Kapitel 20
Die nächsten Tage vergingen für Lenas Geschmack viel zu schnell. Cay und sie nutzten die letzte Sommerhitze ausgiebig zum Baden. Obwohl die Versuchung für sie oft groß war, alles andere um sich herum zu vergessen, hielt sie ihr Versprechen, Mike nicht zu vernachlässigen, und arbeitete hart für Schule und Stipendium. Mit den Pflanzen waren sie allerdings nicht weitergekommen, obwohl Lena das Gefühl hatte, beinahe die gesamte Bibliothek durchforstet zu haben.
Cay beugte sich über sie. »Du grübelst«, sagte er. Sie lagen am Seeufer und genossen die letzten Sonnenstrahlen des Tages.
»Ja. Ich überlege, wie es mit den Pflanzen weitergehen soll. Ich meine, wir haben alles durchsucht, aber das Buch mit den Tränken, die nicht funktionieren, bleibt das einzige, was zu der Liste passt.«
»Ja, das stimmt. Es könnte natürlich sein, dass wir etwas übersehen haben.«
Lena schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Das Buch passt einfach zu gut. Du sagtest ja auch, dass es ein durchaus bekanntes Buch ist. Es kann also doch sein, dass Gromi es gemeint haben könnte.« Sie seufzte. »Ich befürchte, dass sie einfach nicht wusste, dass die Tränke nicht funktionieren. Oder …« Lena stützte sich auf einen Ellbogen und sah Cay an. »Könnte es sein, dass du …« Sie verstummte, weil sie nicht recht wusste, wie sie es formulieren sollte.
»Dass ich etwas falsch gemacht habe? Natürlich, das ist immer möglich«, sagte er, aber Lena konnte ihm ansehen, dass er nicht daran glaubte. Wahrscheinlich hatte er es auch mehrmals versucht. Man gab ein Experiment nicht gleich auf, wenn es beim ersten Mal nicht funktionierte. Er sicher nicht.
»So oder so, ich möchte es gern versuchen. Es ist das Einzige, was wir haben. Auch wenn es nicht funktioniert, hätte ich doch das Gefühl, Gromis Wunsch erfüllt zu haben, verstehst du?«
Er nickte. »Dann sollten wir uns auf die Suche nach der Pflanze machen, die in dem Rezept angegeben ist. Das wird allerdings nicht ganz einfach werden, aber wir können ja später versuchen, eine passende Stelle ausfindig zu machen.«
»Ja. Nur heute geht es leider nicht mehr. Ich muss endlich noch mal mit Mike ins Stadtarchiv.«
»Wieso das?«
»Erinnerst du dich an die Legenden, die meine Großmutter in das Büchlein geschrieben hat? Wir haben den Verdacht, dass es da vielleicht einen wahren Kern gibt und wir darüber etwas zu diesen ganzen Morden finden können.«
Cay zog die Brauen zusammen. »Ich dachte, das Thema hättet ihr längst abgehakt.«
Lena schüttelte den Kopf. »Das Referat ist bald fällig und wir haben rein gar nichts. Wir müssen es einfach noch mal versuchen. Das Stadtarchiv ist der einzige Ort, an dem wir vielleicht etwas Nützliches finden könnten. Deswegen muss ich auch bald los, leider.«
Cay fuhr mit der Fingerspitze das Zeichen auf ihrem Schlüsselbein nach, was ihr wie jedes Mal eine Gänsehaut bescherte. »Schade, ich dachte, du bleibst heute länger«, murmelte er.
Er senkte den Kopf und küsste sie. Zuerst nur auf die Lippen, aber nach einer Weile wanderte sein Mund über ihre Wange hinter ihr Ohr. Er küsste sie auf die empfindliche Haut und sein warmer Atem streifte die winzigen Härchen in ihrem Nacken. Atemlos drängte sie sich ihm entgegen, streichelte seine nackte Brust und fuhr die Konturen seiner Muskeln nach. Es war wunderbar, ihn so nah zu spüren. Seine Hand in ihrer Taille strahlte eine Hitze ab, die sich bis in ihren Bauch und zwischen ihre Beine fortzusetzen schien. Er liebkoste die weiche Haut an ihrer Seite mit den Fingerspitzen, ließ seine Hand dann langsam nach oben wandern, bis er fast die Rundung ihrer Brust berührte. Lena zuckte zusammen und spannte instinktiv ihren Körper an, obwohl sie sich eigentlich wünschte, dass er weitermachte.
Er hielt inne und hob den Kopf. »Wovor hast du Angst?«, fragte er sanft.
»Ich habe keine Angst. Es ist nur so lange her und ich …« Sie biss sich auf die Lippen. Sie kam sich albern vor. Sie wünschte es sich doch. Jedes Mal, wenn er sie berührte, wuchs das Verlangen, ihn mehr zu spüren.
»Bei mir liegt es auch schon … eine Weile zurück.«
»Wirklich?«
Er streichelte zärtlich ihre Haare. »Ja.«
Lena legte eine Hand an seine Wange. »Na gut, dann warten wir noch ein wenig, bis du dir sicher bist, dass du es auch wirklich willst.«
Er lachte. »Danke, nett von dir, dass du so rücksichtsvoll bist.«
»Keine Ursache, ich …« Sie erstarrte.
Sofort setzte Cay sich auf. »Was ist los?«
»Da ist wieder dieses Prickeln.« Sie rieb sich den Nacken, als könnte sie das Gefühl dadurch vertreiben. »Vielleicht ist es dumm, vielleicht bedeutet es nichts, aber die letzten paar Male, als ich es gespürt habe …« Sie brach ab und sah ihn hilflos an. Sie erwartete, dass er sie beruhigen und alles als lächerlich abtun würde, aber er verengte die Augen und sah sich nach allen Seiten um.
»Nein, das ist nicht dumm. Es ist durchaus möglich, dass du so etwas spüren kannst.« Er wandte seinen Blick wieder ihr zu und ein grimmiger Ausdruck lag auf seinem Gesicht. »Ich würde dem Ganzen gern nachgehen.«
Lenas Kehle wurde eng. »Lass mich bloß nicht allein.«
»Nein, auf keinen Fall. Ich werde Wendel bitten, dass er dich zurück ins Schloss bringt.« Cay schloss die Augen und Lena fragte sich, ob er irgendeine Möglichkeit hatte, über Gedanken mit seinem Diener in Kontakt zu treten. Als sie die gebeugte Gestalt nach ein paar Sekunden aus dem Wald treten und in ihre Richtung humpeln sah, lief es ihr kalt den Rücken hinunter. »Muss das sein? Ich würde lieber mit dir gehen.«
»Dafür ist keine Zeit. Aber keine Sorge. Er wird gut auf dich achtgeben. Er ist stärker, als er aussieht.«
Lena sah auf ihre Hände, die vor Angst zitterten. Das war nicht wirklich beruhigend. Aber wenn Cay diesem Wendel vertraute, dann sollte sie es wohl wenigstens versuchen.
Cay drückte noch einmal ihre Hand und löste sich dann vor ihren Augen in Luft auf.
»Ich hasse es, wenn er das macht«, murmelte sie. Dann stand sie auf, packte ihre Sachen und sah Wendel entgegen, der sie jetzt fast erreicht hatte.
Er schien auch nicht besonders glücklich zu sein, sie jetzt begleiten zu müssen. Ohne sie zu grüßen, gab er ihr ein Zeichen, dass sie ihm folgen sollte. Als sie bemerkte, dass er nicht auf das Schloss zuging, blieb sie stehen. »Zum Schloss geht es da lang.«
Wendel warf ihr über die Schulter einen Blick zu. »Wir gehen durch die Höhlen. Das ist kürzer und sicherer.« Lena warf ihm einen misstrauischen Blick zu. »Er will es so.« Wendel handelte also auf Cays Bitte.
Lena sah zum Schloss hinüber. Wendel hatte natürlich recht, es war der kürzere Weg, deswegen hatten Cay und sie ihn in letzter Zeit auch recht häufig benutzt, anstatt den längeren Weg am Ufer entlang und über die Zugbrücke zu nehmen. Sie seufzte. »Also gut.«
Sie gingen auf die Felsen in der Nähe des Wasserfalls zu. Im Sprühnebel befand sich ein versteckter Mechanismus, den Wendel jetzt betätigte. Es quietsche leise und Stein mahlte über Stein. Im Fels erschien eine kleine Öffnung. Lena trat hindurch und Wendel folgte ihr.
Die Tür schloss sich von selbst und völlige Dunkelheit umfing sie. Die Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf. Für einen Moment hätte sie fast geglaubt, sie wäre allein. Dann hörte sie Wendel etwas sagen, was sie durch das Tosen des Wasserfalls nicht verstehen konnte. Eine Hand griff nach ihrer und drückte sie unsanft auf den rauen Stein zu ihrer rechten Seite. Eine andere Hand legte sich auf ihren Rücken und schubste sie ein Stück nach vorn. Lena ging los. Die Hand immer an der Wand. Offensichtlich hatte Wendel keine Zeit gehabt, eine Lichtquelle zu besorgen, und nun mussten sie sich irgendwie im Dunkeln durchschlagen. Na toll. Das brauche ich gerade noch, allein im Dunkeln mit Quasimodo.
Eine Weile tasteten sie sich mühsam vorwärts. Wendels schlurfende Schritte hallten im Gang wider, sein keuchender Atem schien von überallher zu kommen. Immer wieder spürte sie seine Hand im Rücken, die sie in die richtige Richtung schob. Lena versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Auf den rauen Fels unter ihren Fingern oder die kühle und doch abgestandene Luft im Gang. Vergeblich. Bis ihr das Handy einfiel. Sie holte es aus ihrer Tasche und schaltete es ein. Es war nicht gerade hell wie eine Taschenlampe, aber besser als nichts. Sie leuchtete im Gang umher. Wendel grummelte etwas, das sie nicht verstand. Lena war sich nicht sicher, aber sie glaubte zu wissen, wo sie war.
Sie ließ das Display leuchten, wobei sie immer wieder eine Taste drücken musste, damit das Handy nicht in den Energiesparmodus ging, und als Wendel sie an der nächsten Abzweigung den richtigen Gang entlangschieben wollte, warf sie ihm einen so bösen Blick zu, dass er schnell seine Hand sinken ließ und an ihr vorbeiging.
Sie konzentrierte sich auf den Weg, der etwas uneben und manchmal auch glitschig war. Immer wieder stolperte sie über Steine, die sie im schwachen Lichtschein nicht rechtzeitig gesehen hatte. Bei der nächsten Abzweigung blieb Lena stehen. Sie leuchtete in beide Richtungen. Sie war sich sicher, dass es links weiterging. Gerade wollte sie einen Schritt in den Gang hinein machen, als ihr auffiel, dass sie Wendels schweres Atmen gar nicht mehr hörte.
Sie hob das Handy, leuchte noch einmal in beide Gänge hinein und zuckte zusammen. Jetzt hörte sie ihn. Seine Stimme drang aus dem rechten Gang zu ihr. Es klang, als wäre er schon ein ganzes Stück in den Gang hineingegangen.
»Hier entlang«, schnarrte er.
Lena verengte die Augen. Sie war sich absolut sicher, dass es links weiterging. »Das ist der falsche Weg.«
»Nein, ganz sicher nicht. Los jetzt.«
Sie spürte Ärger in sich aufsteigen, weil er so mit ihr sprach. »Nein, es geht links weiter. Ich bin ganz sicher.«
Keuchender Atem drang durch die Stille zu ihr. »Unsinn. Da kommt man vielleicht auch hin, aber das hier ist eine Abkürzung und er wollte, dass wir uns beeilen.«
Lenas Herzschlag beschleunigte sich. Eine Abkürzung? Davon hatte Cay noch nie etwas erwähnt. Sie wich unwillkürlich ein Stück zurück. »Nein. Ich nehme den anderen Weg.«
»Verdammt.« Wendel fluchte und Lena hörte seine schlurfenden Schritte in der Tiefe des Ganges wieder einsetzen. »Er will nicht, dass ihr etwas zustößt, und ich darf es wieder ausbaden«, hallte seine Stimme zu ihr. »Bleib, wo du bist, ich hole dich!«
Lena machte ein paar Schritte in den linken Gang hinein. Was wollte Wendel jetzt tun? Sie mit Gewalt den anderen Gang entlang zerren? Er ist stärker, als er aussieht. Lena musste schlucken. Was, wenn Cay sich irrte? Was, wenn Wendel sie in die Irre führen wollte?
Sei nicht dumm. Wenn Cay ihm vertraut, solltest du es auch tun. Oder? Sie zwang sich, stehen zu bleiben, und war so beschäftigt, auf Wendels sich langsam näherndes Keuchen zu lauschen, dass sie den Geruch viel zu spät bemerkte. Es war derselbe süßliche Geruch wie damals im Wald.
Er ist hier. Der Schatten. Er ist hinter mir her.
Ihr Herz begann zu rasen, pumpte die Panik durch ihren Körper bis in ihre Glieder. Die Muskeln in ihren Beinen zuckten. Alles in ihr schrie, dass sie einfach in irgendeine Richtung davonstürzen sollte. Mühsam beherrschte sie sich. Zwang ihre Beine, stillzustehen. Kopflos durch die Höhlen zu rennen würde ihr nichts nutzen. Sie hielt sich eine Hand vor den Mund und versuchte, so leise wie möglich zu atmen. Es war dunkel. Mit etwas Glück konnte sie unbemerkt bleiben, wenn sie sich leise verhielt. Der Geruch wurde stärker, drang in ihre Nase, so süßlich, dass es sie beinahe zum Würgen brachte.
Lena zitterte. Wer oder was immer das war, warum verfolgte es sie? Und was würde es mit ihr tun, wenn es sie hatte? Sie wollte es auf keinen Fall herausfinden.
Unendlich langsam, um ja keinen Laut zu verursachen, wich sie ein paar Schritte zurück, weiter in den linken Gang hinein. Weg von Wendel und weg von dem Geruch, der ganz sicher nicht von Wendel kam. Sonst hätte sie ihn vorhin schon riechen müssen. Nein. Er kam von dem düsteren Schatten, der sie damals im Wald beinahe erwischt hätte. Er hatte sie draußen auf der Wiese beobachtet und jetzt war er hier.
Das Blut stieg ihr zu Kopf und mit ihr die Angst, die sie beinahe schwindlig machte.
»Wo steckst du?« Wendels Stimme kam wie ein Flüstern aus weiter Ferne. Sie hätte gern nach ihm gerufen, aber wenn er sie hörte, konnte es auch der Schatten. Die Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf. Nein. Sie durfte keinen Laut von sich geben.
Mit tauben Fingern umklammerte sie ihr Handy. Am liebsten hätte sie es eingeschaltet, sich umgedreht und wäre davon gerannt. Stattdessen wich sie jetzt langsam zurück. Schritt für Schritt. Die zitternden Finger behutsam an die Wand gelegt. Sie verdrängte den Gedanken, dass der Schatten kein Licht brauchte. Dass er sie mit Magie finden konnte. Wenn er das könnte, hätte er es schon längst getan. Sie wiederholte es in ihrem Kopf wie ein Mantra, um sich nicht doch noch einfach umzudrehen und wegzulaufen.
Immer weiter wich sie in die Höhlen zurück. Angespannt. Lauschend. Wo war Wendel? Sie hörte sein Keuchen nicht mehr. Hastig wandte sie den Kopf, um noch genauer hinzuhören. Da! Ein Stöhnen. Lena begann zu zittern. War das Wendel gewesen? Hatte der Schatten ihn erwischt? Ihn ausgeschaltet, damit er sich in Ruhe um Lena kümmern konnte? Sie biss die Zähne zusammen, damit sie nicht laut aufeinanderschlugen und sie verrieten. Wenn Wendel irgendwo in den Höhlen lag, vielleicht verletzt …
Du kannst ihm nicht helfen. Geh weiter. Jetzt die Heldin zu spielen nutzt niemandem. Du musst hier raus. Du musst Cay finden. Das ist deine einzige Chance.
Sie zwang sich zu einem Schritt. Und noch einem. Sie kannte den Weg raus aus den Höhlen. Sie würde ihn finden. Auch in dieser totalen Finsternis. Langsam wich sie immer weiter zurück. Ihr Körper bis zum Zerreißen gespannt, die Hand fest an den rauen Fels gedrückt, damit sie nicht die Orientierung verlor. Kleine Spalten und Risse gruben sich in ihre Haut. Mehr als einmal verbiss sie sich ein Zischen, weil etwas in ihre Handfläche schnitt.
Wo war der Schatten? Kam er wieder näher? Sie starrte in die Dunkelheit. Die Ungewissheit machte sie wahnsinnig.
Wie weit war er von ihr entfernt? Sie hörte nichts, kein Keuchen, kein Atmen, keine Schritte. Da war nur der Geruch. Und er wurde stärker.
Lena hielt die Luft an, versuchte ihr Herz zu beruhigen, dessen Schläge laut in der Höhle widerzuhallen schienen.
Sie musste schneller gehen, schneller, mehr Abstand zwischen sich und das Ding bringen, das sie verfolgte. Langsam und vorsichtig drehte sie sich um. Sie wollte ihm nicht den Rücken zuzuwenden, aber wenn sie weiter rückwärtsging, hatte sie keine Chance.
Es kostete sie alles, was sie geben konnte, nicht einfach wegzurennen. Mit leisen, weichen Schritten schlich sie durch die Höhle. Die Hand immer noch an der Wand. Ignorierte den stechenden Schmerz, den jede Unebenheit des Felsens in ihre Haut schabte.
Sie ging schneller. Noch schneller. Der Geruch wurde nicht schwächer. Was willst du von mir? Warum kannst du mich nicht in Ruhe lassen? Ihr Herz pochte immer noch wie verrückt. Als ein Windhauch ihren Nacken streifte, hätte sie beinahe aufgeschrien. Sie biss sich auf die Lippen, bis es wehtat. Machte noch schnellere Schritte. Vergeblich. Der süßliche Geruch wurde immer stärker, überfiel sie, waberte überall um sie herum.
Lauf! Lena riss ihr Handy aus der Tasche, schaltete das Display ein und rannte los. Es konnte nicht mehr weit sein.
Der Geruch umspülte sie jetzt wie Wasser. Er drang zwischen ihren Fingern hindurch in ihren Mund und nahm ihr den Atem. Ihre Knie gaben nach, ihr wurde schwarz vor Augen.
Nein. Du gibst jetzt nicht auf. Reiß dich zusammen. Nur noch wenige Schritte bis zu der Tür, die in den alten Teil der Burg führte. Sie musste sie nur erreichen, bevor sie ohnmächtig wurde. Mit letzter Kraft kämpfte sie gegen die Schwärze an, gegen die Luftnot, gegen das Würgen. Keuchend und mit ausgestreckten Händen stolperte sie den Gang entlang, bis sie endlich auf Holz stieß.
Mit zitternden Fingern drückte sie die Klinke. Bunte Punkte tanzten vor ihren Augen und ihre Arme kribbelten. Verzweifelt riss sie an der schweren Tür. Nach ein paar unendlich langen Sekunden öffnete sie sich.
Lena drückte sich hindurch und stürzte halb die Stufen im Fels hinunter. Keuchend rang sie nach Luft, versuchte, wenigstens ein bisschen Sauerstoff in ihre schmerzenden Lungen zu saugen. Weiter. Lauf weiter. Sie stieß gegen etwas, wollte sich abdrücken, nur weg, zur Galerie, wo es hell war. Wohin ihr der Schatten hoffentlich nicht folgen konnte.
Jemand hielt sie fest. Finger gruben sich in ihre Oberarme. Sie riss an ihren Armen, schrie auf, hämmerte auf ihn ein. Sie war so weit gekommen. Sie würde nicht einfach so aufgeben.
»Leonora!«
Durch ihren rasselnden Atem hörte sie es kaum. Trotzdem erkannte sie die Stimme sofort. Cay. Die Erleichterung trieb ihr die Tränen in die Augen. Der Zauber auf ihrem Schlüsselbein musste ihn gerufen haben, weil sie in Gefahr schwebte. Er sagte etwas, redete beruhigend auf sie ein, aber durch das Rauschen in ihren Ohren konnte sie es kaum verstehen. Mühsam hielt sie sich an seiner Stimme fest, an seinen Fingerspitzen, die sanft ihre Schläfe streiften. Sie krallte die Hände in den Stoff seines Hemds, rang nach Luft und stellte fest, dass das Atmen einfacher ging. Es tat immer noch weh, jeder Atemzug war eine Qual, aber langsam verschwand das Gefühl, jeden Moment in Schwärze zu versinken. Nur langsam drang zu ihr durch, was das bedeutete. Der süßliche Geruch war verschwunden. Sie hatte es geschafft. Sie war dem Schatten entkommen.
Ihre Knie gaben unter ihr nach und sie klammerte sich an Cays Arme, um nicht hinzufallen. »Wendel«, keuchte sie. »Er ist noch da drin.«
»Was ist passiert?« Cays Stimme klang kühl und ruhig, aber sie konnte hören, dass es ihn jedes bisschen Selbstbeherrschung kostete.
»Der Schatten. Aus dem Wald. Der Geruch.« Ein heftiger Hustenanfall schüttelte sie.
»Ganz ruhig. Atme langsam.« Cay legte eine Hand auf ihr Brustbein. Wärme strahlte davon ab und drang durch ihre Haut in ihre Lungen, bis der Husten nachließ und sie wieder Luft bekam. »Wendel«, wiederholte sie. »Der Schatten.«
»Ja.« Seine Stimme klang grimmig. »Sobald du in Sicherheit bist.«
»Nein. Sofort.« Sie atmete tief durch. »Der Geruch … ein Gas … Gift.« Es konnte nicht anders sein. Es musste ein Gas sein, irgendetwas, das ohnmächtig machte. Oder Schlimmeres. Auch wenn Wendel ihr unheimlich war, den Tod wünschte sie ihm ganz bestimmt nicht an den Hals. »Ich bin okay.«
Cay presste die Lippen zusammen. »Wo ist die Kette? Wenn ich dich alleine lasse, dann nicht ohne die Kette.«
»Rucksack. Hab sie zum Baden ausgezogen.« Ihre Stimme klang heiser. »Mache ich bestimmt nie wieder.«
»Gut, dann muss es anders gehen.«
Er stand auf und starrte sie an. Was hatte er vor? Verwirrt runzelte sie die Stirn.
»Schutzzauber«, sagte er. »Beweg dich nicht vom Fleck, hier bist du in Sicherheit.« Dann war er verschwunden.
*
Cay war nur wenig später ohne Wendel zurückgekehrt. Er hatte ihn ohnmächtig vorgefunden und geheilt, aber Wendel hatte sich geweigert, sich weiter versorgen zu lassen und war grummelnd in den Stall verschwunden.
Jetzt saß sie neben Cay auf dem Sofa, während er ihre Hände begutachtete. Vorsichtig fuhr er mit seinen Fingerspitzen über die Wunden. Lena zuckte zusammen, als brennender Schmerz sie durchfuhr.
»Es tut mir leid, aber es geht nicht anders.«
»Du meinst wohl, du weißt nicht, wie es anders geht«, sagte Lena gepresst.
»Stimmt.« Es klang grimmig. Er hatte nichts entdecken können. Was immer Lena verfolgt hatte, in den wenigen Minuten, in denen Cay sich um sie gekümmert hatte, war es verschwunden.
Langsam ließ der Schmerz nach, es kribbelte sanft und die Wunden schlossen sich. Tief waren sie ohnehin nicht gewesen. Dennoch war Lena froh, dass Cay ihr auf diese Art helfen konnte. Als er fertig war, betrachtete sie ihre Hände. Die Wunden waren vollkommen verschwunden. Trotzdem war ihre Haut noch nicht wieder makellos. Man sah immer noch weiße Stellen, dort, wo die Wunden gewesen waren. Cay hielt ihre Hände noch einen Augenblick fest und starrte auf die dünnen Narben. »Ich hätte dich nicht allein lassen dürfen«, flüsterte er.
»Nein, du kannst doch nichts dafür. Du hättest doch nicht wissen können … Wendel hat versucht, mir zu helfen, aber der Schatten, was immer es war, war zwischen uns …« Sie schluckte. »Was ist das nur? Warum hat er es auf mich abgesehen?«
Cay machte ein finsteres Gesicht. »Ich weiß es nicht. Aber ich lasse dich nicht mehr aus den Augen, bis ich es herausgefunden habe.«
Sie schnaubte. »Wie soll das gehen?«
»Du bleibst hier bei mir, bis ich weiß, wer dich verfolgt.«
»Nein, auf keinen Fall, das geht nicht. Das kann Tage dauern. Wochen.«
»Bitte, Leonora, sei vernünftig. Wir finden einen Weg, es deiner Mutter zu erklären. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass dir etwas zustößt.«
Die rohen Gefühle in seinen Worten drangen direkt in ihr Herz. Trotzdem schüttelte sie den Kopf. »Nein. Unmöglich. Die Schule, Mike. Es geht nicht.« Sie sah auf ihre Hände, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen. Während er in den Höhlen gewesen war, war sie sich über etwas klar geworden. »Außerdem … ich glaube, ich möchte lieber eine Weile nicht herkommen.«
Seine Finger spannten sich an, schlossen sich fester um ihre Hände. »Du willst mich nicht mehr sehen?«
»Nein! Doch! Das habe ich nicht gemeint. Aber Mike hat recht. Alles, was mir passiert ist, ist hier passiert. So als … als, als hätte sich alles hier gegen mich verschworen.« Sie suchte nach Worten. »Als würde jemand mich von hier fernhalten wollen.«
»Natürlich, das ergibt Sinn.« Eine steile Falte bildete sich auf seiner Stirn. »Ich muss blind gewesen sein, dass ich nicht eher darauf gekommen bin.«
Verwirrt sah sie ihn an. »Wie hättest du das wissen sollen? Wozu sollte das gut sein?«
»Es gibt Leute, die ein Interesse daran haben, dass ich allein bin. Sie wollen dich von mir fernhalten. Abschrecken. Und es funktioniert.«
Es war eine reine Feststellung, ganz ohne Vorwurf, aber es vertrieb schlagartig die letzten Reste ihrer Benommenheit.
»Nein, es funktioniert nicht«, sagte sie fest. »Ich lasse mich nicht so einfach abschrecken. Von nichts und niemandem. Egal, was passiert.«
Seine Augen leuchteten warm. »Du bist unglaublich«, flüsterte er. Er hob ihre Hände an seine Lippen und küsste ihre Handflächen, die immer noch etwas empfindlich waren.
Die zärtliche Intimität seiner Geste verschlug ihr für einen Moment den Atem. Sie hielt still, kostete den Moment aus, wäre am liebsten ganz in seiner Berührung versunken.
»Ich könnte mich nie von dir fernhalten«, murmelte sie. Er sah auf und sie glaubte, in seinen Augen zu sehen, dass es ihm genauso ging. »Aber vielleicht könnten wir einfach mal eine Weile nicht hierherkommen?«
»Natürlich, was immer du möchtest.«
»Wir suchen uns eben für eine Weile einen anderen Aufenthaltsort. Nur vielleicht nicht bei mir.« Sie quälte sich ein Lächeln ab. »Meine Mutter würde ausrasten.«