Kapitel 27

 

 

 

Dass Lena ihr Fahrrad wiederfand, überraschte sie. Es schien ihr, als wäre sie einfach sinnlos im Wald umhergeirrt, ohne Weg und ohne Plan, seit sie vor dem Tor von Athanors Rücken gerutscht war und ihn zum Schloss zurückgeschickt hatte.

Jetzt stand sie vor ihrem Fahrrad und starrte es an. Sie wusste, dass sie aufsteigen und nach Hause fahren sollte, aber ihre Arme waren wie gelähmt und auch ihre Beine gehorchten ihr nicht.

Wie hatte sich in so kurzer Zeit nur alles ändern können? Noch vor wenigen Stunden hatte sie geglaubt, dass sie Cay etwas bedeutete. Sie hatte sich sogar dafür entschieden, bei ihm zu bleiben. Immerhin, die Entscheidung hatte er ihr abgenommen. Nur, dass sie keine Erleichterung spürte. Sie konnte nicht einmal atmen, ohne dass es wehtat. Sie hatte Cay für einen von den Guten gehalten. Wie konnte ich mich nur so in ihm täuschen? Wie konnte er mich so täuschen? All die Gespräche, die Bücher, die Pflanzen. Seine Berührungen, seine Küsse. War das alles nicht echt gewesen? Alles nur aufgesetzt, um den grausamen Mörder darunter zu verstecken, der er in Wirklichkeit war?

Sie sank vor dem Vorderreifen auf die Knie und krümmte sich zusammen. Sie wollte sich nicht vorstellen, was Cay getan hatte, aber sie konnte die Bilder einfach nicht aus ihrem Kopf verdrängen. So viele Tote, nur damit er leben konnte. Wie hatte er es getan? Gott, wollte sie das wirklich wissen? Sie schüttelte den Kopf, aber die Gedanken ließen sich nicht vertreiben. Wie war es nur möglich, dass seine Hände, so sanft auf ihrer Haut, zu solchen Grausamkeiten fähig waren? Konnten Berührungen und Blicke so sehr lügen? Seine Augen. Zuerst waren sie so kalt und distanziert gewesen, und jetzt so voller Liebe. Konnte ein Mensch sich wirklich so verstellen?

Nein. Das glaube ich einfach nicht.

Lena atmete tief durch und saugte die feuchte Waldluft in ihre Lungen. Irgendwann wurde das Atmen leichter. Mühsam rappelte sie sich hoch und stieg auf ihr Fahrrad. Zuerst kämpfte sie sich über die Feldwege aus dem Wald heraus, dann wusste sie nicht mehr, wohin. Sie sehnte sich so sehr danach, Mike zu sehen. Nur hatte er ziemlich deutlich gemacht, dass er nicht mehr mit ihr reden wollte. Ziellos fuhr sie in der Gegend herum, erst über die Felder, dann in die Stadt hinein, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können.

Schließlich stand sie doch vor Mikes Haus. Sie brauchte ihn jetzt einfach. Sie hatte niemanden sonst. Mit tauben Fingern holte sie ihr Handy aus der Tasche und wählte seine Nummer. Früher hatten sie immer Steine geworfen, das war inzwischen unnötig. Zumindest, wenn Mike nicht gerade vergessen hatte, sein Handy aufzuladen. Wenige Sekunden später ging in Mikes Zimmer das Licht an.

»Lena?« Er klang verschlafen.

»Mike.« Sie schluckte. Es tat so gut, seine Stimme zu hören. »Ich bin unten. Kannst du … kannst du bitte runterkommen?«

Ein Schatten erschien vor dem Fenster, bevor es aufgerissen wurde. »Weißt du eigentlich, wie spät es ist?« Mikes verärgerter Tonfall versetzte Lena einen Stich. Die Uhrzeit hatte ihn sonst nie interessiert.

»Es tut mir leid.« Ihre Stimme schwankte. »Ich muss mit dir reden, bitte.«

Zum ersten Mal, seit sie Kinder gewesen waren, stand Mike oben und rührte sich nicht. Er musterte sie, öffnete mehrmals den Mund und runzelte die Stirn. Dann nahm sein Mund plötzlich einen entschlossenen Zug an.

»Sorry, Lena, aber ich kann das nicht mehr. Such dir einen anderen Mülleimer für deinen seelischen Abfall.« Er knallte das Fenster zu und drehte quietschend den Griff.

Lena starrte das geschlossene Fenster an. Ihre Augen wurden feucht. Er war der Einzige, den sie noch zum Reden hatte und jetzt hatte sie ihn auch noch verloren. Sie wischte sich verärgert über die Augen, während sie zu ihrem Fahrrad zurückstolperte. Vielleicht hatte sie es nicht besser verdient. Sie hatte Mike versprochen, ihn nicht wieder zu vernachlässigen. Eine Weile hatte sie sich daran gehalten und dann hatte sie es doch wieder getan. Ja. Sie war selbst schuld.

Sie packte die Griffe des Lenkers mit beiden Händen. Wo sollte sie jetzt hin? Nach Hause? Nein. Sie konnte ihrer Mutter jetzt nicht gegenübertreten. Ihrer Mutter, die eine mächtige Magierin war. Ihrer Mutter, die sie ihr Leben lang hintergangen hatte. Ihrer Mutter, die sie ohne Rücksicht auf Verluste in Gefahr gebracht hatte. Sie konnte ihr nicht trauen. Und sie konnte ihr nicht ins Gesicht sehen und zugeben, dass sie recht gehabt hatte, was Cay betraf.

Es gab nur noch einen Ort, zu dem sie fahren konnte.

Wenig später lehnte sie das Fahrrad an die übliche Stelle. Sie kümmerte sich nicht darum, das Schloss anzubringen. Die Dämmerung war nicht mehr weit, der Mond ging schon unter. Das Tor zum Friedhof war abgesperrt. Zum Glück war es nicht hoch und hatte viele Querstreben. Es fiel Lena leicht, darüber zu klettern. Bald stand sie vor dem Grabstein, sank auf die Knie und legte die Hände darauf. Hatte ihre Mutter sie auch getäuscht? Oder hatte Gromi gewusst, dass ihre Tochter eine Magierin war? Lena wusste es nicht und wahrscheinlich würde sie es nie herausfinden. Aber sie war sich sicher, dass ihre Großmutter niemals leichtfertig ihr Leben aufs Spiel gesetzt hätte. Ihre Liebe war immer greifbar gewesen. War es jetzt noch.

»Gromi. Ich wünschte, du wärst hier.« Eine Träne tropfte aus ihrem Auge und landete auf der dunklen Erde des Grabs. »Ich dachte, ich hätte es verwunden, aber das ist nicht wahr. Ich brauche dich. Ich brauche deinen Rat. Wegen Mama. Wegen Cay.«

Mit zitternden Fingern fuhr sie die versilberten Worte nach. Verloren im Licht, geborgen in der Dunkelheit. In ihrer jetzigen Situation kamen sie ihr vor wie der reinste Hohn. Geborgen in der Dunkelheit. Cays Seele war schwarz und verdorben von den Dingen, die er getan hatte. Dunkel. Mit Geborgenheit hatte das nicht viel zu tun.

»Verdammt. Wieso muss es so wehtun?« Sie krallte ihre Hände in die weiche, feuchte Erde, wollte sie zwingen ihren Schmerz ebenso aufzusaugen wie ihre Tränen, aber alles, was sie damit erreichte, war, dass sich die Erde unter ihre Fingernägel grub. Sie griff noch ein wenig fester zu und schrie auf.

»Au!« Hastig zog sie ihre Hände aus der Erde und entdeckte einen langen Schnitt an ihrer linken Hand. Blut quoll hervor und tropfte in die Furche, die Lena hinterlassen hatte. Etwas glitzerte dort. Sie griff danach und zog eine kleine Glasscherbe heraus.

»War ja klar, dass ich mich gerade an der einzigen Glasscherbe weit und breit schneiden muss.« Sie stand auf und ging zum Brunnen, um die Wunde auszuwaschen. Mist, das würde Tage dauern, bis es nicht mehr wehtat und wesentlich länger, bis es ganz verheilt war. Für Cay wäre es ein Leichtes gewesen, den Schnitt sofort zu schließen. Sie schloss die Augen und meinte, seine Berührung auf ihrer Hand zu spüren. Es fühlte sich so real an. Als sie wieder hinsah, erwartete sie fast, dass der Schnitt verschwunden war. Doch das Blut tropfte weiter, als wolle es sie verhöhnen. Nichts war verheilt. Er war nicht hier.

Sie ging zu ihrem Rucksack, um ein Taschentuch herauszuholen und den Schnitt zu verbinden. Dann sank sie wieder auf die Knie, unsicher, was sie jetzt tun sollte.

Als sich zwei Arme um sie schlossen, dachte sie für einen Sekundenbruchteil, es wäre Cay. Sie wünschte sich mit aller Macht, er wäre hier. Sie wollte seinen Geruch nach Wald und altem Pergament ganz tief in sich aufsaugen. Stattdessen roch sie Leder und einen Anflug von Haargel. Sie wischte sich noch einmal über die Augen und stand auf.

»Mike.« Hilflos stand sie vor ihm, wusste nicht, ob er zulassen würde, dass sie ihn umarmte.

»Gott sei Dank, ich habe so gehofft, dass ich dich hier finde.« Sein Lächeln wirkte zaghaft. Er streckte zögerlich die Arme aus. Erleichtert lehnte sie sich an ihn und er zog sie fest an sich. »Es tut mir so leid, dass ich dich weggeschickt habe. Wo doch ein Blinder sehen kann, wie schlecht es dir geht.«

Nun umarmte Lena ihn und hielt ihn fest. »Gott, Mike, ich war so eine schlechte Freundin, es tut mir so leid.«

Mike schob sie sanft von sich. »Hör auf. Darüber reden wir, wenn es dir besser geht.« Er wartete ihre Zustimmung nicht ab, sondern führte sie zu einer der Bänke. »Erzählst du mir, was passiert ist?«

Lena ließ sich neben ihn auf das vermooste Holz sinken und betrachtete ihre dreckigen Fingernägel. Sie versuchte, einen Anfang zu finden, aber es gab so vieles, was Mike nicht wusste. Zitternd atmete sie ein. »Mike, du hattest recht mit Cay. Ich kann nicht mit ihm zusammen sein.« Ihre Stimme brach und die Tränen überwältigten sie. Das Gesicht in Mikes Schulter vergraben, weinte sie hemmungslos, während er sie beruhigend streichelte. Es tat unheimlich gut, einfach mal alles rauszulassen, und sie entschied sich, Mike alles zu erzählen, auch wenn es ihr schwerfiel. Er hatte es verdient, endlich die ganze Wahrheit zu wissen.

»Cay ist ein Magier.«

Mike hörte kurz auf zu streicheln und sagte gar nichts. Natürlich. Er glaubte ihr nicht. Sie stand auf, die Wangen noch nass von Tränen, schniefte und fasste in ihre Hosentasche. Sie zog das Irrlicht heraus und hielt es Mike vor die Nase.

Mike riss den Mund auf und machte ihn dann wieder zu. Das Irrlicht klingelte leise. Es klang belustigt.

»Das ist das Irrlicht von damals. Cay hat es für mich gezähmt und jetzt folgt es mir überallhin.«

»Aber, das …« Mikes Stimme klang fast wie das Piepsen des Irrlichtes. Er räusperte sich. »Das gibt’s doch nicht!«

»Doch, ich fürchte schon.« Lena setzte sich wieder neben Mike und starrte auf die kleine Leuchtkugel in ihrer Hand. Das Irrlicht zischte leise, als eine ihrer Tränen darauf fiel. »Mike, Cay ist einer von ihnen. Er ist Artephius.«

»Was? Aber …«

Lena hob eine Hand, um ihm zum Schweigen zu bringen. »Lass mich erst erzählen, okay?«

Stumm hörte Mike zu, bis Lena ihre Geschichte beendet hatte. Dann saß er eine Weile einfach nur da. Lena konnte ihm ansehen, dass er versuchte, in seinem Kopf zu ordnen, was er gerade alles gehört hatte.

»Greta ist auch eine Magierin?«, fragte er schließlich.

»Ja. Sie hat mich ebenso getäuscht wie Cay. Mein ganzes Leben lang.« Sie konnte es immer noch nicht fassen. »Sie steckt hinter den Anschlägen auf mich.«

»Weißt du das sicher?«

Lena zuckte die Achseln. »Nein. Aber es ergibt Sinn. Sie wollte mich von Cay fernhalten. Er …« Sie musste schlucken, als sie plötzlich sein Gesicht vor sich sah. Seine Lippen, die sie nie wieder spüren würde. Im Moment wusste sie gar nicht, ob sie das überhaupt wollte. Nein, das stimmte nicht. Sie wollte es, sie wünschte es sich mehr als alles andere. Es war die Vernunft, die ihr sagte, dass sie es sich nicht wünschen durfte. Nie mehr. »Er hat es auch nicht geglaubt, aber ich bin mir sicher, dass es so ist.«

Mike sah sie unsicher an. »Auf jeden Fall ist sie eine von den Guten, oder nicht? Sie gehört dann wohl zu diesem Kreis und ist nicht böse, wie du dachtest. Das ist doch schon mal etwas.«

Verzweiflung ließ ihre Stimme tonlos klingen. »Wie kann das gut sein, wenn das bedeutet, dass er böse ist? Ich kann das einfach nicht glauben, Mike. Du hättest ihn sehen sollen. Er hat sich bis zum Schluss um mich gesorgt und wollte mich beschützen. Ich kann es einfach nicht glauben.« Dass er ein skrupelloser Mörder ist. Die Stimme versagte ihr. Sie brachte es nicht über die Lippen. »Ich muss etwas falsch verstanden haben«, flüsterte sie. »Ja, so muss es sein.«

Mike sah sie mitleidig an. »Lena, nachdem, was du mir erzählt hast, glaube ich das nicht.«

»Ich weiß, wie es aussieht, aber er kann doch unmöglich dieser Artephius sein. Mir hat er nie etwas getan. Er war immer zuvorkommend und zärtlich und …«

»Hör auf, das will ich jetzt wirklich nicht hören!« Mike zog eine Grimasse.

»Mike!« Lena sprang auf. »Was, wenn er mich nur angelogen hat? Wenn er gar nicht Artephius ist?« Es war Blödsinn und sie wusste es. Wozu sollte das gut sein?

»Glaubst du das wirklich?« Mike hob zweifelnd eine Augenbraue.

Sie schluckte schwer. »Nein. Es passt einfach alles zu gut zusammen.« Cay hatte ja auch bestätigt, dass alles wahr war. Sie sah es vor sich. Sein Gesicht, als sie ihn gefragt hatte, ob alles der Wahrheit entsprach. Er hatte es zugegeben. Er hatte kurz gezögert, aber dann hatte er es zugegeben. Er hatte gezögert. »Er hat gezögert.«

»Was?«, fragte Mike und sah sie an, als wollte er sie einweisen lassen.

»Bevor er behauptet hat, dass alles wahr ist. Er hat gezögert, so als wollte er etwas anderes sagen. Dann hat er nur gesagt, dass alles wahr ist, aber was, wenn er mich angelogen hat? Er wollte doch, dass ich gehe.« Sie versuchte, sich daran zu erinnern, was der Archivar ihnen genau erzählt hatte. »Mathäus ließ seine Opfer ausbluten«, murmelte sie. »Das hat der Archivar uns gesagt. Über Artephius und Ekarius haben wir nie geredet.« Sie packte Mike am Arm und zog ihn von der Bank. »Los, komm.«

»Was, wo gehen wir hin?«, fragte Mike, während er aufstand.

»Ich muss sofort mit diesem Stadtarchivar reden. Der weiß doch so viel. Viel mehr, als er zugeben will. Ich erinnere mich genau, dass er nie erwähnt hat, was Artephius …«, sie stockte, »… was Cay den Menschen angetan hat.«

»Das willst du doch nicht wirklich wissen.« Sie waren jetzt beim Tor angekommen und Mike half ihr hinüber. Dann kletterte er hinterher.

»Doch. Was, wenn es gar nicht so schlimm ist?«

»Lena, weißt du nicht mehr, was der Archivar gesagt hat? Man muss die Seele quälen, bis sie bricht. Das kann nichts Gutes sein. Erspar dir das.«

Sie schüttelte vehement den Kopf und hielt auf das Stadttor zu. »Ich muss mit ihm reden, sofort.«

»Jetzt?«, rief Mike. »Es ist mitten in der Nacht!«

»Ja, jetzt. Dafür hat er schließlich eine Notfallnummer. Das hier ist ein Notfall. Die Zeit drängt.«

Sie rannte jetzt und wurde erst wieder langsamer, als das Stadtarchiv in Sicht kam. Noch im Gehen zog sie das Handy heraus und wählte die Nummer, sobald sie vor dem Schild stand.

Es klingelte, aber niemand ging ran. Geh ran, geh ran. Geh ran, verdammt.

»Das wird nichts«, sagte Mike missmutig.

Lena wählte noch einmal und ließ es länger klingeln. Endlich hörte sie ein Klicken in der Leitung. »Obermaier?«

»Gott sei Dank. Herr Obermaier, ich muss Sie dringend sprechen.«

»Worum geht es denn?« Er klang müde, aber nicht unwillig.

Erleichtert redete Lena weiter. »Um die alten Legenden. Ich muss wissen, was Artephius getan hat, um die Seelen zu brechen.« Ihre Stimme schwankte so heftig, dass sie sich fragte, ob er es verstanden hatte.

Sie hörte ein Rascheln am anderen Ende. »Warten Sie beim Archiv. Ich bin sofort da.«

 

*

 

Keine fünf Minuten später kam er ihnen entgegen. Lena bedankte sich mehrmals, während Herr Obermaier sie in das Archiv und in die kleine Küche führte, wo er als Erstes einen Tee aufsetzte. Lena hätte Herrn Obermaier am liebsten gleich an der Tür ausgefragt, aber er bestand darauf, sie mit hineinzunehmen. »So viel Zeit muss sein.«

»Sie wollen wissen, was Artephius getan hat?«, fragte er, als er ihnen endlich den Tee einschenkte.

Mike nahm seine Tasse dankbar entgegen. Lena ignorierte ihre. Sie hätte ohnehin keinen Schluck runtergebracht. »Ja. Sie haben uns gesagt, dass es Mathäus’ Gewohnheit war, die Menschen ausbluten zu lassen.« Ihr wurde ganz anders bei der Vorstellung. »Ich muss wissen, was Artephius getan hat.«

Mit einem Klappern stellte der Archivar die Kanne auf den Tisch. »Warum?«

Sie sah sich hilflos nach Mike um. »Ich muss es einfach wissen. Bitte. Sagen Sie mir nur, ob er auch so etwas Schreckliches getan hat.«

Der Alte sah Lena eindringlich an, während er sich setzte. »Eine Seele zu brechen ist immer schrecklich.«

Mike wandte den Blick ab und nippte an seinem Tee.

Lena sah zu Boden. »Trotzdem, ich muss es wissen. Ich muss wissen, ob …« Sie zwang sich, es auszusprechen. »Ob er ein Mörder ist.«

Der Archivar seufzte. »Wenn man den Legenden glauben darf, hat Artephius nicht getötet, niemals.«

Erleichterung durchflutete sie, auch wenn sie sich bewusst war, dass es Schlimmeres geben konnte als den Tod. »Was dann?«, fragte sie.

Die Augen des Archivars glommen unheilvoll. Plötzlich wusste sie nicht mehr, ob sie das wirklich hören wollte.

»Die Hoffnungen eines Menschen zu schüren, ihm zu zeigen, was er haben könnte, und es dann wieder zu zerstören, zum Beispiel.«

Lena schloss die Augen, als ihr ein Verdacht kam. Vielleicht hatte es ja einen Grund, dass ihre Mutter diesen grausamen Fluch ausgesucht hatte. Einen Fluch, der Cay zwang, sich immer wieder zu verlieben und dann doch allein zu bleiben.

»Er hat Frauen dazu gebracht, sich in ihn zu verlieben«, flüsterte sie. »Er hat ihnen Hoffnungen gemacht und sie dann verlassen, nur um ihnen wehzutun.«

Der Archivar nickte grimmig. »Ja.«

»Aber …«, begann Mike und verstummte wieder.

Lena wusste, was er dachte. Dass Millionen Menschen sich das gegenseitig antaten. Tagtäglich. Weil es ihnen nur um Sex ging. Weil sie Angst hatten, sich zu binden. Weil ihnen die Gefühle anderer Menschen egal waren.

»Das reicht?«, fragte Mike.

Unwillkürlich erinnerte sie sich daran, wie sie sich gefühlt hatte, als Adrian sie verlassen hatte. Ohne ein Wort. Seine Gedankenlosigkeit, ihre Selbstvorwürfe und die Frage, ob er sie nie wirklich geliebt hatte, all das hatte an ihr genagt. Sie wusste nicht, ob damals ihre Seele gebrochen war, aber dass sie den Schmerz jetzt noch spürte, obwohl sie Adrian gar nicht mehr liebte, deutete vielleicht darauf hin. Manche Dinge hinterlassen Narben, auch wenn man sie nicht sehen kann. Vielleicht hatte ihre Seele jetzt auch eine Narbe.

»Ja«, flüsterte sie. »Vielleicht.«

»Aber ich verstehe nicht, was daran so schlimm ist«, redete Mike weiter. »Klar, es ist mies, aber …« Er verstummte. Lena konnte sich denken, was er hatte sagen wollen, aber vor dem Archivar nicht laut aussprechen wollte. Dass so etwas kein Grund war, jemanden für fünfhundert Jahre zu verfluchen.

Der Archivar verengte die Augen und sah Mike einen Moment prüfend an. »Das Schlimme daran ist, dass er die Seelen anderer Menschen berührt hat. Er hat ihnen Seelenenergie genommen und ihren Seelen absichtlich Schaden zugefügt. Niemand darf die Seele eines anderen Menschen derart missbrauchen. Es ist schon ein Frevel, sie auch nur zu berühren.«

»Warum?«, fragte Mike.

»Weil es unglaublich schmerzhaft ist. Die Seele enthält unsere Essenz, das, was uns ausmacht. Die leichteste Berührung kann einen Menschen in den Wahnsinn treiben. Vielleicht sogar töten. Und um der Seele eines anderen Menschen Energie zu entnehmen, muss man sie mehrmals berühren.« Er fixierte Lenas Blick. »Ein Mensch müsste schon sehr gleichgültig sein, um so etwas zu tun. Oder so voller Hass und Verzweiflung, dass er auf andere keine Rücksicht mehr nehmen kann.«

Lena schloss die Augen. Gleichgültigkeit, Hass, Verzweiflung. Sie erinnerte sich an Cays Worte. Koste es, was es wolle. Das hatte er einmal zu ihr gesagt. Er war bereit gewesen, alles für sein Ziel zu tun. Unsterblichkeit. »Er hat es aus Berechnung getan«, sagte Lena tonlos. »Kaltherzig und grausam. Nur um zu bekommen, was er wollte.«

»Glaubst du das wirklich?«, fragte Mike. »Nicht, dass ich für ihn Partei ergreifen will, aber wenn ihm alles egal wäre, hätte er es sich doch auch viel einfacher machen können, oder? So wie Mathäus.«

Langsam hob Lena den Kopf. »Ich weiß es nicht«, flüsterte sie. »Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich noch glauben soll.« Selbst wenn er es aus Hass getan hatte oder aus purer Verzweiflung, machte es das besser? Und was konnte einen Menschen zu so etwas treiben? Was hatte er erlebt, dass er keinen anderen Ausweg mehr gesehen hatte? Sie musste an das Bild denken, das schreckliche Gemälde, das den Tod seiner Familie zeigte. Sie verdrängte es und stand auf. »Ich glaube, wir sollten jetzt gehen. Vielen Dank, dass Sie uns geholfen haben.« Sie hatte erfahren, was sie wissen wollte. Jetzt musste sie versuchen, irgendwie damit umzugehen.

Der Archivar nickte. »Jederzeit.«

Als Lena und Mike aus dem Archiv traten, hatte die Morgendämmerung eingesetzt und vereinzelt zwitscherten ein paar Vögel.

»Und jetzt?«, fragte Mike.

»Ich weiß es nicht.« Sie war unendlich erleichtert, dass Cay kein Mörder war. Aber was er getan hatte, war trotzdem berechnend und grausam gewesen. Kalt. Rücksichtslos. Schmerzhaft. Es stellte infrage, ob er überhaupt in der Lage war, etwas für einen anderen Menschen zu empfinden. Lena schluckte schwer. Konnte sie sich wirklich so in ihm getäuscht haben? »Ich kann das einfach nicht glauben, Mike. Dass er und dieser Artephius ein und dieselbe Person sind. Ich kann einfach nicht glauben, dass er so etwas tun könnte.«

»Vielleicht kann er das auch nicht.«

»Wie meinst du das?«

Er zuckte die Achseln. »Es ist immerhin fünfhundert Jahre her. Menschen ändern sich. Manchmal«, fügte er hinzu.

Zweifelnd sah Lena ihn an. Es stimmte, fünfhundert Jahre waren eine lange Zeit. Unendlich lange. Vor allem, wenn man sie in Einsamkeit verbrachte, nur mit seinen Gedanken und Erinnerungen. Vielleicht war es tatsächlich möglich, dass Cay und Artephius nicht dieselbe Person waren. Nicht mehr. »Wenn er sich geändert hat, dann …« Wenn er bereute, was er getan hatte, verdiente er dann nicht eine Chance? Ihr gegenüber war er nie gleichgültig oder grausam gewesen. Selbst am Anfang nicht, als es nur der Fluch gewesen war, der ihn zu ihr hingezogen hatte.

»Du denkst doch nicht etwa darüber nach, zu ihm zurückzugehen, oder?«

»Ich weiß es nicht«, flüsterte sie. »Ich weiß nur, dass ich noch nie so etwas gefühlt habe. Ich kann ihn nicht einfach aufgeben, nicht, wenn auch nur die geringste Chance besteht, dass er sich geändert hat. Er hatte fünfhundert Jahre Zeit. Fünfhundert Jahre, in denen er durchgemacht hat, was er zuvor anderen angetan hat. Das kann nicht spurlos an ihm vorübergegangen sein.« Sie musste einfach daran glauben. »Fünfhundert Jahre Einsamkeit. Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie lang das ist? Eine Ewigkeit. Ist das nicht Strafe genug?«

Mike runzelte die Stirn. »Glaubst du wirklich, dass du jemanden mit so einer Vergangenheit lieben könntest?«

Sie betrachtete das Kopfsteinpflaster. Die Geräusche des einsetzenden Lieferverkehrs drangen zu ihnen herüber. »Vielleicht. Wenn ich wüsste, dass es wirklich Vergangenheit ist. Und wenn er wirklich etwas für mich empfindet.«

»Wie willst du das herausfinden?«

Lena hob die Schultern. Ja. Wie? Artephius war sicher perfekt darin gewesen, Frauen alles Mögliche vorzuspielen, also war Cay es auch. Außerdem gab es noch den Fluch. Wie sollte sie jemals herausfinden, ob Cay sie wirklich liebte? Konnte er das überhaupt, solange er unter dem Einfluss des Fluches stand?

Mike legte den Arm um sie. »Ich wünschte, ich könnte etwas tun.«

»Du hast viel getan, Mike. Danke, dass du gekommen bist.« Sie kuschelte sich einen Moment in seine Arme. Schließlich schob sie sich von ihm weg und seufzte. »Ich fürchte, es gibt nur einen Menschen, der mir jetzt noch weiterhelfen kann. Die Frage ist nur, ob sie das will.«

»Deine Mutter?«

Lena nickte. Ihre Mutter war die Einzige, die wirklich über den Fluch Bescheid wusste. Nur sie konnte ihr sagen, ob überhaupt die Möglichkeit bestand, dass Cay wirklich etwas für sie empfand.

»Okay. Dann … sehen wir uns nachher in der Schule?«, fragte Mike.

Schule. Der Gedanke daran kam Lena so merkwürdig vor. Zu alltäglich. »Ich weiß nicht. Vielleicht.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich schätze, das kommt darauf an, wie das Gespräch mit meiner Mutter läuft.« Und ob ich sie dazu bringen kann, mir die Wahrheit zu sagen.