Kapitel 26

 

 

 

»Kannst du uns nicht ins Schloss versetzen?«, fragte sie, als sie hinter Cay den Weg zum Schloss hinauflief.

Er schüttelte den Kopf. »Zu gefährlich. Zwei Personen zu versetzen, geht meistens schief.«

Zwar hatte er ihre Kleider getrocknet, doch sie war so durchgefroren, dass das einfach nicht ausreichte. Trotz des Schutzzaubers, der wie ein Regenschirm über ihnen schwebte und die dicken Tropfen davon abhielt, sie wieder zu durchnässen, wurde ihr einfach nicht warm.

»Mir ist so kalt.« Ihre Zähne klapperten zur Bestätigung.

»Dann lass mich dich tragen, ich kann dich wärmen und dir etwas von meiner Energie geben«, knurrte er.

Lena schnaubte. Wirklich sehr verlockend, von ihm in dieser Stimmung an seine Brust gepresst zu werden.

»Nein, danke. Ich gehe lieber selbst. Das schaffe ich schon.« Sie wollte ihn jetzt nicht anfassen und schon gar nicht getragen werden. Bis sie sich in eine warme Decke wickeln konnte, musste sie sich eben irgendwie davon ablenken, dass sie zitterte und ihre Beine so kalt waren, dass sie ständig stolperte. »Hat sie recht? Hast du mich benutzt?«

Cay starrte nach vorn auf den Weg. »Ja.«

»Netter Versuch«, sagte sie mit zitternden Lippen. »So leicht wirst du mich nicht los.«

Gegen seinen Willen verzog sich sein Mund zu einem kleinen Lächeln. »Die Begegnung in der Stadt war kein Zufall. Ich bin auch kein Chemiestudent.« Er warf ihr aus den Augenwinkeln einen Blick zu. »Ich habe dich ausgesucht, weil du Gretas Tochter bist.«

Dass sie sich so etwas schon gedacht hatte, machte es nicht leichter. Sie wollte ihn anschreien, dass er sie belogen, ihr etwas vorgemacht hatte, aber ihre Stimme gehorchte ihr nicht. Tatsächlich hatte er ihr gegenüber nie von Liebe gesprochen. Was ich gesagt habe, war die Wahrheit. Ich will dich nicht zurücklassen. Ich will, dass du mit mir kommst. Für sie hatte es bedeutet, dass er sich in sie verliebt hatte, aber in Wirklichkeit bedeutete es gar nichts. Sie mitzunehmen war nur Teil seines Plans gewesen. Sie schloss die Augen und schluckte, um die Tränen zurückzudrängen. Sie wollte nicht voreilig urteilen.

»Warum wolltest du mich mitnehmen?« Ihrer Stimme einen festen Klang zu geben war beinahe unmöglich.

»Um deine Mutter zu erpressen. Ich habe gehofft, dass sie den Fluch aufhebt, um dich zu retten.« Seine Stimme klang kalt und gefühllos.

Lena blieb stehen. »Wie lange hast du diesen Plan verfolgt? Wie lange war das der einzige Grund, den du hattest, um dich mit mir abzugeben?« Es sollte fordernd klingen, wütend vielleicht, aber durch ihre halb gefrorenen Lippen klang es nur bemitleidenswert.

Er hielt an und drehte sich zu ihr um. Seine Augen waren hart. »Bis jetzt.«

Sie starrte ihn fassungslos an. »Das ist doch Blödsinn. Wenn das stimmen würde, würdest du nicht versuchen, mich wegzuschicken. Ich habe gehört, was du auf der Lichtung zu ihr gesagt hast. Ich habe dein Gesicht gesehen.«

Er zuckte mit den Achseln. »Wer sagt dir, dass ich nicht wusste, dass du da stehst. Dass das alles kein Plan ist, um dich zum Bleiben zu bewegen?«

»Woher hättest du wissen sollen, dass ich da bin? Nein, ich weiß, dass dir etwas an mir liegt«, beharrte sie. Seine Berührungen, seine Küsse, wie er sie angesehen hatte, all das konnte er nicht gespielt haben.

»Woher?« Immer noch war sein Gesichtsausdruck völlig unbewegt, seine Augen wieder abweisend wie zu Anfang.

»Weil ich es gespürt habe, als …«, sie stockte.

Eine verärgerte Falte erschien zwischen seinen schwarzen Augenbrauen und er starrte sie unverwandt an. »Das bedeutet nichts. Das war nur Lust und Leidenschaft. Mit Liebe hat das nichts zu tun.«

»O nein, das glaube ich dir nicht. Das sagst du nur, um mir wehzutun. Und weißt du was, es funktioniert sogar. Es tut weh. Obwohl ich weiß, dass du lügst, um mich loszuwerden.« Sie zitterte jetzt so stark, dass sie nur noch abgehackt Luft holen konnte. »Ich kenne den Unterschied zwischen Liebe und Leidenschaft. Und ich lasse nicht zu, dass du das tust.«

Alles um sie herum drehte sich und ihre Knie gaben unter ihr nach.

»Leonora!« Bevor es schwarz um sie wurde, registrierte sie noch den besorgten Tonfall in seiner Stimme.

Als sie kurze Zeit später wieder zu sich kam, lag sie in Cays Armen. Sie öffnete die Augen nur einen winzigen Spalt. Er bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck, aber der Ausdruck in seinen Augen und die Art, wie er sie an sich drückte, verrieten seine Gefühle. Sie war für ihn also doch nicht nur Mittel zum Zweck. Nicht mehr. Lena unterdrückte ein Lächeln, damit er nicht merkte, dass sie wach war. Sonst hätte sie darauf bestehen müssen, dass er sie herunterließ, und für diese Art von Stolz war sie im Moment zu durchgefroren.

In Cays Wohnung angekommen legte er sie auf das Sofa, zündete das Feuer an und verschwand dann aus ihrem Blickfeld. Bald hörte sie Wasser rauschen. Der Gedanke an ein heißes Bad war einfach himmlisch und verdrängte für kurze Zeit alles andere aus ihrem Kopf. Sie schloss die Augen. Das Plätschern des Wassers lullte sie ein.

»Leonora, wach auf. Du musst dich richtig aufwärmen.« Die Sorge in Cays Stimme war auch jetzt nicht zu überhören.

Es fiel ihr schwer, sich aus dem Schlaf zu lösen. »Nein, lass mich«, murmelte sie.

»Dann muss ich dich eben selbst ausziehen und in die Badewanne legen.«

Sie riss die Augen auf. »Das hättest du wohl gern, aber das kannst du vergessen. Nach dem, was du im Wald gesagt hast.« Sie stand auf und wankte auf das Bad zu. Ihre Beine fühlten sich an, als wären sie eingefroren und wieder aufgetaut worden. Sie knallte Cay die Tür vor der Nase zu und verriegelte sie. Natürlich wusste sie, dass er trotzdem hineinkonnte, aber sie hoffte, dass das Signal ankam. So etwas wie im Wald sollte er nicht noch einmal versuchen. Selbst die Erinnerung an seine Worte tat noch weh, obwohl sie genau gewusst hatte, dass er log.

Sie ließ sich in das heiße Wasser sinken. Für einen Moment verdrängte der beißende Schmerz in ihren Gliedern alle anderen Gedanken. Doch je wärmer ihr wurde, desto heftiger kam alles zurück. Ihre Mutter war eine Magierin. Eine mächtige noch dazu, wenn sie das wenige, was sie wusste, richtig interpretierte. Wie hatte sie das all die Jahre vor ihr geheim halten können? Vor ihr und vor Gromi. Oder hatte Gromi es gewusst? Hatte sie Lena etwa auch belogen? Lena schlang die Arme um sich, als könnte sie den Schmerz und die Enttäuschung so in ihrer Brust verschließen. So belogen zu werden, von ihrer eigenen Familie, von den beiden Menschen, denen sie mehr als allen anderen vertraut hatte, schnitt ihr ins Herz.

Noch viel mehr tat aber weh, dass sie ihrer Mutter so offensichtlich egal war. Nicht nur, dass sie nicht einmal überlegt hatte, den Fluch um ihretwillen zu lösen. Sie hatte sie mehrmals in Lebensgefahr gebracht, nur um sie von Cay fernzuhalten. Lena wischte sich über die Augen. Waren ihr diese sogenannten Pflichten tatsächlich so viel wichtiger als das Leben ihrer eigenen Tochter? Der Schmerz in ihrer Brust wurde übermächtig. Trotz all dem Streit, trotz all den Problemen hatte sie immer fest daran geglaubt, dass ihre Mutter sie liebte. Sie musste sich getäuscht haben. Wie gelähmt starrte sie in das Wasser, versuchte, in ihrem Kopf zu ordnen, was gerade passiert war. Erst, als das Wasser unangenehm kalt wurde, stieg sie aus der Wanne. Cay hatte ihr trockene Sachen zurechtgelegt, die sie jetzt mit tauben Fingern anzog.

Als sie aus dem Bad kam, fand sie ihn auf einem der Sofas vor, anscheinend hatte er die Tür des Badezimmers die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen.

»Ich glaube nicht, dass du mich noch dauernd überwachen musst. Es war ganz offensichtlich meine Mutter, die die Anschläge verübt hat.« Bitterkeit erfasste sie und ihre Stimme schwankte so sehr, dass sie einen Moment brauchte, bevor sie weiterreden konnte. »Ich versteh das einfach nicht. Bin ich ihr wirklich so vollkommen egal?«

Cay kam auf sie zu und zog sie in seine Arme. Er strich ihr beruhigend über den Rücken. »Wir wissen nicht mit Sicherheit, dass es deine Mutter war.«

Sie sah zu ihm auf. »Aber es ergibt alles Sinn. Dass ich mich beobachtet gefühlt habe. Die Anschläge. Alles. Willst du das bestreiten?«

Er schüttelte grimmig den Kopf. »Nein. Ich fürchte, das kann ich nicht. Erinnerst du dich an den Zettel, die angebliche Nachricht von mir?«

»Ja. Die Nachricht, dass ich zum Schloss kommen sollte. An dem Abend, an dem der Tatzelwurm mich beinahe …« Sie konnte es nicht aussprechen.

»Ich habe dir nie eine Nachricht hinterlassen.«

»Was? Aber …«

»Als du mir von dem Zettel erzählt hast, habe ich nichts gesagt, weil ich dir keine Angst machen wollte. Ich hatte eine Vermutung, wer dahinterstecken könnte, und wollte erst sichergehen, dass ich recht habe.« Er seufzte. »Es tut mir leid. Ich hätte es dir nicht verschweigen dürfen.« Sie konnte ihm ansehen, dass er es ernst meinte. Es spielte keine Rolle. Es bedeutete nur, dass ihre Mutter wirklich und wahrhaftig kaltherzig und grausam war.

»Aber warum? Wie kann sie so was nur tun?«, fragte Lena mit erstickter Stimme.

Cay küsste sanft ihren Scheitel. »Wenn es dich beruhigt, ich glaube nicht, dass sie sich der Gefahr bewusst war. Nicht bei dem Tatzelwurm. Das ist wahrscheinlich einfach außer Kontrolle geraten. Wie ich schon sagte, er ordnet sich niemandem wirklich unter, außer mir.«

»Und was ist mit den Höhlen? Ich wäre beinahe erstickt.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Wärst du nicht. Was immer es war, es hätte dich nicht getötet.«

»Wie kannst du das wissen?«

»Weil das Zeichen auf deinem Schlüsselbein nicht angeschlagen hat. Ich hatte gerade den Rundgang über das Gelände beendet und wollte euch entgegenkommen. Deswegen war ich dort, als du dich aus der Höhle gerettet hast.«

Konnte das stimmen? Sie war immer davon ausgegangen, dass das Zeichen ihn gerufen hatte.

»Okay.« Also hatte ihre Mutter sie zumindest nicht kaltblütig in Lebensgefahr gebracht. Aber sie war trotzdem ein großes Risiko eingegangen. Sie ballte die Fäuste. »Ihr war völlig egal, was sie mir damit antut. Ihr war jedes Mittel recht«, flüsterte sie. Sie schluckte die Trauer und auch die Wut hinunter. Sich jetzt hineinzusteigern, half ihr nicht weiter. »Wenigstens müssen wir uns keine Gedanken mehr darüber machen. Jetzt wissen wir ja, wer es war. Jetzt wird sie sicher nicht mehr damit weitermachen.«

Cay sah nicht überzeugt aus. »Ich weiß nicht. Ich behalte dich lieber im Auge.« Immer noch streichelte er sie, während sie sich an ihn lehnte.

»Also liegt dir doch etwas an mir.« Sie versuchte, es wie einen Scherz klingen zu lassen, aber die Erinnerung an seine Lüge versetzte ihr immer noch einen Stich.

»Ich gebe zu, es war ein schlechter Versuch. Ich hätte wissen müssen, dass du dich davon nicht täuschen lässt.« Er strich ihr über die Haare, dann über die empfindliche Stelle hinter ihrem Ohr. Lena erschauderte. »Es tut mir leid. Ich wollte dir nicht wehtun.« Sie sah ihm an, dass er es so meinte. »Ich kann nur nicht zulassen, dass du für mich alles aufgibst.« Seine Stimme schwankte leicht und das verunsicherte sie mehr als seine Worte. Er war sonst immer so selbstsicher, hatte sich immer im Griff. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Er erwiderte ihren Kuss und zog sie fest in seine Arme. »Ich will nicht, dass du gehst, aber ich kann nicht verlangen, dass du bleibst. Vor allem nicht, wenn du nicht alles über mich weißt.«

»Dann sag es mir.«

Er schüttelte den Kopf. »Es wäre mir lieber, dass du mich so in Erinnerung behältst, wie du mich jetzt kennst.«

»Nein, verdammt. Ich habe noch nichts entschieden!«

»Leonora …«

»Was kann es schon Schlimmes sein? Du bist doch einer von den Guten.«

Er schüttelte den Kopf. »Bitte, ich …«

»Hat es mit dem Fluch zu tun? Ich kann immer noch nicht fassen, dass meine Mutter zu so etwas fähig ist. Nur um dich außer Gefecht zu setzen. Oder geht es vielleicht um das Bild? Hat es etwas mit deiner Familie zu tun? Mein Gott, war meine Mutter schuld an dem Feuer?« Das Schlucken fiel ihr plötzlich schwer. Konnte das sein? Hatte ihre Mutter zuerst seine Familie getötet und dann ihn verflucht? War sie zu so etwas fähig? Und wenn ja, warum? Sie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Nach dem, was sie gerade über ihre Mutter erfahren hatte, hielt sie alles für möglich.

»Verdammt, kannst du es nicht einfach auf sich beruhen lassen?« Er ließ sie los und trat ein Stück von ihr weg. Wut funkelte in seinen Augen.

»Nein! Wenn meine Mutter dir das angetan hat, wenn sie daran schuld ist, dass du deine Familie verloren hast, dann will ich es wissen. Dann werde ich sicher nicht zu ihr zurückgehen.«

Cay fluchte. »Gut. Du willst es nicht anders. Ich zeige es dir. Komm.« Er nahm ihre Hand und zog sie mit sich, aus der Tür hinaus in die große Halle. Dann die Treppe hinauf und in den dunklen Gang, bis zu dem Raum mit dem Bild. Lena presste die Augenlider zusammen. Sie hatte plötzlich Angst davor, das Bild noch einmal zu sehen.

»Sieh hin! Du wolltest es doch wissen.« Cays Stimme war eiskalt. »Sieh es dir genau an.«

Vorsichtig öffnete sie die Augen. Sofort zog das triumphierende Lächeln der Frau sie wieder in ihren Bann. Sie fühlte den Schmerz, roch den Rauch, aber sie zwang sich, weiter zu atmen, weiter hinzuschauen. Endlich nahm sie Dinge wahr, die beim ersten Mal von den Gefühlen der Personen überdeckt worden waren.

»Die Kleidung. So was trägt man heute nicht mehr«, flüsterte sie schließlich. »Dann muss das ja aus einem deiner anderen Leben gewesen sein.«

»Nein. War es nicht. Das ist meine Mutter. Die einzige Mutter, die ich je hatte. Sie hat sich, meinen Vater und meine beiden Brüder verbrannt, als ich sechzehn war.« Obwohl seine Stimme völlig unbeteiligt war, wusste Lena, wie es wirklich in ihm aussah. Sie musste nur das Bild ansehen. Das Gesicht des Jungen sagte alles. Sie biss sich auf die Lippe, bis sie blutete. Der winzige Schmerz war das Einzige, was verhinderte, dass sie von seiner Qual überwältigt wurde.

»Warum?« Sie brachte die Frage kaum über die Lippen.

»Sie waren Magier und meine Mutter wollte ihre unsterblichen Seelen retten.«

Geschockt sah Lena ihn an. »Das ist doch Irrsinn.«

Cays Mund nahm einen harten Zug an. »Ja. Ist es.«

»Und du? Du bist doch auch Magier?«

»Damals noch nicht. Sie hatte wohl noch Hoffnung für mich.« Der schneidende Sarkasmus in seiner Stimme ließ sie zusammenzucken.

»Das ist furchtbar.«

»Das ist nur der Anfang.«

Lena schluckte. Ihr reichte es schon jetzt. »Das und dann auch noch der Fluch. Was hast du nur getan, um das zu verdienen?«

Es war eigentlich nur eine Redewendung, die ihr gedankenlos entschlüpft war, aber Cay wurde bleich.

Lena schlug sich die Hand vor den Mund. »Es tut mir leid. Ich meinte nicht, dass du irgendwie schuld daran bist, ich …«

»Schon gut«, unterbrach er sie. »Es ist lange her. Es spielt keine Rolle mehr.« Sie sah ihm an, dass das nicht stimmte. Sie hätte sich dafür ohrfeigen können, dass sie so unbedacht dahergeredet hatte. Schweigend starrte sie das Bild an. Sie verengte die Augen, als ihr Blick wieder auf die Frau fiel. Seine Mutter.

»Die einzige Mutter, die du je hattest«, murmelte sie. »Aber dann bist du gar nicht wiedergeboren, sondern …«

»Unsterblich.«

Unsterblich? Irgendetwas in ihrem Unterbewusstsein verstand, was das bedeutete, aber sie konnte es nicht greifen. Wollte es nicht. Sie schob den Gedanken fort, so weit sie konnte, und konzentrierte sich auf das Offensichtliche, hielt sich daran fest, um nicht sehen zu müssen, was sie tief in ihrem Inneren längst verstanden hatte. Es konnte nicht sein. Durfte nicht sein. Es musste eine andere Erklärung geben.

»Wann war das?« Sie zeigte auf das Bild.

Er lächelte ironisch. »Vor über fünfhundert Jahren.«

»Fünfhundert Jahre?« Ihr stockte der Atem. »Und ich habe mir schon wegen der sieben Jahre Altersunterschied Gedanken gemacht.« Sie betrachtete ihn von oben bis unten, so als gäbe es irgendwelche Hinweise auf sein wahres Alter. »Und der Fluch? Wie lange geht das schon?«

Ein bitterer Zug legte sich um seinen Mund. »Fast ebenso lange.«

Sie riss entsetzt die Augen auf. »Du sitzt seit fünfhundert Jahren hier fest?«

»Bis auf wenige Wochen alle paar Jahrzehnte, ja.«

»Die CDs«, murmelte sie.

Er zog fragend eine Augenbraue hoch.

»Deswegen hast du dir jetzt erst CDs kaufen können.«

Er nickte. »Ich nutze die Zeit, alles zu besorgen, was mir sinnvoll erscheint. Alles, was mir über die Zeit hinweghelfen kann, die ich hier eingesperrt bin.«

Eingesperrt. Jahrzehntelang. Lena ballte die Fäuste. »Das ist schrecklich. Meine Mutter ist schrecklich. Wie kann sie nur so grausam sein?«

»Vielleicht solltest du ihr Gelegenheit geben, alles zu erklären, so wie du es mit mir getan hast.«

»Und dann?« Ich werde dich verlieren, spielt es da eine Rolle, ob ich verstehen kann, warum? Sie lehnte sich an ihn und krallte ihre Finger in sein Hemd. »Ich möchte so gern bleiben«, flüsterte sie. »Vielleicht überlegt sie es sich ja noch, vielleicht hebt sie den Fluch dann auf.«

Cay versteifte sich. »Nein. Du hast sie doch gehört.«

»Das bedeutet nichts. Natürlich muss sie das sagen. Aber ich will einfach nicht glauben, dass sie das ernst meint. Dass sie es nicht einmal für mich tun würde. Ich weiß, wir hatten es schwer, in letzter Zeit, aber …« Sie verstummte. Ihr muss doch etwas an mir liegen. »Bestimmt würde sie es tun.«

»Und was, wenn nicht?«

Lena presste die Augenlider zusammen. »Dann wären wir für immer zusammen.«

»Was ist mit deinen Zielen, die du erreichen wolltest? Was ist mit dem Stipendium, dem Studium? Könntest du das alles wirklich einfach so aufgeben?«

Allein bei dem Gedanken wehrte sich alles in ihr. Sie schüttelte den Kopf. »Nein«, flüsterte sie. »Nicht einfach. Es wäre verdammt schwer. Aber das, was mir wirklich wichtig ist, das müsste ich nicht aufgeben. Du hast ein modernes Labor, du hast die neuesten Bücher mit mehr Forschungsansätzen, als ich in einem einzigen Leben bewältigen könnte.« Je mehr sie sagte, desto mehr wusste sie, dass es der Wahrheit entsprach. Der Professor hatte recht gehabt. Es war die Chemie, die ihr wichtig war. Das Studium war nur Mittel zum Zweck und eine Karriere nur die Rechtfertigung, ihre Leidenschaft täglich ausüben zu können. »Ich wäre hier völlig frei, ich hätte keine Vorgaben irgendeines Instituts, an die ich mich halten müsste, keine ökonomischen Gründe, eine Versuchsreihe einzustellen.« Sie sah auf. »Ich nehme an, mich mit den benötigten Zutaten zu versorgen, ist kein großes Problem für jemanden, der Gold herstellen kann. Oder mit Magie auszuhelfen, falls irgendwelche Gerätschaften fehlen.« Etwas Besseres konnte man sich als Wissenschaftler eigentlich kaum wünschen. »So wäre es doch, oder nicht?« Sie wusste nicht, ob sie es sagte, um ihn zu überzeugen oder sich selbst. Sie wusste nur, dass es der Wahrheit entsprach.

»Ja. Aber …«

»Gut, dann … dann will ich bleiben.« Sie hätte hier alles, was sie sich wünschen konnte. Und ihn. Sie würde ihre Mutter nie wiedersehen, aber das war weniger schmerzhaft, als das, was ihre Mutter getan hatte.

Cay schüttelte den Kopf. »Nein, Leonora. Das kann ich nicht zulassen.«

»Das ist nicht deine Entscheidung, sondern meine. Ich bleibe.« Ihre Stimme zitterte. Sie war sich über die Folgen im Klaren, hatte es tausendmal in ihrem Kopf durchgespielt. Und war jedes Mal zu dem gleichen Ergebnis gekommen. Dass es vollkommen verrückt war und falsch. Es war falsch, ihr Leben aufzugeben. Mike aufzugeben. Sie schluckte schwer. Verdammt falsch. Aber es fühlte sich richtig an. So richtig, dass zum ersten Mal seit Tagen endlich jegliche Unruhe von ihr abfiel.

»Verdammt, Leonora, es gibt noch so vieles, das du nicht weißt.«

Sie schloss die Augen. Ignorierte die Ahnung tief in ihrem Inneren. Sie sollte ihn fragen. Sicher gab es eine Erklärung. Aber wenn nicht, was dann? »Ich … ich möchte so gern bleiben«, flüsterte sie.

Er fuhr sich mit einer Hand über die Augen. »Schlaf wenigstens eine Nacht darüber.«

Mit einem Mal fühlte sie sich unglaublich erschöpft. »Ein bisschen Schlaf klingt tatsächlich sehr gut.« Sie lächelte zaghaft. Ein paar Stunden Schlaf würden ihr vielleicht helfen, klarer zu sehen. Ein paar Stunden noch an seiner Seite. Ein paar Stunden Hoffnung, dass sie sich irrte. Dann würde sie ihn fragen. Die Angst, sie könnte richtig liegen, schnürte ihr die Luft ab.

»Ich bringe dich nach Hause«, sagte Cay.

Stumm schüttelte sie den Kopf. Glaubte er etwa, dass sie darauf hereinfiel? Dass er sie wegschicken und das andere Tor auch noch verschwinden lassen konnte, damit sie nicht mehr herfand? »Ich bleibe hier.« Ihre Stimme klang tonlos. Hoffnungslos.

 

*

 

Als Lena einige Zeit später in Cays Bett erwachte, war er nicht da. Es musste spät in der Nacht sein, vielleicht sogar nach Mitternacht, denn der Mond schien hell durchs Fenster. Morgen würde er voll sein.

Das Irrlicht, das sie aus ihrer Hosentasche befreit hatte, bevor sie sich hingelegt hatte, schwebte einige Zentimeter über ihr. Es war ihr wirklich treu ergeben und folgte ihr überallhin. Seit sie hier waren, war es nicht einmal von ihrer Seite gewichen, auch nicht, um seine Artgenossen in der Höhle aufzusuchen.

Sie stand auf, fuhr sich durch die Haare und sah sich im Zimmer um. Auf dem Nachttisch lag der Schal ihrer Großmutter, den sie gestern hier vergessen hatte. Es kam ihr vor, als wäre es eine Ewigkeit her. Sie nahm das Tuch, wand es sich in die Haare und ging dann ins Wohnzimmer, wo immer noch das Feuer brannte.

»Cay?« Er war nicht da. Leichte Unruhe überkam sie. Er hatte versprochen, sie nicht allein zu lassen. Oder war er vielleicht mittlerweile auch überzeugt davon, dass ihre Mutter hinter den Anschlägen steckte? So oder so wollte sie lieber in seiner Nähe sein. Nachdem sie ihn auch in Küche und Bad nicht gefunden hatte, zog sie ihre Schuhe an und öffnete die Wohnungstür. Vielleicht war er in der Bibliothek oder sah nach den Pferden?

Sie trat in die große Halle und blieb erstaunt stehen. Vor ihr stand Wendel. Sein Gesicht war zu einem schauerlichen Grinsen verzogen. Die Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf. Dass er nicht hier sein würde, wenn der Fluch wieder in Kraft trat, war ein großer Pluspunkt. Er war ihr einfach nicht geheuer, obwohl er ihr nie etwas getan und ihr damals in den Höhlen sogar hatte helfen wollen.

Wahrscheinlich hatte sie einfach nur dumme Vorurteile, weil er nicht so vertrauenerweckend aussah. Vielleicht würde er ihr auch jetzt wieder helfen. »Ich suche Cay.«

Wendel antwortete nicht, aber er deutete auf die Tür, die in den alten Teil des Schlosses führte. Sie war nur angelehnt und etwas Licht fiel hindurch. Lena schluckte. Eigentlich wollte sie nicht wieder dort hinaufgehen, aber die Alternative, allein hier unten zu warten, erschien ihr im Moment noch unangenehmer.

Zögernd folgte sie dem Irrlicht zur Treppe, hinauf und in den dunklen Gang hinein. Alle Türen waren geschlossen bis auf eine. Im Schloss dieser Tür steckte ein Schlüssel, rot vor Rost. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihrem Bauch breit. Trotzdem schob sie die Tür auf. »Cay?«

Keine Antwort.

Sie trat in das Zimmer und sah sich um.

Wenige Kerzen in Wandhalterungen beleuchteten den Raum nur unzureichend. Dennoch konnte sie erkennen, dass der Raum voller Bücher war. Selbst der schwere Tisch in der Mitte des Zimmers quoll von Büchern und Papierrollen über. Ganz obenauf thronte ein besonders dicker, großformatiger Band.

Lena näherte sich dem Buch. Das Leder des Einbands schien zu wollen, dass sie es berührte. Es war warm und glatt. Sie schlug die erste Seite auf. Das Porträt eines hübschen Mädchens lächelte ihr freundlich entgegen. Es war auf dieselbe Art gemalt wie das schreckliche Gemälde. Sehr realistisch. Dennoch wirkte es, als wäre es schon seit Jahrhunderten in dieses Buch gebannt. Lena las, was unter dem Porträt stand.

Alexandra. Daneben ein paar lateinische Buchstaben. Das mussten Jahreszahlen sein. Sie versuchte, sich an die Entschlüsselung zu erinnern. Wenigstens dafür war der Lateinunterricht gut gewesen. 1491 bis 1523. Wenn sie sich nicht sehr irrte.

Sehr alt war das Mädchen ja nicht geworden. Die Seite knisterte, als Lena umblätterte. Eine weitere junge Frau, längst verstorben, blickte ihr entgegen. Sigrun. 1504 bis 1545. Auch sie war nicht sehr alt geworden. Lena blätterte weiter. Das ganze Buch war voller Porträts von jungen Mädchen. Nirgendwo standen Nachnamen, nirgendwo eine Todesursache.

»Woran sind sie nur gestorben?« Ihr wurde flau im Magen.

Auf den ersten Blick hatten die Mädchen nichts gemeinsam, bis auf eines. Die Lebzeiten überschnitten sich immer um etwa zwanzig Jahre. Außerdem gab es ein paar Notizen auf Latein. Für Lena unlesbar. Sie fragte sich, ob es Cays Handschrift war.

Ob er all diese Mädchen gekannt hatte? Hatten sie alle ihm vielleicht einmal etwas bedeutet? Hatte er sie vielleicht sogar geliebt? Der Gedanke versetzte ihr einen Stich, obwohl sie wusste, dass das albern war. Man konnte schließlich nicht erwarten, dass ein Mensch, der seit fünfhundert Jahren lebte, nie zuvor jemanden geliebt hatte.

Sie übersprang ein paar der Bilder und blätterte bis zum Ende des Buches. Elisabeth. 1917 bis 1948. Sie blätterte weiter. Eine junge Frau modisch gekleidet, jedenfalls für die damalige Zeit. Katharina. 1930 bis 2014. »Die ist ja gerade erst gestorben«, murmelte Lena.

Warum sammelte Cay all diese Bilder? Sie wollte das Buch gerade schließen und Cay suchen, um ihn zur Rede zu stellen, als ihr Blick auf das Porträt auf der letzten Seite fiel.

Ihr eigenes Gesicht. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, aber sie zwang sich, zu lesen, was darunter stand. Leonora. 1996 bis. Kein Todesdatum.

Das Buch rutschte ihr aus den Händen und fiel polternd zu Boden. Lena bückte sich nicht danach. Ihr Blick hing an einem der anderen Bücher auf dem Tisch.

Regionale Sagen und Legenden aus dem Mittelalter.

Sie starrte das Buch an. Dann hob sie langsam eine Hand und schlug es auf, um das Inhaltsverzeichnis zu lesen. Die Legende von den drei Magiern und ein Stück darunter Der Kreis der Acht. Sie umklammerte den schweren Einband. Cay hatte sie angelogen. Es gab Bücher dazu und nicht gerade wenige. Sie legte das Buch beiseite und nahm ein anderes. Es war nur ganz dünn, ziemlich alt und schien eine wissenschaftliche Abhandlung zu sein. Historie von Hohengreifenstein. Sie schlug es auf und fand nach kurzer Zeit einen Abschnitt über die Morde, die hier geschehen waren. Sie nahm sich nicht die Zeit, es zu lesen.

Fieberhaft wühlte sie sich durch die restlichen Bücher. Sie hatten alle mit dem gleichen Thema zu tun. Die Morde und die Legende um die drei Magier. Es war eindeutig, dass Cay diese Bücher hier vor ihr versteckt hatte. Lena schloss die Augen und versuchte, die Tränen zurückzudrängen. Ihre Ahnung war richtig gewesen. Es gab keine andere Erklärung. Jetzt nicht mehr.

»Du hättest nicht allein herkommen sollen.«

Sie fuhr herum. Cay stand in der Tür, aber er sah nicht wütend aus, dass sie das Zimmer betreten hatte. Eher resigniert.

Sie schluckte. »Warum hast du die Bücher vor mir versteckt?« Sie deutete auf den Tisch.

Er zog spöttisch eine Augenbraue hoch. Eine Geste, die sie mittlerweile lieb gewonnen hatte. Nur diesmal hatte es so gar nichts Liebenswertes. »Kannst du dir das immer noch nicht denken?«

Ich kann schon, aber ich will nicht. Sie spürte eine feuchte Spur auf ihre Wange. Ich will nicht. »Du bist einer von ihnen.« Sie konnte es kaum aussprechen. »Einer von den drei Magiern.«

Er nickte.

»Welcher?« Eigentlich wollte sie es gar nicht wissen. Am Ende war er dieser Mathäus, der seine Opfer ausgeblutet hatte. Dabei machte es keinen Unterschied. Sie alle hatten unverzeihliche Verbrechen begangen.

»Artephius.«

Derjenige, der sich alles ausgedacht hatte? Wie konnte das sein? »Du hast doch die Brandnarbe in Form einer Acht. Das Zeichen des Kreises.« Sie klammerte sich an den letzten Strohhalm, obwohl sie wusste, dass es sinnlos war. Seit er gesagt hatte, dass er unsterblich war, hatte sie es gewusst. Sie wünschte, sie könnte es weiterhin ignorieren, es ganz tief in sich vergraben. Unmöglich.

Cay schüttelte den Kopf. »Das ist keine Acht.« Er drehte ihr den Rücken zu und schob sein Hemd hoch. Es stimmte. Es war keine Acht. Es waren zwei gleich große, nebeneinanderliegende Kreise. Wie hatte sie das übersehen können? Noch dazu, wo das gleiche Zeichen sich auch auf ihrem Schlüsselbein befand? Und in fast jedem ihrer Mathehefte.

»Die Lemniskate. Das Zeichen für Unendlichkeit«, flüsterte sie.

»Es war unser Erkennungszeichen. Wir haben es uns bei dem Ritual eingebrannt.«

»Dann stimmt es also? Alles? Die Morde?« Ihre Brust schmerzte. Wie konnte er in so etwas verwickelt gewesen sein?

Etwas flackerte in seinen Augen auf und er zögerte. »Ja«, sagte er dann. »Es ist alles wahr.« Warum hatte sie den Eindruck, dass er eigentlich etwas anderes hatte sagen wollen?

»Nein, das glaube ich einfach nicht. Ich kenne dich, du bist zu so etwas nicht fähig.«

Er machte einen Schritt auf sie zu. »Du kennst nur einen winzigen Teil von mir. Du weißt gar nichts über mich.«

Ich weiß, was du für mich empfindest, wollte sie schreien, doch dann fiel ihr Blick auf das Buch mit den Porträts zu ihren Füßen. Vielleicht hatte er recht. Sie wusste gar nichts.

»Hast du auch versucht, die ganzen Frauen hier zum Bleiben zu bewegen?« Sie stieß das Buch mit dem Fuß an.

Gleichgültig hob er die Schultern. »Ein paar.«

»Hat es funktioniert? Hast du mich angelogen, dass du immer allein warst?« Lena presste die Lippen zusammen.

Er schüttelte den Kopf.

Erleichterung, Wut und Mitleid kämpften in ihr um die Oberhand. Er war tatsächlich immer allein gewesen. »Hast du sie alle geliebt?«, fragte sie leise.

Er starrte einen Moment auf Lenas Porträt, das aufgeschlagen war. Dann sah er auf. Seine Miene war ausdruckslos. »Der Fluch zwingt mich, mich zu verlieben. Die Porträts in das Buch zu bannen, macht es erträglicher.«

Die nächste Frage brachte Lena kaum über die Lippen, aber sie musste sie stellen. »Hat der Fluch dich auch gezwungen, mich zu lieben?«

»Ja, auch dich«, sagte er kalt.

Alles Blut wich aus ihrem Gesicht. Ihr Gefühl hatte sie nicht getrogen. Nicht, was seine wahre Identität anging. Und auch nicht, was seine Gefühle für sie betraf. Er liebte sie. Aber es war nur der Fluch, der ihm das auferlegte. Sie war für ihn nichts Besonderes. Nur eine von vielen, die er geliebt hatte, weil der Fluch es so wollte. Cay hatte gewusst, dass das passieren würde, als er sie ausgesucht hatte. Die Erkenntnis schnürte ihr die Kehle zu. Dass sie anfangs nur ein Teil von seinem Plan gewesen war, als er sie noch nicht gekannt hatte, hatte sie ihm verzeihen können, weil sie fest geglaubt hatte, dass er mittlerweile wirklich etwas für sie empfand.

Aber seine Gefühle waren nicht echt. Er hatte das alles nur abgespult wie so viele Male zuvor und das getan, wozu der Fluch ihn zwang. Das Atmen fiel ihr plötzlich schwer.

»Es war alles der Fluch«, flüsterte sie zu sich selbst. »Natürlich. Nur ein Fluch kann jemanden, der solche Grausamkeiten begangen hat, dazu bringen, zu lieben.«

Er schloss gequält die Augen und fuhr sich mit einer Hand durch das Gesicht. »Ja. Vielleicht.«

Lena fühlte gar nichts mehr. Nur noch eine große Leere, die alles andere in ihr verdrängte. »Ich muss hier weg.«

Langsam ging sie an Cay vorbei auf die Tür zu, wobei sie ihn immer im Auge behielt. Sie fragte sich, ob er sie so einfach gehen lassen würde.

»Lass mich dich wenigstens nach Hause bringen«, bat er.

Sie lachte bitter auf. »Nein, ganz sicher nicht. Ich gehe lieber allein. Wehe, du folgst mir!«

Sie wusste, wie lächerlich das klang. Sie würde es gar nicht bemerken, wenn er es tat, und sie wusste ebenso gut, dass nichts sie vor ihm beschützen konnte, wenn er sie verfolgte. Sie konnte nur hoffen, dass er es nicht wollte.

Er presste die Lippen zusammen. »Dann nimm wenigstens Athanor. Geh nicht zu Fuß durch den Wald.« Er schien sich wirklich um sie zu sorgen. Oder er konnte sich einfach nur verdammt gut verstellen.

Sie nickte. Dann ging sie an ihm vorbei, die Treppe hinunter in seine Wohnung, um ihren Rucksack zu holen, und hinaus zu den Pferden. Sie setzte sich ohne Sattel auf Athanor und hoffte einfach, dass er aufpassen würde, dass sie nicht runterfiel. Das Irrlicht war die ganze Zeit bei ihr geblieben und saß jetzt zwischen Athanors Ohren.

»Zum Tor«, murmelte sie Athanor zu und das Pferd setzte sich in Bewegung. Als sie sich noch einmal umdrehte, sah sie Cay auf den Stufen des Portals stehen. Sie erstarrte, als sie den Ausdruck in seinen Augen sah.

Es war der Gleiche, den auch der Junge auf dem Bild hatte.

Die Leere, die sie bis gerade eben so gnädig ausgefüllt hatte, brach zusammen und füllte sich mit Trauer, Wut und Verzweiflung. Sie presste ihr Gesicht in Athanors Mähne und überließ es dem Pferd, sie wegzubringen. Nur weg. Weg von ihm und all den Lügen.