Kapitel 24

 

 

 

Als Lena vor ihrem Haus ankam, sah sie, dass ihre Mutter am Fenster stand. Sie blieb stehen. Wenn sie jetzt hineinging, würde es wieder Streit geben und gerade jetzt schnürte der Gedanke ihr die Kehle zu. Sie konnte es nicht ertragen, jetzt auch noch mit ihrer Mutter wegen irgendwelcher Kleinigkeiten aneinanderzugeraten. Konnte ihre Mutter sie nicht ein einziges Mal einfach in Ruhe lassen? Sie ihren düsteren Gedanken überlassen, damit sie über eine Entscheidung nachdenken konnte, die sie tief in ihrem Inneren längst getroffen hatte? Sie atmete durch und zwang sich, das Haus zu betreten. Im Flur zog sie mit gesenktem Kopf die Schuhe aus.

»Lena.« Das klang nicht nach Streit. Es klang eher nach Mitleid.

Überrascht sah sie auf.

»Ich hatte recht, nicht wahr?«, fragte ihre Mutter sanft.

Lena wartete darauf, dass Wut sich in ihr zusammenklumpen würde, wie sie es bei einer solchen Bemerkung normalerweise getan hätte, doch sie fühlte gar nichts. Nur Leere. Es stimmte ja. Ihre Mutter hatte recht gehabt. Mit zusammengepressten Lippen nickte sie. Es spielte keine Rolle, ob ihre Mutter sich jetzt darüber freuen würde, dass sie recht behielt. Nichts spielte mehr eine Rolle.

»Es tut mir so leid.«

Verwirrt sah Lena auf. Hatte sie sich gerade tatsächlich entschuldigt?

»Alles tut mir so leid, Lena. Dass ich in letzter Zeit nicht für dich da war und noch auf dir herumgehackt habe. Ich war egoistisch und habe vergessen, dass du das Gleiche durchmachst wie ich.« Sie hob die Arme, als wollte sie Lena umarmen, zögerte aber. Vielleicht war sie sich nicht sicher, wie Lena darauf reagieren würde.

»Ach, Mama«, flüsterte Lena. Mit feuchten Augen ging sie zu ihrer Mutter, um sich an sie zu lehnen. Es tat so gut. Für einen Sekundenbruchteil fühlte sie sich, als wäre sie wieder sechs Jahre alt und hätte sich das Knie aufgeschlagen. Damals hatte ihre Mutter ihr die Tränen immer weggeküsst und ihr zur Beruhigung etwas vorgesungen. Sie waren eine Einheit gewesen, Mutter und Tochter, unzertrennlich. Bevor all diese Missverständnisse zwischen sie getreten waren. Lena wünschte sich mit aller Kraft, dass es wieder so werden könnte.

»Möchtest du darüber reden?«, fragte ihre Mutter leise.

Lena schüttelte den Kopf. Sie wollte die gerade eben erst gewonnene Waffenruhe nicht zerstören, in dem sie ihrer Mutter erzählte, dass der ihr so verhasste Mann ihr die Tochter wegnehmen wollte. Damit musste sie wohl oder übel allein fertig werden. Wenn sie wenigstens mit Mike hätte reden können, aber er hatte ziemlich deutlich gemacht, dass er von alldem nichts mehr hören wollte. Sie löste sich aus der Umarmung.

»Nein, ich will nur in mein Zimmer und allein sein.« Lena hätte sich gern bei ihrer Mutter für ihr Entgegenkommen revanchiert, es bedeutete ihr sehr viel, aber ihr von Cays Bitte zu erzählen, hätte alles nur schlimmer gemacht.

Langsam schob sie sich von ihrer Mutter weg. »Gute Nacht«, sagte sie und ging die Treppe hinauf.

In ihrem Zimmer zog sie gewohnheitsmäßig als Erstes das Buch ihrer Großmutter heraus und blätterte darin, um sich wenigstens für ein paar Augenblicke von der Entscheidung abzulenken, die sie treffen musste. Sie fragte sich, ob ihre Mutter ihr jemals den Schlüssel zu Gromis Zimmer geben würde. Vielleicht, wenn Lena sie jetzt noch einmal darum bat?

Sie betrachtete die Liste mit den Pflanzen. Wenn sie nur wüsste, ob diese Tränke wirklich das gewesen waren, was ihre Großmutter gemeint hatte. Es schien alles so gut zu passen. Ja, es musste so sein. Gedankenverloren blätterte sie die nächste Seite um, auf der sie sich Notizen über die Pflanze gemacht hatte, die sie für den Trank brauchte.

Blüht noch nicht. Morgen Abend wieder herkommen, stand da in ihrer krakeligen Handschrift.

Lena stöhnte auf. »Die Pflanze. Wie konnte ich das nur vergessen?«

Hastig stopfte sie das Buch wieder in ihren Rucksack, in dem alle anderen Utensilien schon seit gestern eingepackt waren. Sie schnappte sich im Vorbeigehen ihre Regenjacke und raste die Treppe wieder runter. Es war ihr egal, ob ihre Mutter sie hörte, sie hatte keine Zeit zu verlieren.

Natürlich könnte sie warten. Die Pflanze würde irgendwann wieder blühen, aber der Gedanke, das Projekt nicht sofort abschließen zu können, war plötzlich unerträglich. So, als würde ihr die Entscheidung leichter fallen, wenn das Projekt ihrer Großmutter endlich abgeschlossen war. Du hast dich doch längst entschieden, du wusstest es von Anfang an. Sie schüttelte den Kopf, wollte es sich nicht eingestehen.

Im Vorbeilaufen hörte sie, wie sich die Wohnzimmertür öffnete. Sie ließ die Haustür einfach offen stehen und sprintete zu ihrem Fahrrad. Dass sie wieder einmal vergessen hatte, es abzuschließen, kam ihr jetzt entgegen. Sie zog ihren Rucksack auf, sprang in den Sattel und fuhr los.

 

*

 

Das Fahrradfahren in den Bergen war anstrengend, ein ständiges Auf und Ab, aber das war Lena gewohnt. Was ihr viel mehr zusetzte, war die Tatsache, dass sie so viel Zeit zum Grübeln hatte. Normalerweise mochte sie das, aber heute wäre ihr etwas Ablenkung lieber gewesen. Eine Weile lang hatte es geholfen, dem Irrlicht zuzusehen. Sie hatte es aus ihrer Tasche geholt, als es dunkel wurde und jetzt schwebte es vor ihr her und spendete wenigstens ein bisschen Licht. Bald waren ihre Gedanken jedoch wieder zu Cay und seiner Bitte zurückgekehrt.

Je mehr sie über alles nachdachte, desto schwerer fiel es ihr, sich zu entscheiden. Dabei wusste sie, dass sie eigentlich keine echte Wahl hatte. Sie konnte nicht bei Cay bleiben und ihr restliches Leben auf dem Schloss verbringen. Sie hatte einfach zu hart gearbeitet, für das Stipendium und für die Schule, für ein Leben fern von diesem winzigen Ort, um sich jetzt freiwillig für ihr restliches Leben einsperren zu lassen. Dann waren da natürlich noch Mike und ihre Mutter. Ja, es war die einzig richtige Entscheidung.

Sie schluckte schwer. Warum fühlt es sich dann so falsch an? Warum hatte der Gedanke, ihr restliches Leben bei Cay auf dem Schloss zu verbringen, absolut nicht Furchtbares, gab ihr kein Gefühl von Beengtheit? Wohingegen der Gedanke, ihn nie wiederzusehen, sich um sie legte wie eine Zwangsjacke, die ihr die Luft abschnürte? Sie schüttelte den Kopf. Das war sicher nur die Verliebtheit. Wer wusste schon, ob das Gefühl anhielt? Schon unter normalen Umständen war es schwer genug, sich sicher zu sein, dass man sein gesamtes Leben mit einem einzigen Menschen verbringen wollte. In ihrem Fall ging es auch noch darum, dass sie ihr ganzes Leben ausschließlich mit einem einzigen Menschen verbringen müsste. Es würde niemanden geben außer ihm und ihr. Unvorstellbar.

Sie konzentrierte sich wieder auf die Straße und stöhnte. Sie hatte den Teil mit den Serpentinen erreicht. Ihre Oberschenkel brannten vor Schmerz und sie atmete schwer. Da war schon die erste Kehre, natürlich eine besonders steile. Lena starrte auf die wenigen Zentimeter Straße vor ihrem Vorderreifen, das Blut pochte in ihren Ohren und ihr Keuchen übertönte die Geräusche des nächtlichen Waldes.

Wie aus dem Nichts tauchten Lichter vor ihr auf. Ein Auto kam die Passstraße heruntergerast. Geblendet warf sie sich nach rechts, einfach aus Gewohnheit und in der Hoffnung, nicht von dem Auto erfasst zu werden. Es hupte laut und das Auto preschte mit wenigen Millimeter Abstand an ihr vorbei, ohne langsamer zu werden. Nur langsam sank ihr Herzschlag wieder etwas, während sie, völlig aus dem Tritt gebracht, irgendwie weiter den Berg hinaufeierte. Sie stöhnte auf, als die Straße ohne Vorwarnung noch steiler wurde.

Ein paar Meter quälte sie sich noch weiter, dann war es vorbei. Sie konnte einfach nicht mehr, also stieg sie ab und verschnaufte am Straßenrand. Sie hielt sich am Lenker fest, ließ den Kopf hängen und saugte Luft in ihre schmerzenden Lungen. Was sollte sie jetzt tun? Aufgeben oder zu Fuß weitergehen? Hatte es überhaupt einen Sinn? Der Trank funktionierte ohnehin nicht.

Ihre Gromi erschien vor ihrem inneren Auge, wie sie ihr einschärfte, wie wichtig es war, diese Pflanzen zu finden. Wie enttäuscht sie wäre, wenn es misslang. Nein. Aufgeben kam nicht infrage. Langsam richtete Lena sich wieder auf. Es musste irgendwie gehen. Das Fahrrad ließ sie in den Straßengraben fallen. Sie konnte es nicht mehr schieben und oben würde es ihr sowieso nichts mehr nutzen.

Schritt für Schritt kämpfte sie sich weiter, zwang ihren Atem in einen gleichmäßigen Rhythmus und sah nur auf ihre Füße. Schneller als gedacht war sie bei der nächsten Kehre und hier konnte man schon sehen, dass die Bäume weniger dicht standen. Sie marschierte weiter, bis sie schließlich den Wandererparkplatz vor sich sah, der natürlich um diese Uhrzeit verlassen dalag. Die ebenerdige Strecke über den Parkplatz und die Almwiese gab ihren Beinen Zeit, sich zu erholen.

Bald stand sie wieder vor der kleinen Felswand. Allein, ohne Absicherung und mit wackligen Knien da hinaufzuklettern, war einfach dumm, aber jetzt war sie so weit gekommen, da wollte sie nicht aufgeben. Nicht wegen so etwas. Der Aufstieg gelang ihr erstaunlich problemlos, vor allem dank des Irrlichts, das ihr immer wieder passende Haltegriffe zeigte.

Außer Atem, verschwitzt und erschöpft blieb sie schließlich stehen. Sie hatte die Quelle erreicht. Im Licht des noch nicht ganz vollen Mondes suchte sie die Umgebung nach den Stängeln ab, die sie markiert hatte. Schnell fand sie die Pflanzen und entdeckte die winzigen Blüten. Die braunen Blütenblätter hatten sich aus der festen Knospe gelöst. Sie wirkten zart, beinahe durchsichtig. Lena holte ihre silberne Schere heraus und schnitt die Blüte vorsichtig ab. So viel Ärger für so wenig Pflanze. Vorsichtig schob sie die Blüte in den vorbereiteten Plastikbeutel. Sie schnitt noch ein paar weitere ab, damit sie genug für den Trank hatte. Ein paar ließ sie stehen, damit die Pflanzen Samen bilden konnten und nicht komplett ausstarben.

Sie packte den Plastikbeutel in ihren Rucksack, wobei sie darauf achtete, dass die Blüten nicht gequetscht wurden, und machte sich dann auf den Rückweg. Vor der Felswand blieb sie stehen und sah nach unten. Sie hasste es, von oben nach unten zu klettern. Sie hatte diesen Abstieg zwar schon einmal geschafft, aber das war bei Tag und mit Cay als Absicherung gewesen. Jetzt war es Nacht, und wenn sie abstürzte, dann war niemand da, der sie auffing. Lena schluckte schwer. Nicht nur das. Bis man sie hier oben fand, würden vielleicht Tage vergehen, das hörte man immer wieder. Sie warf einen Blick auf ihr Handy. Kein Netz. War ja klar. Sie überlegte ernsthaft, auf dem Absatz zu bleiben, bis es hell wurde.

Das Irrlicht tanzte vor ihren Augen auf und ab, als wollte es sagen: Wir schaffen das schon. Lena kaute an ihrer Unterlippe. Konnte sie es wagen? Immerhin hatte das Irrlicht sie auch ziemlich gut hinaufgelotst. Es konnte ihr sicher auf beim Abstieg helfen. Ganz allein war sie also doch nicht. Außerdem war der Gedanke nicht sehr verlockend, hier oben zu warten, bis jemand vorbeikam, um ihr zu helfen.

Sie nickte dem Irrlicht zu. »Also gut, versuchen wir es.«

Die ersten paar Kletterzüge waren leicht. Zuverlässig zeigte das Irrlicht Lena die besten Griffe für Hände und Füße. Sie spürte schon Erleichterung in sich aufsteigen.

Bis ihre Hand abrutschte. Lena taumelte nach hinten und brauchte alle Kraft in ihren Fingerspitzen, die sie aufbringen konnte, um nicht mit der anderen Hand auch noch den Halt zu verlieren. Verzweifelt rang sie um ihr Gleichgewicht. Dabei lösten sich unter ihren Füßen kleine Steinchen und einer der Vorsprünge lockerte sich. Fieberhaft tastete sie über den Felsen und suchte nach einer Kuhle oder einem Vorsprung für ihre Finger. Das Irrlicht schwebte um sie herum, genauso panisch wie sie selbst. In diesem Moment brach der Halt unter ihrem linken Fuß. Sie schrie auf.

Mit letzter Kraft grub sie die Finger ihrer rechten Hand in den Felsen und sah nach unten. Ein wenig zu hoch, um einen Sprung zu wagen. Ihre Finger pochten schmerzhaft. Bald würde sie sich nicht mehr halten können. Sie schloss die Augen und versuchte, mit ihrer linken Hand den Felsen zu erspüren. Da, tatsächlich. Sie hatte einen Halt gefunden, aber ihre Füße hingen immer noch in der Luft. Wenn sie nicht bald einen Tritt fand … Komm schon, reiß dich zusammen, du schaffst das. Du hast es schon einmal geschafft. Sie atmete tief durch, versuchte, sich trotz ihrer ungünstigen Lage zu beruhigen. Dann tastete sie vorsichtig mit den Füßen den Fels ab. Es war schwer, sich darauf zu konzentrieren, während ihre Finger brannten und ihre Arme kaum noch Kraft hatten. Schließlich fand sie einen winzigen Vorsprung, der gerade genug halt für ihre Zehenspitzen bot. Kurz drückte sie sich an den Felsen, zitternd vor Erleichterung. Dann tastete sie sich vorsichtig weiter nach unten. Als sie festen Boden unter den Füßen spürte, wichen alle Anspannung und der letzte Rest Kraft aus ihr und ihre Knie gaben nach. Eine Weile saß sie schwer atmend auf dem Boden, bis ihr Herzschlag sich beruhigt hatte. Es war dumm gewesen, alleine hierherzukommen. Man ging nicht alleine in die Berge und schon gar nicht zum Klettern. Sie hatte Glück gehabt.

Mühsam kam sie schließlich auf die Beine und machte sich auf den Rückweg. Der Gedanke an den langen Weg, den Berg runter und nach Hause, ließ ihre Knie beinahe noch mal wegsacken. Nein. Sie würde es irgendwie bewältigen. Entschlossen ging sie den Weg durch die Almwiesen entlang nach unten. Sie konnte nur hoffen, dass die anderen Pflanzen nicht auch an so schwierig zu erreichenden Orten versteckt waren. Cay würde bald nicht mehr da sein, um sie zu begleiten. Sie versuchte, den Schmerz zu ignorieren, der in ihrer Brust wütete. Sie würde ihn nicht mehr wiedersehen. Nie wieder. Eine unendlich lange Zeit. Der Weg verschwamm vor ihren Augen. Sie blieb stehen und wischte sich mit der Hand über das Gesicht.

»Leonora?«

Sie fuhr auf. Vor ihr auf dem Weg stand Cay. Ohne lange zu überlegen, rannte sie auf ihn zu, schlang ihm die Arme um den Hals und vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. Er drückte sie an sich, küsste sie auf den Scheitel und streichelte ihren Rücken. Sein vertrauter Geruch stieg ihr in die Nase und weckte in ihr den Wunsch, es könnte immer so bleiben. »Ich bin so froh, dass du da bist.« Verzweifelt klammerte sie sich an ihn, als wäre er ein Stück Treibholz im Ozean.

»Ich auch.« Er drückte sie noch fester an sich.

»Wie hast du mich nur gefunden?«

»Mir war sofort klar, dass nichts dich davon abhalten würde, nach der Pflanze zu suchen. Nichts.«

Sie sah auf und blickte in seine dunklen Augen, die im Glanz des Irrlichtes grün schimmerten. Wie sollte sie es nur ertragen? Nie wieder so von ihm gehalten zu werden, nie wieder seine Stimme zu hören. Zu wissen, dass es nicht einmal den Hauch einer Chance gab, ihn jemals wiederzusehen.

Wie musste es sich erst für ihn anfühlen? Sie würde Mike haben, vielleicht hier weggehen, studieren. Ihr Leben würde weitergehen. Seines würde stillstehen. Für immer.

 

*

 

»Danke, dass du das machst«, sagte Lena.

Sie sah sich im Labor um. Durch die Wände aus behauenen Steinen wirkte es ziemlich düster, und dass es im Keller des Schlosses lag, wo es sich weitläufig verzweigte, trug nur noch dazu bei. Eine Menge Apparate, die Lena nicht kannte, und eine Menge, die sie schon mal gesehen hatte, standen überall herum. An den Wänden standen verschlossene Schränke, in denen Lena Chemikalien und weitere Hilfsmittel vermutete.

»Das mache ich gern.«

»Trotz der Uhrzeit?« Sie hatte Cay gebeten, sofort mit ihr zum Schloss zu fahren und den Trank aufzusetzen. Sie wollte es endlich abschließen.

»Rund um die Uhr, solange es noch geht.« Traurigkeit schimmerte durch sein Lächeln.

Bevor sie etwas erwidern konnte, wandte er sich ab und bereitete alles für den Trank vor. Lena trat neben ihn und betrachtete das Rezept. »Mich würde interessieren, ob die alle nicht funktionieren. Vielleicht ist es ja nur das eine.«

Cay drehte gerade den Bunsenbrenner auf und stellte ein Glas mit einer Flüssigkeit darauf. »Ich habe mehrere ausprobiert. Keines hat funktioniert.«

»Hm. Schade. Es ist irgendwie traurig, dass Gromi so viel Arbeit in etwas gesteckt hat, das nicht funktionieren kann.« Sie sah zu, wie Cay die kleine Plastiktüte mit den braunen Blüten öffnete. Er griff nicht hinein, sondern hielt sie Lena hin. »Das solltest du selbst tun.«

Sie nickte, nahm eine der kleinen Blüten heraus und hielt sie über das dampfende Gefäß. Das war es. Das Ende. Das Projekt mit den Pflanzen, das sie mit ihrer Großmutter verbunden hatte, bald hatte sie es abgeschlossen. Langsam drehte sie die Hand um. Die kleine Blüte klebte an ihrer Haut und wollte sich nicht recht lösen. Vorsichtig gab Lena ihr einen Schubs mit dem Zeigefinger.

Die Blüte sank in die Flüssigkeit und löste sich auf. Bald schwammen nur noch kleine Körnchen auf der Oberfläche. Cay schaltete den Bunsenbrenner aus.

Es war vorbei. Lena verspürte eine leise Wehmut, dass diese Aufgabe ihr genommen worden war, ihre letzte, echte Verbindung zu Gromi, aber sie spürte auch große Erleichterung. Es hatte sie doch mehr belastet, als sie sich eingestehen wollte.

Mit einer Zange nahm Cay das Glas herunter und stellte es zum Abkühlen auf die steinerne Oberfläche des Tisches. Als es nicht mehr dampfte, nahm er es und reichte es ihr.

»Ich weiß, normalerweise soll man im Labor nicht trinken, aber das hier ist eine Ausnahme.« Er zwinkerte.

Sie nahm das Glas entgegen und trank einige Schlucke. Es schmeckte bitter, aber nicht unangenehm.

Sie reichte es Cay. Er betrachtete es nachdenklich. Dann nahm er es und trank.

»Woher wissen wir, ob es gewirkt hat?«, flüsterte Lena.

»Wenn man dem Buch glauben darf, wirkt es sofort«, antwortete er.

Lena hob fragend eine Augenbraue. »Wirkt es bei dir?«

Es dauerte eine Weile, bis er antwortete. So als müsste er erst nachfühlen, ob sich etwas geändert hatte. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Nein.« Er nahm ihre Hand. »Es tut mir so leid. Ich hätte dir gewünscht, dass es funktioniert.«

Sie fühlte tief in sich hinein. Dann lächelte sie matt und sah auf. »Es hat doch funktioniert.«

Cay runzelte die Stirn. »Tatsächlich?«

»Ja. Nur nicht so, wie du glaubst. Ich vermisse Gromi immer noch, es macht mich immer noch traurig, dass ich nicht mehr mit ihr reden kann. Aber es tut nicht mehr weh. Ich kann damit meinen Frieden machen. Verstehst du?« Lena ließ seine Hand los und griff nach dem kleinen Büchlein. Zärtlich strich sie über den Ledereinband. »Es macht nichts, dass der Trank nicht funktioniert. Mich mit den Pflanzen zu beschäftigen, den Trank zuzubereiten, hat ausgereicht. Dadurch, dass ich Gromis Wunsch erfüllt habe, konnte ich mich verabschieden. Endlich.«

Es stimmte. Trotzdem blieb ein nagendes Gefühl. Konnte das wirklich alles sein, was Gromi mit den Pflanzen vorgehabt hatte? War es wirklich so einfach?

»Ich beneide dich. Ich wünschte, ich könnte das auch.«

Lena ging zu ihm, legte ihm die Arme um den Hals und strich ihm ein paar Haare aus der Stirn. »Das wirst du. Irgendwann. Was du erlebt hast, ist viel schlimmer.« Sie schluckte. »Gromi war noch nicht so alt und ich wusste nicht, dass sie krank war. Es kam unerwartet für mich, deswegen war es so schwer. Aber jemanden auf so grausame Weise zu verlieren wie du, das …« Sie verstummte. Wie konnte man so etwas überhaupt in Worte fassen? »Das vergisst man eben nicht einfach so«, sagte sie schließlich. »Ich wünschte, es gäbe einen Trank fürs Vergessen. Einen der funktioniert.« Er hatte seine Familie verloren und bald würde er für immer ganz allein sein. Der Gedanke schnürte ihr die Kehle zu. »Wenn ich doch nur alles vergessen könnte. Alles, was ich aufgeben müsste, wenn ich bei dir bliebe«, flüsterte sie. »Dann wäre die Entscheidung so viel leichter.« Sie drückte sich an ihn und lauschte seinem Herzschlag. Wie konnte sie ihn einfach verlassen? »Kannst du das vielleicht? Mich einfach vergessen lassen, was ich aufgebe?«

»Meinst du das ernst?« Es klang ungläubig.

Sie biss sich auf die Lippe, dann nickte sie.

»Nein«, sagte er entschlossen. »Das würde ich niemals tun.«

»Warum nicht?«

Er streichelte sanft über ihre Wange. Sein Blick war dabei so voller Liebe, dass es wehtat. »Erinnerungen sind ein Teil der Seele. Sie gehören zu dem, was dich ausmacht. Wie könnte ich das zerstören wollen?«

»Ich liebe dich«, flüsterte sie. Sie wollte, dass er es hörte, wenigstens ein einziges Mal.

Schlagartig verwandelte sich sein Gesichtsausdruck. Schmerz und etwas anderes stand darin, das sie nicht deuten konnte. »Leonora, sag das nicht.«

Sie legte ihre Hand an seine Wange, fuhr durch seine schwarzen Haare. Langsam, gedankenverloren. »Ich wollte nur, dass du es weißt.«

Sie spürte, wie seine Muskeln sich verspannten. »Du kommst nicht mit mir.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

»Ich weiß nicht. Nein. Ja, vielleicht.« Sie fuhr sich mit einer Hand über die Augen. »Ich will mitkommen, unbedingt. Ich weiß nur nicht, ob ich das aushalten kann. Für immer eingesperrt sein? Und alles hier zurücklassen? Ich habe das Gefühl, egal wie ich mich entscheide, es ist falsch, und ich werde mein ganzes Leben lang bereuen, mich nicht anders entschieden zu haben.« Sie sah ihn Hilfe suchend an.

»Du solltest nicht bei mir bleiben. Ich hätte dich niemals darum bitten dürfen«, sagte er rau. »Ich wünschte, ich könnte es ungeschehen machen.«

»Lass es mich wenigstens für jetzt vergessen«, flüsterte sie. Sie küsste ihn, während ihre Hände über seine Brust glitten und schließlich die Knöpfe seines Hemdes fanden.

Er erwiderte ihren Kuss mit einer Leidenschaft, die nach Verzweiflung schmeckte. Irgendwann löste er sich von ihr, nur ein wenig, sodass sie seine Lippen immer noch an ihren spürte und seinen Atem auf ihrer Haut. »Bist du sicher, dass du das willst?«

Sie nickte und schob sein Hemd auseinander, um seine nackte Brust zu streicheln und einen Kuss darauf zu hauchen.

»Wird es das nicht noch schwerer machen?«

»Vielleicht, aber das ist mir egal.« Nichts spielte mehr eine Rolle, als diesen Moment noch einmal zu erleben. Diesen Moment, in dem er ganz ihr gehörte.

Vielleicht zum letzten Mal.