Jeans schließen wollte, erstarrten. »Bist du sicher?« Das durfte einfach nicht sein. Gromi hatte so viel Arbeit in das Projekt gesteckt. Es musste funktionieren.

»Ja. Ich habe es getestet.« Er sprach nicht weiter, aber Lena konnte sich auch so denken, woran er dachte. Das Elixier gegen Trauer. Natürlich hatte er das versucht. »Es funktioniert nicht«, wiederholte er.

Lena presste die Lippen zusammen und zog sich das T-Shirt über den Kopf. »Ich möchte mir das Buch trotzdem noch einmal ansehen, wenn ich darf.«

Cay nickte. »Natürlich. So oft du willst. Du kannst es mitnehmen, ich schenke es dir.«

Mit einer Socke in der Hand hielt Lena inne und sah auf. »Danke. Das … das bedeutet mir sehr viel.« Auch wenn die Tränke nicht funktionierten, vielleicht konnte das Buch ihr trotzdem weiterhelfen. Sie musste einfach daran glauben, dass hinter alldem eine tiefere Bedeutung steckte.

»Vielleicht finden wir ja noch andere Möglichkeiten, etwas anderes, das passt. Irgendwo in meinen ganzen Büchern«, sagte er.

»Ja, vielleicht«, stimmte sie zu. So richtig glaubte sie nicht daran, aber es war einen Versuch wert.