Kapitel 28
Als Lena die Haustür aufschloss, war es im Haus nicht totenstill, wie sie es aufgrund der frühen Morgenstunde erwartet hätte. Stattdessen drangen aufgeregte Stimmen aus der Küche. Sie fluchte innerlich. Musste ihre Mutter gerade jetzt Besuch haben, wo sie so dringend mit ihr reden wollte? Sie überlegte, ob sie das Gespräch verschieben sollte. Aber die Zeit lief ihr davon und nach allem, was geschehen war, würde ihre Mutter Verständnis dafür haben, dass Lena sofort mit ihr reden wollte. Hoffentlich. Immerhin war sie ihr auch noch ein paar Antworten schuldig. Sie ging zur Küchentür und legte die Hand auf die Klinke.
»Ich kann immer noch nicht fassen, dass sie bei ihm geblieben ist.« Die Stimme ihrer Mutter.
»Sie wird ihm schon noch auf die Schliche kommen und dann verlässt sie ihn, ganz bestimmt.«
»Was, wenn nicht?« Etwas raschelte und es klang, als ob sie sich die Nase putzte. »Ich muss es ihr sagen, Gerlinde.« Gerlinde? Der Name kam ihr irgendwie bekannt vor.
»Nein, Greta, das darfst du nicht. Du weißt, dass dann der Fluch zerstört wird.«
»Ja, ich weiß. Du musst es mir nicht dauernd unter die Nase reiben.« Ihre Stimme klang heiser, als ob sie schon mit Gerlinde sprach, seit Lena sie im Wald zurückgelassen hatte. Und so wie es klang, hatte das Gespräch sich immer wieder um die gleichen Themen gedreht. »Ich hab’s vermasselt, nur weil ich nicht wollte, dass er die Mädchen mit Magie beeinflussen kann. Und jetzt darf niemand sie beeinflussen, sonst wird der Fluch gebrochen.«
Lena runzelte die Stirn. Dann konnte Cay sie also nicht verzaubern, damit sie sich in ihn verliebte oder damit sie bei ihm blieb. Dann konnte sie sich immerhin ihrer eigenen Gefühle sicher sein. Das war ein Anfang.
»Wir haben alles getan, was wir riskieren konnten, um sie auf die richtige Fährte zu führen«, sagte die andere Frau sanft. »Sie ist nicht dumm. Sie findet es heraus.«
»Wie konnte ich nicht ahnen, dass er versuchen würde, mich mit Lena zu erpressen?«
»Ich frage mich, wie er das gemacht hat. Verliebt er sich nicht in das erste Mädchen, das er sieht?« Irgendwie kam Lena die Stimme dieser Gerlinde nun doch bekannt vor.
»Er muss Mittel und Wege haben, zu kommunizieren, während er auf dem Schloss festsitzt. Ich habe schon lange den Verdacht, dass er mitbekommt, was draußen geschieht. Nur so hätte er das alles planen können.«
»Er scheint jedes Schlupfloch genau zu kennen.«
»Ja.«
Langes Schweigen brachte Lena schließlich dazu, die Tür aufzustoßen, etwas heftiger, als sie vorgehabt hatte. Mit einem lauten Knall schlug Holz auf Holz. Die beiden Frauen fuhren herum und die Teetasse ihrer Mutter schwappte über. Lena blickte kurz auf die braunschwarze Pfütze auf dem Boden. Dann hob sie den Kopf. Das war Gerlinde? »Frau Hofstetter?«
»Lena, meine Güte, du bist zurück!« Ihre Mutter stellte die Tasse ab, ignorierte die Teepfütze und zog Lena in ihre Arme. »Ich bin so froh!«
Steif ließ sich Lena die Umarmung gefallen, bevor sie ihre Mutter wegschob. In ihr tobten zu viele Fragen, um gerade jetzt eine Umarmung zu genießen, nach der sie sich eigentlich so lange gesehnt hatte.
»Was hat Frau Hofstetter damit zu tun? Warum weiß sie über alles Bescheid?«
»Gerlinde ist meine Freundin. Sie ist ein Mitglied im Kreis der Acht. So wie ich.«
Plötzlich ergab alles einen Sinn. Warum Frau Hofstetter so unvermittelt aufgetaucht war. Warum sie unbedingt über die Morde hatte sprechen wollen. Und das Referat. Wir haben alles getan, um sie auf die richtige Fährte zu führen. »Sie sind keine Lehrerin«, stellte Lena fest.
»Nein. Und ich finde, wir sollten uns duzen.«
Lena verengte die Augen. »Deshalb wussten Sie – wusstest du – auch von Cays Zeichen.«
Gerlindes Blick zuckte zu der winzigen Lemniskate auf Lenas Schlüsselbein. »Greta hat es mir erzählt. Sie war furchtbar schockiert.«
»Was ist denn so schlimm daran?«
»Es ist eine magische Verbindung zwischen euch beiden", antwortete ihre Mutter.
»Ich weiß. Dadurch kann er mir helfen, wenn ich in Gefahr gerate.« Und du bist schuld, dass das nötig war. Sie sagte es nicht. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für einen Streit.
»Nein, du verstehst nicht. Diese magische Verbindung ist ein abgeschlossener versiegelter Zauber, der von dir zu ihm führt. Wenn ein Teil dieser Verbindung plötzlich verschwindet, dann kann das böse Folgen für den anderen Teil haben.«
»Du meinst, wenn der Fluch wieder in Kraft tritt?«
Gerlinde nickte. »Wir wissen es allerdings nicht genau. Es könnte alles Mögliche passieren. Die Verbindung könnte sich einfach auflösen, oder es könnte eine Art Phantomschmerz geben. Vielleicht passiert auch gar nichts weiter.«
»Du könntest das Zeichen doch dann entfernen, oder?«, fragte Lena an ihre Mutter gewandt. »Immerhin beherrschst du auch Magie. So wie er.« Und hast mich auch belogen. So wie er. Vielleicht sogar noch mehr. Mein Leben lang. Sie presste die Lippen aufeinander.
Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Einen versiegelten Zauber kann nur der Magier lösen, der ihn gewirkt hat.«
Gerlinde legte Lena die Hand auf die Schulter. »Hab keine Angst, etwas richtig Schlimmes wird sicher nicht passieren. Aber du solltest vorbereitet sein.«
»Wenn ich nicht mit ihm gehe.«
Ihre Mutter runzelte die Stirn. »Was soll das heißen?«
»Das heißt, dass ich mich noch nicht entschieden habe.«
»Lena, du weißt nicht …« Ihre Mutter verstummte.
»Wer er ist?« Ihre Stimme troff vor Bitterkeit. »Doch. Ich weiß es. Ich weiß, was er getan hat. Und dass er Artephius ist.« Ihre Stimme wurde leiser. »Ich weiß auch, dass der Fluch ihn dazu zwingt, mich zu lieben«, sagte sie mühsam beherrscht. Sie atmete tief durch, um die Tränen zurückzudrängen. Nicht jetzt, nicht hier.
»Gott sei Dank.« Erleichtert sank ihre Mutter auf einen Stuhl.
»Gott sei Dank?« Ärger ballte sich in ihr zusammen und ihre Stimme zitterte vor unterdrückter Wut. »Ist das ein Grund, dankbar zu sein? Dass seine Liebe nicht echt ist?«
»Lena, bitte …«
»Oder dass ihr mich die ganze Zeit belogen habt?«
Ihre Mutter zuckte zusammen. »Es ging nicht anders.«
Lena ging nicht darauf ein. Sie wollte keine Ausflüchte hören. »Hat Gromi es auch gewusst?«
»Ja. Sie wusste es. Ich … ich wollte dich da nicht reinziehen. Es ist nicht ungefährlich … und der Kreis wollte nicht, dass unsere Familien davon wissen. Und will es immer noch nicht. Deswegen kann ich dir auch jetzt nichts sagen.«
Lena presste die Lippen zusammen. Der Kreis. Immer dieser verdammte Kreis. Dafür tat ihre Mutter alles. Dafür brachte sie sogar ihre eigene Tochter in Gefahr. Sie atmete tief durch. Es hatte keinen Sinn, sich jetzt darüber aufzuregen. »Okay. Dann sag mir wenigstens, ob die Fluchliebe sich für Cay wie echte Liebe anfühlt.«
Ihre Mutter blinzelte sie einen Moment lang an, so als versuchte sie herauszufinden, was Lena mit der Frage bezweckte. »Lena, ich …«
Lena ballte die Hände zu Fäusten. »Du bist es mir schuldig, dass du mir ein paar Fragen beantwortest, nach allem, was du getan hast. Also. Ist die Fluchliebe echt für ihn?«
Unsicher warf ihre Mutter Gerlinde einen Blick zu. Die nickte. »Ich glaube nicht, dass es schaden kann, jetzt wo sie schon so viel weiß.«
»Also gut.« Ihre Mutter seufzte. »Wahre Liebe kann man nicht durch Magie erzeugen. Die Fluchliebe führt dazu, dass er jemanden liebt, aber auf eine sehr egoistische Art. Er wünscht sich ihre Gesellschaft, aber nur um seinetwillen. Echte Liebe hingegen ist selbstlos. Wenn man jemanden wirklich liebt, würde man Dinge für ihn tun, die man sonst sicher nicht tun würde.«
Zum Beispiel bei ihm bleiben, obwohl man wusste, was er getan hatte. Oder ihn wegschicken, obwohl man sich nichts so sehr wünschte, wie mit ihm zusammen zu sein.
»Kann er trotz dieser Fluchliebe echte Liebe empfinden? Zusätzlich sozusagen?« Sie versuchte, ihre Mutter nicht spüren zu lassen, wie wichtig die Antwort für sie war, aber sie merkte es trotzdem. Lena hörte es an ihrem mitleidigen Tonfall. »Lena …«
»Bitte sag es mir.« Sie hasste es, wie kläglich ihre Stimme klang. »Bitte.«
»Ich bezweifle es«, flüsterte sie.
»Aber du weißt es nicht. Das bedeutet, dass es nicht unmöglich ist.«
Ihre Mutter sah sie eindringlich an. »Ich beobachte ihn seit fünfhundert Jahren. Noch nie habe ich Anzeichen für etwas anderes als die Fluchliebe gesehen.«
Du hast auch nicht gemerkt, was er geplant hatte. Du weißt lange nicht alles über ihn. Lena verkniff sich den Kommentar. »Diese Fluchliebe, wann wird die aufgehoben?«
Der Mund ihrer Mutter nahm einen harten Zug an. »Gar nicht. Erst, wenn das Mädchen, das er gerade liebt, gestorben ist, dann wird er davon befreit.«
Lena sah ihre Mutter entsetzt an. »Meine Güte. Das ist grausam. Das bedeutet ja, dass er jahrzehntelang dasselbe erlebt, was Adrian mir angetan hat, ohne die Chance, es zu verarbeiten. Er kann nichts dagegen tun? Kein Wunder, dass er alles versucht hat, diesen Fluch zu brechen.« Kein Wunder, dass er mich dafür benutzen wollte, egal, was das für mich bedeutet. Ich hätte es wahrscheinlich auch getan.
Ihre Mutter sah jetzt wieder wie die Magierin im Wald aus. Kalt und fest entschlossen. »Was er durchmacht, ist Teil seiner Strafe für das, was er getan hat.«
»Meinst du nicht, dass es langsam reicht? Fünfhundert Jahre hast du ihn gequält. Er hat seine Strafe verbüßt.« Wie konnte ihre Mutter nur so kalt bleiben?
»Vielleicht, wenn sein Herz eben so oft gebrochen wurde, wie er es getan hat.«
»Was ist mit den Frauen? Was ist mit mir? Wolltest du nicht verhindern, dass sie so etwas erleben?«
Sie nickte. »Die Frauen vergessen alles, was geschehen ist, sobald der Fluch wieder zu wirken beginnt.« Sie sah Lena mitleidig an. »Das wirst du auch.«
Sie würde alles vergessen? Seine Berührungen, das Gefühl seiner Lippen auf ihrer Haut, seine Stimme und den Ausdruck in seinen Augen, wenn er sie ansah? Das alles würde ihr genommen? »Nein! Das will ich nicht, das lasse ich nicht zu.« Lieber wollte sie den Schmerz ertragen, als alles zu vergessen.
»Dagegen kannst du nichts tun.« Die Augen ihrer Mutter glitzerten kalt.
»Doch.« Lena ballte die Fäuste. »Wenn ich mit ihm gehe.«
Ihre Mutter sprang auf. »Das kannst du doch nicht ernsthaft wollen!«
»Warum nicht? Er hat seine Taten mehr als gebüßt und er liebt mich.«
»Das ist nur der Fluch. Wenn der aufgehoben würde, dann würde er dich nicht mehr lieben«, sagte ihre Mutter brutal.
Lena zuckte zusammen. »Das glaube ich nicht. Du hast gesagt, die Fluchliebe ist egoistisch. Er war nicht egoistisch. Er hat nicht versucht, mich zum Bleiben zu bewegen. Er wollte, dass ich gehe. Nein, er liebt mich, ich weiß es.«
Unsicherheit flackerte kurz über das Gesicht ihrer Mutter. »Das ist nur gespielt. Er hofft, dass du genau diesen Rückschluss ziehen wirst und bei ihm bleibst.«
Lena lachte freudlos. »Aber wozu? Ich hatte mich ja schon dafür entschieden, bei ihm zu bleiben, und selbst da hat er noch versucht, mich loszuwerden. Aber ich wollte nicht gehen.« Er war nicht einmal wütend gewesen, als sie das Zimmer mit den Büchern entdeckt und alles über ihn herausgefunden hatte. »Er war nicht wütend«, murmelte sie.
Du hättest nicht allein herkommen sollen. Nicht allein.
»Er wollte es mir sagen, mir das Zimmer zeigen. Er wollte mich damit abschrecken. Deswegen hat er auch gelogen und sich selbst zum Mörder gemacht.«
Ihre Mutter war blass geworden. »Das kann nicht sein.«
»Er hat sich geändert, auch wenn du das nicht wahrhaben willst und ihn immer weiter bestrafst. Ich gehe zu ihm. Ich muss mit ihm reden, jetzt, wo ich alles weiß.«
Entsetzt sah ihre Mutter sie an. »Lena bitte, tu das nicht.«
»Doch ich gehe. Jetzt gleich.« Sie wandte sich zur Tür.
»Warte«, rief ihre Mutter. Sie klang verzweifelt. »Ich habe etwas für dich, wenn du bleibst.«
Sie zog einen Schlüssel aus ihrer Tasche und hielt ihn Lena hin.
Lena erstarrte. »Der Schlüssel zu Gromis Zimmer. Du gibst ihn mir?« Sie streckte eine Hand danach aus, aber ihre Mutter legte den Schlüssel nicht hinein.
»Wenn du versprichst, Cay nicht mehr wiederzusehen«, sagte sie.
Lena überlegte nicht einmal, stattdessen ließ sie ihre Hand sinken. »Ich kann nicht glauben, dass du so weit gehen würdest, mich mit so was zu erpressen. Obwohl, vielleicht sollte mich das gar nicht überraschen, nach allem, was du getan hast.« Mit einem verächtlichen Blick wandte sie sich zum Gehen.
»Warte doch. Er könnte Magie benutzen, um dich zu beeinflussen.«
Kalter Zorn floss durch ihre Adern, als sie sich langsam wieder zu ihrer Mutter umdrehte.
»Ich weiß, dass er das nicht kann. Du hast es eben selbst gesagt. Ich gehe zu ihm und du kannst mich nicht davon abhalten.«
Ihre Mutter machte ein paar Schritte in ihre Richtung. »Bitte. Tu das nicht. Ich könnte es nicht ertragen, dass du mit ihm eingesperrt bist.«
»Dann musst du eben den Fluch aufheben.«
Ihre Mutter biss sich auf die Lippen. Lena sah ihr an, dass sie fieberhaft nachdachte. »Gut, ich tue es.«
»Wie bitte?« Hatte sie richtig gehört? »Meinst du das ernst?« Bisher hatte sie kaum daran geglaubt, dass ihre Mutter es überhaupt in Erwägung ziehen würde, und jetzt wollte sie es einfach so tun?
»Ja, ich meine es ernst.«
»Greta, nein, das darfst du nicht.« Gerlinde stand das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben. »Du weißt, wie wichtig es ist, dass er gefangen bleibt. Und wenn der Fluch einmal aufgelöst ist … du bist nicht stark genug, ihn zu wiederholen.«
»Verdammt, Gerlinde, es geht um meine Tochter. Sie verlangen alles von mir. Alles. Soll ich ihnen jetzt auch noch meine Tochter opfern? Siehst du denn nicht, dass ich ihr wenigstens eine Chance geben muss?«
Gerlinde zog die Augenbrauen zusammen. »Die Chance, die du mit ihrem Vater nie hattest?«
Trotz ihrer Ungeduld, dass ihre Mutter endlich weitersprach, horchte Lena auf.
»Mit mir hat das nichts zu tun!«, fauchte sie, aber ihre Augen sagten das Gegenteil.
Gerlindes warnende Worte fielen Lena wieder ein. Sie hatte von einer Freundin gesprochen, die verlassen worden war, und danach war nichts mehr wie vorher gewesen. Ob sie ihre Mutter gemeint hatte?
»Greta, bitte, sei vernünftig …«
Lenas Mutter beachtete sie gar nicht mehr, sie drehte ihr den Rücken zu und sah Lena entschlossen an. »Es gibt eine Bedingung. Du behauptest, dass er sich geändert hat. Gut, dann soll er es beweisen.«
Lena stockte der Atem. Es wäre zu schön, um wahr zu sein. Sie müsste sich nicht von allem trennen, sie könnte mit Cay zusammen sein und doch ihr Leben weiterleben. Sie hielt den Atem an. »Wie?«
»Wenn er wirklich nur das Beste für dich will, wird er dich nicht mehr sehen wollen. Dann wird er dich in Ruhe lassen, bis der Fluch wieder in Kraft tritt. Wenn er nicht mehr zu dir kommt, um dich zu sehen, und damit seine Selbstlosigkeit beweist, wenn ihr euch heute nicht begegnet, dann löse ich den Fluch.«
*
»Lena, du bist ja doch gekommen.« Mike kam ihr auf dem Schulflur entgegen. Er musterte sie mit gerunzelter Stirn. »Und du siehst mal wieder aus wie das blühende Leben.«
»So schlimm?«
Er nickte.
Lena seufzte. »Kein Wunder. Ich weiß schon gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal geschlafen habe.« Noch während sie es sagte, kam die Erinnerung zurück. Letzte Nacht. In Cays Bett. Sie war in seinen Armen eingeschlafen, vielleicht zum letzten Mal in ihrem Leben. Nein. So durfte sie nicht denken. Der Fluch würde gelöst werden. Ganz bestimmt.
»Meine Mutter hat gesagt, dass sie den Fluch aufheben wird«, flüsterte Lena. Sie zog Mike in eine Nische und erzählte ihm von dem Gespräch mit ihrer Mutter. »Er liebt mich wirklich. Ich weiß es. Was er getan hat und dass er mich zurücklassen wollte, das war doch selbstlos, oder nicht?«
Mike wand sich unter ihrem Blick. »Ich weiß nicht. Er kann sich sicher gut verstellen.«
Sie zog die Augenbrauen zusammen und überging Mikes Bemerkung. »Er will nicht, dass ich mitgehe. Er wird nicht kommen, um mich zu holen.« Sie musste es einfach glauben.
»Ich hoffe es für dich«, murmelte Mike. Er sah Lena nicht an und sagte auch nichts weiter, während sie zu seinem Klassenzimmer gingen. Er nickte ihr zum Abschied zu und verschwand durch die Tür. Lena stieg die Treppe zum Chemiesaal hinauf.
Als sie den Saal betrat, war der Professor schon da und sortierte auf dem Lehrerpult einige Unterlagen. Als sie ihn grüßte, nickte er ihr freundlich zu und vertiefte sich wieder in seine Papiere. Lena ließ sich auf einen der noch freien Plätze sinken.
Nach diesem Tag wäre alles vorbei. Es gäbe nur noch den normalen Chemieunterricht. Sie fühlte sich seltsam ruhig. Mit allem, was in den letzten Tagen passiert war, waren der Alltag, das Stipendium und die Schule in den Hintergrund getreten.
Als der letzte Schüler seinen Platz eingenommen hatte, sah der Professor auf und räusperte sich. »Ich hatte ja bereits angedeutet, dass wir uns schon entschieden haben und mein Eindruck gestern hat diese Entscheidung untermauert. Ich möchte Sie daher gar nicht lange auf die Folter spannen und Sie bis zur offiziellen Zeremonie wochenlang warten lassen. Ich werde Ihnen heute mitteilen, wer das Stipendium bekommt. Lassen Sie mich nur vorher noch eines sagen: Sie alle haben sich gut geschlagen und jeder von Ihnen wäre im Studiengang für Chemie gut aufgehoben.«
Lena bemerkte, dass Emre unruhig auf ihrem Stuhl herumrutschte und auch Alessandro wirkte trotz seiner lässigen Körperhaltung ziemlich angespannt. Nur Luise bemühte sich, einen Anflug von Gleichgültigkeit zu bewahren. Lenas innere Leere war inzwischen verflogen. Sie drehte ihren Kugelschreiber nervös zwischen den Händen. Für diesen Moment hatte sie die ganzen letzten Monate gearbeitet. Jetzt würde sich zeigen, ob es sich gelohnt hatte.
»Zuerst möchte ich Ihnen noch kurz erläutern, welche Kriterien wir unserer Bewertung zugrunde gelegt haben.«
Hatte er nicht gesagt, er wollte sie nicht auf die Folter spannen? Dennoch erging er sich jetzt ziemlich lange in den Tugenden, die ein Stipendiat brauchte. Sie kam sich vor wie bei einer dieser Castingshows, in denen die Entscheidung immer erst nach minutenlanger Kandidatenfolter verkündet wurde. Es fehlte nur noch, dass der Professor die drei besten Schüler nach vorn bat, um sie dann der Reihe nach auszusortieren. So weit ging er dann allerdings doch nicht.
»Das Stipendium geht an …« Er sah auf seinen Zettel. Lena verdrehte die Augen. Konnte man es noch länger herauszögern? »Leonora Weber.«
Ungläubig starrte sie ihn an. Sie hatte es geschafft. Sie hatte gewonnen. Das Stipendium gehörte ihr. Freude stieg in ihr auf und verzog ihre Lippen zu einem breiten Lächeln.
Der Professor lächelte sie an. »Herzlichen Glückwunsch!«
»Vielen Dank.« Sie fühlte sich, als hätte man ihr eine tonnenschwere Last von den Schultern genommen. Ihr Studium war gesichert, sie würde endlich hier wegkommen. Aus den Augenwinkeln nahm Lena Luises mörderischen Gesichtsausdruck wahr. Ihre Freude verblasste ein wenig. Sie empfand keine Schadenfreude, keinen Triumph. Luise tat ihr plötzlich nur noch leid, trotz allem, was sie getan hatte. Sie hatte es nicht leicht gehabt und es würde auch in Zukunft für sie nicht einfach werden. Alle Hoffnungen und Erwartungen ihres Vaters lasteten auf ihr. Dass sie die Firma übernehmen und erfolgreich führen würde. Lena wollte nicht mit ihr tauschen.
Das Gemurmel der anderen verebbte und der Professor sprach weiter. »Wie Sie ja wissen, hat unser Stipendium viel mehr Vorteile als nur die finanzielle Erleichterung. Zum Beispiel gibt es spezielle Seminare nur für die Stipendiaten und die Chance auf die Zusammenarbeit mit international erfolgreichen Wissenschaftlern. Weil es diesmal sehr knapp war und es für uns sehr schwer war, eine Entscheidung zu treffen, haben wir uns entschieden, ein weiteres Stipendium zu vergeben.«
Lautes Gemurmel setzte ein und alle sahen sich überrascht an. Luise war immer noch bleich und starrte nach vorn.
»Allerdings ohne die finanziellen Vorteile.«
Einige sahen enttäuscht aus, aber Luise zuckte nicht einmal mit der Wimper. Natürlich, das Geld interessierte sie nicht.
»Luise Bachmann.«
Luise hob den Kopf. Ihr Blick wirkte glasig, so als könnte sie es gar nicht fassen.
»Herr Magnus hat Sie so hervorragend beurteilt, dass wir uns für diese Vorgehensweise entschieden haben. Sie können sich bei ihm dafür bedanken.«
Luises Augen weiteten sich. Langsam drehte sie den Kopf in Lenas Richtung und fixierte sie. Der Professor verabschiedete sich schließlich mit dem Hinweis, dass Lena und Luise eine Benachrichtigung bekommen würden, wo und wann sie zusammen mit den anderen Stipendiaten ihre Urkunden und Unterlagen erhalten würden. Dann überließ er das Klassenzimmer dem Chemielehrer.
Leere machte sich in Lena breit. Es war vorbei. Sie hatte es geschafft. Sie würde in München studieren und sie musste mit etwas Glück kaum nebenher arbeiten. Sie war so versunken in ihre Gedanken, dass sie nichts von dem mitbekam, was der Chemielehrer sagte.
Nach der Stunde kam Luise auf sie zu. Lena seufzte innerlich, als ihr einfiel, dass sie Luise nun auf der Uni auch ständig sehen würde. Sie machte sich auf eine ihrer boshaften Ansprachen gefasst, aber Luise stand einfach nur vor ihr, sah auf ihren Ordner hinunter und schwieg. All ihr übliches Selbstbewusstsein war verschwunden, stattdessen wirkte sie klein und verloren.
»Glückwunsch«, sagte Lena schließlich, um die Stille zu füllen.
»Ja, dir auch.« Luise hob den Kopf und atmete tief durch. »Versteh das jetzt nicht falsch«, sagte sie. »Wir werden keine Freundinnen, aber ich würde gern deinen Friedensvorschlag annehmen, wenn der noch steht.«
Lena starrte sie an. Was sollte das jetzt auf einmal? Noch vor wenigen Stunden hätte sie ihr am liebsten die Augen ausgekratzt und jetzt das?
»Ja.« Lena runzelte die Stirn. »Ja, sicher. Aber wieso gerade jetzt?«
»Es war sehr anständig, was dein Freund für mich getan hat, trotz allem. Ich dachte …« Sie stockte.
»Du dachtest, dass er dich mit Absicht schlecht bewerten würde, nach dem, was du dir alles geleistet hast.«
Luise starrte Lena ohne eine Regung im Gesicht an. »Ich habe nur versucht, zu gewinnen. Das ist alles, was für mich zählt.«
Dazu hätte Lena eine Menge zu sagen gehabt, aber sie hielt sich zurück. Sie hatte den ewigen Streit satt. »Vielleicht können wir so weitermachen wie früher, bevor das mit Adrian passiert ist.«
Luise verengte die Augen. »Hm. Ich weiß nicht, ob ich so weit gehen will. Aber ich könnte mich vielleicht dazu überreden lassen, nicht mehr so oft laut zu sagen, was ich über dich denke.«
Lena blinzelte sie an. »Wie bitte?« Sollte das etwa ein ernst gemeintes Angebot sein oder wollte sie Lena nur auf den Arm nehmen?
»Mehr kann ich dir nicht anbieten, wirklich nicht.« Sie verdrehte die Augen. »Na gut. Ich könnte, aber ich will nicht. Also nimm es oder lass es.«
»Ähm …« Luise meinte es offensichtlich ernst. Was sagte man zu so was? »Okay.«
Luise lächelte herablassend. »Prima, dann wäre das ja geklärt.« Sie drehte sich um und stolzierte aus dem Saal.