Kapitel 30

 

 

 

Die Bäume warfen im fahlen Schein des Irrlichts lange, krumme Schatten, die sich Lena in den Weg zu werfen schienen. In den Zweigen säuselte unheilvoll der Wind. Als neben ihr das Laub aufstob, machte sie einen erschrockenen Satz zur Seite. Rot glühende Augen starrten sie an. Nur eine Ratte, die schnell im Unterholz verschwand. Die hat es leicht, im Gegensatz zu mir. Lena starrte einen Moment die Lücke im Unterholz an, durch die die Ratte geschlüpft war, dann setzte sie sich wieder in Bewegung.

Äste zerrten an dem schweren Rucksack auf ihrem Rücken und immer wieder musste sie über einen Baumstamm klettern oder sich zwischen zwei Büschen hindurchzwängen. Sie wagte es nicht, die Wege zu benutzen, denn die Gefahr, Cay zu begegnen, war zu groß. Es war besser, wenn er ihre Anwesenheit erst bemerkte, nachdem der Fluch wieder in Kraft getreten war. Dann würde er nichts mehr daran ändern können.

Immer wieder blieb sie stehen und lauschte, ob jemand in der Nähe war. Sie war nicht gerade ein Waldläufer und ziemlich laut. Vielleicht sollte sie den Rucksack zurücklassen, dann wäre sie wendiger und leiser, aber sie hing viel zu sehr an den wenigen Sachen, die sie eingepackt hatte. Sie gaben ihr das Gefühl, ein Stück Zuhause mit sich zu nehmen.

Sie sah auf und kniff die Augen zusammen. Bildete sie sich das nur ein oder schimmerte der Nachthimmel durch die Bäume? Die Lichtung vor dem Tor konnte nicht mehr weit sein. Tatsächlich wuchsen die Büsche bald weniger dicht und die Bäume wichen kalter Nachtluft.

Am Rand der Lichtung blieb Lena im Schutz der Bäume stehen. Ob es schlauer war, die Lichtung zu umrunden und im Unterholz zu bleiben, solange es ging? Oder war es besser, die Lichtung schnell zu überqueren, solange alles ruhig war?

Sie spähte eine Weile nach allen Seiten und horchte auf Schritte oder Hufgeklapper, bevor sie es wagte. Voller Unbehagen schob sie sich aus dem Schutz der Bäume auf die Lichtung. Im hellen, silbernen Licht des Vollmonds fühlte sie sich wie auf dem Präsentierteller. Sie heftete ihren Blick auf das Tor und lief so schnell darauf zu, wie es der Rucksack auf ihrem Rücken zuließ.

Das Tor stand einen Spalt offen, das Schloss war immer noch kaputt. Lena schob sich durch die Torflügel. Sie machte ein paar Schritte auf dem überwachsenen Weg, dann glitt sie zwischen die Bäume und blieb stehen, um einen Moment zu verschnaufen. Ihre Schultern taten höllisch weh und sie schob die Daumen unter die Träger des Rucksacks, um ein wenig Druck wegzunehmen. Sie wollte so nah wie möglich ans Schloss, aber kurz auszuruhen und das Gewicht nur für ein paar Minuten loszuwerden, war ein zu verlockender Gedanke. Vorsichtig ließ sie den Rucksack zu Boden gleiten. Während sie sich die Schultern massierte, sah sie sich unbehaglich um.

Raschelte da etwas? Wieder eine Ratte? Sie erstarrte und horchte. Nein. Ein Ast knackte. Schritte.

Mit verengten Augen suchte sie die Umgebung ab. Niemand zu sehen. Vielleicht hatte sie es sich nur eingebildet. Sie bückte sich nach dem Rucksack. Da war es wieder. Schritte. Ein rasselndes Keuchen.

Die Härchen in ihrem Nacken sträubten sich. Langsam richtete sie sich auf und berührte mit einer Hand das Zeichen auf ihrem Schlüsselbein. Cay würde sie finden, wenn sie wirklich in Gefahr geriet.

Das Keuchen wurde lauter.

Lena erwachte aus ihrer Starre. Sie ließ den Rucksack stehen und rannte den Berg hinauf in die Richtung, in der sie das Schloss vermutete. Sie schaffte nur wenige Schritte.

Etwas packte sie am Handgelenk und riss sie so heftig zurück, dass ein stechender Schmerz durch ihren Ellenbogen schoss. Sie schrie entsetzt auf.

»Was soll das?« Ein wutverzerrtes Gesicht starrte sie an, buschige Brauen über gelblichen Augen. Eine krallenartige Hand hielt ihren linken Oberarm so fest, dass es ihr das Blut abschnürte.

Wendel. Zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, machte er seinem grusligen Aussehen alle Ehre. Sie zerrte an ihrem Arm, aber dieser Wicht hatte einen Griff wie ein Schraubstock.

»Lass mich gefälligst los!«

»Er will nicht, dass du das tust«, schnarrte Wendel. »Du solltest nicht hier sein.«

Lena zog verärgert die Augenbrauen zusammen. Cay hatte Wendel auf sie angesetzt?

»Das geht dich gar nichts an!«

Wendel lachte. Es war ein Geräusch, wie Kreide, die über eine Tafel quietscht. »Er will dich nicht mehr. Hast du das nicht kapiert?«

Obwohl sie wusste, dass das nicht stimmte, versetzte es ihr einen Stich. »Ich lasse mich von dir nicht abschrecken«, sagte sie kalt und zerrte noch einmal an ihrem Arm. »Lass jetzt los, verdammt!«

»O nein.« Wendels Finger gruben sich noch etwas fester in Lenas Arm und er riss daran, um sie zum Tor zu ziehen. Sie stemmte ihre Füße in den Boden, aber er war unerbittlich. Unfassbar, wie viel Kraft in ihm steckte. Schritt für Schritt stolperte sie hinter ihm her, durch das Tor und über die Lichtung, bis Wendel sie zwischen die Bäume zog.

Äste schlugen Lena ins Gesicht und verfingen sich in ihren Haaren. Einer kratzte an ihrer Kopfhaut entlang und schob sich unter das Tuch ihrer Großmutter. Bevor Lena danach greifen konnte, zerrte Wendel sie weiter. Das Tuch wurde ihr vom Kopf gerissen und mit ihm ein paar Haare. Der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen. »Mein Tuch!«

Wendel kommentierte es nicht, er zerrte sie einfach weiter.

Sie sah hinter sich und konnte gerade noch erkennen, wie etwas Rosafarbenes von einem Ast rutschte und auf den Waldboden fiel, bevor die Dunkelheit es verschluckte. Sie versuchte, sich die Stelle einzuprägen, doch sie konnte das Tuch schon nicht mehr sehen.

Mit einer Hand zog sie das Irrlicht aus der Tasche. Sofort schwirrte es um Wendel herum, als wollte es ihn ablenken, aber der beachtete es gar nicht. Diesmal musste sie sich selbst helfen. Nur wie? Wenn sie doch nur zaubern könnte, dann wäre es kein Problem, diesen widerlichen Kerl loszuwerden. Sie besaß zwar noch den Schutzzauber im Anhänger, aber auch der würde nur anschlagen, wenn sie wirklich in Gefahr war. Oder war es vielleicht möglich, dass sie ihn selbst auslöste?

»Hilf mir!«, nuschelte sie in Richtung des Anhängers, damit Wendel es nicht hörte. Immer noch zog er sie unerbittlich durch den Wald. Weg vom Schloss. Weg von Cay.

Lena fluchte, als sich nichts tat. Vielleicht musste man es dreimal hintereinander sagen? Die drei war immer gut, wenn es um Magie ging. Sie versuchte es. Wieder nichts. In einem Anfall von Verzweiflung rieb sie daran, wie an einer Wunderlampe. Dass das nicht funktionierte, überraschte sie allerdings nicht. Sie zermarterte sich das Hirn, ob Cay ihr einen Hinweis darauf gegeben hatte, wie man den Schutzzauber selbst auslösen konnte. Ihr fiel ein, dass sie die Lichtkugel hatte anhauchen müssen, damit der kleine Drache herausschlüpfte und an sie gebunden war. Sie hauchte den Anhänger an, während sie hinter Wendel her durch den Wald stolperte und immer wieder versuchte, sich loszureißen. Der Anhänger leuchtete schwach. Erleichterung durchströmte sie. Bis sie merkte, dass sich nichts weiter tat.

»Ist das schon alles?«, flüsterte sie entrüstet.

Der kleine Drache wand sich in seiner goldenen Hülle, als versuche er, sie zu sprengen. Vielleicht musste sie zusätzlich noch etwas sagen oder Anweisungen geben?

»Komm da raus und beschütz mich!«, raunte Lena ungeduldig. Sie hoffte, dass das reichte. Für eine schnörklige Formulierung war jetzt keine Zeit.

Tatsächlich wurde das Leuchten stärker und der Drache schälte sich aus dem Gold des Anhängers. Es sah aus, als würde er sich häuten. Schnell war er ja nicht gerade, aber Lena verbiss sich einen Kommentar. Sie wollte nicht riskieren, ihn zu verärgern. Wahrscheinlich war es nicht einmal eine Minute, aber es fühlte sich an wie eine halbe Stunde, bis der leuchtende Drache endlich auf ihrer Schulter saß. Er krallte sich ein und begann leise zu brummen. Ein leuchtender Schutzschild formierte sich um sie herum auf und hüllte sie und das Irrlicht ein. Im selben Moment kreischte Wendel, ließ ihre Hand los und presste seinen Arm an seinen Körper.

»Du verdammtes Miststück«, zischte er. »Von Anfang an hast du mir nur Probleme gemacht.«

Lena runzelte die Stirn. Von Anfang an?

Wendel musterte den Lichtkreis des Schutzzaubers, suchte nach einer Lücke, testete sogar mit den Fingerspitzen, ob der Schild weiterhin aktiv war. Ein Zischen wie von einem Kurzschluss bestätigte die Funktionstüchtigkeit. Fluchend zog Wendel seine Hand weg und pustete auf seine Finger.

Dann hob er den Blick und starrte Lena hasserfüllt aus seinen gelblichen Augen an.

»Mit den anderen war es leichter, aber dich vertreibe ich auch noch«, keifte er.

Warum wollte er sie vertreiben? Und welche anderen? Die Frauen von den Porträts etwa? Aber das würde ja bedeuten, dass Wendel wollte, dass Cay allein blieb. Lena stockte der Atem. »Du steckst hinter den ganzen Anschlägen«, flüsterte sie. »Du hast das Monster auf mich gehetzt.«

Wendels Gesicht verzog sich zu einer boshaften Grimasse. »Alles andere hat ja nicht gewirkt. Die anderen musste ich nur ein bisschen erschrecken, meist war es nicht mal nötig, ihnen das Bild zu zeigen. Aber du … du wolltest einfach nicht verschwinden.«

Lena starrte ihn an. Natürlich. Er hatte dafür gesorgt, dass sie das Bild sah, indem er die Tür hatte offen stehen lassen. Er hatte sie im Wald erschreckt, vielleicht hatte er sie damals schon mit dem Gas betäuben wollen, aber Cay war ihm dazwischen gekommen. Lena ballte die Fäuste. »Du … du hast dafür gesorgt, dass ich mich in den Höhlen verirre. Du hast mich mit dem Gas vergiftet, bis ich dachte, ich ersticke. Verdammt, ich hab mir noch Sorgen um dich gemacht«, rief sie.

Wendel musste seine eigene Ohnmacht damals vorgetäuscht haben, um den Verdacht von sich abzulenken. Sie verspürte ein dumpfes Ziehen in ihrem Magen. Sie hatte ihrer Mutter unrecht getan. Sie hatte nichts mit den Anschlägen zu tun. Wendel war es gewesen, die ganze Zeit. Was versprach Wendel sich nur davon? Lena rieb sich über die Stirn, als könnte sie damit die Gedanken in ihrem Kopf dazu bringen, nicht mehr wie wild zu kreisen. »Warum? Warum das alles?«

Wendel antwortete nicht. Er testete den Zauber noch einmal, musterte sie abfällig und spuckte vor ihr aus. »Dich kriege ich auch noch«, krächzte er dann und verschmolz mit der Dunkelheit.

Ein Schauder überlief sie und verdrängte für einen Moment alle anderen Gedanken. Was wollte er tun? Was konnte er jetzt überhaupt noch tun? Der Fluch würde bald wieder in Kraft treten. Sie sog scharf die Luft ein. Der Fluch! Ihr lief die Zeit davon. Sie musste zum Tor.

Hastig fuhr sie herum und lief den gleichen Weg zurück, den Wendel sie entlang gezerrt hatte. Vielleicht fand sie dann auch ihr Tuch wieder. Sie wusste, dass es dumm war, jetzt danach zu suchen, sie hatte keine Zeit dafür, aber sie konnte doch nicht ohne den Schal ihrer Großmutter gehen. Sie musste wenigstens versuchen, ihn zu finden. Sie heftete den Blick auf den Boden. Es musste doch hier irgendwo sein.

Während sie suchte, nahm sie wahr, dass das Brummen des kleinen Drachen leiser wurde. Er blieb auf ihrer Schulter sitzen und starrte wachsam in die Gegend, aber der Schutzschild hatte deutlich nachgelassen. Vielleicht musste er Energie sparen?

Die trockenen Blätter auf dem Boden wichen bald dem Gras der Lichtung, ohne dass sie das Tuch gefunden hätte. Sie drehte sich um und versuchte es noch einmal. Diesmal rannte sie. Nichts. Sie drehte wieder um, hielt wieder auf die Lichtung zu, wich etwas von ihrer vorherigen Route ab. Den Blick immer nach unten gerichtet. Blätter, Äste, Moos. Da! Etwas Rosafarbenes. Das Tuch. Erleichtert ging Lena in die Hocke und hob es auf. Sie presste es an ihre Brust und schloss die Augen. Nur einen Moment ausruhen. Ihre Haare waren feucht und ihre Lungen brannten, als wäre sie mehrere Kilometer gerannt. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie sich dermaßen verausgabt hatte. Ein lautes Knacken übertönte ihre Atemzüge. Lena fuhr auf.

Feuer. Eine riesige Wand aus Flammen versperrte ihr den Weg zum Tor. Heiß und mit beißendem Rauch fraßen die Flammen sich in ihre Richtung. Sie stolperte ein paar Schritte rückwärts. Im selben Moment schwoll das Brummen des kleinen Drachen auf ihrer Schulter wieder an, bis der Schutzschild sie vor Rauch und Hitze schützte. Trotzdem musste sie so schnell wie möglich hier weg. Die ganze Lichtung brannte und sie wusste nicht, wie lange der kleine Drache sie schützen konnte. Sie musste versuchen, sich zum Schloss durchzuschlagen. Aber wie sollte sie jetzt zum Tor und ins Schloss kommen? Sie wusste nicht, ob es überhaupt möglich war, auf anderem Weg hineinzugelangen, und ihr blieb nur noch so wenig Zeit. Bald würde der Fluch wieder einsetzen und sie würde Cay nie wiedersehen. Ihre Brust zog sich schmerzhaft zusammen. Nein. Das würde sie nicht zulassen.

»Irrlicht, gibt es noch einen anderen Weg ins Schloss oder einen Weg um das Feuer herum?« Das Irrlicht hörte sie gar nicht. Es sprang ein Stück von ihr entfernt auf den Flammen hin und her. »Bitte«, rief sie ihm verzweifelt zu. »Ich brauche dich jetzt!«

Es reagierte nicht. Verzweifelt tastete sie sich so nah wie möglich an die Flammen heran und fragte sich, ob ihr magischer Schild sie auch vor Feuer schützen würde. Er tat es. Zwar wurde die Hitze stärker, aber die Flammen drangen nicht zu ihr durch. An den Stellen, wo er die Flammen berührte, bogen sich diese auseinander, so, als würden sie weggedrückt. Sie schob sich in die Flammen hinein, bis das Irrlicht innerhalb des Schutzzaubers war, und griff blitzschnell danach. Es piepste empört und verbrannte ihr verärgert die Hand. Der Schmerz fraß sich in ihre Haut, aber sie ließ nicht los. Das kleine Wesen war jetzt ihre einzige Hoffnung.

Der Schutzschild flackerte gefährlich. Vielleicht verbrauchte er sich mit der Zeit und wurde durch das Feuer erschöpft. Hastig wich Lena ein paar Schritte zurück. Dann betrachtete sie das Irrlicht in ihrer Hand.

»Tut mir leid, aber ich brauche deine Hilfe. Dringend. Wenn das hier überstanden ist, mache ich ein schönes Lagerfeuer für dich, in Ordnung?«

Eine kurze Pause, dann bestätigendes Klingeln. Erleichtert bat Lena das Irrlicht, sie um das Feuer herum oder auf einem anderen Weg zum Schloss zu führen. Sofort schwebte es nach links und Lena rannte ihm hinterher.

Nach wenigen Metern blieb das Irrlicht stehen und Lena bremste abrupt ab. Auch in dieser Richtung brannte der Wald. Irgendwie war sie davon ausgegangen, dass das Feuer nur vor dem Tor brannte, aber sie war von zwei Seiten eingeschlossen. Sie drehte sich um.

Der Weg, den sie durch das Unterholz geschlagen hatte, war nicht mehr da. Das Unterholz war verschwunden. Alles brannte lichterloh. Sie stand in einem Meer aus Flammen, aus dem es keinen Ausweg gab.

Sie würde verbrennen.

»Hilfe«, schrie sie.

Die Flammen schlossen sie immer mehr ein. Schon züngelten sie an dem Schutzschild entlang. Noch hielt er, aber er flackerte gefährlich. An einigen Stellen war er schon fast verblasst.

»Cay, wo bist du?« Warum schlug das Zeichen auf ihrem Schlüsselbein nicht Alarm? Funktionierte es überhaupt? Es hatte noch nie angeschlagen, vielleicht, weil bei dem Zauber etwas schiefgegangen war?

Der Schutzschild flackerte wieder und Lena atmete Rauch ein. Husten schüttelte sie. Das Gesicht der Frau von dem Bild zuckte vor ihrem inneren Auge auf. Sie sah die Brandwunden der Männer. Bald würde sie den Schmerz genauso fühlen. Panik machte sich in ihr breit. »Cay«, brüllte sie. »Hilfe!«

Wurde es heißer? Oder bildete sie sich das nur ein? Nein. Der Rauch wurde dichter. Das konnte nur eins bedeuten.

Der Schutzschild ließ nach.

Lena verrenkte sich fast den Hals, um nach dem kleinen Drachen auf ihrer Schulter zu sehen. Er flackerte und war kaum noch zu sehen. Das Brummen war fast verstummt. Schließlich erstarb es und der Drache verblasste. Entsetzt starrte sie auf die Flammen, die sie umgaben und bald an ihr lecken würden. Die Hitze war so unerträglich, dass sie die Augen schloss, und der Rauch so beißend, dass sie ihr T-Shirt hochzog, um es vor Nase und Mund zu halten. Ein hysterisches Schluchzen drang aus ihrer Kehle und schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen.

Gerade als ihre Beine unter ihr nachgaben, riss jemand sie an seine Brust.

»Bleib ganz dicht bei mir«, sagte Cay eindringlich.

Statt einer Antwort hustete sie. Tränen der Erleichterung liefen ihr über die Wangen. Er hatte sie gefunden. Sie schlang die Arme um ihn und presste sich an ihn.

»Was hast du vor, willst du uns versetzen?«, keuchte sie.

Er schüttelte knapp den Kopf. »Zu gefährlich. Ich werde der Umgebung Energie entziehen.« Noch während er es sagte, legte sich ein Ausdruck höchster Konzentration auf sein Gesicht. Sein Körper war angespannt und seine Arme zeigten mit weit abgespreizten Fingern zu Boden. Sie nahm nicht wahr, dass er irgendetwas tat, aber sie hatte den Eindruck, dass das Feuer nicht mehr auf sie zukam. Auch wenn es genauso heiß brannte wie zuvor.

Lena vergrub das Gesicht in Cays schwarzem Hemd, um sich vor der Hitze zu schützen. Das Feuer tobte ungebremst um sie herum und ihr Herz raste wie verrückt. Sie konnte nur hoffen, dass er wusste, was er tat.

Nach ein paar Minuten ließ das laute Tosen des Brandes nach. Stattdessen ertönte ein merkwürdiges Knacken. Lena riskierte einen Blick und hob dann erstaunt den Kopf. In rasendem Tempo wurde das Feuer kleiner. Es war schon mehrere Meter vor ihnen zurückgewichen. Nein. Nicht vor ihnen. Vor dem Eis.

Der Boden um sie herum war gefroren, ebenso wie die Bäume, und das Unterholz, das noch nicht dem Feuer zum Opfer gefallen war. Das Eis breitete sich rasend schnell aus. Es fraß das Feuer auf, verleibte sich alles ein, was im Weg stand, und erschuf dabei bizarre Skulpturen aus halb verkohlten Bäumen, die von glitzernden Eiskristallen übersät waren. Das Knacken, das Lena bemerkt hatte, kam von der Erde, die durch den extremen Temperaturwechsel aufplatzte und kleine Spalten bildete.

Jetzt verstand sie auch, was Cay gemeint hatte. Er hatte der Umgebung Energie entzogen, Wärmeenergie, und dem Feuer von unten herauf die Nahrung genommen, in dem er alles zu Eis erstarren ließ. Lena fragte sich, was er mit der ganzen Energie gemacht hatte. Es mussten Unmengen gewesen sein.

In diesem Moment schob Cay sie von sich. »Geh!«, knurrte er.

»Was? Nein!« Sie hustete. »Ich …«

»Weg von mir, jetzt!« Sein Atem ging stoßweise, jede Faser seines Körpers war angespannt, die Augen starrten blicklos ins Leere und von seiner Stirn perlte Schweiß.

Als sie sich nicht bewegte, hob er einen Arm. Es sah aus, als koste es ihn wahnsinnig viel Kraft. Er stieß Lena so grob von sich, dass sie einige Meter nach hinten stolperte und hinfiel. Der Aufprall trieb ihr die Luft aus den Lungen und machte sie einen Moment benommen.

»O Gott, Lena.« Die Stimme ihrer Mutter. Ihre Hände auf ihren Schultern und ihrer Stirn. Für einen winzigen Moment spürte Lena einen Anflug von Freude, weil ihre Mutter gekommen war. Bis ihr Cay wieder einfiel. Irgendetwas stimmte nicht, sonst hätte er sie nie so heftig weggestoßen.

Hastig rappelte sie sich auf. Im selben Moment hörte sie ihre Mutter scharf die Luft einsaugen.

Sie hob den Kopf und ihr stockte der Atem, als sie Cay sah. Er schien von innen heraus zu leuchten und sein Gesicht war schmerzverzerrt.

»Cay«, schrie sie heiser und wollte zu ihm laufen, aber ihre Mutter packte ihren Arm und hielt sie zurück.

»Lena, nicht!«

»Lass mich los!«

Ihre Mutter packte nur noch fester zu. »Nein! Er hat die Energie der Natur in sich aufgenommen. Wilde Magie, die man nicht speichern kann. Unglaublich viel davon. Wenn es ihm nicht gelingt, sie abzuleiten …« Sie brach ab. »Es ist zu gefährlich für dich.«

Lena zerrte an ihrem Arm und warf sich mit aller Macht gegen den Griff ihrer Mutter, bis eine dritte Hand sie packte. Lena sah auf. Gerlinde.

»Lasst mich los, ich muss ihm helfen.«

»Du kannst nichts mehr für ihn tun«, flüsterte ihre Mutter. In ihren Augen stand Mitleid.

»Dann tu du etwas, du bist eine Magierin«, schrie sie.

Ihre Mutter schüttelte bedauernd den Kopf. »Das kann ich nicht. Dazu ist es zu spät. Man bräuchte dafür einen Kreis.«

Aus Cays Kehle löste sich ein Schrei. Nicht hilflos oder verzweifelt, sondern wütend. Lena erstarrte. Für einen Moment sah es so aus, als würde er nur aus Funken bestehen und wie ein Stück glühende Kohle jeden Augenblick in Tausende von Einzelteilen zerfallen. Mühsam hob er die Arme, so als wäre jeder Millimeter ein Kampf, und ließ den Kopf in den Nacken fallen.

Eine Kugel aus weißem Licht hüllte ihn ein, als sich die Energie mit einem ohrenbetäubenden Schmettern entlud. Lena schrie auf. Geblendet von der Helligkeit und mit einem Klingeln in den Ohren versuchte sie, zu erkennen, was aus Cay geworden war. Lebte er noch? Panisch rief sie seinen Namen. Er antwortete nicht.

Langsam wurden die bunten Punkte vor ihren Augen kleiner, schmolzen zusammen und verschwanden schließlich ganz. Mit tränenden Augen starrte sie nach vorn und schluchzte erleichtert auf, als sie Cay sah. Er kniete schwer atmend auf dem Boden.

Sie riss sich los, rannte zu ihm und ließ sich neben ihm auf den Boden sinken. Er schien sie nicht zu bemerken. Frostige Kälte drang durch den Stoff ihrer Hose in ihre Knie. Der Boden war immer noch gefroren.

»Cay, ist alles in Ordnung?« Ihre Stimme zitterte. Sie hob eine Hand und strich ihm zärtlich die feuchten Haare aus der Stirn.

Langsam hob er den Kopf und öffnete die Augen. »Leonora«, sagte er heiser.

Mehr nicht. Nur ihren Namen. Dann zog er sie an sich und vergrub sein Gesicht in ihren Haaren. Sie schmiegte sich in seine Umarmung und spürte seinen Herzschlag, der sich nur langsam beruhigte. Feuchtigkeit stieg vom Boden auf und durchnässte ihre Jeans. Sie wollte aufstehen, aber Cay hielt sie fest. Er presste sie an sich und rührte sich nicht.

Tropfen fielen mit dumpfen Geräuschen auf den Waldboden. Das Eis taute.

Sie hörte, wie Cay tief einatmete. »Ich hätte dich doch an den Baum fesseln sollen«, murmelte er.

Lenas Mundwinkel zuckten. »Das Seil hätte ich auch irgendwie aufbekommen.«

»Da bin ich sicher.« Er presste sie noch einmal fest an sich. »Es scheint unmöglich, dich von hier fernzuhalten.« Seine Stimme schwankte leicht. Mühsam stand er auf und zog sie mit sich.

»Das Feuer hätte es beinahe geschafft. Ohne das Zeichen … ich wünschte nur, es hätte nicht erst angeschlagen, als der andere Schutzzauber nachgelassen hat.« Sie verstummte, als sie Cays Gesichtsausdruck sah. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, wie es für ihn gewesen sein musste, sie mitten im Feuer stehen zu sehen.

Und jetzt musste sie ihm auch noch sagen, dass Wendel hinter allem steckte. »Ohne das Zeichen hätte Wendel beinahe Erfolg gehabt.«

Cay erstarrte. »Was meinst du damit?«

»Meine Mutter war es nicht. Es war Wendel. Die ganze Zeit. Er hat es zugegeben.« Ihre Stimme wurde immer leiser. Am liebsten hätte sie geschwiegen, aber Cay musste alles erfahren. »Ich wollte durch das Tor und mich verstecken. Wendel hat mich erwischt und weggezerrt. Er meinte, bei all den anderen hätte es auch geklappt und mich würde er schon auch noch vertreiben. Dann war da plötzlich das Feuer.« Es schien offensichtlich, dass Wendel auch das Feuer gelegt hatte.

Cay presste die Zähne so fest aufeinander, dass ein Muskel an seiner Wange zuckte. »Verdammt.« Er trat einen Schritt von Lena weg, schloss die Augen und murmelte etwas.

Wie aus dem Nichts materialisierte Wendel sich vor Cay. Er kauerte halb auf dem Boden, den Kopf unterwürfig gesenkt. Lena runzelte die Stirn. Wieso konnte Cay ihn einfach so herbeizitieren?

»Ihr habt gerufen?«

Cay sah ihn mit unbewegter Miene an, seine Augen eiskalt und irgendwie fremd. »Du hast mich hintergangen«, sagte er gefährlich ruhig.

Wendel zitterte. »Nein, ich wollte Euch nur helfen. Dieses Mädchen verdient Euch nicht. Und auch nicht das Schloss.«

»Du gibst es also zu?«, sagte Cay beinahe tonlos. Wut stand ihm jetzt ins Gesicht geschrieben, so kalt und grausam, dass Lena ein Schauder den Rücken hinunterlief. »Du wolltest sie töten und beinahe wäre es dir gelungen.«

»Das waren Unfälle, das wollte ich nicht, ich wollte sie nur verjagen, so wie die anderen. Wirklich. Aber es war sonst immer viel einfacher«, jammerte er.

»Du hast mich verraten. Gerade du …« Cay schloss kurz die Augen und schluckte. Als müsse er sich erst darüber klar werden, wie sehr Wendel ihn die ganze Zeit hintergangen hatte. »Nach allem, was ich für dich getan habe.«

»Ich habe doppelt und dreifach dafür bezahlt.«

Cay starrte auf ihn herunter. »Mag sein. Aber ich kann dir nicht mehr trauen und du weißt, was das bedeutet.«

»Nein, bitte nicht!«, kreischte Wendel. Er hatte sich vor Cay auf die Erde geworfen. »Bitte, ich habe es nur gut gemeint.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht riskieren, dass du sie weiter in Gefahr bringst.«

»Was wirst du tun?«, fragte Lena mit zitternder Stimme.

»Was getan werden muss«, knurrte er, trat zu Wendel und legte ihm die Hand auf die Stirn.

Wendel jammerte vor sich hin. »Nein, bitte, ich habe das nur für Euch getan.«

Cay lachte freudlos. »Wohl kaum. Eher für dich selbst.« Wendel wollte aufstehen, aber Cay packte ihn an der Schulter und drückte ihn nach unten. »Nicht, bevor ich mit dir fertig bin«, zischte er. »Und jetzt sag mir, warum du das getan hast.«

Wendel ballte die Fäuste. Seine Augen blitzten widerwillig und Lena glaubte schon, er wollte sich weigern. Aber dann brachen die Worte nur so aus ihm heraus. »Immer habt Ihr mich gezwungen, das Schloss zu verlassen. Für so lange Zeit.« Hass färbte seine Stimme. Lena lief es kalt den Rücken hinunter. Sie erinnerte sich an das, was Cay ihr damals gesagt hatte. Dass sich Wendel selbst für den Schlossherrn hielt und dass er sogar schon länger auf dem Schloss war als Cay.

»Jede Minute, jede Stunde fern vom Schloss war für mich die reinste Folter. Ich wollte, dass es Euch genauso geht. Und ich wollte, dass Ihr merkt, dass ich Euch draußen nichts nutze.«

Cay presste die Lippen zusammen. »Und hast weiterhin meine Befehle befolgt, damit ich dir nicht auf die Schliche komme und dich aus meinen Diensten entlasse.« Er hielt inne und zögerte, dann nahm sein Gesicht einen entschlossenen Ausdruck an. »Du lässt mir keine Wahl. Ich werde deine Verbindung zum Schloss lösen.«

Wendel schrie auf, als hätte Cay ihm eine tödliche Wunde beigebracht. »Nein, bitte, alles nur das nicht!«

Ein unbarmherziges Glitzern trat in Cays Augen. »Du wirst es nie wieder betreten können.« Als Wendels Augen glasig wurden, begann Lenas Herz zu rasen, aber dann sah sie, dass er nicht bewusstlos zusammensackte, sondern weiterhin vor Cay kniete, der schließlich zurücktrat und ihn kalt musterte. »Jetzt geh. Verschwinde.«

Wendel sah ihn etwas verwirrt an und fasste sich an den Kopf. Dann erhob er sich langsam und torkelte in den Wald hinein. Cay blickte ihm mit unbewegtem Gesichtsausdruck nach.

Erleichtert trat Lena zu ihm und legte ihm eine Hand auf den Arm. Ihr Herzschlag beruhigte sich nur langsam.

»Was hast du mit ihm gemacht?«, fragte sie.

»Ich habe seine Erinnerungen gelöscht, damit er mir nicht gefährlich werden kann«, antwortete Cay. »Und dir.«

Lena wollte ihn so vieles fragen. Wer oder was Wendel genau war, was das mit der Verbindung zum Schloss zu bedeuten hatte und vieles mehr. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür.

»Wie lange noch?«, fragte sie.

»Ein paar Minuten«, antwortete er leise.

Genug Zeit, um sich zu verabschieden. Sie löste sich von ihm und ging zu ihrer Mutter.

»Ich bin froh, dass du vernünftig geworden bist«, sagte ihre Mutter und streckte ihre Arme nach ihr aus.

Lena warf Cay einen Blick zu. Von ihm getrennt zu sein, machte sie unruhig. Sie hatte Angst, dass sie den Moment verpassen könnte, aber sie konnte nicht gehen, ohne ihre Mutter noch einmal zu umarmen. Sie ließ zu, dass ihre Mutter sie in den Arm nahm, und drückte sie fest an sich. »Ich werde mit ihm gehen.«

Ihre Mutter verspannte sich und schob sie von sich, um sie anzusehen. »Lena, tu das nicht. Bitte, du machst dich unglücklich.«

»Wenn du das wirklich glaubst, dann löse den Fluch. Tu es für mich.«

Ihre Mutter sah sie traurig an. »Es liegt nicht an mir, das zu entscheiden. Wenn es nur um dich ginge, dann würde ich es sofort tun.«

»Heißt das, du hast mich angelogen, als du es mir angeboten hast?« Ein Anflug von Wut regte sich in ihr.

Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Ich wollte es wirklich. Aber der Kreis lässt es nicht zu.«

Lena verdrängte ihre Wut. Es spielte keine Rolle mehr und sie wollte sich nicht mit bösen Worten auf den Lippen von ihrer Mutter trennen. Außerdem gab es noch etwas, das sie dringend klarstellen musste.

»Ich weiß jetzt, dass du nicht an den Anschlägen schuld warst. Es tut mir leid, dass ich dir das zugetraut habe. Ich war so verwirrt und entsetzt und … es tut mir leid.«

Ihre Mutter runzelte die Stirn und es wirkte, als wollte sie etwas sagen, aber Lena kam ihr zuvor. Die Zeit lief ihr davon. »Leb wohl, Mama«, sagte sie. Sie drückte noch einmal ihre Hände, bevor sie sie losließ. Dann nickte sie Gerlinde zu und drehte sich zu Cay um.

»Gehen wir?« Sie nahm seine Hand, doch er blieb stehen und schüttelte bedauernd den Kopf.

»Ich kann das nicht zulassen.«

»Ich habe mich entschieden. Ich finde, dass ich das Recht dazu habe, nach allem, was passiert ist.« Sie sah ihn entschlossen an.

»Du weißt nicht, worauf du dich einlässt, glaub mir.«

»Ich weiß genug«, antwortete sie fest. »Ich kann es ertragen. Die Einsamkeit, das Eingesperrtsein und alles, was ich zurücklassen muss. Wenn ich nur bei dir sein kann.«

Er schloss gequält die Augen. »Das wird nicht alles sein, das du durchstehen musst. Da ist noch so viel mehr und ich will dir das nicht aufbürden. Ich kann es nicht.«

Sie sah ihn nachdenklich an und fragte sich, was er wohl damit meinte. Sie wusste, dass es noch vieles an ihm gab, was sie nicht kannte. Dass sie bisher nur an der Oberfläche gekratzt hatte. Sie musste an das grauenhafte Bild denken und ahnte, dass viele alte Wunden, die er davongetragen hatte, trotz der langen Zeit noch nicht verheilt waren. Wahrscheinlich hatte er recht, dass es nicht einfach werden würde.

»Aber genau das bedeutet es, wenn man jemanden liebt«, sagte sie sanft. »Ich will bei dir sein, egal, was es mich kostet.«

Hoffnung erhellte sein Gesicht und für einen Sekundenbruchteil glaubte sie, dass sie ihn überzeugt hatte. Dann wurde seine Miene wieder hart.

»Nein. Du kannst das nicht entscheiden, wenn du den Preis nicht kennst.« Er strich ihr über die Wange, dann küsste er sie noch einmal, drehte sich um und ging auf das Tor zu.

Wut stieg in ihr auf. »Ich komme mit, ob du es willst oder nicht«, rief sie und lief ihm nach. »Außer du überzeugst mich, dass du mich nicht liebst und dass du nicht willst, dass ich mit dir komme.«

Er ging durch das Tor. Erst dann blieb er stehen und drehte sich zu ihr um.

Sie wappnete sich für seine Lüge. Sie rechnete fest damit, dass er alles tun würde, um sie fernzuhalten.

»Das kann ich nicht«, sagte er nur. Er lächelte traurig. »Es gibt nichts, was ich mir so sehr wünsche.«

Sie wollte auf ihn zulaufen, aber sie konnte sich nicht bewegen. Es fühlte sich an, als ob ihre Füße am Boden klebten. »Nein«, schrie sie wütend.

»Ich weiß nicht, wie du dem Blätterkreis entkommen konntest. Aber diese Fessel wird dich hoffentlich halten.«

»Verdammt, das darfst du nicht.« Ihre Stimme schwankte. Diesmal gab es keinen Ausweg. Die Zeit rann ihr durch die Finger und bald wäre er für immer aus ihrem Leben verschwunden. Ihr Ärger löste sich in Luft auf und Verzweiflung breitete sich in ihr aus. »Willst du mir das Gleiche antun, was du damals all diesen Frauen angetan hast?«, rief sie.

Er wurde bleich. »Ich will dich nur vor Schlimmerem schützen.«

Nur noch wenige Sekunden. »Nein, bitte nicht.« Tränen liefen ihr über die Wangen, aber sie wischte sie nicht weg. Sie tropften auf ihre Brust und schienen den Schmerz, den sie spürte, noch zu verstärken. Sie fühlte, wie etwas in ihr zerbrach. Es fühlte sich an wie damals, als Adrian sie verlassen hatte. Nur unendlich viel stärker.

Cay spürte es auch, sie sah es an seinem entsetzten Gesicht. War das der Moment, den er immer genutzt hatte? Spürte er die Energie, die frei wurde, wenn die Seele brach?

Ihr kam ein verrückter, verzweifelter Gedanke. Wenn sie die Energie doch nur nutzen könnte, um die Fessel zu sprengen, die er ihr angelegt hatte. Sie wusste nichts über Magie, wusste nicht, ob das überhaupt so funktionierte, aber sie hatte nichts zu verlieren. Hatte Cay nicht einmal gesagt, dass man Magie wirken konnte, wenn man verzweifelt war? Sie horchte tief in sich hinein, ignorierte den Schmerz, der sie fast zerriss, und konzentrierte sich ganz auf die Kraft in ihrem Inneren. Alles, was sie hatte, steckte sie in den Wunsch, die Fessel zu lösen. Sie stellte es sich vor wie eine Explosion, die alles sprengte, was sie zurückhielt. Zuerst merkte sie nichts. Dann durchfuhr es sie wie ein Stromstoß. All ihre Energie schoss in ihre Füße. Der Boden vibrierte unter ihr und brachte sie aus dem Gleichgewicht. Sie stolperte ein Stück vorwärts. Sie war frei. Erleichtert rannte sie los.

»Nein, Lena!«

Den Schrei ihrer Mutter hörte sie wie aus weiter Ferne. Sie konzentrierte sich nur darauf, das Tor rechtzeitig zu erreichen. Ein Bein vor das andere zu setzen kostete sie alle Kraft, die sie noch hatte. Anscheinend hatte sie nahezu ihre ganze Energie verbraucht, um die Fessel zu sprengen. Als sie nur noch wenige Schritte entfernt war, flackerte das Tor plötzlich merkwürdig. »Nein!« Sie sammelte noch einmal alle ihre Kraftreserven, entzog allen Körperteilen die letzte Energie, ohne Rücksicht auf Verluste. Dann lenkte sie sie in ihre Beine und sprang.

Sie hörte noch Cays erschrockenen Aufschrei, bevor Finsternis sie umfing.

 

*

 

Als Lena erwachte, lag sie in einem weichen Bett. Sie wollte die Augen öffnen, sehen, wo sie war. Sie brachte es nicht fertig. Schon das Atmen strengte sie mehr an, als sie je für möglich gehalten hätte. Sie versuchte zu sprechen, aber auch das verlangte mehr Kraft, als sie aufbringen konnte. Verzweifelt suchte sie nach Anhaltspunkten, die ihr sagten, wo sie sich befand. Hatte es funktioniert? War sie bei Cay oder lag sie zu Hause in ihrem Bett?

Sie horchte in sich hinein und spürte, dass jemand ihre Hand hielt. Die Hoffnung, es möge Cay sein, war so stark, dass es wehtat.

»Leonora?« Seine Stimme. Wie dunkler Samt.

Erleichterung floss beruhigend durch ihre Adern und vertrieb die Anspannung aus ihren Gliedern. Sie hatte es geschafft, sie war bei ihm.

»Hab keine Angst, es wird bald besser.« Beruhigend streichelte er sie. »Du hast alle Energie verbraucht, die du hattest. Beinahe hättest du dich umgebracht.« Seine Stimme schwankte. »Nur um bei mir zu sein.«

Sie wollte lächeln, aber auch das gelang ihr nicht.

»Ich habe dir die ganze Energie gegeben, die ich nach der Sache mit dem Feuer noch erübrigen konnte. Das hat gerade so gereicht, um dich am Leben zu erhalten«, sagte er entschuldigend. »Bis ich dich vollständig heilen kann, werden ein paar Tage vergehen.«

Sie wollte ihm sagen, dass das egal war, dass sie jetzt alle Zeit der Welt hatten und dass sie glücklich war, einfach nur in seiner Nähe zu sein. Auch das würde warten müssen.

»Du bist wirklich ziemlich halsstarrig«, sagte er nach einer Weile. Sein bewundernder Tonfall hätte sie normalerweise zum Lächeln gebracht. »Und offensichtlich sehr begabt. Ich habe noch nie gesehen, dass jemand, der keine Ahnung von Magie hat, fertigbringt, was du getan hast.« Er streichelte gedankenverloren mit seinem Daumen über ihren Handrücken. »Nur sollten wir noch daran arbeiten, dass du dich nicht aus Versehen umbringst, wenn du eine Kerze anzünden willst.«

Zwar konnte sie seine spöttisch hochgezogene Augenbraue nicht sehen, aber sie war sich sicher, dass sie da war. Lachen stieg in ihr auf wie Kohlensäure in einem Wasserglas, aber es erreichte nicht ihre Lippen. Selbst das Zuhören schien sie Kraft zu kosten, denn sie fühlte schon, wie Dunkelheit wieder ihr Bewusstsein umfing. Bevor sie wegdämmerte, merkte sie noch, dass Cay sich neben sie legte und sie an sich zog.

In diesem Moment zweifelte sie nicht daran, dass sie sich richtig entschieden hatte.