713
von
Gabriele Oscuro
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In meiner Welt gibt es keinen Tag und keine Nacht, keinen Himmel, keine Sonne und keinen Mond, nur ewige Finsternis, willkürlich unterbrochen durch das künstliche Licht, das unser klägliches Dasein phasenweise erhellt. Den Rhythmus des Lebens bestimmen die Sirenen, die uns zur Arbeit rufen, ankündigen, wenn es Essen gibt und wann die Dunkelheit zurückkehrt.
Nur in meinen Träumen tauchen manchmal Erinnerungen an eine andere Zeit auf. Fragmente, die ich nicht einordnen kann, die eine tiefe Sehnsucht in mir hinterlassen … weicher Boden unter meinen Füßen statt des harten Steins, angenehme Wärme, die mich zu streicheln scheint, Arme, die mich umfangen und eine Stimme, die leise eine Melodie summt – oder meinen Namen ruft. Ich weiß, dass es mein Name ist, doch ich kann ihn nicht verstehen, nicht festhalten, wenn die Sirenen uns aus dem Schlaf reißen.
Tiefe Trauer erfüllt mich, ich habe meinen Namen vergessen, bin zu der Nummer geworden, mit der die Wärter mich rufen: 713.
Irgendwo außerhalb dieser Berge, in denen wir zu Hunderten arbeiten, gibt es eine andere Welt, doch mit jedem Tag in der Finsternis verliere ich die Erinnerung – verliere ich mich ein Stückchen mehr.
Ich weiß nicht genau, wie lange ich schon hier bin. Sind unsere Tage genauso lang wie die Tage über der Erde? Aus dem Kind, das mit sechs Jahren hierherkam, ist ein Mann geworden. – Nein, kein Mann, ein Sklave des Königs, von seinem Dorf zur Tilgung der Steuerschuld an die Eintreiber des Königs übergeben.
Wussten sie, wohin sie mich schickten? Ich bezweifele es. Keiner kehrt aus den Minen zurück, wer unter der Erde verschwindet, stirbt auch unter der Erde.
Die Sirene schrillt dreimal durch die Tunnel, Zeit für die wöchentliche Dusche. Müde nach der langen Arbeit schleppen wir uns in schier endlosen Reihen zu den Stationen. Duschen, Haarentfernung, Injektion und frische Arbeitskleidung.
Ein gutes Gefühl, wenn der Schmutz aus den Poren gewaschen wird, auch wenn die Seife furchtbar stinkt. In Haaren können sich Ungeziefer einnisten, darum wird penibel darauf geachtet, dass unsere Körper einmal pro Woche vollkommen enthaart werden.
Die Spritzen sollen unsere Gesundheit erhalten, sagen zumindest die Gerüchte. Genauso wie sich erzählt wird, dass ein Sklave im Durchschnitt fünfzehn bis zwanzig Jahre durchhält, dann ist seine Kraft verbraucht, seine Leistung lässt nach und er wird aussortiert.
Woher in dieser zeitlosen Welt diese Angaben kommen, weiß ich nicht. Es ist mir auch egal, Leben unter dieser Erde unterscheidet sich nur unwesentlich vom Tod. Manchmal hoffe ich, dass meine Zeit bald vorbei ist, dass ich endlich zur Ruhe kommen darf und die Reste meines früheren Lebens endgültig vergesse, die schmerzhaft in meiner Brust lauern.
Nach der wöchentlichen Hygiene folgt die Ansprache des Leiters der Mine. Ob er denkt, dass nur einer von uns ihm zuhört? Uns ist gleichgültig, was mit dem Gestein passiert, dass wir bis zur Erschöpfung schlagen. Ebenso wenig interessieren uns der König und seine Erfolge. Wir sind hungrig und müde.
Erst als er die gefürchteten Worte ausspricht, horcht die Menge auf. Freiwillige für die Geistermine. Leises Murmeln geht durch die Menge, Blicke werden gesenkt und Schuhspitzen interessiert betrachtet. Dabei ist es egal, Freiwillige gibt es nicht, schon bevor er überhaupt seine Rede beginnt, stehen diejenigen fest, die in die Geistermine gehen müssen.
„Die Nummern 659, 591, 713 und 802 haben die Ehre, ihren Dienst für den König in der Geistermine zu leisten.“
Ich schließe die Augen. Die Gerüchte sind vielfältig, da jedoch keiner von der gefürchteten Freiwilligenarbeit zurückkehrt, völlig ohne Belang. Nicht zurückkehren heißt sterben. Ein Gedanke, der sehr verlockend klingt.
Statt mit den anderen zur Essensausgabe zu gehen, werden wir vier von den Wachen isoliert. Kahlköpfig mit eingefallenen Wangen und blasser Haut sehen wir in dem künstlichen Licht fast gleich aus. Die grauen Overalls, die alle Sklaven tragen, tun das ihre dazu. Nur die großen Ziffern auf unseren Rücken unterscheiden uns. Keiner von uns kann lesen, schreiben oder rechnen. Wir kennen unsere Zahl, mehr nicht. Mehr ist nicht notwendig in den Minen.
Der Minenleiter tritt zu uns, er ist groß, hat volles, dunkles Haar und riecht gut. Nicht nach der stinkenden Seife. Lächelnd baut er sich vor uns auf.
„Ihr geht an die Oberfläche, dort erhaltet ihr Essen und könnt ein paar Stunden schlafen. Anschließend werdet ihr in die Geistermine gebracht. Keine Angst, es gibt dort nicht wirklich Geister, die Einfältigen, die an Märchen glauben, gaben ihr in der Zeit der Legenden diesen Namen.“ Er lacht unangenehm und gibt den Wärtern, die bei uns stehen, ein Zeichen, uns fortzubringen.
Ein ratternder und ächzender Lastenaufzug bringt uns aus den Minen. Die Fahrt dauert scheinbar ewig. Bevor wir hinaustreten, gibt uns einer der Wärter getönte Schutzbrillen für unsere Augen. Trotzdem ist das Licht, in das wir treten, viel zu grell und brennt in meinen Augen.
Überwältigt bleibe ich stehen. Wind streicht über mein Gesicht, trägt fremde Gerüche zu mir. Auch wenn wir in einer Art Felskessel stehen, ist es berauschend, sich über der Erde zu befinden. Erst ein Stoß in den Rücken erinnert mich daran, wo ich bin. Bei jedem Schritt, mit dem ich den anderen folge, sehe ich nach oben in den Himmel, der sich blau über uns erstreckt. Nie sah ich etwas Schöneres.
In einer kleinen Blechhütte füllt ein fetter Koch uns undefinierbaren Brei in hölzerne Schalen. Über der Erde scheint das Essen genauso schlecht zu sein wie unter ihr. Obwohl mein Magen vor Hunger knurrt, muss ich bei jedem Bissen hinaussehen, mich überzeugen, oberhalb des Gesteins zu sein. Mir ist bewusst, dass dieser Zustand nicht lange dauern wird, darum will ich jeden kostbaren Moment in mich aufsaugen.
Statt in einer Hütte sollen wir unter einer Plane auf dem Boden schlafen. Egal wie müde ich bin, hier kann ich nicht schlafen, zu wunderbar sind die Eindrücke, die Empfindungen und die Gerüche. Ganz am Rand liegend kann ich an der Plane vorbei den Himmel sehen. Ein paar weiße Wolken ziehen über das perfekte Blau. Ein Vogel gleitet durch die Luft, weckt in mir den Wunsch, es ihm gleichzutun. Dort oben schweben, weit über den Bergen, den Menschen und meinem jämmerlichen Sein. Frei sein. Irgendwann mitten in diesen berauschenden Gedanken überwältigt mich die Erschöpfung. Erst ein unsanfter Fußtritt in meine Seite weckt mich auf. Es ist dunkel, die Schutzbrillen brauchen wir nicht mehr.
Jeder von uns bekommt neben einer dünnen Jacke eine Flasche Wasser, die er an den Schlaufen des Overalls befestigen kann, dann marschieren wir los. Die Fußfesseln habe die Wärter entfernt, dafür Eisen um unsere Handgelenke gelegt. Über einen steilen Pfad geht es aufwärts, bis wir aus dem Kessel hinaustreten. Es ist dunkel und unzählige Sterne stehen am Nachthimmel, eisiger Wind streicht über den Berg, der sich rau und kantig vor uns ausstreckt. Der Anblick – der Augenblick ist überwältigend, für immer möchte ich hier stehen bleiben und staunen. Erinnerungsfetzen blitzen in meinem Kopf auf, ich höre Lachen und Musik …
„Nicht stehen bleiben! Geh!“ Ein weiteres Mal treibt mich ein Stoß in meinen Rücken vorwärts. Mühsam steigen wir aus der Senke, dann führt uns ein schmaler Weg hinunter. Mehr als einmal strauchelt einer von uns, fällt und reißt sich die Haut am Berg auf. Abstützen können wir uns mit den gebundenen Händen nur unzureichend. Doch das interessiert die Wärter nicht, sie zerren uns auf die Beine und schubsen uns weiter.
Wie lange gehen wir? Ich weiß es nicht, irgendwann weicht die Dunkelheit und ein zarter rosa Streifen erscheint am Horizont. Zu gern würde ich verharren und das Erscheinen der Sonne bestaunen, doch die Wärter zwingen uns weiter.
Als die Sonne gerade die Linie in der Ferne überschritten hat und in voller Größe am Himmel leuchtet, legen die Wärter eine Pause ein, um zu essen. Wir bekommen nichts. Ich nutze die Rast, trinke einen kleinen Schluck und setze mich auf den Boden. Meine Beine schmerzen von der ungewohnten Belastung. Sonst stehe und knie ich den ganzen Tag, heute muss ich laufen.
Als wir weitergehen, folgen wir nicht mehr dem Weg bergab, sondern einem Pfad, der sich am Gestein vorbeiwindet. Die Sonne scheint nun unerbittlich auf uns herab und ich bin froh, dass man uns die Brillen überlassen hat. Schweiß läuft zwischen meinen Schulterblättern mein Rückgrat hinab. Für ein bisschen Schatten wäre jeder von uns dankbar. Mir schwirrt der Kopf und ich taumele, nur der harte Griff eines Wärters hält mich auf dem Weg.
„Pause! 713 muss trinken“, brüllt er nach vorn. Die Kolonne hält, ich trinke und versuche ruhig zu atmen. Kaum schließe ich den Karabinerhaken wieder an meinem Overall, geht es weiter. Erst als die Sonne hinter dem Berg verschwindet, erreichen wir eine Höhle, in der wir übernachten. Eine Handvoll Körner und Beeren ist unser Essen, während sich die Wärter Brot, Käse und Wurst gönnen. Doch das stört mich nicht mehr, längst bin ich über den Punkt hinweg, Ungerechtigkeit zu verfluchen. Ich rolle mich auf dem harten Boden zusammen und versuche zu schlafen. Die wichtigste Regel: seinem Körper ausreichend Erholung zukommen zu lassen.
Ungewohnte Geräusche wecken mich auf. Stöhnen, Keuchen und leises Weinen. Ich brauche meine Augen nicht aufschlagen, um zu wissen, was dort passiert. 591 ist eine Sklavin und die Wärter bedienen sich ihres Körpers. Das gehört zum Alltag, mal sind es die Frauen, manchmal die Männer, die sich die Wärter holen.
Ich fühle mit 591, doch ich kann ihr Schicksal nicht ändern. Wenn sich einer von uns einmischt, wird er brutal zusammengeschlagen und dient den Wärtern als das nächste Objekt ihrer Begierde. Alle Emotionen versuche ich hinunterzuschlucken und mich nur auf mich selbst zu konzentrieren. Trotzdem ich schon lange in den Minen arbeite, fällt es mir immer noch schwer, gegen das Leid anderer immun zu sein.
Erst als sie von 591 ablassen, gelingt es mir wieder einzuschlafen.
Viel zu früh treiben uns die Wärter wieder auf den Berg. 591 geht vor mir und ich sehe den Riss im Overall und ihren gebückten Gang. Sie ist jung, fast noch ein Kind, vielleicht war dies das erste Mal, dass sie von den Wärtern missbraucht wurde. Gern würde ich ihr Trost spenden, doch Reden ist untersagt. Als die Sonne wieder erbarmungslos auf uns hinabscheint, machen wir eine kurze Rast. Danach folgen wir einem Pfad, der den Berg wieder hinaufführt. Ist es der gleiche Berg oder ein anderer? Wie weit sind wir gelaufen? Das spielt alles keine Rolle. Am liebsten würde ich immer weiterlaufen, denn solange wir laufen, müssen wir nicht zurück in den Berg. Trotz Hitze und Anstrengung genieße ich jeden Moment an der Luft, sauge die verschiedenen Gerüche in meine Nase und begrüße jede Erinnerung, die mir einfällt. Leider sind sie nie klar und deutlich, immer nur verschwommen und nicht greifbar. Aber ich hatte ein Leben außerhalb des Berges, es gab dort Menschen, zu denen ich gehörte, und ich trug einen Namen statt einer Nummer, auch wenn ich mich nicht mehr an ihn erinnere.
Kurz vor dem Bergkamm legen wir eine längere Pause ein. Auf dem Rücken liegend starre ich in den Sternenhimmel und versuche die Augen aufzuhalten. Irgendwann siegt die Müdigkeit und ich falle in einen tiefen Schlaf.
Gleich nach dem Wecken geht es weiter. Der Himmel ist bedeckt mit grauen Wolken, die ein stürmischer Wind eilig darüber jagt. Hier auf dem Berg zerrt der Sturm erbarmungslos an uns. Mit gefesselten Händen können wir nur ungenügend den Böen widerstehen, sodass die Wärter sich nach langer Diskussion entschließen, uns die Ketten abzunehmen. Zum Weglaufen fehlt uns eh die Kraft – und wohin auch? Das ganze Land wird vom König regiert, seine Soldaten sind überall, uns bliebe kein Ausweg.
Mit einem Mal ergießen die Wolken ihre schwere, nasse Ladung auf uns. Kalte Tropfen schlagen uns ins Gesicht und durchdringen unsere Kleidung. Grelle Blitze erhellen das Grau, Donner folgt augenblicklich, bringt den Berg zum Beben.
Würde ich es bedauern, wenn eine der gelblich zuckenden Entladungen mich treffen würde? Nein, dies wäre ein Tod außerhalb der Minen, inmitten tosender Naturgewalten, viel besser, als sich weiter zu quälen.
Die Wärter fluchen wütend. Sie drängen uns zusammen, quetschen uns alle in eine winzige Höhle, bis der Sturm sein Wüten einstellt. Kaum schwächt der Regen ab, schicken sie uns wieder hinaus. Das Unwetter hatte die Luft deutlich abgekühlt, wir frieren in den nassen Kleidern. Ein Umstand, der für die Wärter ohne Bedeutung ist, sie treiben uns einfach weiter, eingehüllt in ihre dicken, wasserdichten Mäntel.
Die Felsen sind feucht und rutschig, das Gehen wird immer schwieriger. Andauernd stolpere ich, meine Hände sind an mehreren Stellen aufgeschlagen. Endlich halten wir vor einer großen Höhle. Unsere Nahrung besteht wieder aus einer Handvoll Körner und Beeren, anschießend rolle ich mich zusammen und versuche zu schlafen, verdränge die Stimmen der Wärter, die sich lautstark unterhalten.
Diese Nacht holen sie sich 802.
Der Wind hat nachgelassen, die Wolken sind abgezogen und die Sonne geht auf. Wieder sind wir auf dem Weg, immer noch bergauf. Es ist kalt. Mir fehlt die Kraft mich zu orientieren, ich folge einfach nur dem vorgegebenen Pfad. Die Wärter, eingehüllt in ihre warmen Mäntel, lachen und scherzen miteinander.
Warum gehe ich weiter? Warum kämpfe ich um mein jämmerliches Leben? Um wieder in eine Mine eingesperrt zu werden, so lange bis ich sterbe? Warum gebe ich nicht einfach auf? Links neben mir ist ein steiler Abgrund, nur ein kleiner Schritt …
Was treibt mich weiter? Ich weiß es nicht, doch statt aufzugeben, setze ich weiterhin einen Fuß vor den anderen.
Am Mittag überschreiten wir einen Bergkamm, jetzt geht es wieder bergab. Am Abend zieht erneut ein Sturm auf, eisiger Wind raubt mir jedes Gefühl im Gesicht. Meine Füße kann ich kaum noch spüren. Endlich dirigieren uns die Wärter in eine Höhle.
Erstarrt bleibe ich stehen, ein Feuer erhellt die Umgebung. Männer und Frauen sitzen darum und sehen überrascht auf.
Bevor ich begreife, was geschieht, haben sie Waffen in den Händen und richten diese auf unsere Gruppe. Einer der Wärter will ebenfalls sein Gewehr heben und der erste Schuss fällt. Instinktiv packe ich 591 neben mir und reiße sie mit mir zu Boden.
Es dauert nicht lang und die Waffen schweigen. 591 neben mir weint. Vorsichtig hebe ich den Blick.
„Verdammt, was ist das denn?“, fragt eine Stimme.
„Ein Sklaventransport“, erwidert eine andere.
„Was machen wir jetzt?“, fragt eine Frau.
„Wir warten auf Dagur und Tomaz“, entgegnet die zweite. „Schmeißt die Leichen den Berg hinab.“
Als Schritte näherkommen, senke ich schnell den Kopf. Jemand legt mir eine Hand auf die Schulter. „Keine Angst, wir tun euch nichts.“
Ich sehe auf und über mir hockt ein älterer Mann mit grau melierten Haaren. Er lächelt mich beruhigend an. „Ich bin Egill.“
„713“, antworte ich leise. Ein Schatten huscht über das freundliche Gesicht, doch schnell kehrt das Lächeln zurück.
„Ihr müsst frieren, kommt an das Feuer.“ Über die Schulter gewandt ruft er zu den Männern, die sich an den Wärtern zu schaffen machen: „Zieht ihnen die warmen Mäntel und Schuhe aus. Behaltet die Decken, Lebensmittel und Waffen.“
„Hältst du uns für vollkommen verblödet?“, fragt ein Mann scharf.
„Nein, aber wenn ich es gesagt habe, ist es nicht meine Schuld, wenn du es vergisst, Brynjar .“
Der Angesprochene flucht lautstark und Egill lacht, ehe er sich wieder mir zuwendet. „Kommt, wir haben bestimmt auch etwas zu essen für euch. Der lange Marsch muss euch hungrig gemacht haben.“ Mit einem leichten Klopfen auf meine Schulter steht er auf.
Vorsichtig erhebe ich mich und sehe mich um. Keine Ahnung, wer die Menschen sind, was sie wollen und wie ich die Situation einschätzen soll. Sind sie jetzt unsere Herren? Beanspruchten sie uns als Sklaven? Zögernd folgte ich Egill zum Feuer, die anderen wiederum folgen mir.
Kaum sitzen wir in der Nähe der Flammen, legt uns jemand Decken um die Schultern und reicht uns einen Becher mit warmer Milch. Die Erschöpfung des Tages macht sich bemerkbar und meine Muskeln beginnen zu zittern.
„Wo kommt ihr her?“, fragte uns eine der Frauen, während sie uns aus dem großen Topf Suppe in flache Schalen füllt.
Alle drei sehen mich an und ich zucke mit den Schultern. „Aus einer der Minen …“, antworte ich vage. Genauer kann ich es nicht benennen.
„Lass sie in Ruhe, Katla.“ Egill legt der Frau eine Hand auf die Schulter. Als sie etwas zu ihm sagen will, schüttelt er den Kopf und sie schweigt.
Verstohlen betrachte ich die Menschen, die um das Feuer sitzen. Männer und Frauen, unterschiedlich alt, mit blonden, braunen und grauen Haaren, heller und dunkler Haut.
Sie tragen alle derbe Hosen, die in hohen Stiefeln stecken, Hemden mit langen Westen darüber. Jene, die hinausgegangen sind, um die Leichen der Wärter zu … entsorgen, zogen fellgefütterte Jacken über. Alle sehen sich ähnlich, aber nicht gleich aus. Offensichtlich tragen sie im Gegensatz zu den Wärtern keine Uniformen.
„Iss, die Suppe ist gut!“, fordert Katla mich auf. Gehorsam greife ich zum Löffel und tauche ihn ein. Staunend betrachte ich, wie Fleisch- und Gemüsestückchen aufgewirbelt werden. Ein intensiver Geruch steigt aus der Schüssel auf. Mein Magen knurrt und ich probiere. Niemals vorher habe ich etwas gegessen, das so gut schmeckt. Am liebsten würde ich das Essen in mich hineinschlingen, doch ich zwinge mich, es langsam zu genießen. Wer weiß, wann ich wieder etwas Derartiges bekomme.
„Kaum zu glauben, Katla, ihnen scheint dein Fraß zu schmecken“, sagt ein junger Mann neckend.
„Wenn du weiterredest, Hakon, dann darfst du nächstens hungern“, antwortet die junge Frau mit einem gespielt finsteren Blick.
Erneut frage ich mich, was für Menschen dies sind. Offenbar gehören sie nicht zum König, denn sie töteten seine Wärter und stehlen seine Sklaven. Sie sind unterschiedlich, das spricht gegen eine Familie oder Sippe.
Tumult am Eingang der Höhle reißt mich aus meinen Gedanken. Ich wende den Kopf. Zwei Männer werde von den anderen stürmisch willkommen geheißen. Nachdem sie alle ausgiebig begrüßt haben, treten sie ans Feuer.
Der erste ist grauhaarig, ein fast weißer, kurz gehaltener Bart ziert sein Gesicht. Dunkle Augen sehen uns vier der Reihe nach an. Der Mann hinter ihm ist groß, schwarze Haare umspielen sein bartloses, schmales Gesicht. Eisblaue Augen begegnen meinem Blick und verwirrt senke ich die Augen. Eine Erinnerung huscht unfassbar durch meinen Geist, verschwindet wieder in ihrem Mauseloch.
„Ich bin Dagur, das Oberhaupt unserer kleinen Gemeinschaft, und begrüße euch in unserer Mitte“, sagt der ältere Mann und lächelt uns offen an. „Wenn ihr wollt, könnt ihr uns begleiten, ihr müsst aber nicht. Ihr seid frei und wer gehen möchte, bekommt Kleidung, Schuhe, eine Waffe und Nahrung. Wer sich uns anschließen möchte, bekommt dasselbe, dazu eine Unterkunft und Verpflegung sowie die Sicherheit der Gemeinschaft.“
„Wer seid ihr?“, höre ich mich fragen, während mein Blick wieder zu dem jüngeren Mann huscht. Erschrocken stelle ich fest, dass er mich fixiert. Können diese Augen auf den Grund meiner Seele sehen?
„Oh, wir sind alles Menschen, die nicht mit dem König zurechtkommen“, sagt Dagur mit einem Lächeln. „Ehemalige Sklaven, desertierte Soldaten, verurteilte Landesverräter und einfache Bauern, die vor dem Hunger geflohen sind.“ Er wendet sich an seine Begleiter, der mich immer noch ansieht. „Oder habe ich etwas vergessen, Tomaz?“
Widerwillig löst er den Blick von mir und sieht Dagur an. „Nein, ich denke nicht.“
Kurz ziehen sich die buschigen, grauen Augenbrauen zusammen, dann lächelt Dagur wieder. „Wie ich sehe, seid ihr gut versorgt. Bis wir morgen früh weiterziehen, habt ihr Zeit euch zu überlegen, ob ihr uns begleiten wollt.“
Bevor wir etwas erwidern können, nimmt er Tomaz’ Hand und zieht ihn von uns fort. Ein letzter eisblauer Blick trifft mich und wieder zuckt eine Erinnerung durch meinen Kopf, doch sie ist tief in mir verschüttet und lässt sich nicht hervorlocken.
Während ich die Schüssel leere, sehe ich Dagur und Tomaz nach, die sich mit drei anderen Männern und einer Frau etwas abseits unterhalten. Tomaz’ Hand liegt noch immer in der Dagurs. Sie stehen dicht nebeneinander, vertraut und …
„An deiner Stelle würde ich Tomaz nicht zu lange anstarren, das mag Dagur überhaupt nicht.“ Katla zwinkert mir über das Feuer zu. „Er ist ein großzügiger Mann und ein gutes Oberhaupt, aber bezüglich Tomaz ziemlich … eigen.“
Sofort senke ich meinen Blick. Ganz bestimmt wollte ich Tomaz nicht ungebührlich anstarren, sondern nur dem Gefühl der Erinnerung nachspüren. Warum kratzt bei seinem Anblick etwas tief Verborgenes an der Oberfläche? Waren es die ungewöhnlich blauen Augen? Kannte ich jemand mit solchen Augen in meiner Vergangenheit?
Ich schiebe die Gedanken fort und leere meine Schüssel. Hier bietet sich die Gelegenheit, den Minen zu entkommen und ich gedenke diese zu nutzen.
„Noch ein wenig Suppe?“, fragt Katla. Nickend halte ich ihr die Schüssel entgegen, die sie wohlwollend lächelnd erneut füllt.
Der Sturm treibt Dagur und mich an. Wir wollen vor seinem Höhepunkt die Höhle erreichen, in der wir die anderen zurückgelassen haben. Als wir in Sichtweite kommen, sehen wir, wie einige der Männer etwas den Berg hinabwerfen. Beim Näherkommen erkennen wir, dass es sich um Körper handelt. Der Uniform nach Wärter aus den Minen.
Baldur kommt uns entgegen. „Wir haben in der Höhle auf euch gewartet, da kamen auf einmal die Wärter mit vier Sklaven herein. – Wir waren schneller.“ Er grinste uns breit an.
„Die Sklaven?“, frage ich. Es ist noch nicht so lange her, dass ich einer von ihnen war.
„Denen geht es gut. Keine Verletzten“, antwortet Baldur. „Katla kümmert sich um sie.“
Ich nicke und folge Dagur in die Höhle. Sofort werden wir mit Fragen überfallen, doch Dagur winkt ab, geht zu dem Feuer, an dem vier in Decken gehüllte Gestalten sitzen.
Während Dagur sich vorstellt, betrachte ich die vier. Der vorderste hebt den Kopf und unsere Blicke begegnen sich. Mir stockt der Atem. Seine Augen sind grün, leuchtend grün. Ich kann mich nicht abwenden, obwohl ich spüre, dass ich starre.
„Wer seid ihr?“, fragt er mit rauer Stimme. Dagur antwortet und wendet sich an mich. Ich habe kaum zugehört und erwidere, was er von mir erwartet. Zeitgleich spüre ich, dass Dagur verärgert ist. Energisch nimmt er meine Hand und zieht mich fort.
Dagur redet mit Egill, Hakon, Jokull und Hekla über den Aufbruch am nächsten Tag und die vier befreiten Sklaven. Ich kann mich nicht auf die Worte konzentrieren, die grünen Augen gehen mir nicht aus dem Sinn. Sie schlagen eine Glocke in mir an, ein feiner Hall, den ich höre, aber nicht erkennen kann.
Später, als Ruhe in der Höhle eingetreten ist, liege ich neben Dagur. Besitzergreifend hat er seinen Arm über meine Brust gelegt und schläft, während ich keine Ruhe finde.
Vor fünf Jahren wurde ich durch Zufall von der Gemeinschaft gerettet. Ich war ein Minensklave, mit sieben Jahren dem Steuereintreiber des Königs übergeben.
An das Dorf, meine Eltern, mein Zuhause kann ich mich nicht mehr erinnern, an die erste Nacht in der Mine jedoch noch gut. Die Angst, als sie uns in die Tiefe brachten, mich und vier andere Kinder, die erste Reinigung, das Entfernen der Haare und die erste von unzähligen Spritzen.
Janusch, der Heiler der Gemeinschaft, hat mir erklärt, dass die Spritze uns mit allem versorgte, was unsere Körper zum Überleben brauchten. Später, als wir zu Männer und Frauen heranwuchsen, dämpfte sie zeitgleich den Sexualtrieb. Der König wollte keine Kinder von seinen Sklaven, die holte er sich aus den armen Dörfern. Mein Leben bestand aus arbeiten, essen und schlafen. Ich vergaß im Laufe der Zeit meinen Namen, wurde zu einer Nummer: 317.
Wie viele Jahre ich unter der Erde war, kann ich nicht sagen; der Rhythmus ist ein anderer, orientiert sich nicht an Tag und Nacht. Er dient allein der Optimierung der Arbeitsleistung. Die begrenzte Zeit, in der Sklaven ihre volle Leistung erbringen, muss bestmöglich genutzt werden.
Ich war zu einem Mann geworden, als ein Unglück die Mine überschwemmte. Unzählige Sklaven starben, ich und einige andere konnten sich retten. Bevor die Wärter wieder die Kontrolle über die Lage erlangten, war auf einmal Dagur mit seinen Leuten da und rettete uns. Wir folgten ihm, wurden ein Teil der Gemeinschaft.
Von Anfang an beobachtete er mich mit besonderem Interesse. Vor zwei Jahren dann holte er mich zu sich. Ich mochte ihn, vertraute ihm, Dagur gab mir ein neues Leben und einen neuen Namen. Als er mich in seine Arme nahm und küsste, gefiel mir auch das. Schon einige Zeit zuvor hatte ich festgestellt, dass mich Männer und nicht Frauen erregten. Dagur bot mir die Gelegenheit, dies auszuprobieren. Er ist ein zärtlicher und geduldiger Mann und ich blieb an seiner Seite.
Die Gemeinschaft ist eine große Familie, sie will ernährt werden und in Sicherheit leben. Dagur ist schon lange ihr Oberhaupt und sorgt gut für alle, die sich ihm anschließen.
Sein einziger Schwachpunkt bin ich, seine Eifersucht auf jeden Mann, der mir zu nahe kommt – oder für den ich mich scheinbar interessiere. Ihn quält die Angst, dass ich ihn eines Tages für einen jüngeren Mann verlasse. Doch ich kann mir nicht vorstellen, bei einem anderen Mann zu liegen. Dagur gibt mir die Sicherheit, die so lang in meinem Leben gefehlt hat.
Die Höhle ist gefüllt mit Geräuschen, unruhige Bewegungen, leises und lautes Schnarchen. Meine Gedanken kehren zu dem Jungen mit den grünen Augen zurück. Gerade aus den Minen kommend, sieht ein Sklave wie der andere aus. Alle sind blass, schmal und kahl rasiert. Die Spritze vermindert den Haarwuchs, es dauert lange, bis die Wirkung der letzten Dosis aus dem Körper verschwindet. Dann wachsen die Haare wieder richtig und Männer wie Frauen erkennen zum ersten Mal, wer sie sind.
Welche Farbe werden seine Haare haben? Rotbraun. Eigentlich habe ich keinen Zweifel daran. Grüne Augen und rotbraune Haare. Wie … doch der Gedanke zerfasert, lässt sich nicht halten. Janusch meint, das sei ebenfalls eine Nebenwirkung der Spritzen, sie beeinflussen unser Gehirn und löschen die ersten Erinnerungen dabei. Nur Schatten davon bleiben erhalten, denen wir nachjagen, die wir aber nicht festhalten können.
Seufzend schmiege ich mich in Dagurs Arm, sein vertrauter Geruch beruhigt mich und ich schließe die Augen. Brummend zieht er mich näher und das Gefühl der Geborgenheit vertreibt die Schatten, lässt mich endlich einschlafen.
Es ist ein weiter Weg zurück in unsere Heimat, den Ort, an dem wir in relativer Sicherheit leben. Noch ist es den Truppen des Königs nicht gelungen, uns aufzuspüren. Wenn sie es eines Tages schaffen, werden sie es schwer haben, uns zu besiegen.
Katla kümmert sich um das Frühstück und beim Aufwachen liegt schon der Duft des warmen Breis in der Höhle, lässt meinen Magen knurren. Als ich die Augen aufschlage, sehe ich in Dagurs graue Augen, mit ernster Miene betrachtet er mich.
„Du bist wunderschön, Tomaz“, flüstert er und küsst mich sanft, ehe er die Decke zurückschlägt und aufsteht. Gähnend strecke ich mich und setze mich auf. Rings um mich herum regen sich die Menschen. Mein Blick fällt auf die vier ehemaligen Sklaven, die sich zusammen in eine Ecke gelegt haben. Noch gehören sie nicht zu uns, aber ich habe keinen Zweifel, dass sie sich uns anschließen werden. Wohin sollten sie auch gehen? Ihre Erinnerungen wurden genauso getilgt wie meine. Darum holt der König sich seine Sklaven in einem jungen Alter, sie vergessen und fügen sich in ihr Schicksal.
Eine der Decken wird zurückgeschlagen und der Junge mit den grünen Augen sieht mich an. Diese Augen … an was erinnern sie mich?
Ich schüttele den Gedanken ab und stehe auf. Zu viel Aufmerksamkeit meinerseits wird ihm das Leben nur schwer machen. Dagur würde einen Konkurrenten in ihm vermuten und vielleicht sogar verhindern, dass er uns folgt. Also wende ich mich ab und lege die Decken zusammen.
Bewusst vermeide ich jeden Augenkontakt zu ihm, bis sie sich entschieden haben, uns zu folgen. Egill verteilt die Mäntel und Schuhe der Soldaten unter ihnen, damit sie auf dem Weg nicht frieren. Dorthin, wo wir gehen, ist es verdammt kalt.
Die erste Nacht, in der ich nicht gefroren habe. Unter der dicken Decke, die mir Egill gab, erreichte mich die Kälte nicht. Geschlafen habe ich trotzdem nicht viel. Immer wieder kreiste die Frage in meinem Kopf, wer diese Menschen sind und ob es klug ist, ihnen zu folgen. Doch wohin soll ich gehen, wenn nicht mit ihnen? Es gibt keinen Ort, den ich aufsuchen könnte, keine Familie, an die ich mich erinnere. Diese Menschen, die mich gerettet haben, sind meine Chance auf ein neues Leben. Außerhalb der Dunkelheit, außerhalb der Minen.
Gleich nach dem Aufwachen begegnete mein Blick wieder den eisblauen Augen. Sie beunruhigen mich und zeitgleich erinnern sie mich an etwas, das ich nicht festhalten kann. Schnell verdränge ich diesen Gedanken und widme mich dem Naheliegenden: aufstehen und meine Sachen zusammenlegen.
Egill kommt und gibt jedem von uns einen Mantel und einen Rucksack. Meiner ist etwas groß, doch das stört mich nicht. Dazu ein Paar Schuhe, warme Stiefel. Dass sie gestern noch einem Wärter gehörten, darüber denke ich lieber nicht nach.
Katla hat einen warmen, klebrigen Brei gekocht. Essen vor der Arbeit gab es in den Minen nicht. Jeder Sklave musste sich sein Essen verdienen. Wer schlecht arbeitete, bekam entsprechend weniger Essen.
„Das ist jetzt deine Schüssel, dein Löffel und dein Becher. Du musst sie selbst säubern und mitnehmen.“ Mit einem freundlichen Lächeln reicht Katla mir die Sachen. „Jetzt iss erst einmal, du bist so dünn, dass der Wind durch dich pfeifen kann.“ Mit einem Zwinkern füllt sie meine Schüssel. Es duftet verführerisch, ganz anders als der schlammgraue Matsch, den wir in den Minen bekamen.
Nach dem Essen kommt Dagur zu uns. „Wir werden gleich aufbrechen, habt ihr euch entschieden, ob ihr uns folgen wollt?“
Ich nicke nur. Wörter zu bilden, zu reden fällt mir schwer, zu lange musste ich schweigen. Doch Dagur versteht das offensichtlich, er schenkt mir ein freundliches Lächeln. „Uns erwartet ein langer Marsch. Füllt eure Flaschen und tragt sie am Körper, damit das Wasser nicht einfriert.“
Wenig später sind wir auf dem Weg. Der Wind hat etwas nachgelassen, trotzdem zerrt er an unseren Kleidern. Was für eine Wohltat, in dem fellgefütterten Mantel zu stecken. In einer Tasche habe ich Handschuhe und eine Mütze gefunden. Auch sie ist etwas zu groß, doch immer noch besser als zu frieren. Der geschlossene Kragen reicht bis zu meinen Augen, sodass auch mein Gesicht geschützt ist. Was für ein Unterschied zu gestern.
Wir folgen einem schmalen Pfad nach oben, immer höher den Berg hinauf, der sich lang vor uns ausstreckt. Fast an seiner Kuppe führt uns ein Weg auf die andere Seite, wo wir im Windschatten eine Rast einlegen. Katla und Egill verteilen Brot.
Bis zum Einbruch der Dunkelheit geht es bergauf und -ab. Kurz bevor wir eine Höhle erreichen, beginnt es zu schneien. Die Höhle ist kleiner als die letzte und wir müssen zusammenrücken. Eine fröhliche Unterhaltung setzt ein, es wird gescherzt und gelacht. Alles für mich fremd und faszinierend. Zum ersten Mal seit dem Morgen sehe ich Dagur und Tomaz. Sein kalter Blick streift mich und ich senke die Augen, wage nicht, ihn anzusehen, zu sehr verwirrt er mich.
Wieder gibt es eine Suppe und Brot. Habe ich jemals an einem Tag drei Mahlzeiten gegessen? Daran kann ich mich gewöhnen. Wenig später wickeln sich die Ersten in ihre Decken und ich folge dem Beispiel. Der lange Weg hat mich müde gemacht und schnell falle ich in einen tiefen Schlaf.
Als ich aufwache, ist es dunkel. Der Widerschein des Feuers zeichnet zuckende Schattenbilder an die Wand. Neben mir schnarcht jemand schauerlich. Ich drehe mich um, sehe in die tanzenden Flammen.
Ein Stöhnen dringt an mein Ohr, ich lausche in die Höhle.
„Leise, Tomaz“, flüstert Dagurs Stimme rau.
Alle meine Sinne sind jetzt gespannt, ich halte den Atem an. Mühsam unterdrücktes Keuchen, geflüsterte Worte, die ich nicht verstehe. Vorsichtig stütze ich mich auf meinen Ellenbogen, lasse meinen Blick über die Schlafenden wandern. Etwa abseits liegen Dagur und – Tomaz. Die Decken bewegen sich leicht. Was tun sie?
Das folgende leise Stöhnen erinnert mich an die Wärter, an das, was sie 591 und 802 angetan hatten. Doch die Geräusche klingen nicht, als ob Dagur Tomaz Gewalt antut. Noch ein Stöhnen, dann liegen die beiden still, nur ihr schneller Atem ist zu hören. Verwirrt lasse ich mich zurücksinken. Was war das?
Es dauert eine ganze Weile, ehe es mir gelingt, wieder einzuschlafen.
Trotzdem bin ich morgens früh wach. Ich setze mich auf und betrachte das Erwachen rund um mich herum. Aus dem Augenwinkel behalte ich das Lager von Dagur und Tomaz im Blick. Endlich rührt sich etwas, die Decke wird fortgeschoben und Dagur steht auf. Lächelnd blickt er auf Tomaz und richtet seine Kleider, ehe er die Höhle verlässt.
Tomaz setzt sich auf und unsere Blicke begegnen sich. Seine Haare liegen ungeordnet um seinen Kopf und er sieht … zufrieden aus. Als er mich anlächelt, senke ich die Augen. Diese Menschen und ihr Verhalten verwirrt mich zutiefst.
Den ganzen Tag gehen wir bergauf. Der Schnee wird immer tiefer, der Wind immer eisiger. Ich bin dankbar für die warme Kleidung, die mich schützt. Spät am Tag sehe ich in der Ferne ein Plateau, um das sich eine hohe Mauer zieht. Darauf laufen wir zu. Mit Einbruch der Dunkelheit stehen wir vor dem riesigen Holztor, das uns den Zugang verwehrt. Dagur, der mit Tomaz immer ganz vorn geht, schlägt gegen das Holz. Wenig später öffnet sich eine kleine, kaum sichtbare Tür und ein alter Mann lässt uns ein.
Hinter den Mauern herrscht reges Treiben. Stürmisch werden wir begrüßt. Männer, Frauen und Kinder umringen uns, stellen Fragen und verteilen warmen Wein.
Meine kalten Finger umklammern den heißen Becher. Immer wieder begegne ich neugierigen Blicken.
Dagur hebt die Hand und bringt die Menge zum Schweigen. „Habt Dank für euer Willkommen. Unsere Reise war erfolgreich. Nicht nur, dass wir uns mit den Südländern einigen konnten, haben wir vier neue Mitglieder für unsere Gemeinschaft mitgebracht.“ Mit einer ausladenden Geste zeigt er auf uns. „Ehemalige Minensklaven des Königs, die bei uns eine neue Heimat finden wollen.“
Die Leute klatschen und jubeln. Viele kommen zu uns und begrüßen uns freundlich. Die Aufmerksamkeit ist ungewohnt und am liebsten würde ich mich ihr entziehen. Egill befreit uns schließlich.
„Kommt, wir wollen einen Schlafplatz für euch suchen“, sagt er und führt uns aus der Menge. Erst jetzt komme ich dazu, mich umzusehen. Die hohen Mauern sind alt, dahinter befindet sich ein riesiger Platz, auf dem wir stehen. Am Ende, dicht vor einer hohen Felsmauer, die hinter dem Plateau in den Himmel ragt, steht ein riesiges Gebäude. Offenbar ebenso alt wie die Mauern.
„Alle wohnen zusammen im Haupthaus“, erklärt Egill. „Es gibt noch genügend Zimmer.“ Über die Schulter zwinkert er uns zu. „Dies war einst eine Festung. Sie gehörte vor langer Zeit einem Rittergeschlecht. Doch das Leben hier oben ist hart und so verließen sie irgendwann diesen Platz. Dagur fand ihn und beschloss, dass dies der rechte Ort für unsere Gemeinschaft sei. Weit weg vom König und gut zu verteidigen, falls er uns doch eines Tages einen Besuch abstattet.“ Er lachte. „Mal sehen, wie er uns über den schmalen Weg angreifen will.“
Das Hauptgebäude besteht aus einem großen Mittelteil und zwei Seitenteilen. Wir betreten es über eine breite Treppe.
„Zuerst ist es nicht ganz einfach, sich hier zu orientieren, aber mit der Zeit werdet ihr euch zurechtfinden. – Hier unten liegt der Speisesaal. Hier bekommt ihr zweimal am Tag eure Mahlzeiten, morgens und abends. Mittags kann sich jeder etwas aus der Küche holen. Alle Erwachsenen sind verpflichtet, sich an den täglichen Aufgaben zu beteiligen. Vom Essen kochen bis zur Minenarbeit.“ Unser Zusammenzucken entgeht ihm nicht. „Keine Angst, ihr müsst nicht in die Minen. Hier wird nur ein Teil des Tages in den Minen gearbeitet. Jeder, der hinabsteigt, tut dies freiwillig. Keiner arbeitet länger als eine Woche unter Tage.“
„Wovon lebt ihr?“, fragt 802 schüchtern.
„Wir handeln mit dem, was wir aus dem Berg holen. Es gibt genügend Abnehmer außerhalb dieses Königreiches – und ein paar sogar darin.“ Wieder lacht er. „Keine Angst, es gibt genug zu tun hier. Ihr werdet etwas finden, wenn ihr zu Kräften gekommen seid.“
Während er erzählt, führt er uns in die zweite Etage, folgt einem langen Gang, bis er vor einer Tür stehen bleibt. „Dies ist das erste Zimmer, alle sind gleich ausgestattet. Ein Bett, ein Schrank, Tisch und Stuhl. Alles andere müsst ihr euch im Laufe der Zeit selbst besorgen.“ Schwungvoll stößt er die Tür auf. „Bitte schön.“
Der Raum ist nicht übermäßig groß, aber doch mehr, als jeder von uns bisher gehabt hat. Wir sehen uns an und schließlich betritt 802 das Zimmer.
„Eure Zimmer liegen alle hintereinander. Vielleicht ist es ganz gut, wenn ihr zum Anfang versucht, euch gemeinsam zurechtzufinden.“
Nacheinander zeigt er jedem von uns ein Zimmer. Ich nehme das letzte in der Reihe. Es ist auch das letzte in diesem Flur und hat zwei Fenster.
„Ein Gong ruft euch zum Essen. Hinterher führe ich euch durch das Haus und zeige euch alles.“ Mit einer angedeuteten Verbeugung schließt er die Tür und lässt mich allein. Unsicher stehe ich mitten in dem Zimmer und sehe mich um. Auf dem kleinen Tisch befindet sich eine Kerze, daneben liegen Streichhölzer. Künstliches Licht wie in den Minen scheint es hier nicht zu geben, also entzünde ich die Kerze. Das Bett ist schmal. Darauf liegen zwei Decken und ein Kissen. In einer Ecke steht ein kleiner Ofen, an seiner Seite steht ein gefüllter Kohleneimer. Der Schrank steht dem Bett gegenüber, zwischen den Fenstern der Tisch und der Stuhl. Noch nie hatte ich ein Zimmer für mich. In den Minen gab es nur Gemeinschaftsräume. Ich setze mich auf den Stuhl und sehe aus einem der Fenster. Das Gebäude schließt nicht direkt an den Felsen an. Eine tiefe Schlucht trennt beide. Von einem Fenster aus kann ich in die scheinbar endlose Tiefe sehen, von dem anderen blicke ich in Richtung der Mauer. Nur ganz langsam wird mir bewusst, dass ich den Minen tatsächlich lebend entkommen bin. Ich schließe meine Augen und genieße die Ruhe. Die Chance auf ein neues Leben, ein freies Leben. Ein wenig ängstigt mich der Gedanke, doch die Freude überwiegt. Was immer auf mich wartet, ich kann darüber entscheiden. Keine Ketten, keine Wärter und kein König können mich jetzt noch zu irgendetwas zwingen. Ich bin frei!
Kaum sind wir zurück, ruft mich die Pflicht. Seit einem Jahr bin ich für die Vorräte der Gemeinschaft zuständig. Zusammen mit Katla gehe ich in den Keller, in dem das Getreide lagert. Im nächsten Frühjahr soll ein Speicher auf dem Gelände entstehen, da die Keller nicht trocken genug sind. Immer wieder kommt es zu Schimmelbefall. Doch der kalte Winter sorgt selbst hier unten für trockene Luft.
Audur, die uns begleitet, räuspert sich leise. Sie ist sehr schüchtern, aber verlässlich und hat ein Auge auf die Vorräte, wenn Katla und ich nicht da sind.
„Es sind wieder Flaschen aus dem Weinkeller verschwunden“, sagt sie leise und senkt verschämt den Blick. Katla und ich sehen uns über ihren Kopf hinweg an.
„Das ist nicht deine Schuld, das ist in den letzten Wochen öfter vorgekommen. Ich werde Elvar bitten, uns ein neues Schloss anzufertigen.“ In der ganzen Zeit sind wir nicht dahintergekommen, wer sich von Zeit zu Zeit Flaschen und Lebensmittel aus dem Keller stiehlt.
Diebstahl ist ein schweres Vergehen in der Gemeinschaft. Wir müssen uns auf alle verlassen können, jedem vertrauen und die Vorräte gehören allen. Keiner hat das Recht, sich ungefragt etwas zu nehmen.
„Es sind auch Lebensmittel verschwunden. Ein ganzer Schinken hing vorgestern nicht mehr an seinem Haken.“ Unruhig knetet sie ihre Hände.
In der Umgebung, in der wir leben, ist das Anlegen und Bewirtschaften der Lebensmittelvorräte eine Notwendigkeit. Bis zum kommenden Frühjahr wird es uns nicht möglich sein, die Lager aufzustocken. Der Sturm, der draußen wütet, ist ein Vorbote auf die kommenden Monate. Der Standort ist sicher, aber auch mehrere Monate im Jahr von der Außenwelt abgeschnitten. Alles, was wir haben, muss für die lange Zeit reichen. Ein verschwundener Schinken ist daher ein unverzeihliches Verbrechen. Keiner in der Gemeinschaft muss Hunger leiden, jeder bekommt den gleichen Teil. Und wer sich in einer besonderen Situation befindet, sei es durch Krankheit oder Schwangerschaft, bekommt, was er braucht. In diesem Winter haben wir vier Menschen mehr zu versorgen und die Rationen müssen angepasst werden.
„Audur, hol am besten gleich Elvar“, weise ich das Mädchen an, das sich sichtlich erleichtert auf den Weg macht.
„Wer bestiehlt die Gemeinschaft?“ Katla sieht mich unglücklich an. „Wir sitzen alle in einem Boot, wir müssen alle mit den Vorräten auskommen.“
„Vielleicht ist jemand der Meinung, es wäre nicht verkehrt, sich einen eigenen Vorrat anzulegen“, antworte ich. „Wir könnten alle Unterkünfte durchsuchen, aber ich befürchte, der Dieb ist nicht dumm genug, die gestohlenen Sachen bei sich zu lagern.“
„Ich dachte, wir könnten uns aufeinander verlassen …“
„Je mehr wir werden, desto schwieriger wird das.“ Müde inspiziere ich die Säcke und Fässer. „Verdammt! Er hat auch nicht vor dem Getreide haltgemacht.“
Ich zeige Katla einen aufgeschlitzten Sack, aus dem fast ein Viertel fehlt.
„Wir müssen mit Dagur darüber reden.“
Ich nicke nur. Seine Wut, geboren aus Enttäuschung, mag ich nicht abzuschätzen.
Bevor ich noch etwas sagen kann, führt Audur Elvar in den Raum. Elvar ist ein desertierter Soldat des Königs. Ehe er zum Dienst eingezogen wurde, war er Schmied. Dieses Handwerk übt er jetzt für die Gemeinschaft aus. Kurz erkläre ich ihm, dass wir an sämtlichen Vorratsräumen neue Schlösser brauchen. Für jedes darf es nur zwei Schlüssel geben. In einer für ihn typischen Geste spitzt er kurz die Lippen und nickt.
„Ich werde mich gleich morgen an die Arbeit machen“, sagt er.
Während er sich die vorhandenen Vorrichtungen ansieht, kontrolliere ich die restlichen Vorräte. Weiter scheint nichts zu fehlen.
Gemeinsam mit Katla begebe ich mich in Dagurs Arbeitszimmer. Er sitzt über Karten gebeugt an seinem Schreibtisch. Sein Lächeln verblasst, als er unsere Mienen sieht.
„Was ist geschehen?“
Kurz schildere ich ihm die neuen Diebstähle. In seinen Augen kann ich die Wut sehen. Zornig schlägt er auf den Tisch. „Wir müssen den Schuldigen finden! Ein solches Verbrechen an der Gemeinschaft darf nicht ungesühnt bleiben.“
„Wie sollen wir den Dieb fassen?“, fragt Katla.
„Vielleicht lässt er sich herauslocken, wenn du heute verkündest, dass die Vorratsräume übermorgen, nach dem Sonnenwendefest, neue Schlösser bekommen. Unter Umständen ist er dumm genug, vorher noch einmal in die Kammern einzudringen“, schlage ich vor.
Dagur nickt. „Ein Versuch kann nicht schaden. – Irgendwer muss in den Kammern Wache halten.“
„Aber jemand, dessen Abwesenheit auf dem Fest nicht auffällt“, wirft Katla ein. „Also fallt ihr beide schon einmal aus.“
„Es muss aber jemand sein, dem wir vertrauen. Das trifft im Moment nicht auf viele zu.“ Dagur steht auf und geht zum Fenster. „Ich hasse das Gefühl, dass jemand aus unserer Gemeinschaft ein Verräter ist. Hier muss keiner Hunger leiden, jeder bekommt das, was ihm zusteht. Warum braucht jemand mehr?“
„Die Angst vor dem kommenden Winter. Vielleicht will sich jemand einen eigenen Vorrat anlegen.“ Ich zucke mit den Schultern. „Die Gründe können vielfältig sein. Vielleicht auch jemand, der schon einmal gehungert hat.“
„Das haben wir alle! Ob in den Minen oder auf der Flucht. Ob für, wegen oder durch den König. Jeder von uns kennt die Entbehrungen.“ Dagur dreht sich zu uns um. „Wer soll in den Kammern auf den Verräter warten?“
„Ich werde mich frühzeitig von der Feier verabschieden, alle wissen, dass ich keinen Wert auf diese Feste lege“, schlug Katla vor.
Dagur sieht erst mich, dann Katla prüfend an. „Wir wissen nicht, wer der Dieb ist, vielleicht ist die Wache in den Vorratskammern nicht ungefährlich.“
„Ich kann schon auf mich selbst aufpassen, Dagur. Wäre nicht das erste Mal, dass ich mein Leben verteidigen muss.“ Katla lächelt schmal. „Und wen willst du sonst fragen?“
Das gibt schließlich den Ausschlag, auch wenn mir der Gedanke nicht gefällt. Katla ist wie eine Schwester für mich. Vom ersten Tag in der Gemeinschaft kümmerte sie sich um mich, erleichterte mir die Eingewöhnung und brachte mir das Lesen und Schreiben bei.
„Also gut, ich werde heute Abend eine entsprechende Ankündigung machen und wir hoffen, dass sich der Dieb herauslocken lässt.“
Sollte der Plan Erfolg haben, dann würde die Gemeinschaft über das Schicksal des Diebes entscheiden. Jeder Erwachsene hatte das Recht, seine Stimme abzugeben, dabei war im Prinzip alles möglich, von der Verbannung bis zur Gnade.
Nachdem wir uns über das Vorgehen geeinigt haben, verlässt uns Katla. Dagur kommt zu mir und nimmt mich in den Arm. Er ist ebenso groß wie ich und unsere Blicke begegnen sich.
„Endlich allein.“ Zärtlich zieht er mich an sich. „Viel zu lange hatten wir keine Zeit für uns.“ Sanft küsst er mich, liebkost meine Lippen. Ich mag die Zärtlichkeit, mit der er sich Zeit lässt, mich zu erobern. Meine Arme legen sich von selbst um ihn. Seine Hand wandert in meinen Nacken und er intensiviert den Kuss. Genüsslich erkundet er meinen Mund, während seine Hand unter mein Hemd gleitet. Sie ist warm, streichelt meine Haut, erzeugt eine Gänsehaut.
„Zieh dich aus“, flüstert Dagur, lässt mich los und lehnt sich gegen den Schreibtisch. Mit einem Lächeln knöpfe ich mein Hemd langsam auf und lasse es über meine Schultern gleiten. Dagurs Augen wandern über meinen Oberkörper, ich fühle seinen Blick wie ein Streicheln. Knopf für Knopf öffne ich die Hose, schiebe sie über meine Hüften und streife sie zusammen mit meinen Stiefeln ab.
„Dreh dich“, fordert Dagur. Ich strecke die Arme zur Seite und drehe mich langsam um mich selbst.
„Komm her.“
Schritt für Schritt gehe ich auf ihn zu, seine Augen verengen sich, ich kann seine Erregung in ihnen sehen. Dicht vor ihm bleibe ich stehen, hebe meine Hände und knöpfe sein Hemd auf. Jedes Stück Haut, das ich freilege, küsse ich, bis ich vor ihm knie. Ich mag seinen Körper, die grauen Brusthaare und die ausgeprägte Bauchmuskulatur.
Unter seinem brennenden Blick öffne ich seine Hose, schiebe sie zur Seite, bis ich sein hartes Glied sehe. Sanft hole ich es hervor und streiche seine Vorhaut zurück. Während ich ihn ansehe, schließen sich meine Lippen um seine Eichel.
Dagur stöhnt auf. Ganz genau weiß ich, was ihm gefällt. Mit meiner Zunge umspiele ich seine Spitze, stupse in den kleinen Spalt. Seine Hände klammern sich an den Schreibtisch und seine Bauchmuskeln bewegen sich hektisch. Immer tiefer nehme ich ihn auf, lege die Hand um die Wurzel und drücke leicht zu. Auch wenn Dagur glaubt die Kontrolle zu behalten, bin ich es, der in diesem Moment die Macht über ihn hat. Ein Gefühl, das mich berauscht. Langsam ziehe ich mich zurück, wiederhole das Ganze ein paarmal. Dann entlasse ich ihn aus meinem Mund und lecke über die samtige Länge. Dagurs Lippen sind leicht geöffnet, seine Augenlider halb geschlossen. Sanft knabbere ich an seinem Schaft, necke das Bändchen, ehe ich ihn wieder schnell und tief aufnehme. Sein Becken zuckt mir entgegen. Ich lege meine Hand auf seine Hüfte, halte ihn zurück. Hier bestimme ich das Tempo. Quälend langsam bewege ich meinen Kopf, spüre seine Ungeduld.
„Tomaz“, flüstert er heiser bittend. Doch ich will nicht, dass er in meinem Mund kommt, ich will ihn dabei tief in mir fühlen. Ich löse mich von ihm, sehe in seine Augen.
„Nimm mich“, sage ich leise und er stöhnt, zieht mich zu sich hoch. Seine Küsse sind brennend. Mit einer Hand wischt er ungeduldig den Schreibtisch frei, schiebt mich darauf. Bereitwillig lege ich mich hin, spreize meine Beine für ihn.
Dagur beugt sich über mich, nimmt mich mit seinem Mund in Besitz. Ich überlasse mich ihm, weiß, er wird mir geben, was ich brauche.
„Warte“, haucht er gegen meine Lippen und verlässt mich für einen Augenblick, um das Öl zu holen. Bald ist er wieder da, entschädigt mich für das Warten mit zärtlichen Liebkosungen. Ich weiß, er liebt es, mich zu hören, darum halte ich mich nicht zurück, stöhne und keuche unter seinen kundigen Händen, die mich geschickt vorbereiten.
„Komm endlich“, knurre ich ungeduldig und er folgt meiner Bitte. Langsam schiebt er sich in mich. In seinem Gesicht kann ich erkennen, wie schwer es ihm fällt, sich zu beherrschen. Kleine Schweißperlen stehen auf seiner Stirn. Seine ersten Stöße sind vorsichtige, gleitende Bewegungen, bis er spürt, dass ich bereit bin. Dann wird er schneller, zieht mich näher und legt sich meine Beine über die Schultern. Immer härter werden seine Stöße und ich lasse mich fallen, spüre meiner Lust nach, die sich in meinem Körper sammelt, sich zusammenzieht und darauf wartet, zu explodieren.
Als Dagur seine Hand um meinen Schaft legt und in dem Takt seiner Stöße fahrig massiert, ist es vorbei. In heißen Schüben ergieße ich mich auf meinen Bauch, während mein Höhepunkt durch meinen Körper jagt, mir diese wenigen Sekunden völliger Schwerelosigkeit gibt. In diesem Moment gibt es kein Gestern und kein Morgen, keine Zweifel, keine Sorgen, nur diesen reinen Moment. Am Rande spüre ich, dass auch Dagur seine Erlösung findet.
So lange wie möglich versuche ich diesen Augenblick festzuhalten. Dagur legt seinen Kopf auf meine Brust, ich spüre seinen Atem hektisch über meine Haut streichen. Ich bin noch nicht in der Lage, mich zu rühren. Langsam, aber unaufhaltsam kehrt die Zeit zurück und ich schließe meine Arme über Dagurs Rücken.
„Du bist fantastisch, Tomaz“, flüstert er. „Ich liebe dich.“
Das kann ich nicht zurückgeben. Was ist Liebe? Ist es das Gefühl, das ich für Dagur empfinde? Ich fühle mich wohl in seiner Nähe, er gibt mir das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit. Oder gehört mehr dazu? Ich weiß es nicht und darum schweige ich.
Mit einem bedauernden Seufzer löst er sich von mir. „Die Arbeit ruft“, sagt er mit einem schiefen Lächeln. Ich weiß, dass er gern hören würde, dass ich ihn liebe, doch ich bin nicht dazu bereit, ehe ich mir sicher bin.
Ein Klopfen reißt mich aus den Gedanken. Ich öffne die Tür, Katla steht davor und lächelt mich an.
„Ich habe dir ein paar Sachen mitgebracht. Ich dachte, du willst vielleicht die Kleider aus der Mine loswerden.“ Mit einem Lächeln reicht sie mir den Stapel, den sie auf dem Arm hält.
„Danke“, antworte ich überfordert.
„Wenn du dich waschen willst, ist gleich gegenüber das Bad. Es gibt leider nur kaltes Wasser. Zweimal die Woche gibt es die Möglichkeit, im Badehaus warm zu baden“, ergänzt sie mit einem Augenzwinkern. „Aber das wird euch Egill nachher alles erklären. Wir sehen uns später beim Essen.“ Mit einem Winken geht sie den Flur entlang Richtung Treppe.
In meinem Zimmer sehe ich mir die Sachen an, die sie mir gegeben hat. Eine dunkelbraune Hose, ein beiges Hemd und eine Lederweste. Ähnlich den Kleidern, die alle hier tragen. Ich nehme den Stapel und gehe in das Badezimmer, das man mit einem Haken verschließen kann. In einem Regal liegen Handtücher. Es gibt ein Becken unter einer Pumpe, die manuell bedient wird. Die Seife riecht gut, nicht wie das stinkende Zeug in der Mine.
Ein befreiendes Gefühl, die Arbeitskleider auszuziehen. Einen Moment betrachte ich die Nummer: 713. Erhalte ich hier einen Namen? Ich wage nicht zu hoffen, dass mir mein Name wieder einfällt. Die Hose ist ein wenig zu lang, ebenso wie die Ärmel des Hemdes. Ich muss sie umschlagen.
Der Gong ertönt. Was mache ich mit den alten Kleidern? Ich werde sie nie wieder freiwillig anziehen! Vielleicht kann ich sie in dem kleinen Ofen verbrennen …
Im Flur treffe ich auf die anderen und wir gehen zusammen hinunter. Am Fuß der Treppe sehen wir zum Glück Egill.
„Da seid ihr ja, folgt mir einfach in den Speisesaal“, sagt er mit einem Grinsen.
In dem großen Raum herrscht reges Leben, es wird geredet und gelacht. Kein Vergleich zu den stummen Mahlzeiten in der Mine. An einem langen Tisch wird das Essen ausgegeben. Es riecht gut und mein Magen knurrt vernehmlich.
Egill lacht und geht vor. Es gibt Suppe und warmes Brot. Wir folgen Egill an einen Tisch, von dem ich den Saal gut übersehen kann. Die fröhliche Stimmung ist ebenso ungewohnt wie das gute Essen.
Kurz nach uns betreten Dagur und Tomaz den Raum. Bevor sie sich etwas zu essen holen, wendet sich Dagur den Tischen zu und hebt die Hände. Sofort wird es still.
„Morgen ist das Fest der Sonnenwende, das wir wie jedes Jahr ausgiebig feiern werden. Die Tage werden endlich wieder länger, auch wenn uns noch harte Wintertage erwarten. Wir haben viel erreicht im vergangenen Jahr. Unsere kleine Gemeinschaft ist auf sechsundvierzig Erwachsene und zwölf Kinder angewachsen. Dafür, dass wir vor neun Jahren mit fünfzehn Erwachsenen, von denen nur elf den ersten Winter überstanden, angefangen haben, ein großer Erfolg. Wir haben ausreichend Vorräte und werden den Frühling ohne Verluste erreichen.“
Einige klatschen und johlen. Dagur lächelt, ehe er weiterspricht: „Wie in jedem Jahr gibt es viel zu tun. Da wir jetzt nicht viel draußen machen können, werden wir uns dem weiteren Ausbau dieses Hauses widmen. Nach der Sonnenwende werden die Vorratskeller geordnet und erhalten neue Schlösser, da die alten schwergängig und rostig sind. Wenn sie nicht richtig schließen, laufen wir Gefahr, dass sich auch ungebetene Gäste an unseren Vorräten bedienen. Unsere Katzen zum Beispiel würden ein Stück Schinken einer Maus gewiss vorziehen.“
Ich höre vereinzeltes Lachen.
„Auch müssen weitere Räume hergerichtet werden, Betten erneuert und Schränke gebaut werden. Ebenso brauchen wir mehr Waffen. Ihr seht, Arbeit gibt es auch in den kalten Tagen mehr als genug. – Doch erst werden wir morgen feiern und es uns gut gehen lassen.“
Jetzt trommeln fast alle zustimmend auf die Tische.
„Was bedeutet dieses Fest?“, fragt 591 schüchtern Egill.
„Oh, gutes Essen, Musik und Tanz“, antwortet dieser fröhlich.
„Musik?“
Egill sieht uns verdattert an, dann spitzt er seine Lippen und pfeift eine Melodie. „Lieder, Gesang, Gitarren“, versucht er zu erklären. „Ihr werdet es morgen sehen, es ist schön und macht Spaß.“
Ohne dass ich es gemerkt habe, ist Tomaz an unseren Tisch getreten und setzt sich mit seinem Teller uns gegenüber. Freundlich lächelt er uns an.
„Mein Name ist Tomaz. Vor fünf Jahren bin ich auch den Minen entkommen und weiß, wie ihr euch jetzt fühlt. In den Minen haben sie unser Leben beschränkt, es fehlen uns viele Erfahrungen, die andere Menschen gemacht haben. Doch Egill und Katla werden euch alles beibringen, was ihr wissen wollt. Sie sind gute Lehrmeister. Ihr werden Lesen und Schreiben lernen. Jedem in der Gemeinschaft könnt ihr Fragen stellen, alle werden euch helfen. Wenn ihr euch ein wenig eingelebt habt, sucht ihr euch einen Paten, der mit euch einen Namen aussucht, denn ich gehe davon aus, dass ihr nicht ewig mit der Nummer leben wollt, die euch die Wärter der Minen gegeben haben.“
Augenblicklich schüttele ich den Kopf. Nein, ich will einen Namen. Mein Blick begegnet Tomaz’ und wie immer irritieren mich seine eisblauen Augen. Sie stehen im Widerspruch zu seinen schwarzen Haaren, die ihm auf die Schulter fallen. Noch nie sah ich solche Augen und doch rührt sich bei ihrem Anblick etwas in meinem Herzen.
„Arbeitest du auch in den Minen?“, fragt 659 leise.
„Nein, ich gehe nie wieder hinunter in den Berg.“ Tomaz schüttelt den Kopf. „Keiner muss zurück unter die Erde.“
„Tomaz?“ Dagur war hinter ihm aufgetaucht und legte seine Hand auf dessen Schulter. „Kommst du?“
„Ja.“ Tomaz steht auf und nimmt seinen Teller. „Wenn einer von euch Fragen hat, dann kann er mich jederzeit ansprechen.“ Mit einem verabschiedenden Nicken zu uns folgt er Dagur.
„Der müsste doch sowieso nicht in die Minen“, sagte der Mann, der auf der anderen Seite neben Egill saß, mürrisch.
„Halt den Mund, Wlar“, sagte Egill, ohne den Mann anzusehen.
„Es ist doch wahr! Oder meinst du, dass sich jemand, der sich vom Chef in den Arsch ficken lässt, schwere Arbeiten verrichten muss?“
Ich sehe den Mann an, den Egill Wlar nennt. Er ist klein, untersetzt und hat kaum Haare auf dem Kopf. Aus kleinen, zusammengekniffenen Augen sieht er missmutig zu uns herüber.
„Tomaz erfüllt seine Pflicht gegenüber der Gemeinschaft wie jeder andere. Hör auf schlecht über ihn zu reden!“
„Ach, komm schon, Egill, du willst mir doch nicht erzählen, dass Dagur und sein Liebchen es sich nicht gut gehen lassen.“ Wlar schnaufte abfällig.
„Genau das, Wlar, sie leben von denselben Dingen wie du, essen das Gleiche und leisten ihren Beitrag. Wenn dir etwas nicht gefällt, kannst du jederzeit gehen!“ Egill dreht sich zu ihm um. „Du weißt, dass keiner hierbleiben muss.“
„Das habe ich nicht gesagt …“, murrt Wlar und senkt den Blick.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, was Wlar meint. Auch mich hatten die Wärter schon zu sich geholt. Kann es sein, dass Tomaz sich freiwillig von Dagur benutzen lässt? Oder wird es erwartet, dass man sich …
Ich sehe mich um, doch die Menschen in diesem Raum sehen fröhlich und zufrieden aus.
Ich erinnere mich an den Morgen in der Höhle, an die Geräusche in der Nacht. Tomaz sah zufrieden aus, nicht wie jemand, dem man Gewalt angetan hatte. Nicht wie 591 und 802 kurz davor.
Gerne würde ich fragen, doch ich weiß nicht wen. Vielleicht ergibt sich in den nächsten Tagen eine Gelegenheit dazu.
Nach dem Essen zeigt uns Egill das Gebäude. Die große Küche, in der es wunderbar duftet und ein paar Männer und Frauen gerade dabei sind, das Geschirr abzuwaschen, das Bade- und das Waschhaus.
„Die Werkstätten und Ställe zeige ich euch morgen, wenn wir mit dem Unterricht beginnen“, sagt er mit einem Grinsen. „Oder vielleicht auch erst übermorgen, da wir morgen alle Hände voll damit zu tun haben werden, das Fest vorzubereiten.“
Katla tritt zu uns. „Wenn ihr etwas braucht, euch etwas fehlt oder ihr euch etwas wünscht, dann kommt zu mir. Solange es in unseren Möglichkeiten liegt, werden wir es erfüllen.“ Aufmunternd lächelt sie uns zu.
Ich kann nicht sagen, was mir fehlt. Alles ist neu und erschlagend. Noch vor Kurzem dachte ich, ich würde in den Minen sterben und jetzt …
„Ich meinte nicht heute.“ Sie lacht angesichts unserer Gesichter, die unsere Überforderung deutlich widerspiegeln. „Wann immer ihr etwas braucht – oder wissen wollt. Ich war selbst in den Minen, ich weiß, wie verwirrend die Welt hier draußen ist.“
Wenig später verabschieden sich Egill und Katla von uns und wir versuchen unsere Zimmer wiederzufinden. Nach einem Fehlversuch gelingt es uns.
Gerade als ich meine Tür öffnen will, erscheint eine große, schwarze Katze neben mir. Ihre Augen funkeln mich an.
„Na, du“, flüstere ich und gehe in die Hocke. „Wer bist du denn?“
Auch in den Unterkünften der Minen gab es Katzen, sie sollten die Mäuse und Ratten fangen, die ihren Weg in die Tiefe gefunden hatten und sich in rasendem Tempo vermehrten.
Einen Moment betrachtet sie mich mit schief gelegtem Kopf, dann kommt sie näher. Vorsichtig strecke ich ihr meine Hand entgegen. Sie schnuppert daran, dann stößt sie sanft mit ihrem Kopf dagegen. Ich streichele sie und werde mit einem leisen Schnurren belohnt. Eine ganze Zeit hocke ich auf dem Flur und kraule die Katze. Doch irgendwann wird es zu kalt. Mit einem letzten Strich über ihren Rücken verabschiede ich mich von ihr und öffne die Tür. Sofort huscht sie an mir vorbei in mein Zimmer, springt auf mein Bett und rollt sich zusammen. Soll ich sie lieber wieder vor die Tür setzen? Nein, es ist schön, noch ein wenig Gesellschaft zu haben.
Als ich wenig später ins Bett steige, krabbelt sie zu mir unter die Decke, rollt sich an meiner Seite erneut zusammen. In dieser Nacht werde ich auf jeden Fall nicht frieren.
Obwohl ich müde bin, kann ich nicht schlafen. Wlar und seine Worte gehen mir nicht aus dem Sinn. Lässt sich Tomaz wirklich von Dagur benutzen, wie die Wärter mich – und die anderen – benutzt haben? Ich erinnere mich gut an den Schmerz und die Demütigung. Wenn es wahr ist, warum tut er das? Für ein besseres Leben? Oder wird das von uns erwartet? Gehörte es dazu, wenn man hierbleiben will? Ich hoffe nicht.
Der Wind heult vor dem Fenster und ich ziehe die Decke eng um meine Schulter. Ich kann – will mir nicht vorstellen, dass Tomaz … das tut. Doch da waren die Geräusche in jener Nacht in der Höhle …
Seufzend drehe ich mich auf die Seite, streichele das weiche Fell. Es klang anders als die Gewalt, die die Wärter uns antaten. Vielleicht hatte er gelernt, den Schmerz zu unterdrücken. Dagegen sprach aber sein Gesichtsausdruck am nächsten Morgen. Er sah nicht aus, wie zum Beispiel 591 nach – ihrem Erlebnis.
Die Gedanken kreisen in meinem Kopf und irgendwann schlafe ich darüber ein.
Etwas schnurrt leise in mein Ohr und ich öffne die Augen, blicke direkt in die grünlichen Augen der Katze, die auf meiner Brust sitzt und mich interessiert beobachtet. Träge befreie ich meinen Arm aus den Decken und streichele sie. Wohlig schmiegt sie sich in meine Hand.
Es ist schon hell. Tageslicht, nicht das künstliche Orange, das in den Minen schien. Ich muss es sehen und springe aus dem Bett. Die Katze schnaubt missmutig, während ich an das Fenster trete. Die Sonne scheint, lässt den Schnee, der alles bedeckt, glitzern. Ich bin frei. Keine Wärter kommen, zwingen mich auf, treiben mich zur Arbeit.
Ich lausche, doch nichts ist zu hören. Schnell schnappe ich meine Sachen und betrete den Flur. Hier höre ich leise, weit entfernte Geräusche. Das Bad ist frei und ich wasche mich flugs mit dem kalten Wasser. Vorsichtig streiche ich über meinen Kopf, spüre erste Stoppeln, ebenso auf meinen Wangen. Ein leichter Schatten zeigt mir im Spiegel den schwachen Bewuchs. Hier haben alle Bewohner mehr oder weniger viele Haare auf dem Kopf. Tomaz eher viele, seine schwarzen Haare locken sich in seinem Nacken. Sie bilden einen scharfen Kontrast zu seinen hellen Augen. Einen Bart tragen die wenigsten. Viele Wärter trugen zottelige Bärte, die ihnen ein grimmiges Aussehen verliehen.
Wieder im Flur überlege ich, ob ich an die Türen der anderen klopfen soll, verwerfe den Gedanken jedoch wieder. Sollen sie schlafen, so lange sie wollen. Ein Privileg, das uns in den Minen niemals gestattet war. Den Weg hinunter finde ich auch allein.
Unten in der Halle herrscht eifriges Treiben. Der Speisesaal wird für das Frühstück vorbereitet. Fröhlich werde ich begrüßt.
„Guten Morgen. Magst du uns helfen?“ Katla steht plötzlich neben mir.
„Guten Morgen. Wenn ich kann“, antworte ich zurückhaltend.
Sie lacht. „Komm mit in die Köche, dann finden wir schon eine Aufgabe für dich.“
Lachen schallt uns entgegen, als wir eintreten. Es duftet wieder verführerisch. Die Wärme und gute Laune umfängt mich wie ein Mantel. Sofort werde ich freundlich begrüßt und ein junger Mann drückt mir eine große Schüssel in die Hand.
„Du kannst das Rührei schlagen“, sagt er und gibt mir ein merkwürdiges Gerät in die Hand. Verwirrt sehe ich ihn an. Mit einem Lächeln zeigt er mir, wie ich es verwende und aus den einzelnen Eiern die Masse fabriziere, aus der später das Rührei wird. Katla kommt und würzt das Ganze abschließend.
„Bring mir die Eier“, fordert eine ältere, sehr schlanke Frau vom Ofen und ich transportiere die Schüssel vorsichtig zu ihr. Eine riesige Pfanne steht vor ihr auf dem Herd, in die sie die Eier gießt. Fasziniert sehe ich zu, wie aus dem flüssigen Ei bald eine feste, hellere Masse wird. Dumpf erinnert mich das an etwas, doch ich kann es nicht benennen.
„Hier.“ Jemand drückt mir einen Stapel Teller in den Arm. „Bring die bitte hoch.“
Vorsichtig folge ich einem jungen Mädchen, das ebenfalls einen Stapel Teller trägt, in den Speisesaal. Wir stellen unsere zerbrechliche Last auf den großen Tisch, an dem schon gestern das Essen ausgeteilt wurde.
„Ich bin Unnur“, sagt sie und streckt mir die Hand hin.
„Ich …“ Es widerstrebt mir, mich mit meiner Nummer vorzustellen. Diese gehört hier nicht her.
„Ich weiß. Bald wirst du einen eigenen Namen haben, dann fühlt man sich gleich viel besser!“ Sie lächelt freundlich. „Hilfst du uns nachher bei den Girlanden für die Feier?“
Ich nicke, kann gerade nichts sagen. Die Freundlichkeit der Menschen erschlägt mich, berührt mich und ich traue meiner eigenen Stimme nicht. Zum Glück stört Unnur sich nicht an meiner Unfähigkeit. Fröhlich beginnt sie zu plaudern und mir von dem Fest zu berichten. Ausführlich erzählt sie von der Dekoration, den Blumen, die die Kinder für den Schmuck gebastelt haben. Ich brauche nur zuzuhören, eine Antwort erwartet sie nicht.
Langsam füllt sich der Raum. Auch 802, 659 und 591 kommen. Überwältigt und überfordert bleiben sie in der Tür stehen und sehen sich um, bis sie mich entdecken. Sichtlich erleichtert treten sie zu mir und Unnur, die sie begrüßt.
Kurz nach den dreien betritt Tomaz den Raum. Sein Anblick erinnert mich an meine gestrigen Gedanken. Er sieht ausgeruht und gut gelaunt aus, spricht mit Katla, die gerade eine Platte Aufschnitt auf den Tisch stellt. Beide lachen. Sein Blick streift durch den Raum, begegnet meinem, verharrt und ich fühle mich gebannt durch das klare Blau. Er lächelt und ich spüre, wie ich zurücklächele. Wieder ist da so ein Gefühl in meiner Brust, das an mir zieht. Vertrautheit. Erkennen. Doch das ist unmöglich.
Langsam schlendert er zu uns herüber, begrüßt jeden freundlich, der ihm auf dem Weg begegnet.
„Hallo.“ Einen Schritt vor uns bleibt er stehen, nickt uns zu. „Ich hoffe, ihr habt in der ersten Nacht in unserer kleinen Gemeinschaft gut geschlafen – und Unnur beschlagnahmt euch nicht sofort mit tausend Aufgaben für die Feier heute Abend.“ Er zwinkert der jungen Frau zu.
„Keiner von ihnen muss helfen, das weißt du doch“, entgegnet sie und eine leichte Röte steigt in ihre Wangen.
„Ja. Ich weiß aber auch, wie schlecht man dir etwas abschlagen kann.“ Sein neckender Tonfall treibt noch mehr Blut in ihre Wangen.
„Ich helfe gern“, sage ich leise. Der eisblaue Blick erfasst mich.
„Das Fest ist der letzte Höhepunkt des Jahres. Nach der ganzen Arbeit und Anstrengung eine Feier, die sich alle verdient haben.“ Immer noch ruhen seine Augen auf mir und ich senke den Kopf. Der Mann verwirrt mich.
„Kann ich dich kurz sprechen, Tomaz?“ Eine winzig kleine Frau drängt sich neben ihn und zupft an seinem Ärmel.
„Sicher. Ihr entschuldigt mich. Wir sehen uns bestimmt später beim Dekorieren.“
Nach dem Frühstück helfen 802 und ich in der Küche beim Abwasch. Eine Menge Geschirr stapelt sich neben dem Becken. Die Frau, die mit diesen Bergen kämpft, heißt Kolbrun. Sie spült das Geschirr, ab und an flucht sie leise über die hartnäckigen Flecken. Keine Aufgabe, die ihr Spaß macht. Während ich an einem Teller herumreibe, lasse ich meinen Blick und meine Gedanken schweifen. In einem Korb liegen kleine, rote Äpfel. Ich weiß, wie sie heißen, jedoch nicht, wie sie schmecken. Noch nie aß ich einen. Von den Kräutern, die als Sträuße gebunden verkehrt herum aufgehängt trocknen, kenne ich nicht einmal den Namen. Bei vielen Dingen fehlt mir der Name – und ihr Zweck. In den Minen sind uns nur wenige unterschiedliche Gegenstände begegnet.
Nachdem wir fertig sind, frage ich Katla, ob ich einen Apfel probieren dürfte.
„Sicher, sie sind für alle da. Jeder darf sich davon nehmen. Nur nicht übertreiben“, fügt sie hinzu. „Zum einen liegen sie dir sonst schwer im Magen, zum anderen sollen alle etwas davon bekommen.“
„Ich weiß gar nicht, ob ich sie mag. Noch nie habe ich einen gegessen“, antworte ich.
„Essen kann man alles von ihnen, außer dem Stiel.“
Vorsichtig beiße ich in die feste Frucht, ein wenig Flüssigkeit läuft in meinen Mund, tropft auf mein Kinn. Der Apfel ist leicht säuerlich, aber sehr lecker. Katla betrachtet mein Gesicht.
„Scheint dir zu schmecken.“
Ich nicke bloß.
„Wenn du Lust hast, kannst du mir beim Kuchen backen helfen“, sagt sie. „Heute Abend gibt es Apfelkuchen.“
„Kuchen?“, frage ich und fühle mich schrecklich dumm.
„Ja, sehr lecker“, entgegnet sie mit einem Lachen. „Hilf mir und probiere, das ist besser, als wenn ich versuche, es dir zu erklären.“
Mit Katla zusammen zu backen macht Spaß. Ich schlage die Eier auf, nachdem sie mir gezeigt hat, wie das geht. Wir sieben Mehl und wiegen Zucker ab. Während der ganzen Zeit redet sie, erklärt oder erzählt mir von der Gemeinschaft.
Der Teig, den sie mir zu kosten gibt, schmeckt schon köstlich. Wir schälen Äpfel, was bei ihr rasend schnell geht und wofür ich eine Ewigkeit brauche, schneiden sie in schmale Spalten und stecken sie in den Teig. Letztlich schiebt Katla den Kuchen in den Ofen. Drei große Bleche haben wir vorbereitet.
„Wenn du magst, kannst du Unnur und den anderen beim Schmücken des Saals helfen“, schlägt Katla vor.
„Danke, dass ich dir helfen durfte“, sage ich leise und laufe nach oben, ehe sie antworten kann.
In dem Speiseraum herrscht buntes Treiben. Lautes Lachen schlägt mir entgegen. Unnur und eine andere Frau versuchen eine Girlande zu befestigen. Obwohl Unnur auf einem Stuhl steht, erreicht sie nicht den Balken.
Ich stehe noch in der Tür, als Tomaz sie in der Taille packt und runterhebt.
„Das kann ja keiner mit ansehen.“ Er steigt selbst auf den Stuhl und erreicht das Holz problemlos. Während er von dem Stuhl springt, sieht Unnur zu mir und winkt mich herüber.
„Willst du uns helfen?“, fragt sie und strahlt mich an. Ich nicke.
„Das freut mich. Dahinten auf dem Tisch liegen kleine Laternen, kannst du uns die holen?“
Sämtliche Kinder der Gemeinschaft scheinen durch den Saal zu toben. Während ich die Laternen hole, betrachte ich sie. Fröhlich hüpfen sie durch den Raum, jagen und verstecken sich. Sie sehen glücklich aus und ich beneide sie. Meine ersten bewussten Erinnerungen sind die Mine, die Wärter, die Arbeit, der Hunger und eine tiefe Sehnsucht, die ich nicht genau benennen kann. Vielleicht nach glücklichen Momenten, in denen ich lachend vor meinen Freunden weggelaufen bin, damit sie versuchen mich zu fangen. Doch leider kann ich mich nicht wirklich an solche Augenblicke erinnern.
Mit einem Arm voller Laternen gehe ich zurück zu den anderen. Unnur reicht sie weiter an Tomaz, der sie an die Girlande hängt. Dabei scherzen die beiden vertraut miteinander.
In der folgenden Zeit spannen wir mehrere Girlanden und befestigen die Beleuchtung an ihnen. Die Kinder werden immer aufgedrehter, laufen schreiend und kreischend durch den Saal. Unnur hält sich die Ohren zu und stöhnt.
„Ich habe eine Idee“, sagt Tomaz. „Die Kinder brauchen ein wenig Bewegung – und ich auch. Wir gehen hinaus und befreien euch von dem Lärm.“
„Ja, bitte“, antwortet Unnur mit gespielt leidender Miene.
„Komm, ich zeige dir, dass Schnee nicht nur kalt und nass ist.“ Tomaz nimmt überraschend meine Hand und zieht mich mit. Ich werfe Unnur einen Blick über die Schulter zu, doch sie lacht nur.
An der Tür bleibt Tomaz stehen und pfeift laut auf zwei Fingern. Sofort drehen sich alle Kinder zu ihm um.
„Bei zwanzig stehen alle fertig angezogen vor der Tür, wir bauen einen Schneemann!“, ruft er und augenblicklich stürmen die Kinder los. An mich gewandt sagt er:“ Zieh dich warm an – und beeil dich.“ Seine Augen funkeln übermütig. Völlig überfahren komme ich seiner Aufforderung nach.
Wenig später stehen zehn dick eingepackte Kinder zusammen mit mir an der Tür. Tomaz kommt mit großen Sprüngen die Treppe hinunter. Kritisch begutachtet er die Kinder, zieht hier noch eine Mütze zurecht und richtet dort einen Schal. Erst als er zufrieden ist, öffnet er die Tür. Sofort stürmen die Kinder hinaus in den Schnee und die Sonne, die immer noch am Himmel steht. Tomaz nimmt erneut meine Hand und zieht mich hinaus. „Pass auf, die älteren von ihnen schmeißen gern mal einen Schneeball.“
Noch bevor er ausgesprochen hat, fliegt etwas an uns vorbei und klatscht an das Holz.
„Na dann, auf sie mit Gebrüll“, ruft Tomaz, bückt sich und formt aus dem Schnee eine Kugel, mit der er auf eine Gruppe Kinder wirft. Bevor ich überhaupt weiß, was hier vor sich geht, fliegen die nächsten Schneebälle auf uns.
„Nicht rumstehen, mitmachen“, sagt Tomaz und gehorsam bücke ich mich und versuche es ihm gleichzutun. Der Schnee ist kalt und nass, lässt sich gut zu einer Kugel formen. Ohne nachzudenken, werfe ich diese auf einen größeren Jungen – und treffe. Ich muss über sein Gesicht lachen, doch schon fliegen die nächsten Bälle auf uns. Plötzlich befinde ich mich mitten in einer Schneeballschlacht.
Irgendwann unterbricht Tomaz das Spiel mit einem erneuten Pfiff. Alle Kinder rennen zu ihm, sehen ihn mit geröteten, strahlenden Gesichtern an.
„Jetzt bauen wir den größten Schneemann, den diese Burg jemals gesehen hat“, verkündet er laut und stapft los in einen Teil des Hofes, auf dem der hohe Schnee noch unberührt ist. Was ist ein Schneemann?
Schnell erhalte ich die Lösung. Da nicht alle an einem bauen könne, steht bald fest, dass es mindestens zwei sein müssen. Die größeren Kinder bauen einen und Tomaz hilft zusammen mit mir den kleineren. Wir rollen aus dem Schnee Kugeln, die immer größer werden. Die unterste ist die größte, die oberste die kleinste. Die beiden ersten sind so groß, dass Tomaz nur mit Mühe die letzte Kugel obendrauf setzen kann.
„Sie brauchen noch Gesichter“, ruft ein Mädchen.
„Und einen Hut“, sagt ein Junge.
„Einen Helm und ein Schwert“, schreit ein Junge. „Es sind Schneeritter.“
Das begeistert alle Kinder. Ich sehe Tomaz an. In der Meute wirkt er selbst wie ein großer Junge. Ohne ein Wort zu verstehen, sehe ich wie er redet, dabei mit den Händen die Worte begleitet. Wieder ist dieses Gefühl da, irgendwo in einem Nebel versteckt höre ich in meinem Kopf Lachen. Kinderlachen. Ich schließe die Augen, versuche durch den Nebel zu sehen, zu erkennen, was sich dort verbirgt, doch wie immer verschwindet alles in dem Moment, in dem ich versuche, es festzuhalten.
„Alles in Ordnung?“, fragt Tomaz und reißt mich aus meinen Gedanken.
Schnell nicke ich. „Ja, ich dachte nur, mir wäre etwas eingefallen.“
„Das kennen alle aus den Minen. Janusch meint, das hängt mit den Spritzen zusammen, sie lassen uns vergessen, tilgen unsere Erinnerungen.“ Ein bitteres Lachen entkommt ihm. „Nur Schatten bleiben, werden nicht klar und quälen einen mit dem Wissen, dass es dort irgendwo eine Erinnerung an früher gibt.“ Er schüttelt den Kopf, als wollte er diese Gedanken abschütteln. „Es hat leider keinen Sinn zu versuchen, sie zu fassen bekommen, mehr als diese Schatten von ihnen sind nicht geblieben. – Komm, wir sind beauftragt, Schwerter für die Schneeritter zu finden.“
Ich bin also nicht allein mit meinen verschwundenen Erinnerungen. Nicht dass mir dieses Wissen hilft, beruhigt es mich doch.
Zielstrebig geht Tomaz zu einem Schuppen und ich folge ihm. Dort wird Holz gelagert. Auf dem Weg erklärt er mir, dass es schwierig ist, Holz hierherauf zu schaffen. Wälder gibt es nicht und der Weg, den die Karren zurücklegen müssen, ist mühselig für die Pferde. Außerdem können sie die Festung nicht erreichen, da ein Steinschlag die Zufahrt teilweise verschüttet hat. Dies ist einerseits ärgerlich, weil es viel Arbeit macht, alles per Handkarren nach oben zu befördern, schützt andererseits aber vor Entdeckung.
Der Weg der Kohle, die zum Heizen genommen wird, ist zwar genauso schwierig, aber es reichen weniger Fuhren für eine ausreichende Menge.
„Die Lage ist strategisch zwar hervorragend, doch um überleben zu können, ist der Aufwand hoch.“ Er öffnet die Tür, hinter der sich die Holzvorräte befinden. Schnell werden wir fündig. Zwei lange und zwei kurze Latten verbinden wir mit Hilfe einer Schnur zu provisorischen Schwertern. Während wir zurückgehen, frage ich mich, woher ich weiß, was ein Schwert ist. Es ist wie mit dem Apfel und eine Antwort finde ich nicht.
Die Kinder haben Katla einen alten Topf und einen kaputten Eimer als Helme abgeschwatzt. Die Augen der Schneeritter sind große, die Münder kleine Steine. Fertig sind die beiden.
„Jetzt fehlen nur noch Namen“, sagt Tomaz. „Die könnt ihr euch beim Essen überlegen.“ Die Sonne hat gerade ihren Zenit überschritten und er treibt die ganze Bande ins Haus. Nur widerwillig folgen die Kinder.
In der Halle nimmt Katla sie in Empfang und führt sie in die Küche.
„Hast du auch Hunger?“, fragt Tomaz mich. Ich horche in mich hinein. Nein, um diese Zeit ist mein Körper nicht gewohnt, Essen zu bekommen. Also schüttele ich den Kopf.
„Wenn du Lust hast, dann kannst du mir helfen, die Getränke für heute Abend aus dem Keller zu holen.“ Ohne meine Antwort abzuwarten, geht er los. Schnell folge ich ihm.
Die Sonne nähert sich schon dem Horizont, als ich Dagurs Zimmer betrete. Egill und Jokull sind bei ihm. Ein undefinierbarer Blick von Dagur trifft mich, ehe er sich wieder den beiden zuwendet. Sie diskutieren über den kommenden Frühling und den geplanten Handel. Normalerweise würde ich mich beteiligen, doch heute fehlt mir die Ruhe, um mich mit kommenden Problemen auseinanderzusetzen. Außerdem hat Dagur mich nicht gerufen, um an dieser Besprechung teilzunehmen. Ich schenke mir ein Glas Wasser ein und gehe in das nebenan liegende Schlafzimmer.
Vom Fenster aus kann ich die beiden Schneeritter sehen. Den Kindern hat es Spaß gemacht – und – ich will an ihn nicht als Zahl denken, er braucht dringend einen Namen – auch.
Welcher Name würde zu ihm passen? Ich sehe sein lachendes Gesicht während der Schneeballschlacht vor mir, sein Interesse, während wir im Keller waren und er mich nach meiner Aufgabe befragt hat. Auch wenn ihm die Jahre in der Mine viel vorenthalten haben, einiges von ihm gefordert haben, scheint er neugierig. Bestimmt wird er schnell lernen und mehr wissen wollen als viele andere, denen die Mine nicht nur Lebenszeit, sondern auch Energie geraubt hat.
Seine schönen, grünen Augen betrachten die Welt neugierig und intensiv.
Wieder kratzt eine Erinnerung mit ihren scharfen Krallen durch meinen Gedanken, wie immer nicht greifbar, lockt sie mich hinter ihrem Schleier. Ich versuche sie zu erreichen, festzuhalten und zu erkennen, was sich im Nebel verbirgt, doch kaum konzentriere ich mich darauf, verschwindet sie, zerfließt zu grauem Nichts.
Elion. Kein Zweifel, der Name passt zu dem Jungen.
„Du hast dich mit 713 gut amüsiert.“ Eifersucht lässt Dagurs Stimme ätzend klingen. Ich hasse diese Diskussionen.
„Wir alle haben uns gut amüsiert. Die Kinder, 713 und ich“, entgegne ich ruhiger, als ich mich fühle. Dagurs ungerechtfertigte Verdächtigungen gehen mir an die Substanz.
„Er gefällt dir.“
„Ich mag ihn – genau wie Katla, Egill, Unnur oder Elvar.“ Vorsichtshalber drehe ich mich nicht um. Ich will nicht streiten.
„Die kennst du schon lange, den Kleinen erst wenige Tage. Mit ihnen arbeitest du zusammen, den Jungen brauchst du nicht zu beschäftigen.“ Dagur ist näher gekommen.
„Hör endlich auf!“, sage ich bestimmt. „Es gibt keinen Grund für deine verdammte Eifersucht. Wir haben mit den Kindern eine Schneeballschlacht gemacht, zwei Schneeritter gebaut und die Getränke aus dem Keller getragen.“
„Ich sehe doch, wie du ihn ansiehst“, zischt er in mein Ohr. „Du willst ihn.“
„Nein, ich will ihn nicht. Er ist nett und klug. Aber das heißt nicht, dass ich ihn in meinem Bett haben möchte. Mein Bett teile ich mit dir.“ Immer noch versuche ich ruhig zu bleiben, meinen Ärger herunterzuschlucken.
„Aber wie lange noch? Ich bin alt und er ist jung.“
Empört fahre ich herum. „Du hältst mich für oberflächlich, berechnend und notgeil. Ich denke, für heute hat es keinen Zweck, mit dir zu reden.“ Energisch schiebe ich mich an ihm vorbei. „Du behauptest mich zu lieben und denkst nur das Schlechteste von mir. Darauf kann ich wirklich verzichten!“ Mit schnellen Schritten gehe ich zur Tür. Wut kocht in meinen Adern. Niemals habe ich mit einem Mann geflirtet, geschweige denn mehr gemacht. Ich bin treu und ehrlich. Wenn ich ein geborener Lügner wäre, wie Dagur mir das vorwirft, dann hätte ich ihm schon längst meine Liebe gestanden. Doch ich weiß genau, dass er zu diesem Zeitpunkt nicht zugänglich für meine Argumentation ist.
„Tomaz!“
Ich drehe mich um und sehe ihn an. „Ich ziehe mich um und gehe zu dem Fest. Wir sehen uns später.“ Ohne ihn weiter zu beachten verlasse ich sein Zimmer. Zum Glück habe ich auch ein eigenes Zimmer im Haus. Zwar sind die meisten meiner Sachen bei Dagur, aber für heute wird es reichen.
Kaum habe ich die Tür hinter mir geschlossen, lasse ich mich auf das Bett fallen. Hier ist es kalt und die Luft abgestanden. Viele Nächte habe ich nicht mehr hier geschlafen. Dieses permanente Misstrauen zermürbt mich, treibt mich von Dagur fort. Doch das will er nicht sehen. Seufzend stehe ich auf und öffne das Fenster. Es hat wieder begonnen zu schneien. Dicke Flocken segeln langsam zu Boden, vereinen sich und weben einen Teppich, unter dem alles verschwindet. Noch gut drei Monate werden hier Schnee und Kälte regieren. Ich sehne mich schon jetzt nach Sonne und Wärme. Eisiger Wind strömt ins Zimmer, lässt mich schaudern. Wann war mir das letzte Mal wirklich warm? Wahrscheinlich in Dagurs Bett.
Schnell schließe ich das Fenster wieder, nehme ein frisches weißes Hemd aus dem Schrank und gehe zu dem kleinen Bad. Wlar kommt gerade heraus, mustert mich von oben bis unten. Ich weiß, er kann mich nicht leiden, also gönne ich ihm nicht mehr als ein Nicken, das er genauso knapp beantwortet.
In der Gemeinschaft gibt es einige, die unsere Verbindung ablehnen, jede gleichgeschlechtliche Verbindung. Nur Dagurs Stellung lässt sie schweigen. Sie wissen, dass sie die Gemeinschaft verlassen müssen, wenn sie offen ihre Meinung kundtun. Aber im Geheimen tuscheln und lästern sie über uns.
Vielleicht hätte ich ins Badehaus gehen sollen. Dort wäre es warm, gäbe heißes Wasser und duftende Öle. Allerdings auch viele Menschen, auf die ich noch keine Lust habe, also wasche ich mich mit dem kalten Wasser, das meine Sinne auf jeden Fall effektiv weckt. Einen Moment betrachte ich mein Spiegelbild. Die schwarzen Haare und die hellen Augen. Ich sollte mich rasieren, doch ich verzichte darauf. Die dunklen Schatten betonen meine hohen Wangenknochen.
Vor fünf Jahren war ich kahl geschoren wie Elion und ebenso abgemagert. Gerade genug zu essen, um Energie für die harte Arbeit zu haben, erhalten die Minenarbeiter. Arbeiten, essen und schlafen, für mehr darf ihre Kraft nicht reichen. Es sind zu viele, wenn sie beschließen würden sich gegen die Wärter aufzulehnen, hätten diese trotz ihrer Waffen kaum eine Chance.
An die Zeit vor der Mine kann ich mich nicht erinnern, an die Zeit in ihr zu gut. Oft schrecke ich nachts hoch und spüre die vertraute Angst. Furcht ist ein ständiger Begleiter unter der Erde. Die Wärter dürfen fast alles, außer einen Minensklaven grundlos töten. Aber was ist schon grundlos? Sie sind die Herren in den Stollen, dort unten mächtiger als der König, und gnadenloser.
Mühsam verbanne ich die Erinnerungen aus meinem Kopf, ziehe mich an und verlasse den Raum. Vor der Tür warten schon die Nächsten.
Bevor ich in den Saal gehen, suche ich Katla und finde sie in der Küche, wo sie die letzten Anweisungen gibt. Ganz in ihrem Element mit geröteten Wangen und glänzenden Augen. Von allen in der Gemeinschaft steht mir Katla am nächsten. Als sie mich sieht, strahlt sie und kommt herüber.
„Gut siehst du aus. Verwegen mit den Stoppeln im Gesicht.“ Sanft streichelt sie meine Wange.
„Bist du dir sicher, dass du allein in den Keller gehen willst? Soll ich nicht lieber mit dir gehen? Da ich mich mit Dagur gestritten habe, fällt es vielleicht gar nicht auf, wenn ich heute früher gehe.“
„Wegen des kleinen Grünauges?“ Katla kennt Dagur und seine Eifersucht. „Du weißt, dass seine Wut bald wieder verfliegt und er sich mit dir vertragen wird.“
„Ich weiß nicht, ob ich das will. Seine Eifersucht ist unerträglich. Er würde mich beschuldigen, selbst wenn ich mit Wlar reden würde.“
Katla lacht. „Nein, so weit geht nicht einmal Dagur. – Ich komme schon zurecht. Du bleibst schön auf dem Fest, damit unser Dieb keinen Verdacht schöpft.“
Gefallen muss mir diese Lösung nicht, aber ich nicke, wie sie es erwartet. „Versprich mir, auf dich aufzupassen.“
„Immer, mein Großer.“
Der Gedanke, dass Katla allein im Keller auf den Dieb wartet, gefällt mir nicht. Wenn es nun nicht ein, sondern zwei Diebe sind? Ich weiß, dass Katla sich verteidigen kann, aber in meinem Kopf spielen sich Szenarien ab, in denen sie überrumpelt und getötet wird.
Unruhig streife ich durch den Festsaal, der sich langsam füllt, unterhalte mich mit dem einen oder anderen und lasse meinen Blick über die Gesichter gleiten. Wer fehlt, wer wirkt nervös?
Das Grünauge, ich muss über Katlas treffende Bezeichnung lächeln, als er zusammen mit den drei anderen den Raum betritt. Seine grünen Augen scheinen in dem schmalen Gesicht zu leuchten. Ein wenig wie bei einer Katze. Elion, ich weiß, dass der Name zu ihm gehört.
Durch den inzwischen gut gefüllten Saal gehe ich auf die vier zu, stoppe nur kurz, als Dagur hinter ihnen in der Tür erscheint, straffe meine Schultern und gehe weiter. Ich werde mich von seiner verfluchten Eifersucht nicht davon abhalten lassen, mit Elion zu sprechen.
Unnur hat die vier vor mir erreicht und begrüßt sie fröhlich. Ich habe Unnur noch nie schlecht gelaunt oder mürrisch erlebt. Die vier sehen sie überfordert an.
Die Musiker haben angefangen zu spielen und laute Stimmen schwirren durch die Luft. Wissen sie, was Musik ist? Als ich sie das erste Mal hörte, tauchten Erinnerungen auf; Bänder, die im Wind tanzten, Lachen und das Gefühl von warmen Wind in meinem Gesicht. Doch wie alle Schatten der Vergangenheit ließen sie sich nicht halten.
Der Saal ist voll und laut. Alle reden und lachen, umspielt von einer lustigen Melodie. Musik. Wieder einmal weiß ich, was es ist, doch nicht woher. Bewusst habe ich noch nie das Spiel der Instrumente gehört und doch kann ich es benennen.
Hinter dem Schleier tanzen Menschen dazu. Frauen in schwingenden Röcken, Männer in ihren besten Anzügen. Ich kann es fast sehen, doch es liegt ein dicker Schleier darüber, den ich nicht lüften kann.
Unnur tritt zu uns, begrüßt uns fröhlich. Ihr herzförmiges Gesicht strahlt regelrecht. Hinter ihr sehe ich Tomaz, der ebenfalls auf uns zukommt. Die dunklen Schatten in seinem Gesicht lassen die eisblauen Augen noch mehr leuchten. Kurz stoppt er, sieht etwas hinter uns, dann geht er weiter, stellt sich neben Unnur. Ich senke den Blick, er verunsichert mich, seine Präsenz, seine Augen, die beunruhigend intensiv sind. Leise erwidere ich seine freundlichen Worte, vermeide ihn anzusehen und konzentriere mich auf Unnur. Sie hakt sich bei mir und 591 unter, zieht uns zum Büffet. Sprachlos bestaune ich das Essen, das den Tisch vollständig bedeckt. Mein Magen knurrt von dem verlockenden Duft. Unnur lacht, reicht mir einen Teller und beginnt ihn zu füllen. Als wir alle volle Teller in der Hand halten, schiebt sie uns zu den seitlich stehenden Tischen. Von hier kann ich den Saal überblicken. Dagur steht bei Tomaz, scheint auf ihn einzureden, seine Augenbrauen zusammengezogen. Ist er wütend auf Tomaz? Den scheint das nicht weiter zu kümmern. Nur seine blitzenden Augen zeigen seine Verärgerung, während sein Mund lächelt.
„Die Sonnenwende ist das letzte Fest des Zyklus“, sagt Unnur und ich wende mich ihr zu. „In den nächsten Monaten müssen wir von dem leben, was wir als Vorräte angelegt haben. Bis uns die ersten Händler erreichen, wird es Frühling. Der Schnee in den Bergen hält sich lange. In dieser Zeit sind wir abgeschnitten von der Welt. Der Weg durch den hohen Schnee ist beschwerlich und gefährlich. Eine schwierige Zeit und ich hoffe, dass wir genügend in den Kammern haben, um Hunger und den ihm folgenden Streit zu vermeiden. Es ist schon schwer genug, in der Enge der Burg friedlich miteinander zu leben.“ Für einen Moment verschwindet ihr Lächeln. „Letztes Jahr dauerte die Kälte sehr lange und ein Streit forderte zwei Tote.“
„Immerhin seid ihr hier über der Erde und seht den Himmel“, sagt 591 leise.
„Ja, doch leider vergessen viele, wie es war, bevor sie hierhergekommen sind. Hunger, Leid, die Bedrohung durch einen ungerechten König entschwinden ihren Köpfen und sie werden neidisch und missgünstig.“ Unnur seufzt, schüttelt den Kopf und zeigt uns wieder ihr strahlendes Lächeln. „Aber heute feiern wir, singen und teilen das Brot. Ein Tag, um fröhlich und ausgelassen zu sein.“
Mein Blick wandert zu Dagur und Tomaz, fröhlich sehen beide gerade nicht aus. Tomaz’ Lippen sind zusammengepresst und Dagur funkelt ihn wütend an. Erst als Katla zu ihnen tritt, erhellen sich ihre Mienen.
Der Saal füllt sich immer mehr. Die Laternen in den Girlanden erleuchten den Raum wie Sterne die Nacht. Das Essen ist gut, auch wenn ich nicht weiß, was es ist. Egill kommt und schenkt uns Wein aus einem Krug in die Becher, die auf dem Tisch stehen. Vorsichtig nippe ich daran. Bisher habe ich nur Wasser getrunken. Schwer und samtig gleitet der Wein über meine Zunge. Ich mag den Geschmack und nehme noch einen Schluck.
„Nicht zu hastig“, sagt Unnur und hält meinen Arm fest. „Der Wein steigt einem in den Kopf und lässt die Welt kopfstehen.“
Wäre das wirklich schlimm? Meine Welt steht schon kopf, seit wir bei der Gemeinschaft sind. Ich nippe an dem Becher, lasse den Wein in meinem Mund und spüre seinem Geschmack nach.
Mit einem Mal verändert sich die Musik. Bisher begleitete sie die Gespräche, umspielte sie und blieb im Hintergrund, jetzt wird sie laut und fordernd. Die Fläche in der Mitte des Raumes leert sich. Einige Frauen bilden einen Kreis, beginnen zu tanzen, Männer stellen sich in einem größeren Kreis um sie herum auf und tanzen in die entgegengesetzte Richtung. Plötzlich bleiben alle stehen, die Frauen drehen sich um, legen dem vor ihnen stehenden Mann die Arme um den Nacken und sie tanzen als Paare weiter. Ihre stampfenden Schritte folgen dem schnellen Rhythmus der Musik.
Ich trinke noch ein wenig von dem Wein, spüre, wie er meinen Kopf leichter macht. Mein Fuß wippt im Takt der immer schneller werdenden Musik. Jemand setzt sich neben mich und ich brauche einen Augenblick, ehe ich ihm meinen Kopf zudrehe. Tomaz.
„Ich weiß, dass gehört sich nicht unbedingt, ihr sollt euch erst eingewöhnen und dann einen Menschen, der euch sympathisch ist, fragen, ob er euch bei der Namensfindung hilft, aber wenn ich dich ansehe, weiß ich, dass es nur einen Namen für dich gibt: Elion.“
Verblüfft starre ich ihn an. Elion?
Tomaz lächelt etwas unsicher. „Vielleicht hätte ich dich damit nicht überfallen sollen.“
Elion. Ich schließe meine Augen. Elion. Schmecke, wiege und taste den Namen in meinen Kopf ab. E L I O N. Ohne zu begreifen, warum, weiß ich, er passt. Elion. Ja, er gefällt mir.
„Wenn er dir nicht gefällt, dann suchen wir einen anderen“, sagt Tomaz leise in meine Gedanken. „Oder du fragst jemanden anderes.“
„Nein! Er gefällt mir.“ Ich öffne die Augen und sehe Tomaz an. „Er fühlt sich gut an, richtig.“
Tomaz strahlt mich an. „Schön, dann gehört er dir.“
Erst jetzt sehe ich Unnurs beunruhigten Blick und folge ihm. Dagur betrachtet uns und seine Augen scheinen Blitze in meine Richtung zu schießen. Ein Schauer überläuft mich, der Tomaz nicht entgeht. Er sieht Dagur an und seine Augenbrauen ziehen sich zusammen. Energisch steht er vom Tisch auf.
„Es ist dein Name, ab heute werde ich dich nur noch Elion nennen.“ Mit einem kurzen Lächeln zu mir dreht er sich um und geht zu Dagur.
„Ein guter Rat, halt dich erst einmal von Tomaz fern. Dagur duldet keine Rivalen.“
Erstaunt blicke ich Unnur an.
„Na ja, er betrachtet Tomaz als sein Eigentum und mag es nicht, wenn andere sich daran vergreifen“, erklärt sie mit einem bedauernden Schulterzucken. „Ich weiß, Tomaz sieht das anders, aber versuch lieber nicht bei Dagur in Ungnade zu fallen.“
„Aber … ich …“ Das überforderte mich. Warum sollte Dagur sich von mir unbedeutenden ehemaligen Minensklaven bedroht fühlen?
Wieder sehe ich zu Dagur und begegne unvermutet seinem Blick. Der eisige Ausdruck seiner Augen jagt mir einen Schauer über den Rücken. Vielleicht hat Unnur recht. Ich senke den Blick und sehe in mein Weinglas.
Elion. Egal wie böse Dagur mich ansieht, ich habe von Tomaz einen Namen bekommen und bin keine Nummer mehr. Nie wieder 713, nur noch Elion. Ein Hochgefühl breitet sich in meinem Bauch aus. Elion. Der Name gehört ab jetzt mir allein.
Je später es wird, desto lauter wird die Musik. Die Menschen um mich herum lachen und feiern. Ich fühle mich fremd, nicht dazugehörig. Dagur scheint sich wieder mit Tomaz versöhnt zu haben, er hat seinen Arm um ihn gelegt und flüstert ihm leise ins Ohr. Tomaz lacht und ich weiß nicht, warum mir das auf den Magen schlägt. Mein Kopf brummt und ich brauche ein wenig frische Luft.
In der Halle hört man den Lärm etwas gedämpfter und ich atme tief ein. Ein Moment im Hof wird mir guttun. Langsam schlendere ich durch die Halle, betrachte einen alten, zerschlissenen Wandteppich. Verschnörkelte Muster winden sich über das Gewebe. Auf einmal geht ein paar Schritte vor mir die Kellertür auf und ein Mann stürzt heraus. Instinktiv weiche ich in den Schatten einer Nische zurück. Hektisch blickt er sich um und in der schwachen Beleuchtung der Öllampen sehe ich, dass er ein Messer in den Händen hält. Mühsam unterdrücke ich ein Geräusch, presse mich tiefer ins Dunkel. Mit einem Blick über seine Schulter drückt er die Tür zu und rennt die Treppe nach oben. Seine Schritte verhallen und ich bleibe mit klopfendem Herzen zurück.
Nach einer Weile löse ich mich aus der Nische und gehe zu der Kellertür. Was wollte der Mann dort und warum hatte er ein Messer in der Hand? Mit zitternden Fingern drücke ich die Klinke und steige die steile Stufen hinab. Eine Kerze liegt umgekippt auf dem Boden, in ihrem Schein sehe ich jemand danebenliegen. Schnell laufe ich hin und beuge mich über den Körper. Katla! Ich drehe sie auf den Rücken und spüre eine warme Flüssigkeit zwischen meinen Fingern. Schnell richte ich die Kerze auf und betrachte die Frau. Ihr Gesicht ist erschreckend blass, sie scheint nicht bei Bewusstsein und an meiner Hand sehe ich Blut.
„Katla“, flüstere ich leise, doch bekomme keine Reaktion. Sie braucht Hilfe, einen Arzt. Ich ziehe meine Weste aus, lege sie ihr unter den Kopf, damit sie nicht auf dem kalten Boden liegt und laufe schnell nach oben in den Saal.
Tomaz steht neben Dagur und ich renne zu ihnen, schubse die im Wege Stehenden zur Seite.
„Katla“, keuche ich, als ich sie erreiche. „Im Keller … da ist überall Blut.“
Dagur schaut mich überrascht an, doch Tomaz reagiert sofort, schiebt mich zur Seite und läuft los.
„Wir brauchen einen Arzt“, sage ich zu Dagur und jetzt kommt auch Leben in ihn. Er drängt sich an mir vorbei und packt einen Mann an den Schultern. Nach ein paar geflüsterten Worten zieht er ihn mit sich. Ich laufe ihnen nach.
Unten kniet Tomaz neben Katla, hält ihren Kopf auf seinem Schoss. Der Mann, den ich bisher nicht kenne, hockt neben ihr und öffnet ihre Kleider.
„Ich brauche meine Tasche“, sagt er bestimmt und Tomaz sieht Dagur an.
„Ich hole sie“, entgegnet dieser rau und läuft an mir vorbei.
„Wer war das?“, fragt Tomaz leise und es dauert einen Moment, ehe ich begreife, dass die Frage mir gilt.
„Ich weiß es nicht. Ein Mann kam aus dem Keller und hatte ein Messer in der Hand. Er ist die Treppe hinaufgelaufen.“ Hilflos sehe ich auf die drei.
„Hast du sein Gesicht gesehen?“
Ich nicke nur.
Katla stöhnt leise und Tomaz beugt sich tiefer über sie. „Alles wird gut. Bleib einfach still liegen, kleine Schwester. Janusch ist hier, er wird sich um dich kümmern.“ Seine Stimme klingt sanft und zärtlich. Behutsam streicht er eine Strähne aus ihrem Gesicht.
Dagur kommt wieder und reicht dem Arzt, Janusch, eine Tasche. Sofort öffnet dieser sie und sucht zusammen, was er braucht.
„Wir müssen sie in mein Zimmer bringen. Ich verbinde die Wunde provisorisch und dann tragen wir sie vorsichtig hoch.“ Seine Stimme wirkt beruhigend selbstsicher.
Wenig später hebt Tomaz Katla auf seine Arme. Ihr Kopf fällt gegen seine Schulter. Vorsichtig, als wäre sie eine zerbrechliche Last, trägt er sie an mir vorbei. Dagur und Janusch folgen ihm. Ich fühle mich ein wenig überflüssig. Auf dem Boden glänzt das Blut in einer großen Pfütze. Was ist hier bloß geschehen?
Katla liegt wie eine Puppe in meinen Armen. Ich kann den metallischen Geruch ihres Blutes riechen, das ihre Kleider verfärbt hat. Sie darf nicht sterben! Die Angst lässt mein Herz heftig schlagen.
Vorsichtig lege ich sie auf das Bett, sofort schiebt Janusch mich zur Seite und nimmt den Verband von der Wunde. In ihrem Bauch klafft ein breiter Schnitt, aus dem Blut austritt.
„Hol Caja“, sagt Janusch zu mir.
Ich stehe widerwillig auf, doch ich weiß, er will mich aus dem Zimmer haben. Schnell gehe ich nach unten in den Saal, in dem immer noch die Musik spielt und die Menschen feiern. Caja tanzt mit Jokull und ich stelle mich den beiden in den Weg. Es ist nicht die Zeit für Rücksichtnahme.
„Caja, du musst mitkommen, Janusch braucht dich.“
„Jetzt?“
„Ja, sofort!“
Sie sieht in meinen Augen, dass etwas geschehen ist und stellt keine weiteren Fragen. Ich wäre auch nicht in der Lage, sie vernünftig zu beantworten, stattdessen nehme ich ihre Hand und ziehe sie hinter mir her.
Auf mein Klopfen öffnet Janusch die Tür einen Spalt. Kaum sieht er Caja, zieht er sie in den Raum.
„Du nicht!“ Sanft legt er mir die Hand auf die Brust. Widerwillig trete ich einen Schritt zurück. Dagur zieht mich in seine Arme.
„Er weiß, was er tut. Wenn Katla einer helfen kann, dann Janusch“, sagt er leise zu mir. Ich weiß, er hat recht, doch das ändert nichts an meinem Gefühl der Hilflosigkeit und der Selbstvorwürfe. Niemals hätte ich zu lassen dürfen, dass Katla allein in dem Keller auf den Dieb wartet.
„Wir sollten – hinuntergehen. Ich will nicht, dass die anderen merken, was hier vor sich geht.“ Dagur sieht mich an.
„Geh du, ich bleibe hier!“ Keinen Schritt werde ich mich wegbewegen, ehe ich weiß, dass es Katla gut geht.
„Du kannst ihr nicht helfen.“
„Nein, vielleicht nicht, aber ich kann auch nicht feiern gehen und tun, als ob nichts geschehen wäre.“ Ich löse mich aus seinem Arm. „Geh du ruhig. Wenn einer fragt, dann sag ihm, ich hätte zu viel getrunken – oder wir hätten uns gestritten.“
Ernst sieht Dagur mich an, dann nickt er. „Ich komme später wieder.“
Wenig später bin ich allein in dem Flur, setze mich auf den Boden und starre die Tür an. In meinem Kopf herrscht Chaos. Wer war der Verräter? Wer hatte versucht, Katla zu töten?
Jemand setzt sich neben mich und ich hebe den Kopf. Elion sitzt neben mir.
„Wie geht es ihr?“, fragt er leise.
„Ich weiß es nicht, Janusch ist bei ihr.“ Katla darf nichts passieren! Sie darf nicht sterben!
„Du hast sie gern.“ Keine Frage, eine Feststellung, darum spare ich mir eine Antwort.
„Du hast ihn gesehen“, sage ich stattdessen.
Elion nickt.
„Kanntest du ihn?“
Er schüttelt den Kopf. „Ich habe ihn hier noch nicht gesehen.“
„Aber du würdest ihn wiedererkennen?“
„Ja.“
„Hat er dich gesehen?“
Heftig schüttelt Elion den Kopf und wird rot.
„Ich wusste nicht, was geschehen war und ich … hatte Angst.“ Er knetet seine Hände.
„Du hast alles richtig gemacht. Du hast Katla gefunden und schnell reagiert. Ohne dich wäre sie vielleicht tot.“ Ich lege ihm die Hand auf den Arm und er zuckt zusammen. „Du musst keine Angst vor mir haben.“
„Nicht vor dir“, flüstert er und blickt schnell den Gang entlang.
„Sondern?“
„Unnur sagt, ich soll mich von dir fernhalten. Dagur würde … nicht wollen …“ Mit großen Augen sieht er mich an.
„Du brauchst keine Angst zu haben. Dagur tut dir nichts. Das verspreche ich dir.“ Und ich meine es. Oft genug hat Dagur mit seiner Eifersucht mein Leben beeinflusst und ich habe keine Lust mehr dazu. „Wenn du willst, werde ich dein Pate und kümmere mich um dich.“ Das ist etwas, was auch Dagur respektieren muss.
„Und wird er mich dann nicht hassen?“
„Er wird dich in Ruhe lassen.“ Aufmunternd lächele ich ihm zu. „Die erste Zeit außerhalb der Minen ist schwer. Du musst dich an vieles erst gewöhnen, einiges erst lernen und dich in die Gemeinschaft einfügen. Darum bekommt jeder einen Paten. Jemanden, der alle Fragen beantwortet und dir zur Seite steht. – Für mich war das Katla.“ Angst bohrt sich wie eine Spitze in mein Herz.
„Ich würde mich freuen, wenn du mein Pate wärst.“
Weiß Elion überhaupt, wie sich Freude anfühlt – oder Glück? Vorhin im Schnee hat er gelacht und sah gelöst aus. Vielleicht war es für ihn das erste Mal, dass er etwas wie Freude empfunden hat.
In meiner ersten Zeit hatte ich oft Angst. Alles war fremd, neu und beängstigend. Es gab viele Dinge, die ich nicht kannte oder verstand.
„Dann mach dir keine Sorgen. Ich kümmere mich um dich.“
Eine Weile sitzen wir schweigend nebeneinander. Von unten dringt leise die Musik zu uns hoch. Irrational bin ich wütend darüber, dass die anderen feiern, während Janusch um Katlas Leben kämpft. Wie ein Mantra wiederhole ich in meinem Kopf: Katla darf nicht sterben.
Endlich öffnet sich die Tür und Janusch tritt erschöpft in den Flur. Sofort springe ich auf. Sein Hemd ist voller Blutspritzer und ich habe das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen.
„Sie lebt, aber ob sie diese Nacht überleben wird, vermag ich nicht zu sagen.“ Bedauernd schüttelt Janusch seinen Kopf. „Caja und ich werden bei ihr bleiben. Sie braucht jetzt viel Ruhe.“
„Darf ich sie sehen?“ Ich muss mit eigenen Augen sehen, dass sie lebt.
Für einen Moment befürchte ich, dass Janusch den Kopf schüttelt, doch dann öffnet er die Tür und lässt mich eintreten.
Bleich und still liegt Katla mit geschlossenen Augen im Bett. Mein Herz krampft sich bei diesem Anblick zusammen.
Caja sitzt neben dem Bett und sieht ebenso mitgenommen aus wie Janusch.
„Wer war das?“, fragt sie leise.
„Ich weiß es nicht – noch nicht“, entgegne ich mit einem Kopfschütteln. Vorsichtig nehme ich Katlas Hand in meine. Sie ist ganz kalt. Neben tiefem Schmerz überkommt mich brennend heiße Wut. Wer immer dafür verantwortlich ist, wird dafür bezahlen.
„Sie braucht jetzt Ruhe, Tomaz. Komm morgen früh wieder.“ Janusch berührt mich sacht an der Schulter.
Ich nicke, doch es dauert einen Augenblick, ehe ich mich losreißen kann.
„Pass gut auf sie auf“, sage ich und verlasse das Zimmer.
Elion sitzt noch immer auf dem Boden und sieht mich besorgt an. Ich versuche ein Lächeln, spüre jedoch, dass es mehr einer Grimasse ähnelt.
„Wie geht es ihr?“
Erschrocken drehe ich den Kopf und sehe Dagur, der mich fragend ansieht.
„Nicht gut. Janusch kann nicht sagen, ob sie die Nacht überlebt.“ Dies auszusprechen macht es noch reeller. Mühsam schlucke ich die Tränen hinunter.
„Was will er hier?“ Mit einem Nicken deutet er auf Elion, der sofort den Kopf einzieht.
„Lass ihn in Ruhe“, sage ich schärfer als beabsichtigt. „Er macht sich Sorgen. – Außerdem bin ich ab heute sein Pate. Ich werde mich um ihn kümmern, also gewöhn dich an ihn.“ Entschlossen funkele ich ihn an, sehe, dass ihm das nicht gefällt.
„Warum er?“
„Warum nicht? Jeder braucht einen Paten und es wird Zeit, dass ich diese Pflicht übernehme.“
Missmutig zuckt Dagur mit den Schultern. „Wenn du meinst.“
Ich werde das Thema vor Elion nicht vertiefen, aber später werde ich Dagur sagen, dass er den Jungen in Ruhe zu lassen hat. Seine grundlose Eifersucht werde ich nicht länger dulden.
„Komm“, sage ich zu Elion und nicke ihm zu. „Ich bringe dich in dein Zimmer.“
Langsam erhebt er sich, wobei er Dagur im Blick behält. Ich weiß, wie bedrohlich der graue Blick wirken kann, gerade wenn man bisher nicht die besten Erfahrungen mit Menschen gemacht hat.
„Wir sehen uns später“, sage ich zu Dagur und gehe den langen Gang hinunter. Elion folgt mir schnell.
„Wirst du Ärger bekommen?“ Unsicher und ängstlich sieht Elion mich an. Wir stehen vor seinem Zimmer. „Wird er … etwas von dir fordern?“
Beruhigend lächele ich ihn an. „Nein. Dagur ist kein schlechter Mensch. Er würde nie etwas von mir verlangen, was ich ihm nicht freiwillig gebe.“
Ich kann praktisch sehen, wie es in seinem Kopf arbeitet. Als Minensklave kennt man kein Verlangen, keinen einvernehmlichen Sex oder gar Liebe. Die Welt unter der Erde besteht aus Gewalt, Schmerz und Erniedrigung – niemals aus freiwilligem Geben. Die Wärter nehmen ihren Gefangenen die Freiheit, ihre Namen und ihre Würde. Zurück bleiben Verzweiflung und Furcht.
„Die Welt hier draußen ist anders, Elion. Keiner wird von dir etwas verlangen, was du nicht tun willst.“
Deutlich sehe ich seinen Zweifel.
„Morgen früh, beim Essen, siehst du dir die Männer genau an. Wenn du den siehst, der gestern aus dem Keller kam, dann sagst du es mir. Nur mir. Um alles andere kümmere ich mich.“
Elion schluckt schwer und nickt.
Ehe ich noch etwas sagen kann, höre ich ein leises Mauzen. Neben uns ist Kimmi, der schwarze Kater, aufgetaucht. Schnurrend streicht er um unsere Beine.
Ich gehe in die Hocke und streichele sein weiches Fell.
„Gehört er dir?“, fragt Elion unsicher.
„Nein. Kimmi gehört niemandem. Vor zwei Wintern habe ich ihn zwischen seinen erfrorenen Geschwistern gefunden. Seitdem streift er durch das Haus.“ Sanft kraule ich den Kater hinter dem Ohr.
„Er ist gestern zu mir ins Zimmer gekommen. – Darf ich ihn einlassen?“
„Sicher. Kimmi sucht sich denjenigen aus, dem er seine Zuneigung schenkt.“ Ich sehe hoch, direkt in die funkelnden Augen, und lächele. „Wenn er dich wärmen will, dann lass ihn.“
Elion lächelt zurück und das gefällt mir. Ich muss versuchen, ihn öfter zum Lächeln oder Lachen zu bringen. Er muss lernen, dass das Leben nicht nur grausam und hart ist.
Wenig später betrete ich Dagurs Zimmer. Er ist noch nicht da und ich lege mich angezogen auf das Bett. Schlafen kann ich sowieso nicht, meine Gedanken sind bei Katla. Angst, Verzweiflung und Wut wechseln sich ab.
Offenbar bin ich darüber doch eingeschlafen, denn ich schrecke hoch, als Dagur die Tür öffnet. Beruhigend lächelt er mich an.
„Ich war noch schnell bei Janusch, er ist vorsichtig optimistisch.“ Er kommt zu mir, setzt sich auf das Bett und streichelt mir zärtlich durch das Gesicht. „Katla ist stark. Sie wird das schaffen.“
Alle Emotionen, die sich aufgestaut haben, seit ich Katla in ihrem Blut liegen sah, kommen an die Oberfläche, durchbrechen die mühsam aufrecht gehaltene Fassade. Ich schlinge meine Arme um seinen Hals und lasse die Tränen laufen. Dagur hält mich fest, murmelt leise tröstende, sinnlose Worte in mein Ohr. Katla ist meine Familie, mehr als jeder andere, mehr als sogar Dagur. Vom ersten Moment in der Gemeinschaft war sie für mich da. Ich darf sie nicht verlieren!
Sanft küsst Dagur meine Schläfe, folgt meiner Kinnlinie und landet schließlich auf meinem Mund. Zögernd erwidere ich den Kuss, nicht sicher, ob ich das jetzt will. Doch als sich unsere Zungen berühren, verändert sich dieses Gefühl. Ich brauche das, brauche Dagur, brauche das Gefühl von Leben, das mir Trost spendet.
Der Kuss verändert sich, aus sanft wird fordernd. Ich will vergessen, will leben, will es schnell. Ungeduldig rolle ich mich über Dagur. Bereitwillig überlässt er mir die Führung. Schnell ziehe ich mein Hemd über den Kopf, streife die Hose ab und setze mich auf seine Oberschenkel. Seine grauen Augen betrachten mich funkelnd. Ich beuge mich vor, küsse ihn hart, reibe meinen Körper an ihm, spüre den rauen Stoff an meiner Haut. Mit fahrigen Fingern öffne ich die Hose, sofort kommt mir sein Glied hart und prall entgegen.
Ohne es zu beachten, nehme ich das Ölfläschchen vom Tisch und beginne mich selbst vorzubereiten. Dagur betrachtet mich schwer atmend, ich kann die Erregung in seinem Gesicht sehen, das Verlangen nach mir und irgendwie ist es genau das, was ich jetzt brauche.
Langsam lasse ich ihn in mich gleiten, während ich ihn ansehe. Er stöhnt, biegt den Rücken durch, kommt mir entgegen. Doch heute bestimme ich das Tempo und sobald er sich bewegt, höre ich auf, weiche zurück, bis er ergeben stillliegt. Erst dann bewege ich langsam kreisend mein Becken, betrachte seine wachsende Gier, spüre seinen Kampf um Zurückhaltung. Er will mich, will hart in mich stoßen und seine Lust befriedigen.
Hilflos stöhnt er meinen Namen, krallt sich in das Bettlaken, fleht um Erlösung. Einen Augenblick verharre ich, sehe ihm in die Augen, ehe ich ihm gebe, was er verlangt. Ich reite ihn hart, kralle meine Finger in den Westenstoff und lasse mich forttragen. Einen Moment Vergessen, einen Augenblick intensives Leben und für diese kurze Zeit losgelöst von allem.
Schweratmend komme ich langsam zurück. Dagurs Arme halten mich, streicheln beruhigend über meinen Rücken und ich rutsche neben ihn, versuche, das schwere und zeitgleich federleichte Gefühl zu bewahren, darüber einzuschlafen, ehe mich die Ereignisse des Tages wieder einholen.
Das hat jedoch wenig Erfolg. Dagurs gleichmäßiges Atmen zeigt mir, dass er schläft, während sich in meinem Kopf weiterhin dieselben Fragen drehen, auf die es keine befriedigende Antwort gibt. Wer ist der Dieb? Wie konnte ich Katla da unten allein lassen? Wird sie überleben? Und was, wenn sie stirbt …
Wieder schlüpft der Kater, Kimmi, unter meine Decke, rollt sich an meiner Seite zusammen. Eine verlorene Seele, wie ich und all die anderen Minensklaven, die in der Gemeinschaft aufgenommen wurden. Gerettet vor dem scheinbar unabänderlichen Schicksal.
Zusammen mit Kimmi, dem warmen Fell unter mir und den zwei Decken über mir, wird mir schnell warm. Durch den Schnee ist es vor dem Fenster fast taghell.
Der Tag mit all seinen Eindrücken geht mir durch den Kopf. Alles hier in der Gemeinschaft ist neu. Kuchen backen mit Katla, Saal schmücken mit Unnur, Schneeritter bauen mit Tomaz und die Wintersonnenwendefeier.
Ich denke an Katla. Sie ist fröhlich und freundlich, voller Leben. Warum hat der Mann sie niedergestochen? Was hat sie ihm getan?
Meine Gedanken wandern weiter zu Tomaz und ich muss lächeln, als ich an die Schneeballschlacht denke. Ich mag, wenn er lacht. Katla bedeutet ihm sehr viel und schon seinetwegen hoffe ich, dass sie nicht stirbt.
Ab heute ist Tomaz mein Pate, er gab mir meinen Namen und will sich auch zukünftig um mich kümmern. – Doch was wird Dagur dazu sagen? Ich weiß, dass ihm das nicht gefällt, auch wenn ich nicht verstehe warum. Ich nehme ihm doch Tomaz nicht weg.
Müde schließe ich die Augen, will nicht über Dagur nachdenken. Lieber denke ich an die Schneeritter, die Kinder und unser Lachen …
„Komm her, kleine Kröte, ich wasch dein dreckiges Maul mit Schnee!“ – „Lass ihn in Ruhe, sonst füttere ich dich mit Schnee, bis du Eiswürfel pisst!“ – „Halt dich da raus! Das geht dich gar nichts an!“ – „Oh doch, das geht mich etwas an. Ihr lasst ihn zufrieden und alles ist gut – oder …“
Klopfen zerreißt die Traumfetzen, lässt sie verschwimmen, verschwinden. Nur das Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben, bleibt.
Wieder klopft es an die Tür. Ich rolle mich zum Unmut von Kimmi aus dem Bett und öffne die Tür. Tomaz steht davor. Er ist blass und sieht verdammt müde aus.
„Wie geht es Katla?“, frage ich statt einer Begrüßung besorgt.
„Janusch ist zufrieden, doch er will sich nicht festlegen. Auf jeden Fall stehen ihre Chancen besser als gestern“, antwortet Tomaz. „Ich wollte zum Frühstück gehen und fragen, ob du mitkommen willst.“
„Ja, ich würde mich nur gern waschen“, entgegne ich und Tomaz lächelt leicht.
„Ich warte einfach.“ Und schwer lässt er sich auf mein Bett fallen.
Schnell krame ich meine Sachen zusammen und gehe. Das Bad ist leer und schnell wasche ich mich. Wie schön, sich jeden Tag mit frischem Wasser waschen zu können. Auch wenn ich friere, genieße ich diesen Luxus.
Wenig später betrete ich wieder mein Zimmer. Tomaz liegt auf meinem Bett und schläft. Kimmi sitzt auf seiner Brust und schnurrt leise. Soll ich ihn wecken? Er sieht entspannt und friedlich aus. Ein wenig Schlaf wird ihm guttun und ich setze mich auf den Stuhl und betrachte ihn. Sein schwarzes Haar ist verstrubbelt und weckt in mir den verstörenden Wunsch, eine Strähne von seiner Stirn zu streichen.
Soll ich ihn wecken? Wir sollten zum Frühstück gehen, doch er schläft so friedlich – und es sieht auch, als brauche er den Schlaf. Nur noch einen kleinen Moment …
Die Sonne geht über den Bergen auf, färbte den Schnee auf den Bergspitzen rosig. Ich stehe auf und lege meine Hand vorsichtig auf Tomaz’ Bauch, der sich sanft unter meiner Hand hebt und senkt. Ich kann seine Atmung spüren, ein schönes Gefühl. Nur ungern wecke ich ihn auf, doch wir müssen zum Frühstück. Vorsichtig streichele ich ihn.
„Tomaz?“
Ein leises Brummen ist die Antwort.
„Tomaz, du musst aufwachen.“
Er schlägt die Augen auf, sieht mich verwirrt an, dann lächelt er verschlafen und in meinem Bauch kribbelt es merkwürdig.
„Bin wohl eingeschlafen“, sagt er und streicht durch sein Gesicht. „Tut mir leid.“
„Muss es nicht“, entgegne ich sofort. „Du sahst aus, als brauchtest du deinen Schlaf.“
Er grinst schief. „Die Nacht war anstrengend.“
Ich nicke nur.
Tomaz steht auf und strecke sich. „Lass uns gehen. – Und vergiss nicht, du sagst nichts. Lässt dir nichts anmerken.“
„Ich weiß, ich sage nur dir, wer es war.“
„Genau.“ Noch ein schiefes Grinsen und Tomaz geht vor mir aus dem Zimmer.
Der Raum ist voll, obwohl es schon spät ist. Ich versuche mich unauffällig umzusehen. Zuerst habe ich das Gefühl, gar kein Gesicht zu erkennen, während wir uns etwas zu essen holen. Alle sehen gleich aus. Aufregung lässt das Herz in meinem Hals pochen. Wir setzen uns zu 802, der vor seinem Teller sitzt und das Essen anstarrt.
Als er mich sieht, lächelt er schwach.
„Geht es dir nicht gut?“, frage ich und sehe ihn besorgt an.
„Doch … ich meine, es geht mir gut. Ich habe gestern von dem Wein probiert“, antwortet er und hält seinen Kopf.
Tomaz lacht leise. „Ja, wenn man ihn das erste Mal probiert, sollte man vorsichtig sein.“
„Das hättest du mir früher sagen sollen“, stöhnt 802.
Er ist immer noch eine Nummer, ich habe einen Namen: Elion. Freude durchfährt mich kurz – und gleich schäme ich mich dafür.
Schnell versuche ich mich auf die Männer im Saal zu konzentrieren, während Tomaz sich mit 802 unterhält. Wenige kenne ich schon mit Namen. Egill, Wlar und Janusch. Meine Augen wandern über die Gesichter und ich versuche mich zu erinnern, was mir an dem Mann aufgefallen ist. Er war nicht besonders groß, aber stämmig. Seine Haare waren hell und kurz. Helle Haare sind selten. Jedes Gesicht sehe ich mir sorgfältig an, doch der Mann ist nicht dabei.
591 betritt den Raum und neben ihr geht er. Ich erkenne ihn sofort. Schnell blicke ich wieder auf den Milchbrei in meinem Teller. Sirup hat eine dunkle Spur darin gezogen.
Aus den Augenwinkeln beobachte ich, wie sich beide unterhalten. 591 lacht über etwas, das der Mann sagt. Sie nehmen ihre Teller und kommen zu uns herüber.
Wie soll ich Tomaz sagen, dass dies der Mann ist, der Katla niedergestochen hat?
Ich stupse ihn mit meinem Knie an und Tomaz dreht sich zu mir um, doch schon nehmen die beiden uns gegenüber Platz. Ich spüre, wie meine Wangen heiß werden. Tomaz sieht mich prüfend an und ich versuche ihm mit den Augen zu sagen, wer sich dort hingesetzt hat.
„Guten Morgen. Ich bin Halvor“, sagt der blonde Mann zu mir und 802. „Guten Morgen, Tomaz.“
„Guten Morgen, Halvor.“ Tomaz nickt ihm zu und ich murmele leise einen Morgengruß.
„Halvor wird mein Pate“, sagt 591 aufgeregt und lächelt. Mein Magen zieht sich zusammen. Warum muss sie sich ausgerechnet den Mann aussuchen, der Katla niedergestochen hat?
Ich schiebe meine Schale weg, mir ist der Appetit vergangen. Tomaz wirft mir einen fragenden Blick zu, den ich jetzt jedoch nicht beantworten kann.
„Ich brauche … Luft“, sagte ich und stehe auf. Ohne die anderen weiter zu beachten, nehme ich meine Schale und gehe.
Wenig später stehe ich auf dem Hof. Über Nacht ist wieder Schnee gefallen und bis auf wenige Fußspuren ist das Weiß unberührt. Die Sonne scheint in mein Gesicht und ich schließe die Augen. Auch wenn es kalt ist, ist dieses Gefühl wundervoll. Frische Luft, Sonne, Freiheit … vor wenigen Tagen noch unvorstellbar.
„Was ist passiert, Elion?“
Ich drehe den Kopf, öffne widerwillig die Augen und sehe Tomaz an.
„Halvor kam gestern aus dem Keller“, sage ich leise. Tomaz zieht scharf die Luft ein. Ich kann die aufflammende Wut in seinem Gesicht sehen. Seine Augen funkeln eisig und sein Mund wird ganz schmal. Hoffentlich wird er niemals auf mich wütend.
„Danke, Elion“, sagt er nach einem Moment des Schweigens, legt seine Hand kurz auf meine Schulter und geht wieder hinein. Ich möchte jetzt nicht in Halvors Haut stecken.
Halvor! Im letzten Sommer kam er zusammen mit zwei anderen desertierten Soldaten zu uns. Zerlumpt und fast verhungert griff eine Patrouille sie in den Bergen auf. Sie erzählten davon, wie sie vor der sinnlosen Gewalt des Königs geflohen waren. Das Morden und Plündern, das König Eskil als Bestrafung abtrünniger Dörfer oder Häuser deklarierte, konnten sie nicht mehr ertragen. Wie schon einige vor ihnen haben wir sie aufgenommen. War Halvor in Wahrheit ein Verräter? Oder war es schlicht Gier, die ihn zu den Diebstählen, die letztlich zu dem Anschlag auf Katlas Leben führten, trieb?
Schnellstens muss ich mit Dagur sprechen. Wir müssen Halvor zur Verantwortung ziehen.
In dem Speisesaal sitzt Halvor noch mit 591 und 802 zusammen. Inzwischen hat sich auch 659 zu ihnen gesellt. Dagur dagegen ist nicht anwesend. Ich stürme die Treppe hoch und in sein Zimmer. Er sitzt am Schreibtisch und betrachtet ein Schriftstück, das vor ihm auf dem Tisch liegt.
„Halvor hat Katla angegriffen“, platze ich heraus. Dagur hebt seinen Blick und sieht mich an. „Er ist der Dieb.“
„Woher weißt du das?“, fragt er mich ruhig.
„Von Elion. Er hat ihn gestern aus dem Keller kommen sehen.“ Ich stelle mich vor den Schreibtisch, verschränke die Arme vor der Brust.
„Elion? Dein kleiner Minensklave?“
„Hör auf! Hier geht es nicht um deine verfluchte, unbegründete Eifersucht. Halvor hat Katla angegriffen, er hat die Gemeinschaft bestohlen und wir müssen handeln.“ Nur mühsam unterdrücke ich meine aufkeimende Wut gegen Dagur. Wir haben keine Zeit, um uns zu streiten.
„Was hat der kleine … Elion denn gesehen?“
„Er sah Halvor mit einem Messer aus dem Keller kommen. Reicht dir das nicht?“ Ich verstehe Dagurs Gleichgültigkeit nicht.
Einen Augenblick sieht er in mein Gesicht, dann seufzt er. „Gut, dann werden wir mit ihm reden.“
„Reden? Was soll das? Er hat versucht Katla zu ermorden!“ Am liebsten würde ich auf ihn einschlagen. Katla ist auch seine Freundin, seine Vertraute, und er tut, als ob es hier um ein gestohlenes Stück Butter ging.
„Das werden wir feststellen. Wenn er tatsächlich schuldig ist, wird er bestraft.“ Dagur erhebt sich. „Ich kann ein Mitglied der Gemeinschaft nicht einfach verurteilen, weil ein Neuankömmling meint, ihn vielleicht gesehen zu haben. Unter Umständen hat er sich getäuscht und jemanden ganz anderes gesehen. – Oder er verbirgt seine eigene Schuld hinter diesen Vorwürfen.“
„Seine eigene Schuld?“ Mir fehlen die Worte und ich starre ihn an.
„Wir werden das klären. Ich lasse beide hierherbringen.“ Dagur geht an mir vorbei zur Tür.
Nach wenigen Augenblicken kommt er zurück. „Ich habe Egill gebeten die beiden zu holen. – Vielleicht ist es besser, du bist nicht bei der Befragung dabei.“
„Bist du verrückt?“ Wut schäumt durch meine Adern. „Ich werde mich nicht von dir wegschicken lassen. Ich will hören, was Halvor zu sagen hat. – Wie kommst du nur auf die verrückte Idee, Elion könnte etwas damit zu tun haben? Er ist erst seit zwei Tagen in der Gemeinschaft und die Diebstähle gehen schon seit Wochen.“
„Vielleicht hat der Angriff auf Katla nichts mit den Diebstählen zu tun. Wir müssen versuchen, objektiv zu bleiben.“
„Objektiv?“ Ich spucke das Wort fast aus. „Du bist nicht objektiv. Du kannst Elion nicht leiden und bist bereit, dich in verrückte Ideen zu verrennen, statt das Offensichtliche zu sehen.“
„Pass auf, was du sagst.“ Dagur funkelt mich an. „Überschreite keine Grenze. Ich bin das Oberhaupt der Gemeinschaft und handele im Interesse aller.“
Ein Klopfen an der Tür verhindert, dass ich unüberlegt antworte.
„Herein“, ruft Dagur und setzt sich auf seinen Stuhl. Ich trete an das Fenster und wende mich dem Raum zu. Egill tritt ein. Ihm folgen Halvor und Elion. Ich kann die Aufregung in Elions Blick sehen. Die Situation gefällt ihm nicht. Mir auch nicht.
„713. Erzähl mir, was du gestern gesehen hast“, sagt Dagur mit strenger Stimme. Elion zuckt zusammen. Auch wenn Elion noch nicht offiziell sein Name ist, könnte Dagur ihn trotzdem damit ansprechen.
„Als ich gestern Abend die Halle durchquerte …“, beginnt Elion leise.
„Wann war das?“, unterbricht Dagur ihn. Ich presse die Zähne zusammen, um meinen Mund zu halten.
„Ich weiß nicht genau. Während des Festes.“ Elion wirkt unsicher.
„Warum hast du das Fest verlassen?“, hakt Dagur nach.
„Es war mir zu laut.“
Dagur sieht ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Weiter.“
„Ich ging durch die Halle, als plötzlich die Kellertür aufging. Erschrocken trat ich zur Seite.“ Elion knetet seine Hände und vermeidet es Dagur anzusehen. „Ein Mann kam aus dem Keller, in der Hand hielt er ein Messer.“
Schnell sehe ich zu Halvor, seine Hände verkrampfen sich, auch wenn er versucht gleichmütig auszusehen.
„Der Mann sah sich um, schloss die Tür und lief schnell die Treppe nach oben.“
„Und du hast ihn erkannt?“ Dagur lehnt sich vor, fixiert Elion. Dieser nickt und wirft mir einen kurzen Blick zu. Ich nicke leicht.
„Ja, es war Halvor“, sagt er leise und zieht die Schultern hoch, als erwarte er Schläge. Mühsam unterdrücke ich eine Reaktion.
Halvor war bei den letzten Worten zusammengezuckt. Verschiedene Emotionen, Schock, Angst und Wut, huschen über sein Gesicht, ehe er es unter Kontrolle bekommt.
„Das ist nicht wahr! Ich sah ihn in der Halle“, ruft er empört und wendet sich an Dagur. „Er lügt! Ich sah ihn gestern in der Halle, er hielt ein Messer in der Hand. Unsere Blicke begegneten sich und er ist weggelaufen.“
„Das ist nicht wahr“, sagt Elion leise. „Nachdem ich ihn sah, ging ich in den Keller und fand Katla in ihrem Blut.“
„Katla? Ist ihr etwas zugestoßen?“ Halvor wandte sich an Elion. „Was hast du ihr getan? Willst du das jetzt mir in die Schuhe schieben?“ Einen Moment sah es aus, als wolle er sich auf Elion stürzen, dann drehte er sich zu Dagur um. „Du kennst mich, ich bin seit dem Sommer ein Mitglied der Gemeinschaft, warum sollte ich Katla etwas tun?“
Dagur sah von Halvor zu Elion.
„Weil du ein Dieb bist“, entfährt es mir. Alle drei sehen mich an. „Schon seit längerer Zeit verschwinden Vorräte aus dem Keller. Katla wollte den Dieb auf frischer Tat erwischen und war deshalb gestern in dem Keller.“
„Das ist eine Lüge! Ich habe noch niemals gestohlen! Warum sollte ich das tun?“ Halvor wendet sich wieder an Dagur. „Ihr habt mich aufgenommen, warum sollte ich euch bestehlen?“
„Eine gute Frage“, sage ich. „Warum bestiehlst du die Gemeinschaft?“
„Ich bin kein Dieb! Und kein Mörder! Ich weiß nicht, was ihr von mir wollt.“ In gespielter – oder angesichts der Lage auch echter – Verzweiflung greift Halvor sich an die Brust. „Er war mit dem Messer in der Halle.“
Elion schüttelt den Kopf. „Nein. Wenn ich es war, warum sollte ich Hilfe für Katla holen?“
„Vielleicht wolltest du sie nicht töten? Vielleicht hattest du ein schlechtes Gewissen? Was weiß ich. Ich weiß nur, dass ich nicht im Keller war.“ Jetzt wendet sich Halvor direkt an Elion. „Du hattest das Messer in der Hand!“
Wieder bewegt Elion seinen Kopf verneinend.
„Eine schwierige Situation“, sagt Dagur.
„Nein! Eine eindeutige Situation!“ Ich löse mich von dem Fenster und trete näher. Sehr wohl spüre ich, dass Dagur wütend auf mich ist, doch das interessiert mich jetzt nicht. „Elion hat keinen Grund, Katla anzugreifen, du schon. Diebstahl wird in der Gemeinschaft bestraft. Schlimmstenfalls mit Verbannung. Was immer deine Motivation zu den Diebstählen war, ist dies ein sehr guter Grund, Katla zu töten.“
„Ich habe nicht gestohlen!“ Halvor begegnet meinem Blick. Krampfhaft versucht er mir offen in die Augen zu sehen. Winzig kleine Schweißperlen stehen auf seiner Stirn.
„Egill, geh in das Zimmer von Halvor und hole sein Messer. Sieh dich um, ob du etwas findest, was auf die verschwundenen Vorräte hindeutet.“
Egill wirft Dagur einen Blick zu und dieser nickt missmutig.
„Dagur, du kennst mich“, sagt Halvor. „Ich habe mit euch gekämpft, gejagt und in den Minen gearbeitet. Warum sollte ich die Gemeinschaft, meine Familie bestehlen? Warum Katla, die mir eine Freundin ist, verletzten oder gar töten?“
„Wenn du es nicht warst, dann hast du nichts zu befürchten“, sagt Dagur ruhig. „Wer immer Katla angegriffen hat, wird dafür bezahlen.“ Damit wirft er Elion einen finsteren Blick zu. Ich verbiete mir, dazu etwas zu sagen.
In unangenehmen Schweigen warten wir auf Egills Rückkehr. Deutlich ist zu sehen, dass Elion die Situation unangenehm ist.
Zäh vergeht die Zeit, bis Egill endlich wieder das Zimmer betritt. In seinen Händen hält er ein Messer, das in einer ledernen Scheide steckt. Ohne ein Wort zu sagen, reicht er es Dagur. Dieser zieht die Klinge heraus und betrachtet sie. Die Schneide ist sauber, doch wer würde seine Waffe schon blutig aufbewahren?
„Hast du sonst etwas gefunden?“, fragt Dagur.
„Nein, in der Kammer ist nichts.“ Egill will an seinen Platz neben der Tür zurückkehren.
„Geh in die Kammer von 713 und hole sein Messer“, weist ihn Dagur an. Mit einem Nicken kommt er der Aufforderung nach. Erneut warten wir schweigend. Nervös knetet Elion seine Hände. Ich bin mir sicher, dass er nichts getan hat, doch ich weiß auch, wie Dagur diese Geste auffassen wird.
Nach einer gefühlten Ewigkeit betritt Egill das Zimmer und reicht Dagur ein Messer. Die Klinge ist länger und schmaler als die von Halvors Messer, jedoch ebenso sauber.
„Das bringt uns nicht weiter“, sagt Dagur ungeduldig.
„Doch“, entgegne ich und wende mich Egill zu. „Bitte hol Janusch zu uns.“ Diesmal geht er los, ohne sich Dagurs Erlaubnis einzuholen.
Dagur wirft mir einen fragenden Blick zu, doch ich bin nicht bereit, jetzt etwas dazu zu sagen. Viel zu sehr ärgert mich, dass er in seiner Verbohrtheit nicht erkennt, dass Elion keinen Grund hatte, Katla anzugreifen.
Relativ schnell kehrt Egill mit Janusch zurück. Fragend sieht der Arzt von einem zum anderen. Da Dagur schweigt, ergreife ich das Wort.
„Du hast Katlas Wunden untersucht. Kannst du uns sagen, von welcher dieser Klingen sie verursacht worden sind?“ Ich reiche ihm beide Messer.
Prüfend sieht er sich genau beide Waffen an. Vergleicht ihre Länge, die Breite ihrer Schneiden und ihre Spitzen. Dagur schnauft ungeduldig, während neue Schweißperlen auf Halvors Stirn auftauchen. Elions Blick hängt gebannt auf Januschs Fingern. Sanft streichelt er die Klingen, dann sieht er auf.
„Dieses Messer ist zu schmal, um die Wunden verursacht zu haben“, sagt er bestimmt und legt Elions Waffe auf den Tisch. „Diese hier könnte es gewesen sein, aber sicher kann ich das natürlich nicht sagen.“
„Das ist eine Lüge! Ein abgekartetes Spiel!“, schreit Halvor. „Dagur, lass dich nicht täuschen, ich bin kein Mörder!“
„Katla ist nicht tot“, sagt Janusch ruhig. „Es geht ihr besser und ich denke, dass sie in absehbarer Zeit aufwacht, dann kann sie uns bestimmt sagen, wer sie angegriffen hat.“
Dagur nickt. „So lange werdet ihr beide eingesperrt.“
„Das ist nicht fair“, entkommt es mir. „Es gibt keinen einzigen Hinweis auf Elion als Täter. Durch seine schnelle Hilfe hat sie eine Chance zu überleben.“
Wütend blitzt mich Dagur an.
„Er hat recht“, sagt Egill. „Sein Messer kommt als Tatwaffe nicht infrage.“
Dagurs Kiefer mahlen, dann nickt er. „Sperr Halvor ein. Wir sprechen uns wieder, wenn Katla uns sagen kann, was geschehen ist.“ Mit diesen Worten dreht er sich zum Fenster um. Die klare Aufforderung, ihn allein zu lassen.
Egill legt Halvor eine Hand auf die Schulter und nimmt ihn mit. Mit einer Kopfbewegung gebe ich Elion zu verstehen, mir aus dem Raum zu folgen.
„Ich habe nichts getan“, flüstert er, nachdem die Tür hinter uns ins Schloss gefallen ist.
„Nein, ich weiß.“
„Warum verdächtigt er mich dann?“ Unglücklich sucht er meinen Blick. Ich schüttele den Kopf. Wie soll ich ihm das erklären? Ganz verstehe ich es selbst nicht. Trübte wirklich Eifersucht Dagurs Blick?
„Mach dir keine Gedanken. Katla wird gesund und dann sagt sie uns, wer sie niedergestochen hat.“
„Hoffentlich“, sagt er leise. Dem kann ich mich nur anschließen.
Am Fuß der Treppe begegnen Tomaz und ich Egill wieder.
„713. Komm gleich mit, wir treffen uns gleich in der Bibliothek. Die anderen drei sind schon da.“ Er legt seine Hand auf meinen Rücken und schiebt mich vor sich her. „Du erlaubst, Tomaz?“
Nach zwei Schritten dreht er sich plötzlich wieder um. „Noch besser wäre es, du kommst mit und übernimmst Katlas Lese- und Schreibunterricht, da es noch dauern wird, bis sie das selbst machen kann.“
Unentschlossen steht Tomaz da und scheint zu überlegen.
„Nun komm schon. Ich bin der Aufgabe nicht gewachsen.“
Tomaz nickt und folgt uns.
Die Bibliothek, die ich schon bei unserem ersten Rundgang gesehen habe, ist ein riesiger Raum. Vom Boden bis zur Decke erstrecken sich leere Regale. Egill sagte uns, dass diese einst mit Büchern gefüllt waren. Wir wussten nicht, was Bücher sind, und er zeigte uns einige, die neben dem großen Kamin auf drei Regalbrettern standen. Sie wirkten ziemlich verloren.
Um den Kamin, in dem jetzt ein wärmendes Feuer brennt, stehen sechs schwere Sessel. 802, 659 und 591 sitzen dort und erwarten uns.
Egill beginnt als Erster mit seinen Erklärungen. Das Leben in der Gemeinschaft, die Aufgaben, die zu bewältigen, und Vieh, das zu betreuen ist. Es gibt mehrere Ziegen, Hühner und Schafe. Er zeigt uns Bilder der Tiere, die mir sonst nichts gesagt hätten. Im nächsten Sommer sollen noch Schweine dazukommen und er hält das Bild eines rosafarbenen Tieres auf kleinen, viel zu dünn scheinenden Beinchen hoch.
Da die Winter hier sehr kalt sind, kann das Vieh nicht in einfachen Ställen untergebracht werden. Die Temperaturen gehen so weit herunter, dass einem der Atem gefriert. Darum werden die Tiere in einem Teil des Seitenanbaus gehalten, zumindest im Winter. Sie liefern Wolle, Eier, Milch sowie Fleisch und sind somit wichtig für das Überleben, darum muss für sie gut gesorgt werden.
Die Haltung von Kühen ist aufgrund des Futterangebotes und des Platzes nicht möglich. Der Berg, der der Gemeinschaft Sicherheit bietet, gibt nicht viel zum Leben her. Darum müssen die Erze der Mine abgetragen und verkauft werden. Für das Geld werden Lebensmittel und andere Güter erworben.
Eine der Hauptaufgaben ist also die Minenarbeit. Innerlich schüttelt mich der Gedanke, wieder in einen Berg zu steigen und ich hoffe, nicht dazu gezwungen zu sein.
Doch es gibt auch viele andere Tätigkeiten, die jeden Tag für das Leben der Gemeinschaft notwendig sind, Kochen, der Betrieb des Badehauses oder die Überwachung der Kamine.
Für die Küche ist eigentlich Katla zuständig, Tomaz für die Vorräte und Egill für alle Arbeiten im Haus. Viele Räume sind noch nicht bewohnbar. Auch dies ist eine Aufgabe bis zum Frühjahr, mehr Platz für neue Mitglieder der Gemeinschaft schaffen. Oder Räume umzubauen, dass Familien, die gegründet werden, gemeinsam wohnen können.
Nach Egill ist Tomaz dran. Mit einem Buch in seinen Händen steht er auf.
„Jedes Buch enthält Wissen, Geschichten oder Berichte. Um sie lesen zu können, muss man die Buchstaben kennen, in denen sie geschrieben sind. Jedes Mitglied der Gemeinschaft soll in der Lage sein, zu lesen und zu schreiben. Normalerweise übernimmt es Katla, euch zu unterrichten, doch solange sie ausfällt, werde ich es versuchen.“ Aufmunternd lächelt er uns zu. „Wir beginnen mit einem einzelnen Buchstaben.“
Mit diesen Worten schlägt er das Buch in seinen Händen auf. „Wir fangen mit dem ersten Buchstaben an, dem A. A wie Apfel.“ Auf der Buchseite ist ein großer Buchstabe gemalt, daneben ein runder, roter Apfel.
Während Tomaz redet, zerrt Egill eine schwarze Platte auf einem Ständer heran. Er drückt Tomaz etwas in die Hand. Dieser dreht sich um und malt den Buchstaben auf die Platte.
„Dies ist eine Tafel, darauf kann man schreiben und das Geschriebene später wieder wegwischen. Dies ist das A.“ Er malt den Buchstaben auf die Tafel. „Was beginnt außer Apfel noch mit einem A?“
„Arm“, sagt 591 spontan.
„Genau.“ Tomaz schreibt etwas an die Tafel, das mit dem A beginnt, dessen restliche Buchstaben uns nichts sagen, was aber bestimmt Arm bedeutet.
„Arbeit“, entfährt es mir und Tomaz schenkt mir ein Lächeln, ehe er das Wort an die Tafel schreibt.
„Armut.“
„Anfang.“
„Angst.“
„Adler“, werfe ich wieder ein. Überrascht sieht Tomaz mich an.
„Weißt du, was das ist?“
„Ein Vogel, der hoch oben am Himmel fliegt.“ Wieder etwas, das ich kenne, doch nicht sagen könnte, woher. Ich sehe ihn im klaren Blau mit gespreizten Flügeln durch die Luft gleiten. Da ist noch mehr, ich kann es fühlen, doch wieder einmal nicht festhalten. Nur dieser Begriff und das Bild in meinem Kopf kann ich klar erkennen.
Egill geht herum und gibt jedem von uns eine kleine Tafel und ein Stück weiße Kreide.
„Ich möchte, dass ihr versucht, den Buchstaben A zu malen“, sagt Tomaz. Hilflos starre ich auf die Kreide in meine Hand.
„In welcher Hand müssen wir die Kreide halten?“, fragt 591 verzweifelt.
„Das ist egal, mit welcher ihr besser malen könnt.“ Tomaz geht rum und legt jedem die Kreide zwischen die Finger, zeigt, wie wir mit ihr zeichnen können. Als er zuletzt bei mir ist und meine Hand greift, kribbelt es in meinen Fingern. Sanft schiebt er die Kreide in meine zitternde Hand, führt sie über die Tafel. Unter seiner Führung entsteht ein A auf der schwarzen Oberfläche. Mein Herz schlägt zu heftig und ich weiß nicht, warum.
Tomaz lässt meine Hand los und tritt einen Schritt zurück.
„Ihr könnt auch erst nur Kreise malen und euch vertraut machen mit dem Gefühl der Tafel und der Kreide. Beides könnt ihr mitnehmen, dürft es aber morgen nicht vergessen. Wir werden uns jeden Tag hier treffen und lernen.“
802 seufzt und schaut auf die Tafel. „Ich glaube nicht, dass ich das schaffe.“
„Das dachte ich auch, doch irgendwann ging es besser und mit jedem Buchstaben, den ihr lesen und schreiben könnt, wird eure Welt ein Stückchen größer.“ Mit einer ausholenden Geste deutet er auf die leeren Regale. „Hier standen Hunderte von Büchern, die die wunderbarsten Geschichten enthielten, leider sind sie im Laufe der Zeit verschimmelt und mussten weggeschmissen werden. Jetzt versuchen wir langsam eine eigene Sammlung anzulegen. Bücher erzählen Geschichten, sie lassen uns Dinge sehen, fühlen und erleben, die wir uns vorher nicht vorstellen konnten. Jedes Buch ist eine eigene Welt und in dieser gibt es unendlich viel zu entdecken, jedoch nur für den, der lesen kann.“
Eine Welt voller Geschichten, voller neuer, bisher unbekannter Dinge. Unbedingt will ich lesen lernen, egal wie schwierig es ist.
Nach dem Unterricht entlässt Egill uns. Wir sind noch nicht eingebunden in die Pflichten der Gemeinschaft und daher wandern wir etwas ziellos durch das Gebäude. Die Sonne ist verschwunden und Schnee fällt lautlos vom Himmel. Trotzdem möchte ich raus, nach den Jahren unter der Erde will ich frische Luft spüren. Die anderen teilen dieses Verlangen nicht, daher schnappe ich mir allein meine Stiefel und meinen Mantel und gehe hinaus. Eisiger Wind empfängt mich, versucht unter meine Kleider zu dringen. Langsam stapfe ich durch den unberührten Schnee. Der Hof ist riesig. Im Schutz der Mauer bleibe ich stehen und betrachte das Haus. In vielen Fenstern sehe ich Licht. Kerzen und Öllampen geben Helligkeit. Warum gibt es kein künstliches Licht, wie unter der Erde?
Da mir kalt wird, folge ich dem Verlauf der Mauer bis zu dem großen Tor. Ein riesiger Querbalken sichert die beiden großen Flügel. In einem ist die kleine Tür, durch die wir eingelassen wurden. Auch davor liegt ein Balken.
Ich gehe weiter, betrachte die Mauer, deren Steine bestimmt aus den umliegenden Bergen geschlagen wurden. Was für eine Arbeit. Wie viele Menschen hatten für den Bau dieser Anlage ihr Leben gelassen? Waren es Sklaven, die die Steine dem Berg abrangen? Wer kam auf die Idee, in dieser Gegend eine Burg zu bauen?
Langsam dringt die Kälte durch meine Kleider und ich beschließe zurückzukehren. Meine Gedanken schweifen umher, von den Büchern zu den ehemaligen Bewohnern der Festung, von den Tieren, die hier lebten, zu den Menschen, von dem Verräter, der mich zu belasten versucht, zu Dagur, der mich hasst. Warum? Ich verstehe es nicht. Er ist das Oberhaupt der Gemeinschaft, teilt sein Lager mit Tomaz (bei diesem Gedanken schießt mir das Blut in die Wangen) und wird von allen mit Achtung behandelt. Warum hasst er einen kleinen Minensklaven, der nichts besitzt außer seinem Leben? Ich weiß schon, dass es um Tomaz geht, doch ich begreife nicht, weshalb ihn der Gedanke beschäftigt oder gar beunruhigt. Ich mag Tomaz und vielleicht mag er auch mich, doch er ist mit Dagur zusammen. Hat er Angst, ich könnte ihm Tomaz wegnehmen?
Ich schütte meinen Kopf. Ein absurder Gedanke. Inzwischen habe ich den Eingang erreicht und öffne die schwere Tür. Angenehme Wärme schlägt mir entgegen und ich trete in die Halle. Vielleicht würde er sich im Laufe der Zeit beruhigen. Ansonsten werde ich einen schweren Stand in der Gemeinschaft haben.
Abends im Speisesaal sehe ich Tomaz zusammen mit Dagur wieder. Offensichtlich haben sie ihre Differenzen behoben. Der ältere hat seinen Arm locker um Tomaz’ Schulter gelegt. Als sich unsere Blicke begegnen, grinst er überheblich. Will er mir damit sagen, dass Tomaz ihm gehört? Dass ich mich von ihm fernhalten soll?
Ich senke meinen Blick und konzentriere mich auf mein Essen. Reden, Lachen und das Klappern des Geschirrs füllen den Raum. Wie anders ist diese Geräuschkulisse als in der Mine. Dort herrschte Schweigen beim Essen. Uns war das Reden untersagt. Es gab wenige Gelegenheiten, dies zu umgehen und meist wussten wir nicht, worüber wir reden sollten. Fast immer waren es jene, die nicht seit frühster Kindheit zu diesem Sklavendienst verurteilt waren, die redeten. Verbrecher, die ihre Strafe abarbeiteten, oder Deserteure, die bis zu ihrem Tod in den Minen schuften mussten. Manch einer wurde von den Wärtern getötet, weil er aufsässig war und die Regeln nicht befolgte. Jene Regeln, die wir von Anfang an eingebläut bekamen. Jeder von uns hatte die Peitsche der Wärter mehr als einmal zu spüren bekommen. Narben zierten unsere Rücken, ewige Zeichen ihrer Züchtigung. Wir sahen, was geschah, wenn man nicht gehorchte, und lernten still ihre Befehle zu befolgen. Nicht jammern, klagen oder Schwäche zeigen, egal was sie dir antun. Selbst wenn sie dich aus deinem Schlaf reißen und …
Daran will ich nicht mehr denken. Es ist vorbei. Hier bin ich ein Mensch, kein Sklave. Keiner hat mehr das Recht, über mich und meinen Körper zu bestimmen. Ein gutes Gefühl, dem ich noch nicht ganz vertrauen kann.
Mein Zimmer ist eisig, als ich es betrete. In der kalten Luft bildet mein Atem kleine weiße Wölkchen. Ob es Zeit ist, den Ofen anzumachen? Oder ist es noch nicht kalt genug?
Kimmi hat wieder auf mich gewartet. Die Gegenwart des Katers ist beruhigend. Schnell schlüpfe ich aus meinen Kleidern und unter die Decke. Sofort kriecht er hinterher, rollt sich an meinem Bauch zusammen.
Meine Gedanken gehen zu Katla, hoffentlich geht es ihr besser. Auch wenn ich sie noch nicht lange kenne, mag ich sie. Sie gibt mir das Gefühl, willkommen zu sein, ebenso wie Tomaz und im Gegensatz zu Dagur.
Daran mag ich nicht denken, ich ziehe die Beine an und die beiden Decken bis zu meinen Ohren hoch. Langsam wird es warm und ich entspanne mich, gleite in den Schlaf.
„Es tut mir leid.“
Erschrocken fahre ich herum. Dagur lehnt an die Kellertür und sieht mich an. Gerade bin ich dabei, eine Bestandsaufnahme unserer Vorräte zu machen, um festzustellen, was alles genau fehlt.
„Was tut dir leid?“
„Ich weiß, dass ich ungerecht gegenüber 713 war.“
Ich verkneife mir, ihn darauf hinzuweisen, dass er Elion heißt. Dagur würde damit kontern, dass er diesen Namen noch nicht offiziell erhalten habe.
„Warum entschuldigst du dich bei mir?“
„Weil ich es tat, um dich zu treffen. – Sag nichts, das war dumm. Aber ich habe das Gefühl, dass er dir etwas bedeutet und …“
„Ich mag ihn. Das sagte ich dir schon. Ich mag auch Katla oder Egill. Willst du auf sie auch eifersüchtig sein?“ Ich ziehe meine Augenbraue hoch. „Du vertraust mir nicht.“
„Doch! Bitte, Tomaz, versteh doch. Ich bin alt und er ist jung, so jung wie du.“ Unsicher sieht er mich an und ich trete zu ihm, lege ihm die Hand an die Wange.
„Es geht nicht um Jugend. Nur weil ein Mann jünger ist als du, begehre ich ihn nicht gleich. Doch deine Eifersucht könnte alles zerstören, was es zwischen uns gibt.“
„Ich liebe dich“, flüstert er und küsst mich. Ich lege meine Arme um ihn und erwidere den Kuss, der mich davon entbindet zu antworten. Ich mag Dagur, aber liebe ich ihn? Was ist überhaupt Liebe? Ich weiß es nicht, darum lasse ich meinen Körper antworten.
„Lass uns hochgehen“, raunt er in mein Ohr, als sich unsere Lippen trennen.
„Nein, ich muss hier fertig werden. Elvar hat ein neues Schloss eingebaut und ich will erst eine Bestandsaufnahme machen.“ Sanft küsse ich ihn auf die Nase. „Wir haben noch genug Zeit.“
Er knurrt unwillig, gibt mich aber frei. „Dann erwarte ich nachher eine Entschädigung für die Wartezeit.“
„Ich lasse mir etwas einfallen.“
Wenig später bin ich mit meinen Listen wieder allein. Doch mir fehlt die Konzentration, ich denke an die Liebe, was sie bedeutet und ob ich sie für Dagur fühle. Immer wieder verzähle ich mich und gebe schließlich auf.
Warum reagiert Dagur eifersüchtig auf Elion? Sicher, ich mag den Jungen. Er hat wunderschöne grüne Augen und es gefällt mir, wenn er lacht, dann geht in seinem Gesicht die Sonne auf. Der Schatten in seinen Augen verschwindet und er wirkt fröhlich, lebendig. Gut kann ich ihm nachfühlen, wie er sich fühlt. Die Minen brechen einen, erdrücken die Seele und machen einen Menschen klein. Die Härte der Wärter, der tägliche Hunger, die harte Arbeit und die Demütigungen zusammen mit den Drogen, der wöchentlichen Injektion, zerstören den Menschen, der man mal war. Wer aus den Minen kommt, muss lernen, wieder ein Mensch und kein Sklave zu sein.
Manchen fällt dies leicht, manche brauchen lange und einige schaffen es nie. Sie bleiben gebrochen, hilflos und verstört. In der Gemeinschaft gibt es drei Leute, die mehr vegetieren als leben.
Elion wirkt stark, ich hoffe, er schafft den Schritt in ein eigenes Leben. Dazu gehört Mut, denn man muss akzeptieren, ein neuer Mensch zu sein. Die Schatten der Vergangenheit muss man genauso hinter sich lassen, wie die Erlebnisse in der Mine. Hier ist eine andere Welt und man hat die Chance frei zu sein, seine eigenen Entscheidungen zu treffen.
Seufzend versuche ich die Gedanken von mir zu schieben und mich wieder auf meine Aufgabe zu konzentrieren. Anea, eine der ältesten unserer Gemeinschaft, sagt einen langen und harten Winter voraus. Meistens hat sie recht, wenn sie das Wetter vorhersagt. Wir müssen unsere Vorräte gut einteilen, damit alle den Frühling gesund erreichen. Wir müssen auch die gestohlenen Vorräte finden. Halvor muss sie beiseitegeschafft haben. Ich bezweifele, dass er uns sein Versteck freiwillig preisgibt.
Als ich endlich alles abgeglichen habe, gehe ich zu Katla. Caja ist bei ihr. Katla ist noch nicht aufgewacht, doch Caja beruhigt mich. Alles sei in Ordnung und Janusch mit der Entwicklung zufrieden.
Anschließend gehe ich zu Dagur. Wie erwartet ist er in seinem Schlafzimmer. Nur mit seinen Hosen bekleidet liegt er auf dem Bett und erwartet mich. Aufgestützt auf seine Hand lächelt er mir entgegen. Ich mag den Anblick, der sich mir bietet, die breite Brust mit dem grau durchsetzten Brusthaar, seine langen Beine und seine Erregung, die offensichtlich ist. Auf dem Weg zum Bett streife ich meine Kleider ab, genieße seinen begehrenden Blick. Als ich zum ihm auf das Bett klettere und ihn küsse, taucht plötzlich die Frage in meinem Kopf auf, wie es wäre, Elion zu küssen. Schnell wische ich diesen Gedanken beiseite und widme mich Dagur.
Zwei Tage später ist Katla erwacht und das Fieber gesunken. Blass und mit dunkeln Rändern unter den Augen sieht sie mir entgegen. Erst jetzt, als sie von mir abfällt, merke ich, wie groß meine Angst um sie wirklich war. Vorsichtig setze ich mich an ihr Bett und nehme ihre kalte Hand.
„Schön dich zu sehen“, sage ich und sie hebt leicht die Mundwinkel.
„Schön dich zu sehen“, antwortet sie. „Bevor du fragst, es war Halvor. Ich wartete im Keller, als ich hörte, wie die Tür aufgeschlossen wurde. Als er eintrat, entzündete ich die Lampe.“ Sie schließt kurz die Augen.
„Du kannst mir das später erzählen, ruh dich aus.“
„Nein! Ihr müsst ihn einsperren! Bevor ich wusste, was geschah, zog er sein Messer und stach zu. Ich hatte keine Chance.“ Eine Träne quillt unter ihren Wimpern hervor.
„Wir haben ihn schon eingesperrt. Elion hat ihn gesehen, als er aus dem Keller kam. Wenn es dir besser geht, muss er sich vor der Gemeinschaft rechtfertigen. Leider ist er nicht bereit irgendetwas zu sagen. Auch nicht, wo die Vorräte sind.“
„Ich hätte darauf vorbereitet sein müssen!“
„Hör auf, dir Vorwürfe zu machen. Wichtig ist nur, dass du gesund wirst.“ Sacht streichele ich ihr durch das Gesicht. „Halvor wird seine Strafe bekommen.“
Erschöpft versucht sie tapfer zu lächeln.
„Ruh dich aus. Ich werde jetzt unsere Neuankömmlinge ein wenig mit der Kunst des Lesens und Schreibens piesacken.“ Bevor ich gehe, hauche ich einen Kuss auf ihre Stirn. „Auch wenn ich darin nicht halb so gut bin wie du.“
„Spinner.“
Eigentlich macht es mir Spaß, die vier zu unterrichten. Gerade Elion ist begierig zu lernen. Für ihn könnte der Unterricht ruhig länger dauern. Mit Eifer ist er dabei, gibt keine Ruhe, bis er die Worte, die wir üben, schreiben kann. Ich mag seine geröteten Wangen, seine leuchtenden Augen und seine Ungeduld.
Wie immer beginnt Egill den Unterricht, er klärt ihnen gerade anhand einer Landkarte, wo wir uns befinden, welches Reich König Eskil regiert und welche Länder daran grenzen. Malmirika liegt weit im Norden. Weiter oben liegt nur das Land des ewigen Eises. Um seine Bewohner ranken sich die verschiedensten Legenden. Einen Handel mit dem Land, das nichts außer Eis hat, gibt es nicht. Ich weiß, dass es ein Buch über dieses Land gibt, doch es ist mir noch nicht gelungen, dieses zu finden.
In den nächsten Stunden wird er ihnen wenig Schmeichelhaftes über König Eskil erzählen. Es gibt einfach nichts Gutes über den Mann zu sagen. Er ist ein Dieb, Mörder und Betrüger, der den Thron an sich gerissen hat und ihn mit Zähnen und Klauen verteidigt, während er das Land ausblutet.
Ich sitze leicht versetzt hinter Egill und sehe auf seine aufmerksamen Schüler. Die ersten Stoppeln sind auf ihren Köpfen und bei den Männern im Gesicht zu sehen. Je mehr die Wirkung der Spritze nachlässt, desto schneller wachsen die Haare wieder.
Elions Augen leuchten in seinem blassen Gesicht. Unverschämt lange Wimpern umrahmen die grünen Iriden. Mit gespannter Miene verfolgt er Egills Vortrag.
802 findet den Unterricht ganz offensichtlich nicht so interessant. Er hat graublaue Augen, die verträumt einen Punkt hinter Egill anstarren.
Es wird Zeit, dass sie sich Paten suchen und Namen bekommen. Erst dann sind sie wirklich frei. Immer noch leben sie mit den Nummern, die ihnen die Wärter gegeben haben.
Damit beginne ich auch meinen Teil des Unterrichts. Ich frage, wer sich schon Gedanken über einen Paten und einen Namen gemacht hat. 591 hebt die Hand, sie errötet leicht. „Ich würde gern Egill als Paten wählen.“
Ich werfe einen Blick über meine Schulter. Egill nickt zustimmend. „Ich fühle mich geehrt“, sagt er.
Auch 802 und 659 haben sich schon einen Paten ausgesucht. Alle wollen ihre Nummern loswerden.
„Dann werden wir euch morgen offiziell von den Nummern befreien und zukünftig nur noch mit euren Namen ansprechen.“ Gut erinnere ich mich daran, wie es ist, endlich einen Namen tragen zu dürfen und nicht mehr die verhassten Ziffern hören zu müssen.
Anschließend setzen wir unseren Unterricht fort.
Wenn Neuankömmlinge einen Namen bekommen, wird dies mit einem Fest gefeiert. Der eigene Name, nachdem man jahrelang eine Nummer war, ist ein großes Ereignis. Von diesem Zeitpunkt an schüttelt man eine der schweren Ketten der Sklaverei ab. Auch wenn ein Teil des Jochs immer in unseren Köpfen verbleibt, fühlt man sich mit einem Namen anders. Befreit. Bereit, weiter zu gehen.
Unnur sorgt wieder für den Rahmen. Jeder Pate gibt seinem Schützling einen Namen, dieser nimmt den Namen an und Dagur verkündet ihn laut für die Gemeinschaft. Egill erfasst die Namen im Buch der Gemeinschaft, damit sie ein Teil von dieser werden. Von diesem Zeitpunkt an haben sie die gleichen Rechte und Pflichten wie jedes andere Mitglied. Die Paten stehen ihnen mit Rat und Tat zur Seite, helfen ihnen, ihren Platz, ihre Aufgaben zu finden oder auch ihre Rechte durchzusetzen.
Missmutig sieht mir Dagur zu, wie ich mich ankleide. Er kann sich nicht mit der Idee anfreunden, dass ich Elions Pate bin. Warum ihm dies widerstrebt, will – oder kann – er nicht in Worte fassen. Am liebsten würde er mit dem Fuß aufstampfen und es mir verbieten. Doch er weiß genau, dass ich mir nichts verbieten lasse.
Ich ignoriere seinen Blick und knöpfe die Weste zu. Sie ist so schwarz wie mein Haar. Katla hat sie vor ein paar Monaten für mich gemacht. Ebenso wie die schwarzen Hosen. Vielleicht bin ich eitel, doch ich mag meinen Anblick. Im Spiegel sehe ich, wie Dagur die Augenbrauen zusammenzieht. Mit einem Lächeln drehe ich mich zu ihm um.
„Du solltest dich anziehen. Die Gemeinschaft erwartet dich.“
Als Antwort bekomme ich nur ein Knurren.
Soll ich noch etwas sagen? Das würde nur wieder zu Diskussionen führen. Also gehe ich zur Tür. „Beeil dich einfach.“ Ohne eine Erwiderung abzuwarten, verlasse ich das Zimmer.
Heute Abend bekommen wir offiziell unsere Namen. Endlich hat keiner mehr das Recht, mich mit 713 anzureden. Ich stehe vor dem Spiegel und betrachte mein Gesicht. In den letzten Tagen hat es sich verändert. Ich habe etwas zugenommen, Stoppeln bedecken meinen Kopf, überziehen ihn mit einem dunklen Flaum. Auch auf meinen Wangen sprießen die Haare, doch diese werde ich heute entfernen. Ich mag sie nicht. Egill hat mir gezeigt, wie das geht und ich hoffe, dass ich das hinbekomme. Die erforderlichen Utensilien hat er mir gegeben. Mit dem Pinsel verteile ich den weichen Schaum auf den piksenden Bartstoppeln. Während ich einen Moment warte, sehe ich aus dem kleinen Fenster. Jeden Tag hat es geschneit. Mal nur leicht in dicken Flocken, mal in dichtem Gestöber. Heute jedoch hat den ganzen Tag die Sonne geschienen.
Sehr passend, meinte Tomaz, da mein Name Geschenk der Sonne bedeutet. Ich spüre, wie sich meine Mundwinkel heben. Der Name gefällt mir immer besser. Genau wie Tomaz, doch diesen Gedanken verdränge ich schnell. Zu deutlich lässt mich jeder Blick Dagurs spüren, dass er gegen eine Freundschaft zwischen Tomaz und mir ist. Auch wenn Tomaz das nicht zu interessieren scheint, habe ich ein wenig Angst vor dem Oberhaupt der Gemeinschaft. Schon bei dem Überfall auf Katla war er bereit, mich zu beschuldigen.
Ich verdränge alle Befürchtungen und beginne vorsichtig mit der scharfen Klinge den Schaum samt dem Bartflaum von meinem Gesicht zu kratzen, ohne mich dabei zu schneiden. Diese Aufgabe fordert alle Konzentration von mir.
In der Mine wurden wir rasiert. Kein Wärter hätte einem Sklaven freiwillig ein scharfes Messer in die Hand gedrückt. Mit geschickter Gleichgültigkeit haben sie uns alle Haare vom Körper entfernt. Ich habe es gehasst, doch eine Chance auf Widerspruch bestand nicht.
Als ich endlich fertig bin, atme ich erleichtert auf. Wasche die Schaumreste von meinem Gesicht. Meine Wangen sind leicht gerötet, doch die glatte Haut gefällt mir eindeutig besser. Penibel reinige ich alles wieder und nehme das Rasierzeug mit in mein Zimmer.
Ab morgen werden wir fest in die täglichen Arbeiten der Gemeinschaft mit eingeplant. Ich freue mich darauf. Gerne würde ich mich um die Tiere kümmern oder in der Küche mithelfen. Egill hat gesagt, er würde sehen, was er tun kann. Da es einige ungeliebte Aufgaben gibt, vom Wäsche waschen bis zur Betreuung des Badehauses, werden diese Pflichten jede Woche einem anderen übertragen. Damit sich keiner beschweren kann. Im Prinzip macht es mir nichts aus, es ist mir egal, solange ich nicht in die Mine muss.
Es klopft an meiner Tür. Schnell gehe ich hin und öffne. Tomaz steht davor und lächelt mich an. Ich kann nicht anders und erwidere dies.
„Du hast dich rasiert“, sagt er und streicht über meine Wange. Seine Hand ist warm, die Berührung zart. Intensiv nehme ich einen angenehmen Geruch wahr, der von ihm ausgeht. Für einen winzigen Moment schmiege ich mich an, genieße das Gefühl. Viel zu schnell ist es vorbei.
„Bist du bereit?“, fragt er und ich nicke, betrachte ihn dabei. Er sieht gut aus. Das Schwarz unterstreicht seine hellen Augen, lässt sie leuchten. Gerne würde ich durch sein Gesicht streichen, die Weichheit seiner Haut unter meinen Fingern spüren. Mit einem Kopfschütteln vertreibe ich diesen Gedanken.
Tomaz interpretiert die Geste falsch. „Noch nicht fertig?“
„Doch. Sicher.“ Ich nicke schnell bestätigend.
„Dann lass uns gehen, Elion.“
Auf dem Weg hinunter hüpft mein Herz wie wild. Irgendwann trug ich einen Namen, den meine Mutter mir gab, vor langer Zeit, die begraben ist in den Schatten der Mine, den ich vergaß und an den ich mich nie wieder erinnern werde. Dann war ich lange Zeit eine Nummer, ein Sklave ohne Rechte, die man mir mit meinem Namen einfach stahl. Heute bekomme ich einen neuen Namen, einen wunderschönen Namen: Elion.
Nie wieder lasse ich mich einsperren, demütigen und meine Rechte nehmen, nie wieder gehe ich in eine Mine, lieber sterbe ich. Nie wieder werde ich eine Nummer! 713 ist in den Minen geblieben, Elion ist geboren worden. Fast muss ich kichern bei meinen Gedanken. Geschenk der Sonne.
Tomaz sieht mich von der Seite an und ich befürchte, ich habe tatsächlich gekichert. Beruhigend schließen sich seine Finger um meine Hand und ich werde ruhiger. Tomaz strahlt Sicherheit aus, er scheint mit sich und seiner Umwelt im Reinen. Meist ist er fröhlich und gut gelaunt, noch nie habe ich ihn ernsthaft erzürnt gesehen. Nur hilflos und traurig, als er Katla in ihrem Blut gesehen hat. Die meisten mögen ihn – ich auch.
Der Saal ist festlich geschmückt, die anderen stehen bei ihren Paten. In ihren Gesichtern spiegelt sich ebenfalls Aufregung. Erst als wir neben ihnen stehen, lässt Tomaz meine Hand los – und fehlt mir sofort.
Kurz nach uns betritt Dagur den Raum. Wie immer sieht er beeindruckend aus. Seine Haare sind kurz, wie der gestutzte Bart. Die grauen Augen streifen über die Menschen und bleiben einen Augenblick auf mir hängen. Deutlich kann ich seine Abneigung spüren und bin froh, dass Tomaz meine Hand losgelassen hat. Der Anblick hätte ihm nicht gefallen.
Er tritt vor die Gemeinschaft und hebt die Hände. Sofort wird es ruhig, alle Augen richten sich auf ihn.
„Liebe Freunde“, beginnt er mit seiner tiefen Stimme, die bis in den letzten Winkel dringt. „Vier ehemalige Minensklaven haben wir in unserem Kreis aufgenommen, denen der König die Namen stahl und sie stattdessen zu Nummern degradierte. Heute bekommen sie neue Namen und werden damit vollwertige Mitglieder unserer Gemeinschaft, mit allen Rechten und Pflichten. Jeder von ihnen hat sich einen Paten gesucht, der ihnen heute diesen Namen geben wird.“
Jetzt sehen uns alle an und ich spüre die Hitze in meine Wangen steigen.
„Ein letztes Mal rufe ich euch heute mit eurer Nummer: 802, 659, 591 und 713. Tretet vor.“
Nebeneinander treten wir vor Dagur. Seine Augen mustern uns. Verzweifelt versuche ich, mein klopfendes Herz zu beruhigen.
„Jokull, du bist der Pate von 802, gib ihm seinen Namen.“
Nachdem Jokull seine Hände auf die Schultern des vor ihm stehenden 802 gelegt hat, sagt er: „Ab heute soll dein Name Rurik lauten.“
„Willst du diesen Namen tragen?“
Rurik nickt.
„So sei es. Die Gemeinschaft gibt dir den Namen Rurik. Dieser wird in den Büchern festgehalten und gehört nun dir.“
659 bekommt von seinem Paten Janusch den Namen Sjur und 591 von Egill den Namen Elida.
Mit jedem Namen schlägt mein Herz schneller. Dann fühle ich Tomaz’ Hände auf meinen Schultern. Dagur fordert Tomaz auf, mir meinen Namen zu geben und ich höre ihn hinter mir sagen: „Ab heute soll dein Name Elion lauten.“
Ich nicke, ohne auf Dagurs Frage zu warten.
Dagurs Augen funkeln eisig, als er mich ansieht. „So sei es. Die Gemeinschaft gibt dir den Namen Elion. Dieser wird in den Büchern festgehalten und gehört nun dir.“
Ich senke den Blick. Dieser Mann wird nie mein Freund werden.
Die Menschen hinter uns brechen in Jubel aus. Irgendwer drückt mir ein Glas in die Hand. „Auf dich, Elion!“ Hände klopfen auf meine Schulter, Männer und Frauen beglückwünschen mich. Die Kinder springen um unsere Beine und spielen Fangen.
Mit einem Mal kommt mir alles unwirklich vor. Kann es sein, dass ich den Minen entkommen bin? Oder werde ich irgendwann aufwachen und feststellen, dass alles nur ein Fiebertraum ist? Gehöre ich hierher? Bin ich ein Teil dieser fröhlich feiernden Menschen um mich herum? Oder werde ich immer tief in meinem Inneren 713 bleiben?
Ich dränge mich durch die Menge, muss raus, brauche dringend Luft. Vor der Tür bleibe ich stehen. Dem wolkenlosen Tag folgt eine sternenklare Nacht. Der Schnee glitzert im Mondlicht. Tief sauge ich die kalte Luft in meine Lungen. Es ist eisig und ich habe meinen Mantel vergessen, lange werde ich hier nicht stehen können. Ich lege den Kopf in den Nacken, betrachte das Sternenmeer über mir. Unzählige Lichter, manche winzig klein, andere groß und funkelnd. Noch nie sah ich etwas Schöneres. Plötzlich scheint ein Stern vom Himmel zu fallen. Er zieht einen leuchten Schweif hinter sich her.
„Du musst du dir etwas wünschen.“ Mein Mantel wird um meine Schultern gelegt und ich wende mich Tomaz zu.
„Wünschen?“
„Ja, Sternschnuppen sollen Wünsche erfüllen. Du musst es dir nur ganz fest tief in deinem Herzen wünschen.“ Er lächelt und blickt in den Nachthimmel.
„Was soll ich mir wünschen?“, frage ich unsicher.
„Ich weiß nicht, Gesundheit, Glück, Liebe, immer einen vollen Bauch …“
„Was ist Liebe?“ Immer noch sehe ich ihn an, betrachte seinen Hals, die Linie seines Kinns, seine Lippen …
„Liebe?“ Seine Gedanken scheinen abzuschweifen, ehe er mich wieder ansieht. „Liebe ist ein Gefühl. Etwas, das dein Herz ausfüllt, deine Seele berührt. Sehnsucht, Begehren, Zusammengehörigkeit. Ein Mensch, der alles für dich ist – und für den du alles bist.“
Unsere Blicke begegnen sich. Seine Augen funkeln hell wie die Sterne. Ich kann nichts sagen, nur ihn ansehen. Mein Herz schlägt schneller, ich möchte diesen Augenblick festhalten, doch Tomaz senkt den Kopf.
„Liebst du Dagur?“, höre ich mich fragen, ehe mein Kopf überhaupt entschieden hat, ob er diese Frage stellen darf – oder will.
Tomaz wendet sich ab, blickt über den Hof. Nur wenige Abdrücke beflecken die schneeweiße Decke. Gebannt sehe ich ihn an, weiß nicht, ob ich eine Antwort auf diese Frage hören will.
Er seufzt. „Ich weiß es nicht.“
„Ihr küsst euch“, werfe ich ein. Egill hat mir erklärt, was ein Kuss ist. Ein Zeichen, dass zwei Menschen sich sehr mögen und zusammengehören.
„Jemanden zu küssen heißt nicht, ihn zu lieben.“
„Aber warum küsst man jemanden, den man nicht liebt? Warum – teilst du dein Lager mit ihm?“ Ich werde rot, kann die Hitze in meinem Gesicht bis zu den Haarwurzeln steigen spüren. Egill hat mir ebenfalls erklärt, dass zwei Menschen, die sich sehr mögen, das Lager freiwillig miteinander teilen. Manchmal, wenn eine Frau ihr Bett mit einem Mann teilt, kommen Kinder dabei raus.
„Auch dafür muss man sich nicht lieben.“
Würde ich mein Lager mit jemandem teilen wollen? Würde ich freiwillig wollen, was die Wärter mir gewaltsam angetan hatten? Ich konnte es mir nicht vorstellen.
„Liebe ist mehr als das. Jedenfalls denke ich das.“ Tomaz blickt wieder zu mir. „Sie verbindet zwei Menschen tiefer als ein Kuss oder ihre körperliche Vereinigung. Wenn man einen Menschen liebt, dann sehnt man sich nach ihm, wenn er nicht da ist, freut sich, wenn man ihn wiedersieht. Man möchte ihn beschützen, halten, ihn trösten und ihm Sicherheit geben. Wenn man zusammen ist, dann ist man eins.“
„Und das fühlst du nicht bei Dagur?“
Er blickt mich ernst an. „Nein.“
Bevor ich etwas dazu sagen kann, höre ich wie Egill die Tür aufstößt und nach uns ruft. Sofort dreht Tomaz sich um.
„Komm, wir sollten hineingehen.“
Ich folge ihm, die Gedanken immer noch bei unserem Gespräch.
Die Zeit vergeht schnell. Die Tage sind mit Unterricht und den täglichen Aufgaben für die Gemeinschaft gefüllt. Inzwischen kenne ich die meisten, die hier leben, und mit vielen von ihnen verstehe ich mich gut.
Katla geht es besser und sie darf ihr Bett verlassen. Morgen wird Halvor vor die Gemeinschaft geführt und soll seine Taten rechtfertigen. Tomaz hat uns heute Morgen erklärt, dass die Gemeinschaft anschließend entscheidet, was mit ihm geschieht. Jeder über 14 Jahre hat dabei eine Stimme. Je nachdem, wie man seine Beweggründe einschätzt, ist ein Urteil in alle Richtungen möglich. Von der Verbannung, was bei diesem Wetter den sicheren Tod bedeutet, bis zur Begnadigung.
Anders als vor den Gerichten des Königs gibt es keine fest geschriebenen Regeln und Strafen. Die Gemeinschaft wurde in Halvors Fall bestohlen und die Gemeinschaft entscheidet, was mit ihm geschieht.
Nach dem Unterricht habe ich noch Zeit, bis ich in die Küche muss. Heute helfe ich kochen. Vieles ist für mich noch fremd und verwirrend. Gerade die Küche, in der es unzählige Dinge gibt, von denen ich noch nie etwas gehört habe. Lebensmittel, die ich noch nie gesehen habe. Aber auch das Zusammenleben ist oft kompliziert. Wer wen warum nicht mag oder gerade mag. Wer sich über was freut – oder ärgert. Versteckte Gefühle zu erkennen und zu beachten ist schwer. Beziehungen erkennen und verstehen auch.
Oft nutze ich die Gelegenheit, um allein in der Bibliothek zu sein. Manchmal sitze ich in einem der Sessel und betrachte die leeren Regale. Wie es wohl aussieht, wenn sie alle mit Büchern gefüllt sind? Ich liebe das Lesen und nehme mir ein Buch. Leider fehlen mir noch zu viele Buchstaben, um es wirklich lesen zu können. Ich kann nur einige Wörter entziffern und einige Buchstaben erkennen. Gerne würde ich das Buch richtig lesen können. Auf seinem Einband ist eine goldene Sonne gedruckt. Mit den Fingern fahre ich ihre Konturen nach.
„Hier steckst du.“ Tomaz schaut über den Rand des Sessels, in den ich mich gekuschelt habe und vorsichtig in den Seiten blättere. „Katla möchte dich sprechen.“
Interessiert schaut er auf das Buch in meinen Händen. Schnell springe ich auf und stelle es zurück in das Regal.
„Du darfst jedes Buch nehmen. Sie gehören allen. Die meisten haben aber kein Interesse an geschriebenen Worten. Nachdem sie lesen gelernt haben, nutzen sie dieses Können nur noch, wenn sie müssen.“ Er grinst leicht. „Wenn du also lesen willst, dann tu das.“
„Ich kann es noch nicht lesen“, sage ich und streiche noch einmal über den dicken Einband.
„Nein, noch nicht. Aber irgendwann wirst du es können. – Es wird bestimmt schneller gehen, wenn Katla den Unterricht übernimmt.“
Der Gedanke gefällt mir nicht. Ich mag die Art, wie Tomaz uns unterrichtet, seine Geduld und Zuversicht, dass jeder es schaffen kann. – Sogar Rurik, der mit Buchstaben nicht viel anfangen kann.
„Und nun komm.“
Katla sitzt im Stuhl am Fenster und erwartet uns schon. Einmal war ich nach dem Überfall hier, weil sie sich bei mir bedanken wollte. Heute sieht sie viel besser aus. Ihre Wangen haben Farbe und sie lächelt, als wir eintreten.
„Elion“, sagt sie erfreut und streckt mir die Hände entgegen. Ich umfasse sie und werde in eine Umarmung gezogen.
„Du siehst viel besser aus“, sage ich, nachdem sie mich wieder losgelassen hat.
„Das will ich hoffen“, entgegnet sie grinsend. „Ich wollte mich nur noch einmal bei dir bedanken. Leider verrät Halvor nicht, wo er die gestohlenen Vorräte versteckt hat. Dieser Mistkerl.“
„Gibt es denn so viele Möglichkeiten?“ Erstaunt sehe ich von Karla zu Tomaz.
„Wir haben überall gesucht, nichts zu finden.“ Bedauernd schüttelt Tomaz den Kopf.
„Morgen hat er seine letzte Chance, etwas zu sagen. Doch ich befürchte, er wird gar nichts sagen.“ Katla seufzt. „Der Winter wird wohl noch härter als der letzte. Wir können eigentlich auf nichts verzichten.“
„Hat er viel gestohlen?“, frage ich verwundert. „Was wollte er allein damit?“
„Das ist die nächste Frage, ob er allein war. Vielleicht gibt es jemandem, der ihm geholfen hat.“ Tomaz setzt sich auf das Bett. „Am wahrscheinlichsten wäre einer der Männer, die mit ihm gekommen sind. Aber das sind alles nur Spekulationen.“
„Du weißt, dass du morgen noch einmal aussagen musst?“, fragt Katla mich plötzlich. Erschrocken sehe ich sie an und schüttele den Kopf. Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.
„Die Gemeinschaft muss alles wissen und darf dich alles fragen. Immerhin müssen sie über Halvor und sein Leben entscheiden. Von mir aus können sie ihn im Keller verrotten lassen.“ Sie schnauft.
„Nein, dann müssten wir ihn durchfüttern, eine ganz schlechte Möglichkeit“, sagt Tomaz und erntet ein weiteres Schnaufen.
Ein wenig unruhig macht mich der Gedanke, dass ich vor allen reden und vielleicht sogar Fragen beantworten soll.
„Keine Angst, dir kann nichts passieren, du hast alles richtig gemacht“, sagt Tomaz und lächelt mir zu. „Du brauchst nur zu erzählen, was du gesehen hast.“
Das hatte ich Dagur auch erzählt und trotzdem wollte er mich beschuldigen.
„Du bleibst einfach bei mir“, sagt Katla. „Gegen unsere Aussagen kann er keine Argumente ins Feld führen. Er kann sich nur eine Ausrede einfallen lassen.“ Beruhigend zwinkert sie mir zu.
Trotzdem schlafe ich in dieser Nacht nicht viel. Kimmi protestiert heftig, weil ich nicht still liegen kann. Immer wieder drehe ich mich von rechts nach links. Warum gibt Halvor nicht einfach zu, dass er die Vorräte gestohlen hat, und bittet um Entschuldigung? Er könnte ja behaupten, er hätte Angst vor dem schweren Winter gehabt. Obwohl er allein ist. Diese Ausrede von einem Mann, der sich Sorgen um seine Frau und seine Kinder macht, wäre glaubhafter. Warum also hat er die Vorräte gestohlen? Wollte er die Gemeinschaft verlassen und ihr Versteck den Soldaten des Königs verraten?
Doch warum diese Menge an Vorräten? Weil er nicht allein war. Das war logisch, aber wer ist der zweite Verräter? Wird man vielleicht morgen mich beschuldigen? Aber ich komme aus den Minen, kenne Halvor nicht. Warum sollte ich ihm helfen?
Vielleicht behaupten sie, ich sei auch ein Spion des Königs. Dann verbannen sie mich vielleicht auch aus der Gemeinschaft. Dagur gefällt der Gedanke bestimmt.
Mir ist kalt und ich wickele mich in die Decken, ziehe Kimmi dicht an mich heran. Wird Tomaz sich auf meine Seite stellen?
Ich stelle mir vor, wie es ist, dort draußen in den Bergen zu sein. Der Wind heult heute Nacht laut und treibt eisige Schnee leise prasselnd an mein Fenster. Bei diesem Wetter kann man nicht lange überleben. Wie ist es, wenn man erfriert?
Irgendwann schlafe ich ein und schrecke früh, vor dem Sonnenaufgang, aus einem Albtraum auf. Auch wenn ich die Bilder nicht festhalten kann, weiß ich, dass ich nicht wieder einschlafe. Müde zwinge ich mich aus dem Bett. Die Kälte beißt sofort in meine Haut. Schnell streife ich meine Sachen über und husche ins Bad. Ein wenig kaltes Wasser ins Gesicht und die Haare einmal gekämmt, das muss reichen.
In der Bibliothek ist es dunkel und ebenfalls kalt. Mit klammen Fingern entzünde ich ein Feuer. Langsam lecken die Flammen an den Scheiten im Kamin hoch, umtanzen sie, ehe das Holz zu brennen beginnt. Ich nehme das Buch aus dem Regal und setze mich dicht vor das Feuer. Wenn ich den Text nicht lesen kann, dann sehe ich mir die Zeichnungen an. Zwischen den Seiten verstecken sich wunderschöne Bilder. Die Sonne ist auf allen zu sehen. Wie lange habe ich auf die Sonne verzichtet? Jahrelang sah ich sie nicht, hatte vergessen, wie sie aussieht, wie sie sich auf der Haut anfühlt, wie warm selbst die Wintersonne ist.
„Wird das dein Lieblingsort?“
Ich zucke zusammen und blicke auf. Tomaz steht neben dem Sessel und betrachtet mich.
„Ich konnte nicht schlafen“, sage ich und fühle mich ertappt.
„Ich auch nicht.“ Tomaz setzt sich neben mich und schaut in das Buch, das immer noch aufgeschlagen auf meinen Knien liegt. „Da hast du dir das richtige Buch ausgesucht.“
„Warum?“
„Weil in ihm verschiedene Legende über die Erstehung der Sonne erzählt werden“, entgegnet Tomaz. „Soll ich es dir vorlesen?“
Erstaunt sehe ich ihn an, dann nicke ich.
Tomaz nimmt das Buch von meinem Schoß und schlägt die erste Seite auf.
„Am Anfang der Zeit gab es nur Finsternis und Kälte. Eis und Schnee bedeckten die Welt, die von den Winden beherrscht wurde. Nur in den Tiefen der Erde brannte ein ewig loderndes Feuer. In der Nacht des ersten Tages gebar der Berg Tullvor eine Flammenkugel und presste sie durch die eisige Kruste. Der Feuerball schoss hoch in den Himmel, so weit, dass er nicht mehr auf die Erde zurückfallen konnte. Sein Licht war schwach und kaum von der Erde aus zu sehen.“
Ich lehne meinen Kopf auf Tomaz’ Schulter und versuche einzelne Wörter zu erkennen.
„Der kleine Feuerball wollte dort oben am Himmel nicht verglühen und als einer der dunklen Planeten ihm zu nahe kam, streckte er seine Flammenfinger nach ihm aus, nährte sich von ihm, verschlang ihn und wuchs.“
Die Wärme an meiner Seite und Tomaz’ Stimme, die mich beruhigt, lassen die Müdigkeit gewinnen. Ganz ohne Träume schlafe ich, bis eine Hand sanft durch mein Gesicht fährt und jemand meinen Namen sagt.
Das Erste, was ich sehe, ist Tomaz, der sich über mich beugt. Ein Lächeln umspielt seinen Mund und seine Augen blitzen fröhlich.
„Guten Morgen, Schlafmütze“, sagt er leise. Erst jetzt merke ich, dass ich auf seinem Schoß liege und fahre erschrocken hoch.
„Es tut mir leid“, stottere ich peinlich berührt.
„Warum? Du warst müde und offensichtlich hast du gut geschlafen.“ Sanft streicht er über meinen Kopf. „Dein Haar wächst schneller, bald wirst du sie kämmen müssen.“
Das Gefühl ist angenehm und als seine Hand über meine Wange gleitet, schmiege ich mich kurz an seine Finger.
„Wir sollten zum Essen gehen. Anschließend wird die Gemeinschaft Halvor befragen und über sein Schicksal beschließen.“
Ich stehe auf und strecke mich. Bei dem Gedanken an die Befragung werde ich sofort wieder nervös.
„Keine Angst, es passiert dir nichts“, sagt Tomaz. Ich hoffe, er hat recht.
Die Stimmung im Speisesaal ist gedämpft. Elions Nervosität kann ich fast mit Händen greifen. In seinem Frühstück stochert er nur lustlos herum, während sein Blick durch den Raum schweift. Dagur ist nicht anwesend, wahrscheinlich isst er in seinem Zimmer.
Nach dem Essen wird umgeräumt. Die Tische werden an den Rand geschoben und die Stühle in einem Halbrund aufgestellt. Als alle sitzen, erscheint Dagur und stellt sich vor die Gemeinschaft.
„Heute führt uns eine schwere Aufgabe zusammen. Wir müssen über das Schicksal eines Mitglieds unserer Gemeinschaft entscheiden. Einer, der sich nicht an die Regel gehalten, gestohlen und ein anderes Mitglied schwer verletzt hat.“ Ernst sieht er jeden einzelnen an. „Jeder von euch hat das Recht, Fragen zu stellen und seine Meinung zu äußern. Letztlich entscheidet die Mehrheit der Gemeinschaft, was mit Halvor geschieht.“
In diesem Moment führt Egill eben jenen in den Raum und setzt ihn auf einen Stuhl der Gemeinschaft gegenüber.
„Im letzten Sommer kamst du zu uns, batst um unseren Schutz und wir nahmen dich als Teil dieser Gemeinschaft auf. Nun hast du unser Vertrauen missbraucht, von unseren Vorräten gestohlen und Katla schwer verletzt. Hast du dazu etwas zu sagen?“
Halvor sitzt mit gesenktem Kopf auf seinem Platz und vermeidet es, den Anwesenden in die Augen zu sehen. Auch auf Dagurs Aufforderung sagt er nichts.
„Wenn du nicht sprechen möchtest, werden wir hören, was jene zu sagen haben, auf die sich die Beschuldigungen stützen. – Katla.“ Dagur geht zur Tür und hilft Egill Katla in den Saal zu geleiten. Auf einem zweiten Stuhl vor der Gemeinschaft nimmt sie Platz. Normalerweise stehen die Ankläger, doch das würde sie nicht schaffen.
„In den letzten Wochen waren verschiedene Vorräte aus den Kellern verschwunden. Getreide, Wurst und Wein. Wir, Dagur, Tomaz, der für die Vorräte zuständig ist, und ich hatten den Verdacht, dass jemand diese stiehlt. Darum beschlossen wir, dem Dieb eine Falle zu stellen. Wir verkündeten, dass die Schlösser der Keller erneuert würden, da wir vermuteten, dass der Dieb einen Schlüssel besaß. Dieser wäre anschließend nichts mehr wert. Ich wollte in dem Keller Wache halten und ihn auf frischer Tat erwischen. An diesem Abend betrat Halvor den Keller und als ich ihn zur Rede stellen wollte, zückte er sein Messer und stach zu, ehe er floh.“
„Du bist dir sicher, dass es Halvor war, der dich niedergestochen hat?“, fragt Dagur nach und Katla nickt. Ihr Gesicht ist bleich und Schweißperlen stehen auf ihrer Stirn.
„Elion, sag uns, was du gesehen hast“, fordert Dagur nun auf und Elion steht mit zitternden Händen auf. Er geht nach vorne und stellt sich neben Katla.
„Als ich an diesem Abend in die Halle ging, öffnete sich plötzlich die Kellertür. Erschrocken trat ich zur Seite. Halvor stürmte heraus, in seiner Hand hielt er ein Messer. Schnell zog ich mich in die Schatten zurück. Er sah sich hektisch um und lief dann die Treppe hoch. Ich ging in den Keller, um zu sehen, was geschehen war.“
Ein leises Murmeln geht durch die Gemeinschaft, als plötzlich Halvor aufspringt. „Warum lügst du? Soll ich die ganze Schuld allein auf mich nehmen?“
Alle sehen ihn an.
„Ich kam her im Auftrag des Königs, das ist wahr. Ich sollte hier warten, bis ein zweiter Spion auftaucht und mit ihm gemeinsam fliehen, um dem König zu berichten, wo sich die Zuflucht der Verräter befindet. – Der zweite Spion ist jener, den ihr Elion nennt. Er hat die Vorräte versteckt, ich kann euch nicht sagen, wo sie sind.“ Er streckt seinen Zeigefinger in Richtung Elions. „Glaub nicht, dass ich allein die Schuld und die Strafe auf mich nehme.“
Elion ist blass geworden, deutlich kann ich die Angst in seinem Gesicht sehen. Alle starren ihn an, nicht sicher, was sie von den Vorwürfen eines Verräters halten sollen.
„Ist das wahr, Elion?“ Dagur sieht ihn streng an und er scheint unter dem Blick zu schrumpfen. Panisch schüttelt er den Kopf.
„Lügen nützt dir nichts. Ja, ich habe gestohlen, versteckte die Vorräte und als er kam, sagte ich ihm wo. Als ich gezwungen war, Katla zu verletzen, sagte ich ihm, er solle alles in Sicherheit bringen. Darum werdet ihr nichts dort finden, wo ich es versteckt habe.“ Halvors Stimme übertönt alle.
„Das ist nicht wahr“, sagt Elion, doch keiner achtet im Moment auf ihn.
„Befragt ihn, wenn ihr eure Vorräte wiederhaben wollt. Er ist genauso schuldig wie ich!“
Dagur hebt die Hände und Ruhe kehrt ein. „Elion, hast du die Vorräte versteckt?“
„Nein“, krächzt er mühsam.
„Bist du ein Spion des Königs?“
Diesmal ist die Antwort ein heftiges Kopfschütteln. Nur mühsam bezwinge ich den Impuls aufzuspringen und zu ihm zu gehen.
„Ihr glaubt doch nicht den Worten dieses Verräters? Er hat nicht nur euch, sondern auch mich verraten.“ Halvor scheint sich auf Elion stürzen zu wollen. „Gib es zu, du kleine Ratte.“
Egill schiebt ihn unsanft wieder auf seinen Stuhl.
„Wir werden die Vorwürfe prüfen müssen“, sagt Dagur. „So lange nehmen wir Elion in Gewahrsam.“
Jetzt hält mich nichts mehr auf meinem Stuhl. Mit ein paar großen Schritten stehe ich neben Elion. Mein Blick begegnet Dagurs, ich sehe Wut in ihnen blitzen.
„Ich bürge für Elion. Er hat nichts Unrechtes getan. Es gibt keinen Grund, ihn nur auf das Wort eines Verräters zu beschuldigen. Ohne sein Handeln wäre Katla gestorben. – Ich trage die Verantwortung. Seine Schuld ist meine Schuld, seine Strafe die meine.“
Einen Moment herrscht Schweigen, dann sagt Dagur mit zusammengepressten Zähnen: „So sei es.“
„Wo hattest du die Vorräte versteckt, Halvor?“, frage ich und wende mich um.
Zornig sieht er mich an. „Warum soll ich dir das sagen?“
„Warum nicht, wenn sie deiner Meinung nach dort nicht mehr sind?“
„Du vertraust doch lieber diesem kleinen Lügner und Verräter. Ich kann dir nicht sagen, wo die Vorräte sind!“
„Du bist der Verräter. Daran gibt es keinen Zweifel. Und ich will nur wissen, wo du dein Diebesgut versteckt hast.“ Fast kann ich ihn denken sehen. Fieberhaft überlegt er sich eine Antwort, die nicht die Wahrheit sein wird.
„Hinter den Ställen, im Verschlag, in dem das Holz lagert“, antwortet er schließlich.
„Das ist eine offensichtliche Lüge, dort wären sie feucht und ungenießbar geworden. Du bist durch und durch ein Lügner, Halvor, aber das wird dich nicht retten.“ Kurz sehe ich Dagur an, ehe ich mich an die Gemeinschaft wende. „Halvor ist ein Lügner, ein Dieb, ein Verräter und war ohne Skrupel bereit, Katla zu töten. Selbst jetzt ist er nicht bereit, die volle Wahrheit zu sagen und der Gemeinschaft die gestohlenen Vorräte zurückzugeben. Ich fordere die Verbannung aus der Gemeinschaft. Ohne Gnade.“
Sollte die Gemeinschaft mir folgen, käme dieses Urteil einem Todesurteil gleich, doch lässt man einem Mann wie Halvor nur den Hauch einer Chance, stehen im nächsten Frühjahr die Truppen des Königs vor unserem Tor.
„Nein, bitte, ihr müsst mir glauben, ich weiß nicht, wo die Vorräte sind“, ruft Halvor und ich glaube ihm fast. Das hieße aber nur, dass es noch einen Verräter in der Gemeinschaft gibt – und das ist sicher nicht Elion. Weiß Halvor, wer der zweite Verräter ist? Vielleicht nicht. Diskretion ist als Spion äußerst wichtig. Wenn er es weiß, würde er es sagen. Ich kann die Angst in seinen Augen sehen. Bei diesem Wetter überlebt man nicht in den Bergen – nicht, wenn man nicht mehr als die Kleider auf seinem Leib besitzt.
„Wo waren sie?“, frage ich Halvor noch einmal.
„In dem Strohlager des Stalles“, sagt er leise. Das könnte stimmen, Halvor hat vor seiner Festsetzung in den Ställen gearbeitet.
„Geh nachsehen, Egill“, weist Dagur an.
Während wir warten, wird das Murmeln wieder lauter. Halvor sitzt auf seinem Stuhl und stützt seinen Kopf auf die Hände. Elion neben mir zittert und knetet nervös seine Hände.
„Dir geschieht nichts. Keine Angst“, flüstere ich ihm zu. Ich weiß nicht, ob er meine Worte hört. Katla vor mir verändert ihre Lage und stöhnt leise. Beruhigend lege ich ihr die Hand auf die Schulter. Keiner darf ohne Erlaubnis die Versammlung verlassen, ehe ein Urteil über Halvor gesprochen ist.
Bald ist Egill wieder zurück. „Vorräte sind keine dort, aber eine Handvoll Körner legen den Verdacht nahe, dass dort die Lebensmittel versteckt waren.“
„Seht ihr“, ruft Halvor. „Fragt nicht mich, wo die Sachen geblieben sind.“
Dagur sieht ihn einen Moment an, dann tritt er vor die Gemeinschaft.
„Halvors Schuld ist bewiesen und wird von ihm nicht bestritten. Tomaz fordert für seine Vergehen die Verbannung, ohne Gnade. Fordert jemand etwas anderes? Will jemand seine Stimme für Halvor erheben?“ Keiner rührt sich. „Dann heben alle die Hand, die für eine Verbannung Halvors stimmen.“
Alle Hände der Gemeinschaft gehen hoch. Einer von ihnen ist vielleicht ebenfalls ein Verräter. Er opfert Halvor und hat die Vorräte. Sobald sich ihm die Möglichkeit bietet, wird er verschwinden, damit er den König rechtzeitig benachrichtigen kann und dieser unsere Tore vor dem Sommer erreicht. Ich werde versuchen, die Augen aufzuhalten. Zwar würde der Angriff auf unsere Gemeinschaft König Eskil viele Männer kosten, doch letztlich kann er uns im Frühjahr hier oben aushungern. Zu sehr sind wir auf Güter von auswärts angewiesen.
Ich werde mit Dagur sprechen, falls dieser mir überhaupt zuhören wird.
„Halvor, die Gemeinschaft verbannt dich aus ihrer Mitte. Du wirst uns noch heute verlassen. Mitnehmen darfst du die Kleider, die du am Leibe hast, sonst nichts. Den Mitgliedern der Gemeinschaft ist es verboten, dir zu helfen. Die Strafe ist sofort umzusetzen.“
Schwerfällig folgt Halvor Egill vor die Tür. Gemeinsam überqueren sie den Hof. Inzwischen liegt der Schnee hüfthoch. Egill öffnet die kleine Tür und Halvor tritt hinaus. Kaum ist er draußen, wirft eine Sturmbö die Tür wieder zu und Egill schiebt den Balken davor. Angesichts des Wetters wird Halvor dort draußen ohne wärmende Kleider nicht lange überleben können.
Schweigend löst sich die Versammlung auf, jeder ist mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Obwohl mir der Gedanke nicht gefällt, einen Menschen dem Tod zu überlassen, weiß ich, dass es keine Alternative gibt. Ihn hier sein Leben lang einzusperren, konnten wir uns nicht leisten. Zu groß wäre die Gefahr, dass er sich eines Tages doch befreit und uns verrät.
Zusammen mit Egill bringe ich Katla auf ihr Zimmer. Die Verhandlung hat sie erschöpft und ich helfe ihr in ihr Bett.
„Du magst den Kleinen“, sagt sie leise und sieht mich an.
„Er ist kein Verräter“, sage ich, ohne ihre Aussage zu bestätigen.
„Nein, das ist er bestimmt nicht. Aber du magst ihn mehr als die anderen. Er bedeutet dir etwas. Darum kann Dagur ihn nicht leiden. Er spürt das.“ Sie nimmt meine Hand. „Tu ihm nicht weh.“
„Dagur?“
„Elion. Du weißt genau, wie man sich fühlt, wenn man den Minen entkommen ist. Plötzlich ist man frei und alles neu. – Oft verliebt man sich in die, die einem diese Freiheit geschenkt haben.“
„Er ist nicht in mich verliebt. Seine Welt besteht noch aus ganz anderen Gefühlen. Liebe und Sex spielen noch keine Rolle. Er braucht Freundschaft und die gebe ich ihm. Ich vertraue ihm und werde nicht zulassen, dass ihm etwas geschieht.“ Dass Dagur ihm etwas tut, füge ich in Gedanken hinzu. Eifersucht ist eine starke Triebfeder und kann das Schlechteste in einem Menschen zutage fördern.
„Das ist gut. – Tomaz, pass aber auch auf, dass dir nichts geschieht.“ Sie schließt die Augen. „Und jetzt werde ich erst einmal noch eine Runde schlafen.“
Elion finde ich, wie vermutet, in der Bibliothek. Das Buch im Arm sitzt er vor dem Kamin. Als ich eintrete, hebt er den Blick und ich sehe die Verwirrung in seinen Augen. Ich ziehe mir einen Stuhl heran und setze mich vor ihn.
„Alles in Ordnung?“, frage ich, um das Gespräch zu beginnen.
„Warum hat Halvor mich beschuldigt?“ Groß sehen mich seine wunderschönen Augen an. „Und was bedeutet, dass du für mich bürgst?“
„Ich nehme an, es gibt wirklich einen zweiten Verräter, den Halvor aber nicht kannte. Vielleicht haben sie sich nie gesehen, nur schriftlich miteinander kommuniziert. Gerade damit einer den anderen nicht verraten kann. In seiner Not, weil er wirklich nicht weiß, wo die Vorräte sind und um sich an dir zu rächen, nannte er einfach deinen Namen. Du bist neu, vielleicht ist der zweite Spion das auch.“ Könnte es sein, dass einer der drei anderen Minensklaven, die wir mit Elion befreit haben, der Verräter ist? Ich beschloss, mir die drei in den kommenden Tagen näher anzusehen. „Dagur wollte den Anschuldigungen nachgehen und dich so lange einsperren. Ich vertraue dir und habe deshalb die Bürgschaft für dich übernommen. Das bedeutet, dass den Anschuldigungen zwar nachgegangen wird, aber du frei bleibst.“
„Du hast gesagt, dass meine Schuld deine ist. Ebenso meine Strafe.“
„Solltest du schuldig sein und ich habe mich getäuscht, dann bin ich genauso schuldig. Sollte die Gemeinschaft dich deshalb bestrafen, würde mich die gleiche Strafe treffen.“
„Du meinst, wenn ich schuldig wäre und verbannt würde, wie Halvor, dann würdest du auch verbannt werden, obwohl du nichts getan hast?“
„Ja, weil ich für dich gebürgt habe.“ Ich lächele ihn beruhigend an. „Aber du bist nicht schuldig und daher wird das nicht geschehen.“
„Warum vertraust du mir?“ Das scheint ihn wirklich zu verwundern.
„Ich sehe nicht den geringsten Grund, es nicht zu tun. Du bist kein Lügner und Verräter.“ Ich beuge mich vor und lege meine Hand auf seine Schulter. „Warum hättest du Katla helfen sollen, wenn du der Verräter wärst?“
Langsam nickt er. „Halvor wird sterben, oder?“
„Ja, bei diesem Wetter hat er keine Chance zu überleben. Ohne Essen und Waffen, bei den Stürmen. Er kann nichts jagen und sich nicht verteidigen. Sollte er es schaffen, wäre das ein Wunder.“
„Und trotzdem hast du diese Strafe gefordert.“
„Sollte er hierbleiben? Ein Mann, der bereit ist die Gemeinschaft zu verraten, Frauen, Männer und Kinder? Würde der König vor den Toren unserer Festung aufmarschieren, könnten wir uns tagelang, wochenlang verteidigen, viele seiner Soldaten töten, doch langfristig würden wir einer Belagerung nicht standhalten können. Wir würden verhungern. Zumindest, wenn der König mit seinen Wachen vor dem Sommer den Weg hierher findet. Wenn wir unsere Vorräte aufgefüllt haben und bis zum Winter verharren können, muss er abziehen, da seine Soldaten in der Kälte sterben würden. Er könnte den Nachschub nicht mehr gewährleisten und müsste die Belagerung abbrechen. Dies würde uns die Möglichkeit geben, vor seiner Rückkehr hier zu verschwinden.“
„Würde der König zulassen, dass wir hier verhungern?“
„Ja. In seinen Augen sind wir Verbrecher, Diebe und Mörder. Wenn wir uns ergeben würden, würde er uns hinrichten lassen und die Kinder in die Minen schicken.“ Elion schluckt.
„Aber wird er nicht irgendwann sowieso hierher finden? Er weiß, dass ihr euch in den Bergen versteckt.“ Ich kann die Furcht in seiner Stimme hören.
„Die Berge sind groß und der Weg hierher schwer zugänglich. Vor Jahren oder Jahrzehnten hat ein Steinschlag den direkten Zugang verschüttet und den Aufstieg für Wagen kompliziert. Nur wer weiß, wie er den Weg findet, kann hierherkommen. Doch mit jedem Verbündeten, mit jedem, der seinen Weg zu uns findet, steigt das Risiko. Der König bietet viel für unsere Köpfe.“ Mit den Schultern zuckend lache ich. „Doch wo sollten wir sonst hin? Hier sind wir frei. Und lieber sterbe ich, als mich wieder einsperren zu lassen.“
„Gibt es keinen anderen Ort, an dem man frei sein kann?“ Elion deutet auf die Landkarte, die an der Wand hängt.
„Vielleicht im Süden, im Land am Meer. Dort sollen die Bürger frei sein und die Steuern erträglich. Doch der Weg ist weit und ich weiß nicht, ob Fremde aus dem Norden dort willkommen sind.“ Es ranken sich viele Geschichten um den warmen Süden, doch außer Njal, der dort geboren ist, war keiner von uns dort.
„Das Meer? Egill sagt, das Meer besteht aus Wasser, so weit das Auge reicht. Dort wäre es warm und selbst im Winter gäbe es selten Schnee. Ich würde gerne einmal das Meer sehen.“ Elions verträumtes Lächeln wärmt mir das Herz. Ich möchte ihm gern das Meer zeigen, die Wärme der südlichen Sonne und Süße der Früchte dieses Landes.
Um in den Süden zu kommen, muss man das ganze Land durchqueren. Eine gefährliche Reise, da König Eskil sein Land mit unbarmherziger Hand regiert und kontrolliert.
Da fällt mir etwas ein, einen Ort, den Elion noch nicht kennt. „Du magst die Wärme? Dann komm.“ Ich nehme seine Hand und ziehe ihn mit mir hoch. „Wir gehen baden.“
Verwirrt sieht er mich an. „Heute ist das Badehaus zu.“
„Ich weiß“, entgegne ich nur.
Wir gehen in den Keller und ich öffne die Tür zu den Vorratskammern. Hinter uns schließe ich sorgfältig wieder ab. Elion beobachtet mich unsicher.
„Keine Angst. Doch noch kennt keiner den Ort, an den wir jetzt gehen. Ich wollte ihn Katla nach unserer Rückkehr zeigen, doch so viel ist dazwischengekommen.“ Wir gehen durch die Kellerräume, die noch gut gefüllt sind. In drei Monaten, wenn der Winter zu Ende geht, wird das anders aussehen. Im letzten Raum, in dem die Weine lagern, schiebe ich ein altes Holzregal zur Seite. Dahinter verborgen befindet sich eine Tür.
„Als mir die ersten Diebstähle aufgefallen sind, habe ich die Flaschen gezählt und umsortiert. Dabei rollte mein Stift hinter das Regal. Als ich mich bückte, um ihn aufzuheben, fiel mir die Tür dahinter auf. Ich schob also das Regal beiseite und öffnete die Tür.“ Was ich jetzt auch tue. Dahinter erwartet uns eine steile, in den Felsen geschlagene Wendeltreppe. Ich nehme die Lampe und Elions Hand.
Der spiralförmige Abstieg endete in einer Höhle. Hier unten ist es sehr warm. Der Raum ist nicht übermäßig groß, an den Wänden haben Menschenhände glatte Bänke aus dem Stein geschlagen. Auch der Boden ist glatt und führt zu einem natürlichen Becken. Wasserdampf schwebt träge über der Oberfläche.
„Was ist das?“, fragt Elion leise.
„Eine heiße Quelle. Die ehemaligen Herren der Burg haben sie gebaut und dann wurde sie vergessen, versteckt hinter dem Regal.“ Ich entledige mich meiner Weste und beginne mein Hemd aufzuknöpfen. „Komm, zieh dich aus, das Wasser ist herrlich warm.“
„Dürfen wir das?“ Unsicher sieht er mich an.
„Natürlich. Ich werde den anderen davon berichten und wir müssen uns überlegen, wie wir sie nutzen können, da der Weg durch unsere Vorratskammern führt. Aber im Moment gehört sie uns allein.“ Das Hemd werfe ich neben die Weste und öffne meine Hose. „Du brauchst keine Angst zu haben. Ich passe auf dich auf.“
Die Worte scheinen zu genügen und ich freue mich über das Vertrauen, das Elion mir entgegenbringt. Während er sich noch auszieht, steige ich in das warme, fast heiße Wasser und setze mich auf die unter Wasser gelegene Fläche. Bis über die Schultern überspült mich das heiße Nass, hüllt mich wärmend ein.
Elion steigt aus seinen Kleidern und ich sehe ihn zum ersten Mal nackt. Er ist schlank, deutlich sehe ich den Schwung seines Rückgrates, die beiden Grübchen über seinen runden Pobacken. Als er sich umdreht, wende ich den Blick ab. Ich will ihn nicht anstarren und in Verlegenheit bringen. Erst als er die Stufen in das Wasser hinabsteigt, sehe ich hoch.
„Das ist verdammt warm“, entfährt es ihm und ich lache.
„Ja, aber sehr erholsam, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat.“
Er setzt sich neben mich. Das Wasser reicht ihm fast bis ans Kinn. Nachdem er sich an die Wärme gewöhnt hat, schließt er die Augen und lehnt den Kopf zurück. Auch ich lege den Kopf auf den Rand und genieße die Wärme.
„Tomaz?“
„Hm“, brumme ich nur.
„Darf ich dich etwas fragen?“
„Alles, was du willst.“
Statt einer Frage folgt Schweigen, bis ich mich zu ihm umdrehe. Nervös kaut er auf seiner Unterlippe herum, scheint nach den rechten Worten zu suchen.
„Warum teilst du dein Bett mit einem Mann?“ Die Worte sind leise gesprochen.
„Weil ich Männer lieber mag als Frauen“, antworte ich wahrheitsgemäß.
„Woher weißt du das?“
Ich unterdrücke ein Grinsen. Sex ist für Minensklaven kein Thema. Die wöchentliche Injektion unterbindet jedes Verlangen. Die normale Entwicklung junger Männer und Frauen wird im Keim erstickt. Erst ganz langsam dringen diese Gefühle nach ihrer Befreiung an die Oberfläche.
„Wenn die Wirkung der Injektionen nachlassen, beginnt sich dein Körper zu verändern. Er entwickelt Bedürfnisse, die für dich bisher unbekannt waren. Du möchtest berührt werden, träumst von Berührungen und wachst morgens mit feuchten Flecken in deinem Bett auf.“
Erschrocken sieht er mich an. Offensichtlich habe ich nicht die richtigen Worte gefunden. Janusch könnte dies sicher besser als ich. Wie soll ich ihm das erklären?
„Das sollte dich nicht erschrecken. Wenn aus Jungen Männer und aus Mädchen Frauen werden, erwacht in ihnen …“ Wie soll ich das ausdrücken, beschreiben? „Das Begehren.“
Fragezeichen in Elions Gesicht.
„Genau wie du Hunger auf Nahrung hast, hungert dein Körper nach Berührung.“ Verdammt, ist das schwer. Ich finde einfach nicht die richtigen Worte. „Anders. Männer und Frauen sind verschieden. Männer habe zwischen ihren Beinen ein Glied. Wenn sie einen anderen Menschen, egal ob Mann oder Frau, begehren, fließt Blut in dieses und lässt es hart werden. Dann möchte man, dass es angefasst, gestreichelt wird. Wenn ein anderer – oder du selbst – diesem Wunsch nachkommt, sammeln sich wundervolle Gefühle in deinem Unterleib, kribbelnd, pulsierend, so lange bis du es nicht mehr aushältst und dich ergießt. Das bedeutet, das Sperma aus deinem Körper fließt.“
„Haben die Wärter uns für ihr Begehren benutzt?“
„Nein, das war kein Begehren, damit wollten sie uns demütigen, verletzen und ihre Macht demonstrieren. Das hat nichts mit den Gefühlen zwischen zwei Menschen zu tun!“
„Und es passiert jedem Mann?“
„Ja, früher oder später.“
„Und dann weiß ich, ob ich Männer oder Frauen mag?“
„Je nachdem, wen du begehrst. Manche Menschen begehren auch sowohl Männer als auch Frauen. Alles ist möglich, nichts ist schlecht.“
„Und was hat Begehren mit Liebe zu tun?“
Leicht macht es mir der Junge nicht. „Mit Liebe hat es nicht unbedingt zu tun. Ich war noch nicht verliebt, aber Liebe betrifft dein Herz, Begehren nur deinen Körper. Wenn du dich jedoch verliebst, dann wirst du diesen Menschen auch begehren.“
Elion sieht mir in die Augen. In dem schwachen Licht kann ich ihre Farbe nicht sehen.
„Danke“, sagt er und lächelt.
„Gern, wenn du weitere Fragen hast, stehe ich dir zur Verfügung“, erwidere ich mit einem erleichterten Grinsen. „Lass uns wieder zurückgehen. Sonst werden wir noch vermisst.“
„Liebt Dagur dich?“
Ich sinke zurück in das Wasser. „Ja, zumindest sagt er das.“
„Aber du liebst ihn nicht?
Warum hatte ich mich bereit erklärt, Rede und Antwort zu stehen? „Nein, ich glaube nicht.“
„Weiß er das? Oder denkt er, du liebst ihn?“
„Ich habe nie behauptet, ihn zu lieben. Ich nehme also an, er weiß, dass ich es nicht tue.“ Jetzt steige ich aus dem Wasser, ehe Elion noch mehr Fragen einfallen.
Wir haben keine Handtücher mitgenommen und ich lege mich auf die warme Steinbank, um zu trocknen. Elion bleibt stehen und betrachtet mich.
„Du bist schön“, stellt er fest.
„Findest du? Warum?“ Interessiert sehe ich ihn an. Er ist selbst schön, sein sehniger Körper, seine klaren Züge und seine wunderschönen Augen.
„Alles an dir ist perfekt. Dein Körper, dein Gesicht und vor allem deine Augen. Sie leuchten.“
Unter seinem Blick werde ich nervös und stehe wieder auf. „Du bist selbst sehr schön, Elion. – Zieh dich an.“
Schweigend streifen wir unsere Kleider über.
„Wirst du es den anderen erzählen?“
„Von der heißen Therme? – Sollte ich wohl …“
„Können wir vorher noch einmal hierherkommen? Allein?“
Wie könnte ich ihm etwas abschlagen und nicke deshalb. Ein strahlendes Lächeln erscheint in seinem Gesicht. Wenn ich nicht aufpasse, werde ich ihm zu nahe kommen und in seiner Sonne verglühen.
Ich wische den Gedanken fort und wir verlassen die unterirdische Höhle über die steile Treppe wieder.
„Was ist das zwischen dir und 713?“, fragt Dagur mich erstaunlich ruhig, als ich später sein Zimmer betrete.
„Elion. 713 gibt es nicht mehr. – Ich bin sein Pate und nun sein Bürge.“
„Warum musstest du das tun?“
„Weil er unschuldig ist und du bereit, ihn in den tiefsten Kerker zu werfen und dort zu vergessen.“ Ich setze mich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Es gibt keinen Grund zur Eifersucht. Warum vertraust du mir nicht?“
„Weil ich Augen im Kopf habe und sehen kann. Dieser Junge bedeutet dir mehr als alle anderen. Du verbringst deine Zeit mit ihm und wenn du ihn ansiehst …“ Dagur zuckt mit den Schultern. „Ich befürchte, dich zu verlieren.“
„Mit deiner Eifersucht erreichst du dieses Ziel garantiert schneller“, entgegne ich. Zu meinem Erstaunen nickt Dagur bloß.
„Wer glaubst du, ist der zweite Verräter?“
Der Themenwechsel verwundert mich und ich denke kurz nach. „Ich weiß nicht. Ich möchte es keinem zutrauen, aber …“
Noch während ich spreche, kommt mir die Erkenntnis. Ich springe auf. „Verdammt, Dagur, er hat uns reingelegt. Dieses ganze Geschwätz, diese Beschuldigungen sollten uns nur in die falsche Richtung führen. Es gibt keinen zweiten Verräter. Halvor hat die Vorräte vor der Festung deponiert. Als wir ihn verbannten, hat er die Sachen geholt und sich auf den Abstieg ins Tal gemacht.“
Dagur sieht mich an. „Du könntest recht haben. Dann ist er schon einen halben Tag voraus.“ Er steht auf. „Pack deine Sachen, sag Egill und Jokull Bescheid, wir gehen auf die Jagd.“
Ohne zu zögern komme ich seiner Aufforderung nach. Wir haben keine Zeit zu verlieren.
Keine Stunde später stapfen wir vier auf Schneeschuhen der schon verwehten Spur von Halvor hinterher. Wie vermutet, hat er sich zuerst zu einer Höhle in der Nähe begeben. Von da begann er seinen Abstieg. Wir folgen zügig seinen Spuren. Wir müssen uns beeilen, wenn wir ihn einholen wollen.
Schon bald senkt sich die Dunkelheit über die Berge, doch wir können uns nicht leisten auf den Morgen zu warten. Eingehüllt bis auf die Augen gehen wir vorsichtig weiter. In der mondlosen Nacht nicht ganz ungefährlich.
Still verfluche ich meine Dummheit, auf Halvors Ablenkung hereingefallen zu sein. Ein kluger Schachzug, der uns Stunden gekostet hat.
Immer wieder wandern meine Gedanken zu Elion. Aufgrund unseres überstürzten Aufbruchs konnte ich mich nicht von ihm verabschieden. Nur Katla habe ich Bescheid gesagt. Wird er sich Sorgen machen? Bedeute ich ihm etwas? Und warum denke ich darüber nach?
Dicke Schneeflocken fallen vom Himmel. Zum Glück gibt es von hier aus nur einen Weg den Berg hinab und es ist egal, dass sie die Spuren Halvors bedecken. Die Kälte dringt unbarmherzig unter meine Kleider und die Wärme des Wassers, in dem ich mit Elion lag, scheint ein Traum zu sein.
Nach einer gefühlten Ewigkeit legen wir eine Pause ein, um zu essen und ein wenig zu ruhen. Wir reden nicht viel, denn es gibt nichts zu sagen. Jedem ist bewusst, wie wichtig unsere Aufgabe ist. Erreicht Halvor sein Ziel, ist unsere Zuflucht verloren.
Aus den einzelnen Schneeflocken ist ein Schneetreiben geworden, das die Sicht stark einschränkt. Nur sehr langsam kommen wir vorwärts. Bis wir zu einem Punkt kommen, an dem das Weitergehen zu gefährlich wäre. Im Schutz der Felsen drängen wir uns zusammen, warten auf das Tageslicht.
Sobald die Helligkeit es zulässt, gehen wir weiter. Das Schneetreiben ist vorbei und der wolkenlose Himmel verspricht einen sonnigen Tag. Doch um diese Jahreszeit heißt Sonne nicht Wärme. Der Wind ist eisig und ich bin dankbar für die Schneebrillen, die meine Augen schützen. Ohne Schneeschuhe steigen wir die steile Passage hinab. Egill flucht lautstark, nachdem er fast abgerutscht wäre. Spuren sind nach dem Schnee nicht mehr zu sehen, einen anderen Weg gibt es jedoch nicht.
Sind wir Halvor schon näher gekommen? Wird er Schutz in einer Mine suchen? Die nächste große Mine auf dem Weg nach unten ist bei diesem Wetter noch fünf Tagesreisen weit weg. Dort wäre er in Sicherheit, da wir vier keine Chance gegen die große Zahl Wärter hätten.
Unbeirrt folgen wir weiter dem Pfad hinab, der unter dem hohen Schnee nicht zu erkennen ist. Immer wieder rutschten wir fast ab. Ein Sturz kann zu schweren Verletzungen führen, da sich überall Gestein unter dem Weiß verbirgt.
Als die Sonne den Zenit erreicht, legen wir eine kurze Pause ein. In den Gesichtern der anderen kann ich die Anstrengung sehen, die ich spüre.
Am Nachmittag treffen wir wieder auf Spuren, die uns das Tempo erhöhen lassen. Trotzdem gelingt es uns nicht, ihn bis zur kommenden Nacht einzuholen. In einer Höhle legen wir eine längere Rast ein. Ohne auszuruhen werden wir ihn nie einholen. Die Erschöpfung lässt mich schnell einschlafen.
Noch im Dunkeln geht es weiter. Die Zeit läuft uns davon, wir müssen ihn erreichen! Wenn nicht, müssen wir die Festung vor dem Frühjahr verlassen. Wie sollen die Kinder zu dieser Jahreszeit einen Abstieg schaffen? Oder die Alten? Die Schwangeren? Die Kranken?
Am Mittag umrunden wir auf einem schmalen Pfad einen Überhang. Steil neben mir fällt der Berg in die Tiefe. Meine Finger sind kalt und klamm, ich kann mich kaum an dem Felsen halten. Vor mir befindet sich Dagur. Plötzlich stoppt er und hebt die Hand. Mit einer Bewegung deutet er nach vorne und mir wird klar, dass wir zum ersten Mal Sichtkontakt zu Halvor haben.
Langsam gehen, klettern wir weiter, bemüht keinen Lärm zu machen. Wir wollen den Verräter nicht auf uns aufmerksam machen.
Nacheinander umrunden wir endlich den Felsen und können ihn unter uns sehen. Noch zu weit, um ihn mit einem Schuss zu töten.
Der Anblick allein reicht jedoch, um unsere Kräfte zu mobilisieren. Zügig folgen wir ihm. Dank unserer Schneeschuhe kommen wir in dem tiefen Schnee schneller voran. Immer näher kommen wir dem flüchtenden Mann, der uns noch nicht bemerkt hat. Offensichtlich vertraut er auf sein Ablenkungsmanöver.
Bald sind wir in Schussweite, doch Dagur will ihn offensichtlich stellen, nicht einfach töten. Mir widerstrebt der Gedanke, einen Menschen zu töten, aber die Sicherheit der Gemeinschaft geht vor.
Plötzlich bleibt Halvor stehen, wendet sich um und sieht uns. In seinem vermummten Gesicht ist nichts zu erkennen. Dann beginnt er zu laufen. Ein schwieriges Unterfangen in dem tiefen Schnee. Auch wir erhöhen unser Tempo, kommen ihm unaufhaltsam näher.
Schwer kämpft Halvor sich weiter, bis er erneut stehen bleibt und sich mit einer Waffe in der Hand umdreht. Ehe er abdrücken kann, sirrt ein Pfeil aus Egills Armbrust an mir vorbei und trifft Halvor an der Schulter, reißt ihn von den Beinen. Hier in den schneebedeckten Bergen ist es ratsam, wenn man ohne Lärm jagen kann. Ein Schuss könnte eine Lawine auslösen und uns alle töten.
Als wir ihn erreichen, färbt sein Blut schon den Schnee rot. Seine Hand umklammert den kurzen Pfeil, der aus seiner Schulter ragt. Die Pistole hat er fallen gelassen, sie liegt im hohen Schnee und Dagur hebt sie auf.
„Du hast uns belogen, es gibt keinen weiteren Verräter“, sagt Dagur.
„Verflucht sollt ihr sein“, knurrt Halvor.
Egill hockt sich hinter ihn und sieht Dagur fragend an.
„Nein, verflucht bist du“, entgegnet Dagur und nickt. Mit einem einzigen Schnitt durchtrennt Egill Halvors Kehle.
Die Leiche überlassen wir dem Schnee und den Tieren. Die Vorräte haben wir auf unsere Rucksäcke verteilt und machen uns wieder an den Aufstieg. In spätestens drei Tagen sollten wir die Festung wieder erreichen.
Gespannte Ruhe liegt über der Gemeinschaft. Seit vier Tagen sind Dagur, Egill, Jokull und Tomaz aufgebrochen, den Verräter Halvor zu töten.
Wenn sich ihre Vermutung als wahr herausstellt, dann bin ich von den Beschuldigungen reingewaschen. Zumindest sagt Katla das.
Ich verbringe viel Zeit bei ihr. Da Tomaz und Egill nicht da sind, fällt unser Unterricht aus. Wenn mich nicht gerade meinen Pflichten beschäftigen oder ich bei Katla sitze, bin ich in der Bibliothek. Ich liebe es, dort zu sitzen, das Buch der Sonne anzusehen und an Tomaz zu denken.
Manchmal überkommt mich die Angst, er könnte nicht zurückkehren. Die Berge sind tückisch, das Wetter wechselhaft und Halvor ein skrupelloser Verräter. Was wenn er stirbt?
Schnell schiebe ich solche Gedanken von mir und denke an das warme Wasser der heißen Quelle. Auch wenn ich nicht wieder unter die Erde zurückkehren wollte, gefiel mir diese Höhle – und solange Tomaz bei mir ist, brauche ich keine Angst zu haben.
In den letzten Tagen beschäftigte mich oft das Gespräch, das wir in dort unten geführt haben. Ich bin Tomaz dankbar für seine Offenheit. Wen sollte ich auch sonst fragen?
Gestern erkundigte ich mich bei Katla über die Liebe. Sie sagte, dass es mehr als eine Form der Liebe gebe. Die zwischen Eltern und Kindern, zwischen Geschwistern und Freunden sowie die zwischen Partnern. Immer berühre dieses Gefühl das Herz. Liebe spüre man tief in sich drin, wenn man besorgt sei, sich freue oder einfach nur Glück fühle.
Glück. Auch ein Begriff, mit dem ich nichts anfangen kann. Was ist Glück? Die Antwort darauf ist ebenso kompliziert wie die auf die Liebe.
Auch Glück bedeutet verschiedenes. Man kann Glück haben oder Glück fühlen. Katla versuchte es mir zu erklären. Ich habe Glück, weil ich den Minen entkommen bin und hier ein neues Zuhause gefunden habe. Glücklich sei man zum Beispiel, wenn man mit dem Menschen zusammen ist, in den man sich verliebt hat.
Verliebt sein scheint auch nicht gleichbedeutend mit Liebe zu sein. Seufzend schiebe ich die Gedanken beiseite und schlage das Buch auf. Wieder höre ich Tomaz’ Stimme, als er mir die Geschichte vorgelesen hat. Ich verfluche mich, weil ich eingeschlafen bin und nicht weiß, wie sie weitergeht.
Wenn Tomaz wieder da ist, werde ich ihn bitten, sie mir noch einmal vorzulesen. Dann werde ich nicht einschlafen!
Ich lege das Buch zur Seite und nehme die kleine Schiefertafel und beginne die Buchstaben und Worte zu üben, die wir schon gelernt haben.
Am nächsten Tag setzt ein Schneesturm ein. Der eisige Wind treibt die Flocken waagerecht an meinem Fenster vorbei. Im Hof bilden sich hohe Verwehungen. Überall heult und jault der Wind um die Ecken, durch die Schornsteine und undichten Fenster.
Die Besorgnis, die mich bedrückt, belastet auch die Stimmung in der Gemeinschaft. Eine nervöse Spannung liegt über allen, drückt sich in vielen kleinen Streitereien aus. Fünf Tage in Schnee und Kälte sind eine lange Zeit. Haben sie Halvor eingeholt? Oder ist er ihnen entkommen?
Ich gehe zu Katla, wir vertreiben uns die Zeit mit einem Brettspiel, das sie mir beigebracht hat.
„Manchmal erinnerst du mich an Tomaz, als er vor fünf, bald sechs Jahren zu uns gekommen ist“, sagt sie plötzlich und lächelt mich an. „Er war genauso wissbegierig und interessiert wie du.“
„Er war noch jünger als du“, fährt sie fort. „Mehr ein Junge als ein Mann. Aber alles interessierte ihn und er löcherte seine Umgebung mit Fragen. Unbedingt wollte er lesen lernen. Die meisten Bücher in unserer kleinen Sammlung hat er besorgt. Dafür ist er manchmal sogar ein Risiko eingegangen.“ Besorgt sieht sie zu dem Fenster hinüber, vor dem der Sturm immer noch tobt. „Ich hoffe, ihm ist nichts passiert.“
„Das hoffe ich auch“, sage ich leise.
Der Schneesturm wütet zwei Tage. Erst am dritten Morgen weckt mich die Sonne, die ihre Strahlen in mein Zimmer schickt. Im Laufe des Vormittags gehe ich mit Unnur und den Kindern hinaus. Ausgelassen toben sie durch den glitzernden Schnee. Die Kälte ist schneidend, treibt uns die Tränen in die Augen. Doch die Kleinen brauchen Bewegung, lassen sich davon nicht abhalten, sich in den Schnee zu werfen. Nur mühsam können wir sie nach einer Stunde wieder in die Wärme locken.
Wann werden Tomaz und die anderen zurückkommen? Meine Gedanken kreisen dauernd um ihn. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren. Stundenlang stehe ich am Fenster und beobachte das Tor.
In dieser Nacht schlafe ich schlecht, Alpträume lassen mich immer wieder aufschrecken. In meinen Träumen sehe ich Tomaz verletzt sterben. Noch vor Sonnenaufgang gebe ich die Versuche zu schlafen auf und gehe in die Bibliothek. Doch auch hier finde ich keine Ruhe.
Ich gehe in das oberste Geschoss, stehe am Fenster und sehe der Sonne zu, die sich langsam über den Berggipfeln erhebt.
Gerade als ich mich abwenden will, sehe ich sie kommen. Vier Gestalten kämpfen sich durch den Schnee auf das Tor zu. Wie der Wind eile ich die Treppen hinunter, nehme meinen Mantel und renne über den Hof. Mein Herz schlägt viel zu stark, scheint meine Rippen durchschlagen zu wollen. Viel zu lang dauert der Weg durch den hohen Schnee, ehe ich endlich das Tor erreiche und den Balken entferne.
Die Gesichter verhüllt, die Augen hinter den Schutzbrillen versteckt, bedeckt mit Schnee und Eis stehen sie davor. Erst jetzt sehe ich, dass einer von ihnen gestützt wird.
„Schnell, zur Seite … Tomaz“, sagt Dagur und ich mache den Weg frei. Er hebt die Gestalt an seiner Seite, Tomaz, hoch und trägt ihn an mir vorbei. Meine Gedanken überschlagen sich, während ich neben ihnen herlaufe. Egill und Jokull folgen uns, schließen das Tor.
In der Halle reißt Dagur den Schal von seinem Mund. „Hol Janusch, schnell!“
Schon renne ich los. Mit der Faust schlage ich gegen die Zimmertür und rufe den Namen des Arztes.
„Immer mit der Ruhe“, sagt er, als er verschlafen die Tür öffnet.
„Komm schnell. Tomaz, er …“ Ich weiß gar nicht, was geschehen ist. Janusch reagiert sofort, zieht sich ein Hemd über und folgt mir hinunter in die Halle.
Wir schieben uns durch die Menschen, die inzwischen erschienen sind und die vier Ankömmlinge begrüßen wollen.
Dagur hat Tomaz noch immer auf seinem Arm. Der schmelzende Schnee von ihrer Kleidung tropft zu Boden.
„Was ist geschehen?“, fragt Janusch und tritt näher. Er nimmt Tomaz Mütze, Schal und Brille ab. Sein Gesicht ist ganz bleich, die Augen glänzen fiebrig.
„Ich weiß es nicht, seit gestern geht es ihm immer schlechter. Er hat Fieber und Schüttelfrost.“ In Dagurs Stimme höre ich deutlich die Angst, die ich fühle.
„Bring ihn in mein Zimmer“, weist ihn Janusch an, dann dreht er sich zu mir um. „Hol bitte Caja, dann gehst du in die Küche und bringst mir eine Schale voll heißer Steine.“
Ich nicke und laufe los.
Caja ist schon auf dem Weg nach unten und ich begegne ihr im Flur, schicke sie zu Janusch. In der Küche lasse ich mir von Hekla eine Schale voller Hühnerei großer, heißer Steine geben und renne die Treppe wieder hoch zu Janusch Zimmer. Die ganze Zeit versuche ich nicht zu denken, meine ausufernde Fantasie zu zügeln.
„Du gehst jetzt, Dagur. Im Moment kannst du ihm nicht helfen und ehe ich nicht weiß, was ihm fehlt, darf niemand zu ihm. Geh baden und ruh dich aus. Ich komme später zu dir.“ Energisch schiebt Janusch den widerstrebenden Dagur raus. „Keine Angst, ich kümmere mich schon um ihn.“
Schnell husche ich an den beiden vorbei ins Zimmer. Caja ist dabei, Tomaz aus seinen Kleidern zu helfen. Sie trägt ein Tuch vor dem Mund. Ehe ich etwas fragen kann, fällt die Tür hinter mir ins Schloss.
„Elion, ich könnte deine Hilfe gebrauchen. Es ist nicht ganz ungefährlich, solange wir nicht wissen, was Tomaz fehlt. Du kannst also ablehnen.“ Ernst sieht mich Janusch an.
„Ich helfe dir“, sage ich entschlossen.
„Gut, dann musst du diesen Mundschutz tragen, falls es ansteckend ist.“ Er reicht mir ein Tuch und bindet sich selbst eins vor Mund und Nase. Ich folge seinem Beispiel.
„Als Erstes müssen wir ihn ausziehen. Die Kleider kommen hier in diesen Korb. Die sehe ich mir später an.“
Gemeinsam befreien wir Tomaz von seinen Kleidern. Sein Körper scheint zu kochen. Janusch hört seine Brust und seinen Rücken ab, sieht in seine Augen. Tomaz rührt sich während der ganzen Zeit nicht, nur das kaum wahrnehmbare Heben und Senken seiner Brust zeigt, dass er noch lebt. Janusch schickt mich Wasser holen, kaum bin ich zurück, wirft er drei heiße Steine hinein und gibt aus einer dunklen Falsche einige Tropfen Flüssigkeit dazu.
„Wascht seinen Körper sorgfältig damit ab. Wenn ihr irgendetwas Auffälliges seht, dann ruft mich.“ Während wir beginnen, nimmt er den Korb mit Tomaz’ Kleidern und setzt sich ans Fenster. Schweigend reinigen wir den verschwitzten Körper mit dem duftenden Wasser. Die Berührung von Tomaz’ Körper ist merkwürdig intim und ich kämpfe gegen das Gefühl an, etwas Verbotenes zu tun. Als wir ihn auf die Seite drehen, um an seinen Rücken zu kommen, sehe ich eine winzige Wunde an seiner Hüfte.
„Janusch“, rufe ich und der Arzt kommt sofort. Die Stelle ist klein und rund, dahinter ist eine winzige längliche Erhebung.
„Caja, ich brauch das Skalpell und die Desinfektionsflüssigkeit“, sagt Janusch bestimmt, nachdem er sich die Wunde durch ein Vergrößerungsglas angesehen hat.
Skalpell? Doch bevor ich die Frage stellen kann, reicht Caja dem Arzt ein kleines Messer mit langem Griff.
„Ihr müsst ihn gut festhalten“, sagt Janusch. „Caja seine Beine und du, Elion, seinen Oberkörper. Wir haben keine Zeit für lange Vorbereitung.“
Ich versuche Tomaz’ Körper mit meinem zu fixieren, spüre deutlich die Hitze, die von ihm ausgeht.
Der Arzt tupft ein wenig Flüssigkeit auf die Stelle, ehe er das Skalpell ansetzt und die Haut über der Erhebung öffnet. Tomaz zuckt und ich bemühe mich ihn ruhig zu halten. Ein Stöhnen entkommt seinem Mund.
Blut läuft aus der Wunde, deren Ränder Janusch mit seinen Fingern auseinanderzieht.
„Pinzette“, sagt er und Caja reicht ihm ein weiteres Instrument. Mit den winzigen Spitzen versucht der Arzt etwas in der Wunde zu greifen. Er flucht leise, als er es nicht erwischt und versucht es erneut. Weiter fließt das Blut aus dem Schnitt.
Janusch greift erneut zum Messer und schneidet tiefer. Leises Wimmern kommt von Tomaz und ich beiße die Zähne aufeinander. Wieder versucht der Arzt mit dem kleinen Greifwerkzeug etwas zu erwischen. Dieses Mal gelingt es ihm und er zieht etwas aus der Wunde. Ein wurmähnliches, sich windendes, Fingerglied langes Objekt hängt zwischen der Pinzette. Caja reicht Janusch einen gläsernen Behälter, in den er das blutbehaftete Ding fallen lässt und diesen mit einem Deckel verschließt.
„Gut festhalten!“ Mit diesen Worten gießt er großzügig Desinfektionsflüssigkeit über die Wunde. Der Körper bäumt sich schmerzgepeinigt auf.
„Nadel und Faden.“
Schnell reicht ihm Caja beides. Janusch näht die Haut zusammen, wie Stoff, desinfiziert die Stelle erneut und verbindet sie.
„Was war das?“, traue ich mich jetzt zu fragen.
„Ein verdammter Parasit! Er bohrt sich ins Fleisch, egal ob Mensch oder Tier.“ Janusch schüttelt sich. „Zum Glück war er noch nicht lange unterwegs, sonst hätte ich ihn nicht herausholen können. Er frisst sich bis in die Eingeweide vor und wächst dabei.“
Eine gruselige Vorstellung und ich bin froh, dass Janusch dieses kleine Monster aus Tomaz entfernt hat.
„Jetzt müssen wir das Fieber senken. Diese Biester tragen meist Infektionen in den Wirtskörper.“ Janusch wischt seine Hände ab. „Säubert ihn und legt ihm ein frisches Laken über.“
Schnell kommen Caja und ich dieser Aufforderung nach. Anschließend schaufelt der Arzt zu meiner Verblüffung Schnee auf den eingepackten Körper.
„Los, helft mir. Wir müssen die Temperatur senken.“
Gemeinsam bedecken wir den ganzen Körper mit der eisigen Masse. Janusch dreht eine Sanduhr um. „Wenn die Zeit abgelaufen ist, befreien wir ihn wieder.“
Ich betrachte Tomaz, während Janusch herumwerkelt und Flüssigkeiten aus verschiedenen Flaschen zusammenmixt. Caja räumt nebenbei auf.
„Passiert so etwas oft?“, frage ich in die Stille.
„Nein, eigentlich nicht. Meist finden diese Parasiten einen tierischen Wirt. Doch wenn nichts anderes da ist, nehmen sie auch mit einem Menschen vorlieb.“
„Aber du kanntest diese Parasiten“, stelle ich fest.
„ich war als Arzt in den Minen, dabei begegnen einem eine Menge Krankheiten“, entgegnet er.
„Du hast für König Eskil in den Minen gearbeitet?“
„Nein, Junge, ich wurde verurteilt und hatte die Wahl zwischen dem Strick und dem Dienst in der Mine.“ Janusch lachte tief. „Lieber lebend in den Minen als tot am Strick, dachte ich mir. Auch wenn ich es hinterher manchmal bereute. – Zumindest so lang, bis ich hierherkam.“
„Wie lange hast du in den Minen gearbeitet?“
„Lange genug“, entgegnet er mit einem Augenzwinkern und tritt wieder ans Bett. Mit einem Löffel flößt er Tomaz etwas von der Flüssigkeit ein, die er zusammengemischt hat. Ein Blick auf die Sanduhr zeigt uns, dass die Zeit fast herum ist.
„Wir müssen den Schnee und das nasse Laken entfernen.“
Gemeinsam räumen wir alles weg und sorgen dafür, dass Tomaz kurz darauf trocken und warm liegt.
„Du kannst jetzt gehen, Elion, danke für deine Hilfe.“ Janusch lächelt mich an.
Ich schüttele den Kopf. „Ich würde gern hierbleiben – wenn ich darf …“
Janusch zieht fragend die Augenbrauen hoch, dann nickt er. „Bleib ruhig hier.“
Tomaz schläft, das Fieber ist gesunken und Janusch zufrieden mit der Entwicklung. Gerade ist er nebenan in sein Bett gegangen, nachdem er mir gestattet hat, die Nacht hier zu verbringen. In eine Decke eingehüllt sitze ich in einem Sessel neben dem Bett und betrachte Tomaz. Ein struppiger Bart ziert sein Gesicht, betont die blasse Haut. Ich werde erst gehen, wenn ich in seinen Augen gesehen habe, dass es ihm gut geht.
Dank der Medizin schläft er völlig ruhig. Janusch meint, Schlaf sei das, was sein Körper jetzt braucht. In diesem Zustand könnte sich sein Körper am besten erholen.
Ich bewundere Janusch für sein Wissen – und sein Können. Auf dem Tisch unter dem Fenster stehen unzählige Flaschen und Gläser. Getrocknete Kräuter liegen darauf und dazwischen verschiedene Instrumente, bei denen ich mir nicht einmal vorstellen kann, wofür sie sind. Auch hat er Bücher hier stehen. Auf meine Frage erzählte er mir, dass sie sich mit Medizin befassen, dem Aufbau des menschlichen Körpers und der Wirkung von Pflanzen und Giften.
Auch von den Injektionen hat er mir erzählt. Von deren Wirkung auf unsere Körper und unseren Geist. Der Wirkstoff verhindert eine ganze Reihe von Erkrankungen, unterdrückt den Sexualtrieb und dämpft das aggressive Verhalten.
Ohne dass ich nachfragen musste, hat er mir von dem Sexualtrieb erzählt. Einiges wusste ich schon von Tomaz.
Janusch erklärte mir, dass man nicht genau sagen kann, wie lange die Wirkung der Spritzen anhält, aber in absehbarer Zeit würde auch mein Körper reagieren wie bei jedem Mann. Ein wenig habe ich Angst davor. Werde ich Frauen mehr mögen als Männer? Werde ich von Frauen träumen, wenn ich mich ergieße? Irgendwie scheint mir das unwahrscheinlich. Oder werde ich an Männer, an Tomaz denken?
Der Gedanke lässt mich erröten. Tomaz ist mein Freund und er ist mit Dagur zusammen, ich hätte kein Recht, von ihm zu träumen. Aber Träume kann man nicht bestimmen. Leise seufzend versuche ich an etwas anderes zu denken. An das Buch der Sonne. Vielleicht liest Tomaz mir die erste Geschichte noch einmal vor.
Das Öffnen der Tür lässt mich hochschrecken. Offenbar bin ich eingeschlafen. Im schwachen Schein des Kaminfeuers sehe ich Dagur, der an Tomaz’ Bett tritt. Sanft streichelt er ihm über die Wange. Dann blickt er hoch, sieht mich genau an.
„Was machst du hier?“, fragt er leise.
„Aufpassen“, entgegne ich, weil mir nichts Besseres einfällt.
Dagur betrachtet mich mit gerunzelter Stirn. „Du magst ihn sehr gern, nicht wahr?“
Ich nicke nur.
„Du weißt, dass er zu mir gehört. Mehr als Freundschaft kann er dir nicht bieten.“ Er fixiert mich und ich fühle mich klein.
„Ich weiß“, sage ich leise und senke den Blick.
„Ich werde nicht zulassen, dass du ihn mir wegnimmst, 713! Sein Platz ist an meiner Seite. Seine Liebe gehört mir. Ich rate dir, versuche nicht, mehr von ihm zu bekommen, als dir zusteht.“ Seine Stimme ist ein dumpfes Grollen. „Solltest du dich nicht daranhalten, wird es dir leidtun!“
Antworten kann ich nicht, mein Herz schlägt viel zu laut in meiner Brust. Vieles liegt mir auf der Zunge, dass Tomaz ihn nicht liebt, dass ich keine Nummer mehr bin, doch ich traue mich nicht, dies auszusprechen.
„Pass gut auf ihn auf – und lass die Finger von ihm, 713.“ Jede einzelne Ziffer betont er abfällig. Ich habe Angst vor ihm und ich beginne ihn zu hassen. Statt einer Entgegnung knete ich nur meine Hände, warte, dass er wieder geht. Zuvor jedoch küsst er Tomaz sanft auf den Mund. Meine Kiefer pressen sich fest aufeinander und meine Zähne knirschen leise. Endlich bin ich wieder mit Tomaz allein. Nur mit Mühe unterdrücke ich das Bedürfnis, seinen Mund abzuwischen. Leider hat Dagur recht, Tomaz gehört zu ihm.
Langsam tauche ich aus dem Schlaf auf, nehme die Wärme um mich herum wahr. Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist Kälte. Wir gingen durch hohen Schnee und mir wurde schwindlig. Halvor war tot und wir auf dem Rückweg. Ein Schneesturm erwischte uns und es gab keine Möglichkeit für uns, ihm zu entgehen. Mein Körper brannte, trotzdem war mir kalt. Ich taumelte und dann … weiß ich nicht mehr, was geschah.
Jetzt scheine ich in einem Bett zu liegen, spüre die Decke unter meinen Händen. Mühsam schlage ich die Augen auf. Die Dämmerung hat eingesetzt. Ist es morgens oder abends? Vorsichtig wende ich den Kopf, doch der befürchtete Schmerz bleibt aus. Neben dem Bett steht ein Sessel und Elion liegt in diesem. Zusammengerollt wie ein Kätzchen.
Ich sehe mich um. Offenbar bin ich bei Janusch – und nicht gestorben. Was ist geschehen? Dringend müsste ich mal aus diesem Bett und das Bad aufsuchen. Probehalber setze ich mich auf. Kein Problem, nur ein leichtes Ziehen an meiner Hüfte. Also schiebe ich mich an den Rand und lasse die Füße zu Boden gleiten. Ein wenig schwindlig ist mir und ich warte, bis sich das Gefühl legt, ehe ich mich in die Senkrechte begebe.
Ich bin nackt und es ist kalt, doch das kann mich jetzt nicht aufhalten. Immer noch ein wenig unsicher gehe ich in Richtung Tür.
„Wo willst du hin?“
Erschrocken fahre ich zusammen.
„Ich müsste mal …“, sage ich und deute auf die Tür. Elion springt auf und kommt zu mir. Sanft legt er mir die Decke um die Schultern.
„Dann begleite ich dich.“
Ich nicke nur, vielleicht keine schlechte Idee.
Wenig später schlüpfe ich wieder ins Bett. Der kurze Ausflug hat mich ziemlich erschöpft.
„Was ist geschehen?“, frage ich Elion.
„Du hattest einen fiesen Parasiten, der sich unter deine Haut gebohrt hat“, antwortet er. „Janusch konnte ihn entfernen, aber von diesem Ding hattest du eine Infektion, die für hohes Fieber gesorgt hat.“
„Einen Parasiten?“, frage ich anekelt. Die Vorstellung, dass sich etwas in meinem Körper einnisten wollte, gefällt mir nicht.
„Ja, aber er ist raus.“ Elion deutet auf den chaotischen Tisch. „Janusch hat ihn in ein Glas gesteckt, um ihn zu untersuchen.“
„Den darf er ruhig behalten“, brumme ich und kratze mein Kinn. Meine Finger fassen in dichtes Barthaar. Dringend brauche ich eine Rasur.
„Warum bist du hier?“, frage ich, um mich von dem unangenehmen Gefühl in meinem Gesicht abzulenken.
„Ich – passe auf dich auf.“
„Danke“, sage ich leise. Ich betrachte ihn, die Stoppel auf seinem Kopf sind inzwischen dichter geworden. Wie sie sich wohl anfühlen? Irgendwie gefällt mir der Gedanke, dass Elion die ganze Nacht an meinem Bett gesessen hat. Auch wenn ich nicht weiß, ob er dies vielleicht nur für Janusch getan hat. Nein, dann säße jetzt Caja neben meinem Bett.
„Du solltest noch ein bisschen schlafen. Janusch sagt, dass dein Körper viel Ruhe braucht.“
„Ich glaube, er hat recht“, sage ich und schließe die Augen. „Ein wenig Schlaf kann bestimmt nicht schaden.“
Als ich das nächste Mal aufwache, scheint die Sonne ins Zimmer. Elion und Janusch sitzen nebeneinander an dem Tisch.
„Siehst du, dieses kleine Monster lebt noch, obwohl es die ganze Nacht in diesem Glas eingesperrt war.“ Janusch hält einen kleinen Behälter gegen das Licht. „Er würde noch viele Tage überleben. So ein Parasit ist ein wahrer Überlebenskünstler. Manche können Jahre überleben. Das ist in der unwirtlichen Landschaft da draußen auch wichtig, es kann dauern, bis ein geeignetes Wirtstier vorbeikommt.“
„Und was machst du jetzt mit ihm?“, fragt Elion interessiert.
„Ich würde gern wissen, was er in einem fremden Körper macht. Verpuppt er sich oder verlässt er den Wirt nach dessen Ableben wieder?“
„Verpuppt?“ Das scheint Elion wirklich zu interessieren. Ich würde das Monster in kleine Stücke schneiden und in den Kamin schmeißen.
„Ja, es könnte sein, dass diese Wurmgestalt nicht das eigentlich Tier ist, sondern nur eine Phase in seiner Entwicklung. Wie bei einem Schmetterling.“
„Was ist ein Schmetterling?“
„Warte …“ Janusch zieht nach kurzer Suche ein Buch aus seinem Regal. „Hier, das sind Schmetterlinge.“
„Die sind wunderschön!“, staunt Elion und betrachtet die Bilder.
„Ja, wenn sie ihre Entwicklung abgeschlossen haben. Zwischendurch sind sie jedoch nur Raupen. – Hier.“ Janusch blättert in dem Buch und zeigt Elion Bilder von den Raupen.
„Die sehen zum Teil auch ganz hübsch aus“, stellt dieser fest. Janusch lacht.
„Schon, aber sie stellen nur eine Entwicklungsphase des Schmetterlings dar. In dieser ist das Einzige, was er will, fressen.“
„Ein bisschen wie Wlar.“
Ich unterdrücke ein Kichern. Gut beobachtet.
„Genau, nur leider wird aus Wlar nie ein schöner Schmetterling.“ Die beiden kichern.
„Unser Parasit hier wird auch kein Schmetterling, aber die Frage ist, was wird er? Oder bleibt er, was er ist?“
„Was macht denn eine Raupe, wenn sie genug gefressen hat?“
„Sie verpuppt sich. – Hier.“ Wieder blättert Janusch in dem Buch. „Innerhalb dieses Kokons verwandelt sich die dicke Raupe in einen schönen Schmetterling. Wenn die Metamorphose abgeschlossen ist, verlässt der Schmetterling seine Hülle und fliegt davon.“
Elion blättert zurück und streicht über das Bild. „Ich würde gern einmal einen Schmetterling sehen.“
„In den Bergen sind sie aufgrund der mangelnden Vegetation selten. Schmetterlinge brauchen Blumen, Blüten. Weiter im Süden gibt es ganz verschiedene Arten Schmetterlinge. Kleine blaue, große bunte und ganz gelbe oder weiße.“
Elion seufzt leise.
„Aber wie gesagt, aus diesem Wurm wird kein Schmetterling“, sagt Janusch und schüttelt leicht das Glas.
„Was könnte denn daraus werden?
„Ich weiß nicht, aber vielleicht finde ich es heraus.“
Nette Vorstellung. Ich schüttele mich, lenke die Aufmerksamkeit der beiden damit auf mich.
„Guten Morgen, Tomaz“, sagt Janusch fröhlich. „Freut mich, dass es dir besser geht. Möchtest du das kleine Monster mal sehen, dass dich umgeworfen hat?“
„Nein danke, Janusch, von mir aus darfst du ihn gern behalten.“
Er lacht und wendet sich Elion zu. „Vielleicht besorgst du Tomaz etwas zu essen, er muss wieder zu Kräften kommen, ehe ich ihn aus diesem Bett lasse.“
Elion nickt und macht sich sofort auf den Weg, während Janusch zu mir ans Bett tritt.
„Ein kluger Junge, der Kleine“, sagt Janusch und schlägt die Decke zurück. „Wenn Caja demnächst ausfällt, könnte er mir vielleicht helfen.“
„Könnte er bestimmt“, stimme ich zu. „Warum fällt Caja aus?“
„Caja ist schwanger“, entgegnet er schmunzelnd.
„Oh“, ist das Einzige, was mir einfällt. Das war mir bisher entgangen.
„Dann wollen wir uns mal die Wunde ansehen.“ Janusch schlägt die Decke zurück und entfernt vorsichtig den Verband. „Du hast Glück gehabt, wenn er sich weiter in deinen Körper gefressen hätte, wäre ich nicht so einfach an diesen kleinen Schmarotzer herangekommen.“
„Eine Vorstellung, auf die ich verzichte“, sage ich grummelnd.
„Sieht gut aus. Wird nur eine kleine Narbe, die deine Schönheit nicht entstellt.“ Janusch kichert, dann sieht er zur Tür. „Dagur war heute Nacht hier. Ihm gefällt deine Freundschaft mit Elion nicht. Halt dich lieber fern von dem Jungen.“
„Was hat er gesagt?“ Ich unterdrücke die aufkeimende Wut, Janusch kann nichts dafür.
„Na ja, er hat Elion klargemacht, dass du zu ihm gehörst und der Junge die Finger von dir zu lassen hat – sonst würde es ihm leidtun.“ Geschickt verbindet er, während er spricht, die Wunde neu. „Ich weiß, dass dich das wütend macht, aber sprich ihn nicht darauf an, sonst denkt er, Elion hätte es dir gesagt. Ich habe es nur zufällig nebenan gehört.“
„Ich gehöre niemandem mehr, seit ich die Minen verlassen habe!“ Am liebsten würde ich sofort aufspringen und zu Dagur gehen, doch Janusch hat recht. „Trotzdem wird es Zeit, dass Dagur das versteht. Seine Eifersucht ist unerträglich.“
„Liebst du Dagur?“
Einen Moment schweige ich, dann schüttele ich den Kopf.
„Das dachte ich mir. Sei vorsichtig. Eifersüchtige Männer sind unberechenbar.“
Ehe ich antworten kann, kehrt Elion mit einem Tablett in den Händen zurück. Er strahlt und meine Wut verraucht.
„Katla war in der Küche. Ganz liebe Grüße von ihr, sie kommt dich nachher besuchen.“ Er stellt das volle Tablett auf meine Beine. „Da sie nicht wusste, worauf du Hunger hast, hat sie von allem etwas aufgeladen.“ Mit einem Grinsen nimmt er sich ein kleines Brötchen aus dem Korb und beißt hinein.
„Das reicht bestimmt für drei“, sagt Janusch schmunzelnd und greift ebenfalls nach einem Brötchen. Mit dem Löffel schaufelt er Honig darauf, ehe er abbeißt.
Wenig später Elion ist zum Unterricht gegangen und Janusch geht seinen Aufgaben im Haus nach. Für mindestens zwei Tage hat er mich in dieses Bett verbannt. Zeit zum Nachdenken, doch meine Gedanken hüpfen wild durch die Gegend. Vielleicht sollte ich die Gemeinschaft verlassen, in den Süden gehen. Mit Elion. Dort könnte er Schmetterlinge sehen. Hinter den Schleiern meiner Erinnerung sehe ich eine Wiese voller Blumen, Schmetterlinge fliegen von Blüte zu Blüte, das träge Summen von Hummeln füllt die warme Luft. Ich bin nicht in den Bergen geboren, nicht in der kargen Landschaft, sondern im Tal. Doch wo? Leben meine Eltern noch? Haben sie sich jemals gefragt, was aus mir geworden ist? Ich habe keine Bilder von ihnen oder irgendjemand anderes aus meiner Vergangenheit. Wusste sie, dass ich in die Minen kommen und dort bis zu meinem Tod arbeiten sollte?
Unnütze Fragen, auf die ich nie eine Antwort erhalten werde.
„Wie geht es dir?“ Dagur steht in der Tür und lächelt mich an. Mühsam schlucke ich eine wütende Entgegnung herunter.
„Besser.“
Er betritt den Raum und setzt sich an das Bett. „Du hast mich ganz schön erschreckt.“ Zärtlich streicht er über mein Haar.
„Das war nicht meine Absicht“, antworte ich und widerstehe dem Bedürfnis, mich seiner Hand zu entziehen.
„Was ist los?“
„Nichts.“ Das glaubt er mir nicht, beobachtet mein Gesicht.
„Wie lange musst du hierbleiben? Ich vermisse dich.“ Er beugt sich vor und sucht meinen Blick. „Das Bett ist kalt ohne dich.“
Was kann ich darauf antworten? Ich weiß im Moment nicht, ob ich in sein Bett zurückkehren will. Sein Handeln, seine Drohung gegen Elion machen mich wütend.
„Noch zwei Tage, sagt Janusch.“ Immer noch mustert er mich kritisch. Den Blick zum Fenster wendend entschließe ich mich, das Thema zu wechseln. „Sobald der Schnee schmilzt, werde ich ins Tal gehen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass Eskil uns im nächsten Sommer nicht in Frieden lässt. Vielleicht kann ich etwas erfahren.“
„Das dauert noch Wochen. Was soll er tun? Seinen Verräter haben wir entlarvt und getötet. Er findet uns hier oben nicht.“
„Ja, das weiß ich. Aber vielleicht fällt ihm etwas anderes ein.“ Auf Dauer kann er nicht dulden, dass wir seine Berge beherrschen.
„Darüber reden wir, wenn der Schnee verschwindet.“ Dagur kommt näher. „Jetzt wirst du erst einmal gesund.“ Sanft küsst er mich, liebkost meine Lippen.
„Tomaz braucht Ruhe.“ Janusch steht in der Tür und sieht uns an. „Sein Körper ist durch die Infektion geschwächt. Lass ihn wenigstens wieder auf seinen eigenen Beinen stehen.“
Dagur knurrt und ich bin erleichtert. Bislang mochte ich seine Zärtlichkeiten, fühlte mich sicher und geborgen bei ihm, doch heute stößt er mich ab.
„Du bist der Arzt“, sagt Dagur zu Janusch und zwinkert mir zu. „Ich werde geduldig warten. – Beeil dich mit Gesundwerden.“ Mit einem Nicken verlässt er den Raum und ich atme auf.
„Was willst du tun?“, fragt Janusch, ohne mich anzusehen.
„Ich weiß es nicht“, entgegne ich ehrlich. Auf keinen Fall werde ich Elion in Gefahr bringen – und ein eifersüchtiger Dagur ist eine Gefahr.
Am Nachmittag kommt Elion zu mir. Unter dem Arm trägt er ein Buch und ich weiß sofort, welches er mitgebracht hat. Nervös setzt er sich an mein Bett.
„Wie geht es dir?“, fragt er vorsichtig.
„Gut, und mir ist langweilig. – Was hast du da?“
„Ich … vielleicht hast du Lust … ich meine, das letzte Mal bin ich eingeschlafen …“ Er beißt sich auf die Unterlippe.
„Ich soll dir vorlesen?“
Elion nickt unsicher.
„Gern. Das lenkt mich von dem öden Nichtstun ab.“ Ich strecke die Hand aus und er gibt mir das Buch. „Am besten fange ich noch einmal von vorn an.“
Ein Strahlen geht über sein Gesicht und er kuschelt sich in den Sessel, während ich das Buch aufschlage.
Als Caja mir später das Essen bringt, habe ich das Gefühl, Fussel auf der Zunge zu haben, doch Elions gespannte Miene, seine Aufmerksamkeit sind es wert. Ich bedaure, ihn beim Vorlesen nicht die ganze Zeit ansehen zu können.
Elion, Geschenk der Sonne, und sein Lächeln hat für mich etwas von der wärmenden Sommersonne. Ich mag, wenn er mich mit strahlenden Augen ansieht, mir sein offenes Lächeln schenkt.
Während ich esse, bleibt er bei mir, stellt mir Fragen, über die Sonne, die Sterne, den Mond und die Jahreszeiten. In den Minen gibt es nichts davon.
Er will wissen, warum Blumen blühen, Regen fällt und der Sommer warm und der Winter kalt ist. Einmal entfesselt, kennt sein Wissensdurst keine Grenzen.
Dabei erinnert er mich an mich selbst, an die Fragen, mit denen ich Katla gelöchert habe. So gut ich kann, antworte ich, versuche zu erklären und Antworten zu finden.
Gebannt hängt er an meinen Lippen, lässt sich keine Information entgehen. Seine Augen funkeln ebenso hell und klar wie die Sterne am nächtlichen Himmel.
Erst als Janusch kommt und ihn rausschmeißt, wird uns bewusst, wie spät es ist. Schuldbewusst verabschiedet sich Elion und huscht aus dem Zimmer, das Buch wie einen Schatz an seine Brust gedrückt.
„Kein Wunder, dass Dagur eifersüchtig ist. Du solltest dein Gesicht sehen, wenn du mit ihm zusammen bist.“ Noch einmal sieht sich der Arzt meine Wunde an. „Und seins. Ihr strahlt um die Wette.“
„Hör auf. Elion erinnert mich an mich selbst“, wiederhole ich laut meine Gedanken. „Ich wollte auch alles wissen und habe Katla an den Rand des Wahnsinns damit getrieben.“
„Nicht nur Katla“, entgegnet er trocken. „Du hast alle und jeden gefragt, der dir in die Quere kam.“ Grinsend sah er mich an. „Ein Wunder, dass dich keiner in die Schlucht geschmissen hat.“
Ich strecke ihm die Zunge raus und er lacht. „Ich verstehe dich, Tomaz, aber denk bitte an Dagur. Ich möchte nicht, dass dir oder dem Kleinen etwas geschieht.“
„Ich weiß. – Doch was soll ich tun? Nicht mehr mit Elion reden? So tun, als gäbe es ihn nicht? – Ich weiß ja nicht einmal, ob ich zu Dagur zurückkehren will.“
Janusch breitet die Decke wieder über mir aus. „Das ist schwierig. Auf jeden Fall solltest du nicht aus den falschen Gründen bei ihm bleiben. Das wäre weder für dich noch für ihn gut.“
„Ein weiser Rat, Janusch, doch sag mir, wie ich das machen soll?“
„Du wirst einen Weg finden“, sagt er sicher und tätschelt meinen Arm. „Jetzt schlaf erst einmal. Denken kannst du morgen den ganzen Tag.“
Zwei Tage später stehe ich vor Dagurs Tür. Obwohl ich mir sicher bin, fühle ich mich nervös. Noch einmal räuspere ich mich, klopfe und trete ein. Meine Hoffnung, mit Dagur allein zu sein, erfüllt sich nicht. Katla und Egill sind bei ihm. Unter ihren Blicken straffe ich meine Schulter und gehe weiter.
„Kann ich dich allein sprechen, Dagur?“, frage ich und sehe ihm in die Augen. Langsam nickt er.
„Du willst nicht zu mir zurückkehren“, sagt er leise, nachdem Egill und Katla den Raum verlassen haben. „Wegen des kleinen Minensklaven?“
„Nein, Dagur, Elion hat nichts damit zu tun. Jedenfalls nicht direkt. Nur deine grundlose Eifersucht auf ihn. Ich bin sein Pate, ich gab ihm seinen Namen und meine Aufgabe ist es, ihm zur Seite zu stehen. Wie soll ich das, wenn du ihn bedrohst?“ Dagur will etwas einwenden, doch ich hebe die Hand und bringe ihn damit zum Schweigen. „Schwerer jedoch wiegt, dass du mir nicht vertraust. Niemals gab ich dir Grund, an mir zu zweifeln, und doch glaubst du, jeder Mann in meiner Nähe sei eine potenzielle Versuchung für mich. – Dein Verhalten sagt mir, wofür du mich hältst – und damit kann ich nicht länger leben.“
„Nein, du irrst! Jeder Mann in deiner Nähe, der dem eigenen Geschlecht zugetan ist, muss dich begehren!“
Mit beiden Händen schlage ich auf den Schreibtisch, beuge mich zu Dagur vor. Etwas in meinem Blick lässt ihn ein kleines Stück zurückweichen.
„Nicht die Männer, die mich begehren könnten, sind das Problem. Dein Glaube, dass ich darauf eingehen könnte, ist es. Du denkst tatsächlich, dass ich jedem Mann, der mich mit großen Augen ansieht und einen kleinen, knackigen Hintern in der Hose hat, an die Wäsche gehe. Dass ich quasi nur darauf warte, dich zu betrügen. – Damit kann und will ich nicht leben!“ Ich strecke mich.
„Du bist jung und ich bin alt“, sagt Dagur.
„Und darum betrüge ich dich? Ich habe dein Bett geteilt und du hast mir gezeigt, wie schön das ist. Wir haben fast täglich miteinander geschlafen und doch vertraust du mir nicht. Wenn ich mit einem anderen Mann lache, denkst du, ich flirte mit ihm. Wenn ich ihn berühre, siehst du mich mit ihm im Bett. – Schieb dies nicht auf unseren Altersunterschied. Ich habe in der ganzen Zeit nicht einmal an einen anderen Mann gedacht. Nie habe ich mir gewünscht, ein anderer würde an meiner Seite liegen. Ich küsste keinen anderen Mann, nur dich. Doch all dies reicht nicht.“ Ich senke den Blick und wende mich ab. „Und jetzt ertrage ich es nicht mehr, ertrage deine einengende Nähe nicht und deine Liebe, die mich in einen Käfig sperren will.“
„Tomaz!“
Ich bleibe stehen, sehe über meine Schulter.
„Geh nicht, bitte, gib mir eine Chance. Ich weiß, ich bin fordernd …“
„Verstehst du eigentlich, was ich sage? Es geht nicht darum, dass du etwas von mir forderst, sondern was du mir zutraust. Du vertraust mir nicht! Du denkst nur das Schlechteste von mir – und behauptest im selben Atemzug, mich zu lieben.“ Mit einem Kopfschütteln wende ich mich ab. „Was immer zwischen uns war, du hast es zerstört. Ich kann nicht mehr bei dir bleiben.“ Ohne eine Reaktion abzuwarten, verlasse ich das Zimmer. Trotz allem fällt mir die Entscheidung nicht leicht. Zu viele schön Erinnerungen verbinden mich mit Dagur. Gerade zum Anfang waren wir sehr glücklich miteinander, ehe sich seine Eifersucht immer deutlicher zeigte.
Ich habe die Minen verlassen, ich gehöre niemandem und ich lasse mich nicht mehr behandeln, als sei es anders. Ich bin frei.
Den morgendlichen Unterricht haben Katla und Egill übernommen. Im Anschluss daran warten die Aufgaben für die Gemeinschaft auf mich. Vom Versorgen der Tiere bis zur Reinigung der Aborte, einer Aufgabe die jeder einmal übernehmen muss. Den Rest der Zeit verbringe ich bei Janusch. Cajas Bauch wird immer dicker und in wenigen Wochen wird sie nicht mehr arbeiten können. Dann werde ich Janusch helfen.
Tomaz sehe ich in den letzten Wochen, seit er uns nicht mehr unterrichtet, selten. Eigentlich nur beim Essen.
Dagur und er teilen sich nicht mehr das Bett. Seitdem hat Dagur schlechte Laune und alle gehen ihm aus dem Weg. Ich kann nicht sagen, dass es mich traurig macht, dass Tomaz nicht mehr zu Dagur gehört. Traurig macht mich, dass ich ihn nur selten sehe.
Noch immer zeigt der Winter sein eisiges Gesicht. Schneestürme toben um die Festung, drücken gegen die Fenster und heulen die ganze Nacht. Dank Kimmi sind meine Nächte erträglich. Jeden Abend wartet der Kater auf mich und kriecht zum Schlafen unter meine Decke.
Vor die Tür gehen ist fast unmöglich. Die Kälte schneidet wie Splitter im Gesicht, durchdringt schnell die Kleidung und frisst sich bis auf die Knochen durch. Der Schnee liegt in den Verwehungen so hoch, dass ein Mann darin verschwindet.
Ich sehne mich nach Wärme. Gern wäre ich wieder zu den heißen Quellen gegangen, doch ich traue mich nicht, Tomaz danach zu fragen. Er wirkt abwesend, ganz in Gedanken versunken.
Katla hat uns erzählt, dass der Winter in diesem Jahr besonders schlimm wütet. Oft beginnt um diese Zeit schon das Tauwetter und die Sonne wird wärmer. Doch in den letzten Tagen haben wir keinen Sonnenstrahl gesehen. Es herrscht diffuses Dämmerlicht in den Räumen.
Die Laune ist allgemein schlecht. Die Enge führt oft zu Streit. Alle sehnen sich das Ende des Winters herbei.
Wenn ich meine Aufgaben erledigt habe und Janusch meine Hilfe nicht braucht, dann gehe ich in die Bibliothek. Hierher verirrt sich kaum ein Bewohner der Festung. Inzwischen kann ich schon besser lesen, auch wenn es noch nicht für ein Buch reicht. Zu viele Begriffe sind mir fremd. Doch hier zu sitzen und sich die Seiten anzusehen reicht, um mein Gemüt zu beruhigen.
In letzter Zeit schiebt sich oft der Gedanke an Tomaz in meinen Kopf. An das Gefühl, mit ihm zusammen zu sein. An seine Gestalt, seinen nackten Körper, damals im warmen Wasser. Ich verstehe nicht, warum ich daran denke und ich schäme mich dafür. Noch mehr für meinen Wunsch, ihn wieder dort zu sehen. Auch tagsüber, wenn ich ihn betrachte, denke ich oft daran. Ich überlege, wie sich seine Haut anfühlt. Was für ein Gefühl ist es, ihn anzufassen? Fühlt es sich genauso an, als wenn ich mich selbst berühre?
Schon mehr als einmal habe ich von ihm und Dagur geträumt, wie sie sich berühren – und wie er mich berührt. Diese Träume sind verwirrend und hinterlassen doch ein Ziehen in meinem Bauch.
Ich weiß, was Männer mit Frauen tun, wie Kinder entstehen, das hat uns Katla erklärt. Auch dass es Männer gibt, die lieber mit Männern zusammen sind, und Frauen, die Frauen lieben. Sie hat uns erklärt, was in den Körpern passiert, wie sich Erregung und Lust zeigen.
Noch habe ich diese Zeichen nicht an mir festgestellt. Und doch frage ich mich, was mich an Tomaz fesselt, warum ich kaum meinen Blick abwenden kann, wenn er in der Nähe ist. Wieso träume ich von ihm? Wieso denke ich an unser Zusammensein in der heißen Quelle?
Mag ich lieber Männer als Frauen? Auf jeden Fall gibt es keine Frau, die mein Denken beherrscht. – Andere Männer allerdings auch nicht. Ich denke nur an Tomaz.
Seufzend nehme ich das Buch der Sonne und setze mich vor den Kamin. Das Feuer ist fast heruntergebrannt, doch Egill hat gesagt, wir müssen sparsam sein. Keiner weiß, wie lange der Winter noch dauert.
Mein Blick fällt auf die Landkarte. Wie wäre es, im Süden zu leben? Dort soll es jetzt schon wieder wärmer werden, die ersten Blumen brechen durch die Erde und die Vögel zwitschern fröhlich. Ich schließe die Augen und denke an die Sonne. Blumen habe ich bisher nur in Büchern gesehen, genau wie Schmetterlinge oder Vögel.
Nein, das stimmt so nicht, ich habe sie gesehen, bevor ich in die Minen geschickt wurde, nur kann ich mich nicht mehr daran erinnern. Manchmal denke ich, ich kann es, dann sehe ich Erinnerungen durch einen dünnen Schleier. Wenn ich ihn nur zerreißen könnte, würde ich alles wieder wissen, doch aus dem Schleier wird ein Nebel und alles verschwindet dadrin.
Ich hasse König Eskil! Er stahl mir meine Kindheit, meine Jugend und nahm mir alle Erinnerungen. Meinen Körper ließ er schänden, mit Gift verseuchen und zwang mich stumpfsinnig jeden Tag zu arbeiten. Ungefähr 14 Jahre hat er mir weggenommen, die sich nicht zurückholen lassen. Erst jetzt beginne ich zu leben, zu lernen und mein eigener Herr zu sein. Jede unheilbare, furchtbare Krankheit, von der Janusch mir erzählt hat, wünsche ich ihm an den Hals. Er soll bei lebendigem Leib vermodern, seine Gedärme sollen sich auflösen und er soll keine Stimme haben, seinen Schmerz in die Welt zu schreien.
„Was für schwere Gedanken legen deine Stirn in Falten?“
Ich schrecke auf und sehe in Tomaz’ Gesicht, der vor mir hockt und mich anlächelt. In seiner linken Wange zeigt sich ein kleines Grübchen und unter seinem rechten Augen sitzt ein winziger Leberfleck.
„Ich dachte an den König“, antworte ich wahrheitsgemäß.
„Dann verstehe ich diesen ernsten Blick. Er ist ein Monster auf dem Königsthron.“ Tomaz setzt sich neben mich. „Diese Kälte macht einen krank.“
Ich nicke nur, betrachte den Widerschein des verglimmenden Feuers in seinen Haaren.
„Was hältst du von ein wenig Wärme?“ Sein Schmunzeln kann ich nur erahnen. „Meine Knochen werden überhaupt nicht mehr warm und ich denke, das warme Wasser der Quelle könnte helfen.“
Mein Strahlen scheint ihm Antwort genug. Er steh auf und nimmt meine Hand. „Dann komm.“
Mit Handtüchern unter dem Arm gehen wir in den Vorratskeller. Zum Glück begegnet uns niemand, der fragen könnte, wo wir hinwollen. Ein wenig quält mich das schlechte Gewissen, auch die anderen frieren und würden das warme Wasser sicher gern nutzen. Doch es überwiegt die Vorfreude, als Tomaz die Türen hinter uns abschließt und sich der versteckten Tür nähert. Die Vorräte sind deutlich zusammengeschrumpft. In vielen Regalen klaffen Lücken.
„Wird das den Winter über reichen?“, frage ich und mache eine ausladende Geste.
„Ich hoffe es. Wir haben keine Wahl und müssen damit auskommen.“ Tomaz sieht mich an. „Der Frühling sollte sich nicht zu viel Zeit lassen.“
In dem unterirdischen Gewölbe ist es kühl und feucht. Wasserdampf schwebt wie Nebel über der Oberfläche. Schnell entledigen wir uns der Kleidung und lassen uns in die Wärme gleiten, die zum Anfang fast unangenehm heiß ist.
Bald vertreibt sie die Kälte aus meinen Gliedern und ich seufze wohlig. Mit geschlossenen Augen genieße ich das Gefühl. Überdeutlich spüre ich Tomaz neben mir, obwohl sich unsere Körper nicht berühren. Ungefragt stellt sich mein Kopf vor, wie es wäre, die Hand auszustrecken und ihn zu berühren.
„Im Süden hat der Frühling schon begonnen“, sagt er plötzlich. „Njal kommt von dort. Er hat mir erzählt, dass um diese Zeit der Himmel von einem warmen Blauton ist und die Luft erfüllt von dem Singen der Vögel, die den Frühling begrüßen. Dort gibt es keinen Schnee und keine eisige Kälte.“
„Dort sollen schon die Blumen blühen, sagt Egill“, füge ich hinzu. „Ich würde das gern sehen.“
„Ich auch.“
Wir hängen unseren Gedanken nach. Hier im warmen Wasser ist es leicht, sich den Frühling vorzustellen. Wenn ich den Schnee vor meinem Fenster sehe und die Kälte in meinen Knochen spüre, kommt mir er mir unwirklich wie ein Traum vor. Kann es irgendwo Wärme geben, während wir frieren?
Ein leises Platschen lässt mich die Augen öffnen. Ich sehe Tomaz an, begegne seinem Blick. In dem dämmrigen Licht der beiden Öllampen sehen seine Augen dunkel aus. Auf seinem Gesicht liegen Schatten und ich kann den Ausdruck darauf nicht erkennen. Die Haare sind feucht geworden durch den Dampf und ihre Spitzen kringeln sich leicht.
Inzwischen habe auch ich Haare und keine Stoppeln mehr auf dem Kopf. Sie sind rotbraun und noch recht kurz.
„Ich wusste gleich, welche Farbe deine Haare haben“, sagt Tomaz leise und streckt die Hand aus. Mit feuchten Fingern streichelt er über meinen Kopf. Ein sanftes Kribbeln geht von seiner Berührung aus, zieht sich durch meinen Körper. „Sie passen zu deinen Augen.“
Sanft gleitet seine Hand über meine Wange, sein Blick über mein Gesicht. „Manchmal kommst du mir vertraut vor, als kenne ich dich schon ewig.“
Ich versuche den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken. Seine Hand bleibt unter meinem Kinn liegen, sein Daumen streicht über meinen Lippen. Hart spüre ich das Herz in meiner Brust schlagen, mein Blut rauscht und summt in meinen Ohren. Seine Berührungen sind fremd und angenehm zugleich. Vorsichtig nehme ich die Hand aus dem Wasser und berühre sein Gesicht, fahre die Linie seiner Augenbrauen nach, lasse meine Finger dem Schwung seines Kiefers folgen und sacht über seinen Mund gleiten. Ich spüre seinen Atem warm an meinen Fingerspitzen. In mir toben die Gefühle, die in ihrer Gewalt dem Schneesturm in nichts nachstehen. Noch nie habe ich einem Menschen erlaubt, mich auf diese Weise zu berühren. Bisher war jeder Kontakt erzwungen, von groben Händen, die mich demütigen, erniedrigen und benutzen wollten.
„Du bist schön, Elion“, flüstert Tomaz. „In deinen Augen liegt die Wärme der Sonne.“
Wir haben uns unmerklich einander angenähert, fast berühren sich unsere Nasen und ich versinke in seinen Augen. Ich bin nicht schön, aber er ist es. Seine hohen Wangenknochen, die gerade Nase mit der winzigen Erhebung in der Mitte, sein Mund …
Ich überbrücke den Abstand und lege meine Lippen ungeschickt auf seine, will ihre Weichheit spüren. Einen Moment erstarrt Tomaz überrascht, dann legt er seine Hand in meinen Nacken und erwidert den Kuss. Zärtlich übernimmt er die Führung, liebkost meine Lippen, entzündet ein Feuer in meinem Inneren. Die Hitze, die ich spüre, hat nichts mit dem heißen Wasser um uns herum zu tun. Ich schlinge meine Arme um ihn, will ihn festhalten, genau wie dieses wundervolle Gefühl.
Atemlos trennen wir uns nach einer viel zu kurzen Zeit wieder. Ich möchte mehr, doch Tomaz bringt Abstand zwischen uns, legt seine Stirn an meine.
„Wir sollten wieder hochgehen, ehe uns jemand vermisst“, sagt er. Seine Hand streichelt sanft meinen Nacken.
„Nein“, entgegne ich und lege wieder meinen Mund auf seinen, will mehr von diesen Empfindungen spüren, die er in meinem Körper auslöst.
Sanft schiebt Tomaz mich zurück. „Doch. Aber ich verspreche dir, dass wir wieder hierher gehen, wenn du das möchtest.“
In meinem Blick erkennt er meine Enttäuschung und küsst mich noch einmal zart. „Wir sollten nichts überstürzen.“
Vielleicht hat er recht, denn in meinem Inneren herrscht heilloses Durcheinander. Seufzend folge ich ihm aus dem Wasser und lasse mich von ihm in ein Handtuch einwickeln. Mit einem Lächeln presst er seine Lippen auf meine Stirn. „Alles hat seine Zeit. Sei nicht zu ungeduldig.“
In dieser Nacht kann ich nicht schlafen, in meinem Kopf und meinem Körper rauschten meine Gedanken und meine Gefühle. Tomaz hat etwas in mir ausgelöst, das ich nicht verstehe. Dieser Kuss war wundervoll und verwirrend. Ich will mehr davon und habe zeitgleich Angst davor. Kimmi legt sich angesichts meiner Unruhe beleidigt an meine Füße. Doch ich kann nicht still liegen, drehe mich von rechts nach links.
Die angenehme Wärme der Quelle ist schon längst verflogen, doch wenn ich an die Lippenberührung mit Tomaz denke, wird mir sofort heiß. Wieder spüre ich das Kribbeln, das durch meinen Körper gelaufen war. Ist das gut – oder schlecht? Will ich das Gleiche von Tomaz wie Dagur?
Ich muss daran denken, was die Wachen mir angetan hatten. Das bringe ich nicht mit dem zusammen, was in meinem Körper vorgeht. Was hat ihr Verhalten mit meinem Wunsch, Tomaz zu berühren, zu tun? Hat es überhaupt etwas miteinander zu tun?
Ich finde keine Antwort auf diese Fragen, kann sie aber auch nicht einfach abstreifen. Erst als der aufziehende Morgen den Himmel in ein verwaschenes Grau verfärbt, habe ich das Gefühl, endlich einschlafen zu können, doch schon bald muss ich aufstehen, heute Morgen habe ich Küchendienst. Bevor mich der Schlaf übermannen kann, rolle ich mich aus dem Bett und gehe ins Bad. Das kalte Wasser weckt meine Lebensgeister so weit, dass ich den Weg in die Küche unfallfrei bewältige. Katla steht schon am Feuer und wärmt Milch auf.
„Wie siehst du denn aus?“ Besorgt tritt sie einen Schritt näher und sieht mir ins Gesicht. „Du siehst aus, als hättest du die ganze Nacht nicht geschlafen.“
„Hab ich auch nicht“, brumme ich und wende mich gähnend ab.
„Und warum nicht?“, fragt sie nach, während sie sich wieder der Milch zuwendet.
„Es ging mir zu viel im Kopf herum“, antworte ich. „Was soll ich tun?“
„Setz dich an den Tisch und erzähl mir, was dich wach gehalten hat.“ Schwungvoll stellt sie eine Tasse vor mir ab, aus der es würzig riecht.
„Was ist das?“
„Das wird dir helfen, den Tag zu überstehen.“ Katla zwinkert mir zu. „Und nun erzähl, was dich beschäftigt.“
Kann ich ihr das sagen? Doch wenn nicht ihr, wem dann?
„Ich … ich weiß nicht genau …“ Um Zeit zu gewinnen, trinke ich einen Schluck. Was immer es ist, es schmeckt gut.
„Geht es um Tomaz?“
Erstaunt sehe ich sie an und nicke.
„Du magst ihn sehr“, stellte sie fest, „und das verwirrt dich?“
„Ja, ich … habe ihn geküsst“, sage ich zögernd, dann erzähle ich ihr, was geschehen ist, wobei ich nicht erwähne, wo wir dabei waren.
„Und jetzt weißt du nicht, wie du diese Gefühle einordnen sollst.“ Katla nickt verstehend. „Das ist normal. Zum ersten Mal in deinem Leben überwältigen dich diese Emotionen, du magst einen anderen Menschen und möchtest ihm körperlich nah sein. Tomaz hat recht, wenn er sagt, dass du – ihr euch Zeit lassen solltet.“ Sie legt ihre Hand auf die meine. „Ich kann mich noch gut erinnern, als meine Gefühle erwachten. Es war verwirrend, beängstigend und fremd. Ich habe es gehasst, von den Wärtern angefasst zu werden, und auf einmal sehnte ich mich nach der Berührung eines anderen Menschen. Das kam mir falsch vor. Doch die Wärter und was sie mit uns gemacht haben, hat nichts mit uns zu tun. Sie sind Bestien, die ihre Macht ausnutzen, benutzen. Sie wollen demütigen, quälen, ihre eigenen rohen Bedürfnisse an wehrlosen Opfern stillen. Das, was du fühlst, ist etwas völlig anderes. Menschen brauchen Nähe, sie brauchen Kontakt, Liebe, um zu gedeihen. Sieh dir die Kinder an, wie sie sich in die Arme ihrer Eltern schmiegen, wie sie sich ankuscheln und die Gewissheit, geliebt zu werden, körperlich spüren müssen. Auch erwachsene Menschen brauchen dieses Gefühl. Dazu kommt natürlich noch mehr, Begehren, Erregung und Lust, die ein Mann oder eine Frau empfinden. Nichts daran ist schlecht, solange sie erwidert wird.“
„Aber was ist Liebe, wie fühlt sich Verliebtsein an? Was ist Begehren? Der Wunsch nach einem Kuss?“ Ich fahre über meine Haare, das Gefühl ist immer noch merkwürdig. „Ich wollte Tomaz küssen, wollte ihn mit meinen Lippen berühren. Bin ich verliebt in ihn?“
„Das wirst du merken, in deinem Herzen, deiner Seele und deinem Körper. Gib dir die Zeit, es herauszufinden. Tu nur, was du wirklich willst, und sage ihm, wenn du etwas nicht willst. Tomaz versteht das. Er wird dich zu nichts zwingen, was du nicht willst.“ Katla lächelt mich an. „Quäl dich nicht mit Fragen, die sich ganz von allein beantworten. Dein Körper und dein Herz wissen, was sie wollen.“
Mein Körper? Mein Herz? Sie scheinen mir sehr verwirrt, doch ich nicke. Vielleicht hat Katla recht und mit der Zeit werde ich wissen, was richtig und falsch ist.
„Genug geredet, jetzt müssen wir arbeiten, sonst bleiben viele hungrige Mäuler ungestopft.“ Sanft streicht sie mir durch das Haar, ehe sie aufsteht. „Geh doch mal gucken, ob unsere Hühner ein paar Eier für uns gelegt haben.“
Bereitwillig nicke ich, trinke den letzten Schluck und mache mich auf den Weg zu dem Federvieh.
Endlich beginnt der Schnee zu schmelzen. Unsere Vorräte gehen langsam zur Neige. Die Sonne gewinnt an Kraft und löst die Schneeberge auf dem Hof auf. Bald wird es Zeit, in das Tal hinabzusteigen. Ich freue mich darauf, die Mauern der Festung hinter mir zu lassen, die uns seit Monaten gefangen halten. Mir gefällt nur der Gedanke nicht, Elion allein hier zu lassen. Immer noch bedenkt Dagur ihn mit zornigen Blicken, obwohl nichts Offensichtliches zwischen mir und dem Kleinen ist. Meine Gefühle für Elion halte ich verborgen, zum einen, um ihn nicht zu verunsichern, zum anderen, um Dagurs Wut nicht anzufeuern.
Elion ist mit den Kindern im Hof. Endlich können sie raus und genießen diese Freiheit ausgiebig. Sie springen durch die Pfützen und jagen sich schreiend herum. Ich kann sie gut verstehen.
Wie immer bleibt mein Blick an Elion hängen. In den letzten Wochen bin ich ihm aus dem Weg gegangen. Zu wenig traue ich mir selbst, wenn es um ihn geht. Seine Gestalt ist mir vertraut, ich sah ihn schon nackt und doch kann ich nicht genug von diesem Anblick bekommen. Gern würde ich wieder mit ihm zu der warmen Quelle hinabsteigen, doch ich weiß nicht, ob ich mich beherrschen kann, wenn er mich noch einmal küsst. Zu süß und berauschend war dieses Gefühl. Noch nie hat ein einfacher Kuss mich dermaßen aufgewühlt, mein Herz berührt und nicht nur meinen Körper. Natürlich begehre ich ihn auch, doch das ist nicht der Kern meiner Empfindungen. Ich will ihn halten, ihm nah sein, mit ihm lachen, seine Tränen zum Versiegen bringen, ihm Trost und Freude sein.
Wie muss es sich anfühlen, neben ihm einzuschlafen, sein gleichmäßiges Atmen zu hören und morgens neben ihm zu erwachen? Ich will seine Träume kenne, seine Sehnsüchte und sie ihm erfüllen, sie stillen. Er ist meine persönliche Sonne, um die sich meine Welt dreht, doch ich kann ihn nicht damit konfrontieren, während er noch dabei ist, sich selbst zu finden, zu erkennen. Diese Zurückhaltung fällt mir schwer und ich befürchte, er wird sie falsch verstehen.
Vielleicht ist es gut, den Berg eine Zeit lang zu verlassen. Der Abstieg dauert zwischen drei bis fünf Tage, im Ort werde ich mindestens dieselbe Zeit bleiben. Ehe ich zurück bin, vergehen fast drei Wochen.
Ich sehe Elion lachen, er legt den Kopf in den Nacken und sein Gesicht strahlt. In meinem Magen zieht es heftig. Ich bin verliebt und kann nur hoffen, dass Elion irgendwann ebenso für mich empfindet.
Es hat fast drei Wochen gedauert, ehe genug Schnee geschmolzen ist, damit ich endlich den Abstieg wagen kann. Dagur hält es für zu früh, doch ich muss raus, muss mich bewegen, der Festung entkommen. Elions Anblick entkommen. Eisern halte ich mich von ihm fern, will ihn nicht bedrängen, warte auf ein Zeichen von ihm. Im Moment scheint er mir weiter entfernt als jemals zuvor. Selten begegnet mir sein Blick und ich kann den Ausdruck darin nicht deuten. Manchmal denke, hoffe ich, dass Sehnsucht darin liegt, er kommt jedoch nicht einen Schritt auf mich zu. Vielleicht fühlt er nicht für mich, was ich für ihn empfinde.
Unwirsch wische ich den Gedanken fort, packe meine Sachen in den Rucksack. Grübeln hat keinen Zweck. Wenn ich zurückkomme, werde ich ihn fragen, ob er mit mir zu der Quelle geht. Wenn er ablehnt, kann ich versuchen, mein Herz von ihm zurückzuholen. Jetzt muss ich mich auf meine Aufgabe konzentrieren. Der Abstieg, der mich zu dem kleinen Ort führt, ist nicht ungefährlich, dafür komme ich zügig ans Ziel.
Mit einem letzten Blick durch das Zimmer wende ich mich um. Bevor ich gehe, muss ich mich noch von Dagur verabschieden. Eine unangenehme Aufgabe, da er immer noch wütend auf mich ist. Die Zusammenarbeit mit ihm ist seit unserer Trennung schwierig. Er ist beleidigt, wütend und ungerecht. Doch auch dem entfliehe ich in den nächsten Tagen.
Zum Glück ist Egill bei ihm und ich kann mich schnell verabschieden. Viel mehr als einen geknurrten Abschiedsgruß bekomme ich nicht, während mich Egill in seine kräftigen Arme schließt und mir viel Glück wünscht.
Elion finde ich bei Janusch. Ich kann nicht gehen, ohne mich von ihm zu verabschieden. Die beiden sind gerade dabei, eine Schnittwunde zu versorgen, die sich Hakon an einer zerbrochenen Flasche zugefügt hat. Geduldig erklärt Janusch Elion, worauf es ankommt und welche Kräuter er für einen Verband zusammenmischen muss. Aufmerksam hört ihm sein Schüler zu, während Hakon genervt die Augen verdreht.
Unentschlossen bleibe ich in der Tür stehen, weiß nicht, ob ich stören soll oder doch lieber einfach verschwinden soll, als Hakon mich entdeckt.
„Tomaz, sag den beiden, sie sollen sich beeilen“, sagt er gequält und entlockt mir damit ein Lächeln.
„Tomaz, schön, dass du noch einmal vorbeikommst. Ich habe hier eine Liste von Dingen, die du mir mitbringen musst.“ Schon beginnt Janusch auf seinem Tisch zu kramen.
Elion sieht mich an und ich möchte in dem Grün seiner Augen versinken. Die Erinnerung an den Kuss steigt in mir auf und lässt meine Lippen kribbeln. Ein schüchternes Lächeln verzieht seine Mundwinkel. Ich sehne mich augenblicklich danach, ihn in meine Arme zu ziehen und diese zu küssen.
„Hier ist sie ja!“ Janusch triumphierender Aufschrei lenkt mich ab. „Hier, ich weiß nicht, ob du alles bekommst, aber das brauchen wir.“ Er drückt mir einen eng beschriebenen Zettel in die Hand.
„Ich werde es versuchen“, sage ich und stecke die Liste in meinen Rucksack.
„Wann bist du wieder zurück?“, fragt mich Elion leise und für einen Moment glaube ich Sehnsucht in seinen Augen zu sehen, ehe er den Blick wieder senkt.
„Ich weiß nicht genau. In zwei bis drei Wochen.“ Wie gern würde ich ihn in meine Arme schließen, mir einen Abschiedskuss von ihm stehlen …
„Komm gesund wieder“, sagt Janusch und schlägt mir freundschaftlich auf die Schulter, ehe er sich wieder Hakons Schnitt zuwendet. „Elion, wir brauchen noch frische Tücher.“
Für einen Moment sehen wir uns an und alles in mir zieht mich zu ihm. Unsicher beißt er sich auf die Unterlippe. „Pass auf dich auf“, murmelt er leise, ehe er Januschs Aufforderung nachkommt.
„Und bring ein bisschen von dem Selbstgebrannten aus dem Dorf mit“, ruft mir Hakon hinterher, als ich mich zum Gehen umwende.
Wenig später schließt Katla hinter mir das Tor. Ein frischer Wind empfängt mich, lässt mich kurz frösteln. Noch einmal werfe ich einen Blick über meine Schulter, dann mache ich mich auf den beschwerlichen Abstieg.
Das Dorf ist gewachsen in den Jahren, seit ich das erste Mal hier war. Heute ähnelt es mehr einer kleinen Stadt. Viele Händler aus dem Osten kommen hier auf ihrem Weg in den Norden vorbei. Es gibt viele Gasthöfe, einen Schmied und seit zwei Jahren einen Apotheker, der sich zeitgleich um die Zähne der Menschen kümmert. Bei ihm werde ich die meisten Dinge von Janusch Liste erhalten.
Mir fällt auf, dass sich eine beunruhigend große Zahl Soldaten in dem Dorf befindet. In dem kleinen Gasthof, in dem ich übernachte, erklärt mir die Wirtin, dass sie ganz in der Nähe ein Lager errichtet hätten.
Ich rede und trinke an den Abenden mit den Männern aus dem Dorf. Viele kennen mich, denken, dass ich zu einem der Bergbauerngehöfte am Südhang gehöre. Was sie erzählen, beunruhigt mich. Meine Sorge bestätigt sich an meinem letzten Abend, als eine Schar Soldaten sich in der Gaststube einfindet.
Früh im Morgengrauen breche ich auf, nehme eine andere Route, die mich weiter nach Süden führt. Dabei komme ich an einer Reihe leerer Wohnwagen vorbei. Es scheint ein Zigeunerlager zu sein, doch kein Mensch ist dort. Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, mich den Wagen zu nähern. Sie scheinen vor geraumer Zeit verlassen worden zu sein. Die Behausungen sind durchwühlt, das Feuer in der Mitte des Lagers ist lange erloschen und nur das verbrannte Gras ist geblieben.
Ein Stück weiter des Weges begegne ich einem Bauern und frage ihn nach den verlassenen Wagen. Er spuckt aus und macht das Zeichen gegen den bösen Blick, ehe er mir erzählt, dass die Zigeuner im letzten Herbst von den Soldaten abgeholt worden sind. Sie wurden der Hexerei angeklagt und alle verschleppt.
Angesichts der Geschichten, die über das Volk der Zigeuner erzählt werden, traute sich niemand an ihre Wagen heran. Vielleicht kämen sie wieder und würden die Menschen zur Rechenschaft ziehen, oder sie hatten die Wagen verflucht.
„Was ist mit den Pferden, die die Wagen gezogen haben?“, frage ich interessiert.
„Die stehen nicht weit von hier auf der Weide des alten Ignaz. Keiner weiß, ob sie nicht verflucht sind, also kann man sie weder töten, noch sie für den Ackerbau einsetzen, geschweige denn verspeisen“, sagt der Mann und wiederholt das Zeichen gegen den bösen Blick.
Ich nehme an, die Zigeuner sind entweder tot oder arbeiten für den König in den Minen. Sie werden bestimmt nicht zurückkehren, doch ich behalte meine Gedanken lieber für mich, danke dem Bauern und gehe meinen Weg. In meinem Kopf entsteht eine Idee, über die ich während meines Aufstieges nachdenke.
Der Aufstieg über den Südhang dauert länger und ist um diese Zeit gefährlich, da der Wasserstand des Flusses, der vom Berg kommt, auf Grund der Schneeschmelze erhöht und eine Überquerung daher schwieriger ist. Es dauert fast fünf Tage bis ich vor dem großen Tor stehe. Die Sonne versinkt hinter den Bergen und Jokull, der mich erwartet hat, lässt mich ein.
„Da bist du endlich.“ Freudig schließt er mich kurz in die Arme. „Wir haben schon angefangen, uns Sorgen zu machen.“
„Schön, wieder hier zu sein. Ich musste über den Südhang kommen.“
„Was ist los? Du siehst besorgt aus.“ Jokull betrachtet mich kritisch.
„Darüber sprechen wir später. Alle zusammen. Ich muss erst mit Dagur sprechen.“
Auf dem Weg durch die Festung werde ich von verschiedenen Mitgliedern der Gemeinschaft begrüßt. Kurz überlege ich zu Katla zu gehen, doch ich verwerfe den Gedanken und steige die Treppe hinauf.
Vor der Tür bleibe ich einen Moment stehen und hole Luft. Dagur wird nicht gefallen, was ich gehört habe – genauso wenig wie meine Idee.
Mit einem Klopfen trete ich ein – und bleibe geschockt stehen. Der Anblick, der mich erwartet, verschlägt mir die Sprache. Im Profil sehe ich Dagur vor seinem Schreibtisch, die Hände auf Elions Kopf, der mit Tränen in den Augen vor seiner geöffneten Hose kniet. Hilfesuchend und zeitgleich beschämt sieht er mich an.
Ich werfe die Tür ins Schloss und bin mit zwei Schritten bei ihm, ziehe ihn hoch in meinen Arm.
„Was fällt dir ein, hier einfach einzutreten?“, fährt Dagur mich wütend an. Ich kann Alkohol in seinem Atem riechen und sehe seinen glasigen, wutverzerrten Blick.
„Bist du verrückt geworden?“, schreie ich ihn an. „Was tust du hier?“ Der Zorn lässt mich beben. Am liebsten würde ich ihn schlagen.
„Ich will wissen, ob er es wirklich wert ist, dass du dich von mir getrennt hast.“ Er grinst und ich muss mich zusammennehmen, nicht zuzuschlagen.
„Du zwingst Elion, dich zu befriedigen, weil du wissen willst, was ich an ihm finde? Du bist erbärmlich.“ Alles in mir schreit danach, mich auf ihn zu stürzen.
„Dieser kleine Niemand muss doch verborgene Talente haben, wenn du ihn mir vorziehst. Ich wollte mich nur davon überzeugen. Wenn er es für dich tut, dann kann er es auch für mich tun.“
Meine Beherrschung verlässt mich und ich schlage ihn mit der flachen Hand ins Gesicht. Überrascht sieht er mich an, zu verblüfft, um zu reagieren. Wahrscheinlich ist auch der Wein in seinem Blut schuld daran, dass er sich nicht sofort auf mich stürzt.
„Wag es nie wieder, dich Elion zu nähern!“ Ohne Dagur eines weiteren Blickes zu würdigen, ziehe ich Elion aus dem Raum. In meinen Armen zittert er und schluchzt unterdrückt.
„Hat er dir etwas getan?“, frage ich leise, als wir in seinem Zimmer angekommen sind.
„Er hat gesagt …“ Weiter kommt er nicht, weil ein Weinkrampf ihn schüttelt. Ich setze mich auf sein Bett und ziehe ihn auf meinen Schoß. Sanft wiege ich ihn, bis die Tränen nachlassen.
Von leisem Schniefen unterbrochen erzählt er mir, dass Dagur ihn in sein Zimmer gerufen hat. Er habe ihm gedroht, ihn aus der Gemeinschaft auszuschließen, wenn er ihm nicht zu Willen wäre. Trotzdem habe er sich geweigert, erst als Dagur körperliche Gewalt angewendet habe und ihn wüst dabei beschimpfte, ließ er sich in die entwürdigende Position bringen, in der ich sie vorgefunden habe.
Mein Blut kocht, zu gern würde ich zurückgehen und Dagur Vernunft in seinen Kopf einprügeln. Auch wenn ich ihm körperlich unterlegen bin und wahrscheinlich mehr einstecken als austeilen würde.
„Er verlangte, dass ich mit ihm das Gleiche mache wie mit dir. – Er wollte nicht glauben, dass ich nichts mit dir gemacht habe.“
Dieser verdammte Bastard! Ich weiß, dass er eifersüchtig ist, doch dass er sich dazu hinreißen lässt, hätte ich nie vermutet.
„Seine Forderung, seine Gewalt war anders als die der Wärter in den Minen. Die konnte ich stumm ertragen, aber das …“
„In den Minen wirkte das Gift in deinen Adern. Es macht dich träge und duldsam, jetzt bist du frei und empfindest die Dinge anders“, antworte ich und drücke ihn an mich. „Er wird dich nie wieder anfassen!“
„Danke, dass du gekommen bist.“ Elion hebt den Kopf und sieht mich an. Der Hauch eines Lächelns liegt um seine Mundwinkel.
„Zum Glück rechtzeitig“, murmele ich. Nicht auszudenken, wenn ich erst später oder morgen die Festung erreicht hätte. Immer noch tobt die Wut in mir. Wie kann der Mann, der mir gegenüber immer zärtlich und liebevoll war, sich dazu hinreißen lassen?
Eine Weile sitzen wir schweigend zusammen. Elion kuschelt sich tief in meine Arme und ich halte ihn fest. Nie werde ich zulassen, dass ihm etwas geschieht.
„Ich muss eine Versammlung einberufen“, sage ich leise und hebe sein Gesicht an. Seine grünen Augen glänzen noch von den vergossenen Tränen. Zärtlich streichele ich durch sein Gesicht. „Im Dorf habe ich einiges erfahren und wir müssen Entscheidungen treffen.“
Elion nickt und steht auf.
„Du bleibst bei mir, an meiner Seite.“ Ich nehme seine Hand. „Wir werden die Festung verlassen müssen. Ich fürchte, nicht alle werden sich meiner Einschätzung anschließen, doch ich hoffe, du vertraust mir.“
„Wenn du gehst, dann folge ich dir“, sagt er und lächelt schwach. Ganz vorsichtig küsse ich seine Nasenspitze.
„Danke.“
Gemeinsam verlassen wir das Zimmer und begeben uns nach unten. Als Erstes muss ich mit Katla und Egill sprechen und dann mit der Gemeinschaft.
„In mein Zimmer, 713“, befiehlt Dagur mir mit herrischer Stimme. Seine Augen glitzern gefährlich. Schnell folge ich ihm, unterdrücke den Impuls, ihm zu sagen, dass ich keine Nummer mehr bin, sondern einen Namen habe.
Hinter mir schließt er die Tür und geht langsam auf unsicheren Beinen durch den Raum auf mich zu. In seinem Blick glimmt Wut und ich frage mich, was ich falsch gemacht habe.
„Was findet Tomaz nur an dir?“, knurrt er, als er vor mir steht. Ich kann nicht antworten, mich überhaupt nicht rühren. Angst vor dem zornigen Mann lähmt mich. Mein Herz schlägt zu schnell und meine Hände sind feucht.
„Zeig mir, womit du ihm den Kopf verdreht hast!“
Verständnislos sehe ich ihn an.
„Was ist es? Dein kleiner, süßer Mund?“ Grob streicht sein Daumen bei diesen Worten über meine Lippen. „Oder dein handlicher Arsch? Oder verbirgt sich dein Geheimnis in deiner Hose?“ Hart fasst er zwischen meine Beine. Ich zucke zurück. Aus meiner Angst wird Panik. Ich will nicht, dass er mich berührt.
„Was hast du, das Tomaz dazu treibt, sich von mir zu trennen?“ Die grauen Augen fixieren mich, er tritt einen Schritt näher. Ich kann seinen Atem riechen, den sauren Weingeruch darin.
Verzweifelt suche ich nach einer Antwort, möchte ihn von mir stoßen und weglaufen, doch mein Körper gehorcht mir nicht.
Dagurs Hand greift in meinen Nacken, er küsst mich brutal. Meine Hände legen sich auf seine Schultern und ich versuche ihn von mir zu schieben, doch er hält mich fest.
Ich will das nicht und wehre mich stärker. Mit einem Mal lässt er mich los und ich sauge Luft in meine Lungen. Bevor ich reagieren kann, trifft mich seine Hand in meinem Gesicht.
„Komm schon, zier dich nicht. Du wirst mir all das geben, was du auch Tomaz gibst – oder du musst die Gemeinschaft verlassen.“ Wieder will er mich küssen, doch ich wende meinen Kopf, kämpfe gegen seinen harten Griff.
Noch einmal schlägt er mich. Meine Wange brennt und Tränen steigen in meine Augen auf. Bilder der Wärter kommen mir in den Sinn. Wie sie die Kleider von meinem Körper reißen, mich über einen Tisch beugen. Ich höre ihr Lachen in meinem Kopf.
„Du bist eine kleine Schlampe, 713. Du nimmst mir den Mann weg und jetzt will ich Entschädigung.“ Wieder streift mich sein Atem, Wahnsinn funkelt in seinen Pupillen. Ich winde mich, versuche ihm zu entkommen.
Ein weiterer Schlag, mein Kopf brummt, dann werde ich auf die Knie gedrückt. Schwerfällig öffnet Dagur seine Hose. Ich spüre die Tränen, die mir über die Wangen laufen. Nein, schreit eine Stimme in meinem Inneren, findet keinen Weg über meine Lippen.
„Jetzt zeig mir, mit was für Künsten du Tomaz verzaubert hast.“ Seine Hände graben sich in mein Haar, ziehen daran.
Bevor ich reagieren kann, geht die Tür auf und Tomaz steht im Zimmer. Sofort überblickt er die Situation, kommt zu mir und zieht mich in seine Arme. Nur am Rande höre ich die Worte, die er und Dagur wechseln, dann schlägt er das Oberhaupt der Gemeinschaft und bringt mich fort.
Als wir endlich in meinem Zimmer sind, kann ich seine Fragen nicht beantworten, Tränen brechen aus mir hervor. Tomaz hält mich und wiegt mich wie ein Kind in seinen Armen. Nur langsam löst sich der Klumpen in meiner Brust und ich kann ihm sagen, was geschehen ist. In seinen Armen fühle ich mich sicher und geborgen.
„Er wird dich nie wieder anfassen.“
Ich weiß, dass Tomaz dies nie wieder zulassen wird. Seine Worte beruhigen die letzte Unruhe in mir. Solange er bei mir ist, wird mir nichts passieren.
Dann erklärt er mir, dass er eine Versammlung der Gemeinschaft einberufen muss. Die Dinge, die er in dem Dorf am Fuße des Berges erfahren hat, zwingen uns eine Entscheidung zu treffen. Wir können nicht mehr hierbleiben. Doch das ist egal, solange ich bei Tomaz bin, spielt es keine Rolle, wo wir sind.
Zuerst gehen wir zu Katla, die um diese Zeit in der Küche ist. Zusammen mit einigen anderen bereitet sie das Essen vor. Tomaz nimmt sie zur Seite und bittet sie, mit ihm zu Egill zu gehen. Nachdem sie einige Anweisungen gegeben hat, folgt sie uns.
Egill treffen wir in ein Gespräch mit Elvar vertieft in der Schmiede. Zusammen gehen wir hinaus auf den Hof. Die Sonne ist fast versunken und ihre Wärme weicht der abendlichen Kälte.
„Ich werde heute Abend eine Versammlung einberufen“, beginnt Tomaz. „Der König hat genug von den Rebellen der Berge. Da er unsere Festung nicht finden kann, hat er beschlossen, alle Zugangswege, die breit genug sind, um mit Fuhrwerk passiert zu werden, zu sperren. Kein Wagen kommt ohne Kontrolle durch die Soldaten hindurch. Sollte es sich um Lieferungen für die Bergbauern handeln, werden sie diese zu ihrem Bestimmungsort begleiten. Das heißt, dass uns in diesem Jahr keine Wagen erreichen werden.“
Egill stößt einen Laut aus, der mich an das Knurren eines Tieres erinnert, und Katla seufzt.
„Sicher können sie nicht jeden fußläufigen Aufstieg kontrollieren, aber wir können niemals genügend Vorräte auf diesem beschwerlichen Weg hierherbringen. Auch können wir nichts fortbringen, da jedes Fuhrwerk aufgehalten und gegebenenfalls beschlagnahmt wird. Damit ist ein Handel unmöglich. Noch sind die Soldaten dabei, Stellung zu beziehen, doch in absehbarer Zeit sind wir mehr oder weniger abgeschnitten hier oben. – Es ist kein Wunder, dass diese Festung von ihrem ehemaligen Herrn aufgegeben wurde. Sie ist zwar abgelegen und gut gegen einen direkten Angriff zu verteidigen, jedoch schlecht zu versorgen.“ Tomaz fährt sich durch die Haare. „Wir müssen verschwinden, uns einen anderen Ort suchen.“
„Wie soll das gehen?“, fragt Egill. „Wir sind ehemalige Minensklaven, Deserteure und Verbrecher. Der König hat ein Kopfgeld auf uns ausgesetzt, wir können nicht einfach von diesem Berg spazieren und uns in einem Dorf ansiedeln.“
„Ich weiß, aber ich habe eine Idee. Nah dem Südhang stehen verlassene Zigeunerwagen. Ihre Besitzer wurden der Ketzerei angeklagt und verschleppt. Die abergläubischen Bauern trauen sich nicht, sie zu verbrennen. Wir werden sie nutzen und damit das Land durchqueren.“
„Bist du verrückt? Zigeuner sind fast ebenso vogelfrei wie wir. Wie lange soll es dauern, bis wir aufgegriffen werden?“ Katla schüttelt den Kopf. „Wir sind auch keine Zigeuner, das würde sofort auffliegen.“
„Sicher sind wir keine Zigeuner, darum werden wir auch nicht versuchen, wie sie Geld zu verdienen. Keine Amulette, kein Handlesen oder irgendwelche Liebestränke. Wir halten uns von den Ansiedlungen fern. Doch wenn man nur unser Lager sieht, wird man uns für fahrendes Volk halten.“ Tomaz legt die Hand auf ihren Arm. „Wir bleiben nie lange an einem Ort, damit man uns nicht für Krankheiten oder Missernten verantwortlich macht. Wir stehlen nicht und vermeiden jeden Kontakt.“
„Das ist trotzdem gefährlich“, sagt Egill und kratzt über sein Kinn.
„Ja, aber eine Chance. Hier oben haben wir keine. Ohne Vorräte verhungern wir.“
Eine Weile schweigen wir, dann sieht Katla Tomaz an. „Besser, bei dem Versuch zu leben umkommen, als hier auf den Tod zu warten.“
„Da hat sie wohl recht“, stimmt Egill brummend zu. „Was sagt Dagur dazu?“
„Ich weiß es nicht, aber es ist mir auch egal. Ich bleibe nicht hier. Wer will, kann mitkommen.“
Ich bin Tomaz dankbar, dass er nicht über die Situation spricht, in der er mich gefunden hat. Auch wenn mich keine Schuld trifft, fühle ich mich beschmutzt und möchte nicht, dass die anderen darüber Bescheid wissen.
Nach dem Essen bleiben alle im Saal. Dagur hat gerötete Augen und wenn Blicke töten könnten, fiele ich augenblicklich um.
Nachdem Ruhe eingekehrt ist, ergreift Tomaz das Wort. Er erzählt den Mitgliedern der Gemeinschaft, was er im Dorf erfahren hat, berichtet von den Soldaten und den geplanten Kontrollen. Als er endet, setzt Murmeln ein, Unruhe macht sich breit. Bis Dagur das Wort erhebt. „Was für eine Chance zum Überleben haben wir außerhalb dieser Festung? Die Soldaten jagen uns, sie werden nicht zögern uns zu töten oder gefangen dem König vorzuführen. Enden würde es beide Mal gleich – mit unserem Tod. Hier sind wir sicher, die Mauern schützen uns und den Soldaten ist es nicht möglich, jeden Zugang zu diesem Berg zu versperren. Seit vielen Jahre leben wir hier, haben unsere Gemeinschaft aufgebaut und erweitert, bisher haben wir allen Widrigkeiten getrotzt und werden das auch weiterhin tun.“
Einige nicken zustimmend.
„Wir sind zu viele, als dass es uns möglich wäre, die benötigten Vorräte auf unseren Rücke den Berg hinaufzuschaffen. Die Präsenz der Soldaten im Tal ist groß und steigert das Risiko, mit gefüllten Rucksäcken erwischt zu werden. Wenn wir nicht genügend Vorräte haben, kommen wir nicht durch den nächsten Winter. Hier haben wir keine Zukunft“, entgegnete Tomaz. „Dort unten im Tal bietet sich eine Möglichkeit, von hier zu entkommen. Nahe am Südhang stehen verlassene Zigeunerwagen, auch die Pferde befinden sind noch dort. Ihre Besitzer wurden im Herbst verhaftet und verschleppt. Wir könnten diese Wagen nutzen und uns damit auf die Suche nach einem neuen Ort, einem sicheren Platz für die Gemeinschaft machen.“
„Wie sollen wir mit den Kindern den Weg dorthin schaffen?“, fragt Unnur.
„Das ist gefährlich, der Fluss führt viel Wasser, doch es ist nicht unmöglich“, antwortet Tomaz.
„Wer sagt uns, dass es den Soldaten gelingt, alle Zugänge zu überwachen?“ Hakon war aufgestanden und wandte sich an Tomaz.
„Wer sagt uns, dass sie es nicht schafft? Wollen wir hier warten, ob es möglich ist, um dann festzustellen, dass es ihnen möglich ist und wir keine Vorräte mehr bekommen? Ich möchte nicht hier oben sterben.“
„Ich möchte nicht das Leben von Frauen und Kindern aufs Spiel setzen für eine Idee, die zum Scheitern verurteilt ist“, warf Dagur ein. „Im Laufe des Sommers sind wir durchaus in der Lage, genügend Vorräte für den Winter anzulegen, auch ohne Fuhrwerke.“
„Wie oft sollen wir den Weg gehen? Wann wird es den Soldaten auffallen? Wie kommen Holz und Heu hier hoch? Ohne Fuhrwerke ist das nicht möglich.“
Tomaz und Dagur sehen sich an. In ihren Blicken liegt mehr als nur ihre unterschiedliche Meinung. Zorn, heiße Wut und der Wille, sich dem anderen nicht zu beugen.
„Wir haben dies schon öfter geschafft“, sagt Dagur mit einer wegwerfenden Bewegung.
„Ja, doch damals war die Gemeinschaft bedeutend kleiner“, erwidert Tomaz.
„Wir können es wieder schaffen“, beharrt Dagur.
„Vielleicht sollten wir erst einmal eine Nacht über das, was Tomaz uns erzählt hat, schlafen“, mischt sich Katla ein. „Heute Abend finden wir keine Lösung. Jeder kann sich Gedanken machen und morgen reden wir noch einmal über die Frage, ob wir hierblieben oder gehen.“
Zustimmendes Gemurmel erklingt und die Versammlung löst sich auf. Tomaz nimmt meine Hand und gemeinsam verlassen wir unter Dagurs wütendem Blick den Raum. Statt zu unseren Zimmern gehen wir in die Bibliothek. Das Feuer ist erloschen, nur das hereinfallende Mondlicht erhellt den Raum. Die leeren Regale sehen uns vorwurfsvoll an. Wie schön muss es aussehen, wenn sie alle gefüllt sind.
„Egal was die anderen tun, ich bleibe nicht hier“, sagt Tomaz und tritt an eins der großen Fenster. „Lieber riskiere ich, von den Soldaten aufgegriffen zu werden, als hier auf den Tod zu warten.“
„Wie erkennen die Soldaten einen geflohenen Minensklaven? Ich meine, für Verbrecher und Deserteure gibt es Steckbriefe.“ Das hatte uns Egill erzählt. Auf ihre Gefangennahme setzte der König ein Kopfgeld aus.
„Anhand unserer Nummern“, entgegnet Tomaz. Verwirrt sehe ich ihn an.
„Hast du nie die kleinen Zahlen gesehen, die hinter dem Ohr jedes Minensklaven eintätowiert sind? Auch hinter deinem oder meinem.“ Mit einer Hand schiebt er seine Haare zur Seite und zeigt mir die kleinen Ziffern auf der zarten Haut hinter seinem Ohrläppchen. Ich muss gestehen, dass mir diese noch nie bei anderen Sklaven aufgefallen waren. 317 steht dort.
„Jeder, der dort eine Nummer gestochen hat, ist Eigentum des Königs. Ein Minensklave. Und da Sklaven nicht freigelassen werden, sondern in den Minen sterben, wird jeder freie Mann, der dieses Zeichen träg, von den Soldaten verhaftet.“
Sacht streiche ich über die drei Zahlen. Tomaz erschauert bei meiner Berührung. Ich sehe in sein Gesicht. Das Mondlicht spiegelt sich in seinen Augen. Er beugt sich zu mir vor und ich komme ihm entgegen. Sanft legen sich seine Lippen auf meine, lösen erneut das Kribbeln aus, das sich durch meinen Körper ausbreitet.
Federleicht ist die Begegnung, streichelnd wandert sein Mund über meinen, berührt meine Mundwinkel. Seine Zungenspitze fährt zart über meine Unterlippe und ich lasse ihn ein, komme ihm vorsichtig entgegen. Zarter, tastender Kontakt, der aus dem Kribbeln ein Summen macht, das durch meine Nerven sirrt. Meine Hände krallen sich in sein Hemd, ich muss mich festhalten, weil mir schwindlig wird. Die Welt beleibt scheinbar stehen, während unsere Zungen einen trägen Tanz beginnen, sich erkunden, zurückziehen, einander folgen und in der Wärme des fremden Mundes willkommen geheißen werden.
Nie fühlte ich Vergleichbares, Wundervolleres, das mich völlig vereinnahmt und in den Bann schlägt. Tomaz legt eine Hand in meinen Nacken, fährt mit seinen Fingern in meinen Haaransatz, die andere legt sich auf meinen Rücken, vermittelt mir Wärme und das Gefühl, gehalten zu werden in dem Strudel, der mich erfasst.
Immer intensiver werden die Berührungen, immer schneller rauscht das Blut durch meine Adern, summt in meinen Ohren. Ich habe das Gefühl, mich zu öffnen, Tomaz entgegenzustreben. Verspüre den Wunsch, in ihn hineinzukriechen, eins zu werden mit ihm.
Erst das Bedürfnis zu atmen zwingt uns, unsere Lippen voneinander zu entfernen. Gerade so weit, dass wir Sauerstoff in unsere Lungen saugen können.
„Ich liebe dich, Elion“, raunt Tomaz gegen meinen Mund und verschließt ihn wieder mit seinem. Ich fühle mich leicht, beschwingt und glücklich. Ungefähr so muss sich ein Schmetterling fühlen, wenn er im Sommerwind von Blüte zu Blüte tanzt.
Wie lange stehen wir dort und küssen uns? Ich weiß es nicht, Sekunden oder eine Ewigkeit, vielleicht auch eine Ewigkeit, die nur Sekunden dauert.
Irgendwann lösen wir uns, sehen uns an. Jede Linie seines Gesichts prägt sich mir ein, streichele ich mit meinem Blick. In diesem Moment ist alles belanglos, die Vergangenheit, die Zukunft, die ganze Welt. Nur wir zählen, Tomaz und Elion.
„Lass uns schlafen gehen. Morgen wird ein anstrengender Tag.“ Zärtlich streichelt Tomaz durch mein Gesicht, küsst mich noch einmal.
Benommen folge ich ihm zu meinem Zimmer, merke, wie müde mich der Tag und seine Aufregungen gemacht hat.
„Bleibst du bei mir?“, frage ich schüchtern, heute Nacht will ich nicht allein bleiben. Nachdenklich mustert mich Tomaz, ehe er nickt. Zusammen mit Kimmi, der mich schon erwarte hat, gehen wir hinein.
In der Enge der Schlafräume in den Minen spürte ich oft die Männer, die neben mir lagen, doch das ist nicht zu vergleichen mit dem Gefühl, neben Tomaz zu liegen. Obwohl ich müde bin, kann ich nicht einschlafen, lausche auf seinen Atem. Ich liege auf der Seite und Tomaz direkt hinter mir, seine Hand ruht auf meiner Hüfte. Warm spüre ich ihren Druck.
In meinem Kopf geht es wild zu, die Ereignisse des Tages jagen sich vermischt mit Furcht vor der Zukunft. Wo sollten wir hingehen? Wie dem König und seinen Soldaten entkommen? Zeitgleich bin ich mir sicher, dass alles gut wird, solange Tomaz bei mir ist. Dann wieder frage ich mich, was ich für ihn empfinde, was seine Küsse in mir auslösten? Sie waren wundervoll und nur daran zu denken, lässt meinen Körper summen. Dieses Gefühl scheint sich in meinem Unterleib zu manifestieren. Dort sammelt, vereint es sich.
Bei unseren Küssen war etwas zwischen meinen Beinen geschehen. Ich wusste, rein theoretisch, was dies bedeutete, doch es zu spüren, war ganz was anderes. War das Erregung? Lust? Mein Glied hatte sich vorhin mit Blut gefüllt und nur der Gedanke daran ließ es wieder leicht pulsieren. Gern würde ich mich anfassen, doch es kommt mir unpassend vor, während Tomaz neben mir liegt. Will ich Sex mit ihm? Hitze steigt in mir auf, lässt meine Wangen glühen. Will ich, dass er mich berührt? Ich zucke vor dem Gedanken zurück, für einen Moment schiebt sich das Bild von Dagur vor mein geistiges Auge.
Diese Fülle von Emotionen verwirrt und verunsichert mich. Gern würde ich mich in den Schlaf flüchten, doch der meidet mich hartnäckig.
Das Grau des Morgens schleicht sich schon in mein Zimmer, als mir die Augen zufallen. Mein letzter Gedanke gehört Tomaz und seinen leisen Worten: Ich liebe dich, Elion.
Der warme Körper, der mich umfängt, verwirrt mich, als ich aufwache. Kurz muss ich mich orientieren. Tomaz liegt an mich geschmiegt hinter mir und seine Hand liegt auf meiner Brust. Ich spüre seinen Atem in meinem Nacken.
Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, lege ich meine Hand auf seine. Lange kann ich nicht geschlafen haben, denn die Sonne schaut noch in mein Zimmer. Sie zieht am Vormittag auf ihrem Weg an den Zenit schnell daran vorbei.
Vor meinem Bauch liegt Kimmi und schnurrt leise. Ich schließe meine Augen wieder, genieße das wohlige Gefühl. In meinem Rücken kann ich Tomaz atmen spüren. Seine Brust füllt sich mit Luft, entlässt sie wieder und er pustet sie leicht in meinen Nacken.
Genau merke ich, wie sich seine Atmung verändert und er langsam wach wird. Seine Lippen küssen sanft meinen Nacken und ich erschaudere. Eine Gänsehaut breitet sich über meinen Rücken aus.
„Guten Morgen“, flüstert er mir heiser vom Schlaf ins Ohr. „Du riechst gut.“
Ich muss kichern. „Guten Morgen“, erwidere ich, schmiege mich dichter an seinen Bauch. Erst jetzt kann ich sein Glied fühlen, das sich hart gegen meinen Hintern presst. Erschrocken rücke ich ein Stück ab.
„Keine Angst, ich tu dir nichts.“ Sanft hält er mich fest, rückt mit seinem Unterleib ab. „Das bedeutet nicht, dass ich jetzt über dich herfalle.“
„Entschuldige“, sage ich leise.
„Nichts, wofür du dich entschuldigen musst. Wenn, dann müsste ich mich entschuldigen, aber der männliche Körper hat manchmal ein Eigenleben. – Außerdem würde ich lügen, wenn ich sagen würde, dass ich dich nicht begehre.“ Wieder küsst er meinen Nacken. „Aber ich würde nie etwas tun, was du nicht willst.“
„Ich weiß“, entgegne ich und das tue ich wirklich. „Es war nur so unerwartet.“
Tomaz lacht und die Vibration seines Brustkorbes übertragen sich auf mich. „Wenn wir öfter so schlafen, musst du dich daran gewöhnen. – Falls du das überhaupt willst.“
Ich drehe mich in seinem Arm, sehe ihn an, begegne der Wärme in seinem Blick. Sacht lege ich meine Hand auf seine Wange, spüre die Bartstoppeln. Mit dem Daumen streiche ich über seine Lippen, die sich ein Stückchen öffnen. Sie sind weich und zart, bilden einen Kontrast zu den rauen Stoppeln. Meine Finger erkunden sein Gesicht, folgen der Linie seiner Augenbrauen, streichen über die Stirn, die zarte Haut über seinen Schläfen, den Rücken seiner Nase, ehe sie wieder an seinen Lippen ankommen. Ich spüre den Hauch seines Atems auf meinen Fingerspitzen, rücke etwas näher und küsse ihn. Schlagartig ist das Summen in meinem Körper wieder da, meine Hände kribbeln, können nicht genug von ihm anfassen. Ich will, muss mehr von ihm spüren, zerre an seinem Hemd, gleite darunter und streichele die warme Haut. Mein Körper strebt ihm entgegen, ich lege mein Bein über seine Oberschenkel, rutsche noch näher.
„Du machst mich verrückt“, keucht Tomaz in einer kurzen Atempause, die ich ihm gönne, ehe ich mich wieder seiner Lippen bemächtige.
Das Summen konzentriert sich auf meinen Unterleib, alles scheint sich dort zu versammeln und ich spüre, wie ich hart werde. Kurz bekomme ich Angst davor, dann presse ich mich an Tomaz, fühle seine Härte und ein Feuer packt mich, verbrennt mich von innen. Meine Hüften bewegen sich, ich reibe mich an ihm und das Feuer wird unerträglich in mir.
„Warte“, flüstert Tomaz, doch ich kann nicht warten. Seine Hand legt sich auf meinen unteren Rücken zieht mich näher, presst mich an ihn heran. Mein Körper scheint ein Eigenleben zu führen, ich kann nicht aufhören, kann nicht warten, muss dem Trieb folgen, der mich beherrscht. Tomaz lässt mich gewähren, hält mich, küsst mich, auch als ich nicht mehr in der Lage bin, seinen Mund zu treffen. Ich keuche und stöhne, brauche eine Erlösung für das Feuer, das in mir tobt. Schweiß rinnt über meinen Körper, der sich wie im Fieber windet.
Tomaz schiebt seine Hand zwischen unsere Körper, in meine Hose. Kühl berühren seine Finger meine Härte und legen sich darum, soweit das in der Enge möglich ist. Ich komme ihm entgegen, nur wenige Bewegungen in seiner Hand reichen und ich werde fortgerissen von einer Welle unbekannten Ausmaßes. Es ist wie eine Explosion, wie eine Sprengung in den Bergen. Es katapultiert mich hoch, dass ich das Gefühl habe, meinen Körper zu verlassen. Heiß schießt Sperma aus meinem Körper, in Schüben, die mich unkontrolliert zucken lassen. Für einen Moment ist alles leer, friedlich und ich fühle mich schwer, glücklich und zufrieden. Schwer atmend spüre ich, wie die Welt zurückkehrt. Mein Kopf ruht auf Tomaz’ Schulter, seine Arme halten mich fest.
Scham überkommt mich, Schuldbewusstsein. Was habe ich gemacht? Schnell will ich mich von ihm lösen, das feuchte Gefühl von meinem Körper waschen, doch Tomaz hält mich fest.
„Alles ist gut“, flüstert er. „Das ist ganz normal, nichts, wofür du dich schämen musst.“
„ich …“, verzweifelt suche ich nach Worten, doch in meinem Kopf herrscht weißes Nichts – und buntes Durcheinander.
„Du musst kein schlechtes Gewissen haben, weil es dir gefallen hat. So soll es sein. Was du gefühlt hast, ist genau richtig.“ Tomaz’ Stimme und seine Hände, die mich sanft streicheln, beruhigen mich langsam.
„Du ekelst dich nicht vor mir? Findest mich nicht – abstoßend?“ Irgendwie habe ich Angst vor der Antwort, doch er lacht nur leise.
„Nein, meine kleine Sonne, ich finde dich wunderschön und ich liebe dich. Mit jeder Sekunde ein wenig mehr.“
Auch wenn ich es noch nicht ganz glauben kann, beruhigen mich seine Worte.
„Wir sollten trotzdem aufstehen und uns frisch machen. Es wird heute ein Tag mit vielen anstrengenden Diskussionen werden.“ Entgegen seiner Worte macht er keine Anstalten, sich aus dem Bett zu begeben, sondern zieht mich stattdessen in einen langen Kuss. Ich schlinge meine Arme um ihn und habe das Gefühl, genau dorthin zu gehören.
Die Diskussion dauert schon den ganzen Morgen. Deutlich haben sich zwei Lager gebildet, alle, die gehen wollen, haben sich Tomaz angeschlossen, alle, die trotz der Bedrohung hierbleiben wollen, Dagur.
Katla, Egill und Janusch stehen hinter Tomaz und stacheln damit die trotzige Wut Dagurs nur noch mehr an. Eine Einigung scheint unmöglich.
„Das hat keinen Zweck. Wir kommen nicht weiter“, stellt Tomaz schließlich fest und seufzt. „Ich werde nicht hier warten und zusehen, wie einer nach dem anderen verhungert, bis die Reihe an mir selbst ist. Ich werde gehen und hoffe, dass sich so viele wie möglich mir anschließen.“
„Du willst die Gemeinschaft verlassen? Im Stich lassen?“, fragt Dagur donnernd.
„Nein, ich will, dass die Gemeinschaft geht, alle zusammen und sich einen neuen Ort sucht, an dem sie leben kann. Hier können wir nicht leben, hier werden wir sterben.“ Tomaz’ Stimme klingt müde. „Der König meint es ernst. Vielleicht hält er einen Karren an, der zu uns will, und derjenige, der ihn lenkt, verrät uns, weil ihm sein Leben mehr bedeutet als unsere Sicherheit. Vielleicht verhindert er auch nur, dass die Wagen hier oben ankommen. Das ist letztlich egal, denn wir sind achtundfünfzig Menschen, bald neunundfünfzig. Wir können nicht von dem leben, was wir auf unserem Rücken herauftransportieren. – Und irgendwann wird es zu spät sein, um zu gehen.“ Er holt tief Luft. „Wer sich mir anschließen will, ist herzlich willkommen.“
„Keiner geht. Wir sind eine Gemeinschaft, wir stehen zueinander, auch in schweren Zeiten“, entgegnet Dagur und in meinen Ohren klingt es drohend.
„Ich gehe auch“, sagt Katla. „Hier oben haben wir keine Chance.“
Egill nickt. „Wir sind eine Gemeinschaft, doch das heißt nicht, dass wir auf Grund des Starrsinns eines Mannes hier oben sterben müssen.“ Herausfordernd sieht er Dagur an. „Du bist unser Oberhaupt, bisher waren deine Entscheidungen gut, aber jetzt irrst du, wir müssen die Festung verlassen.“
Zustimmendes Gemurmel. Zornig blickt Dagur über die Menge. „Wer gehen will, soll gehen. Ihr werden nicht weit kommen, ehe euch Eskils Soldaten aufhalten und einsperren. Ihr seid in des Königs Augen Verräter und für Verräter gibt es nur eine Strafe, den Tod. Wer sich also gegen die Festung entschließt, wählt den Tod.“ Energisch schiebt er den Stuhl zurück, der laut über den Boden schrammt, und verlässt den Raum. Nach einem Moment des Schweigens diskutieren einige weiter.
Nach und nach verlassen diejenigen, die bei Dagur bleiben wollen, den Raum. Zurück bleiben achtzehn Erwachsene und fünf Kinder.
„Können wir mit den Kindern den Abstieg überhaupt schaffen?“, fragt Hekla besorgt.
„Ja, es wird nicht einfach, aber wir schaffen das. Wir müssen sie sichern, wenn wir den Fluss überqueren, aber ansonsten können die größeren die Strecke bewältigen. Die Kleinen müssen wir unter Umständen tragen.“ Tomaz lächelt beruhigend.
„Wann willst du aufbrechen?“, fragt Janusch.
„Übermorgen. Wir werden einige Tage brauchen, ehe wir unten sind, dann müssen wir die Wagen vorbereiten und die Pferde stehlen.“
Katla will etwas sagen, öffnet ihren Mund und schließt ihn gleich wieder.
„Sie gehörten den Zigeunern und die sind fort. Wie holen nur die, die wir für die Wagen brauchen. – Hat jemand schon einmal einen Wagen gelenkt?“
„Ich. Ein Fuhrwerk.“ Der Mann, der antwortet, ist groß und schlaksig. Seinen Namen kenne ich nicht.
„Gut, dann musst du uns sagen, wie das geht, Mogens. Wie wir die Pferde dazu bekommen, uns von hier fortzubringen.“
Mogens nickt. „Ich werde es versuchen.“
„Und was nehmen wir alles mit?“, fragt Unnur, die sich zu meinem Erstaunen auch uns angeschlossen hat.
„Genug, um unserer Leben für ein paar Tage zu sichern. Kein Ballast, nur die Dinge, die ihr unbedingt braucht. Immerhin müssen wir sie den Berg hinabtragen.“ Tomaz lächelt. „Mit den Kindern werden wir mindestens fünf Tage brauchen, eher sieben. Außer den persönlichen Dingen, die jeder mitnehmen will, müssen wir die Lebensmittel verteilen. Bedenkt also gut, was ihr diese Strecke tragen könnt.“
Zum Glück besitze ich nicht viel. Meine Sachen sind schnell gepackt. Ich werde meine Wechselkleidung noch einmal waschen, denn wer weiß, wann wir wieder dazu kommen. Tomaz spricht mit Egill und Katla über die Vorräte, die wir mitnehmen, während ich in die Bibliothek gehe. Das Buch der Sonne muss ich auf jeden Fall mitnehmen.
Wo werden wir hingehen? Ich sehe mir die Landkarte an. Gern würde ich in den Süden gehen, dort wo die Blumen schon um diese Zeit blühen, bunte Schmetterlinge fliegen und das Meer ist. Ich kann mir das Meer nicht vorstellen. Eine Wasserfläche, die bis an den Horizont reicht. Fischer fahren mit ihren Booten raus, um die verschiedensten Meeresbewohner zu fangen. Das Land endet im Sand, der im Sommer heiß unter den Fußsohlen brennen soll. Wie muss es aussehen, wenn die Sonne in dem Wasser versinkt?
Der Weg ist lang. Erst müssten wir Malmirika , das Reich von König Eskil, durchqueren, dann ein lang gezogenes Land, das Agurigeza heißt. Es wird von einer Königin regiert. Dort gibt es keine Berge, nur sanfte Hügel, die mit saftigem, grünen Gras bedeckt sind. Der Reichtum des Landes sind Rinder und die besten Pferde der Welt.
Nach Agurigeza kommt Marreame , das Land am Meer. Statt eines Monarchen gibt es dort seit ein paar Jahren einen Bund aus Adligen, die über die Geschicke des Landes entscheiden.
All das hat uns Egill gelehrt. Auch dass König Eskil ein streitbarer Regent ist, was immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Nachbarstaaten führt. Aufgrund der Minen und der daraus gewonnenen Erze ist Eskil ein reicher König mit einem großen Heer. Darum ist es ihm bisher gelungen, als Sieger aus allen Streitigkeiten hervorzugehen.
Ich bin froh, wenn wir sein Reich verlassen. Ganz egal, wohin uns der Weg führt.
Eine angespannte Stimmung beherrscht die Gemeinschaft. Unverständnis auf beiden Seiten. Streit in Familien, die sich nicht einigen können, ob sie bleiben oder gehen sollen. Noch zwei Nächte, dann verlassen wir die Festung und ich bin froh. Jedes Mal, wenn ich Dagur begegne, wirft er mir wütende Blicke zu, dabei bin ich es doch, der wütend auf ihn sein sollte. Er wollte mich mit Gewalt nehmen, mich demütigen und erniedrigen. Aber ich bin nicht wütend, eher ängstlich. Was, wenn er einen Plan ausheckt, der verhindert, dass wir gehen können?
Darüber will ich lieber nicht nachdenken. Nicht mehr lange und ich kann ihn vergessen. Zumindest hoffe ich, dass ich das kann.
Ich bin froh, dass wir endlich allein in meinem Zimmer sind. Allein mit Kimmi, der wie immer vor meiner Tür gewartet hat. Obwohl der Frühling begonnen hat, ist es kalt in dieser sternenklaren Nacht.
„Zieh dich aus“, flüstert Tomaz, der hinter mir steht. Eine Gänsehaut kriecht über meinen Rücken. Unsicher öffne ich mein Hemd. Zärtlich küsst er meinen Hals, meine Schultern. Seine Hände legen sich auf meinen Bauch, ziehen mich an ihn heran. Während er sich an meiner Hose zu schaffen macht, knabbert sein Mund an meinem Nacken. Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf das Kribbeln, das seine Berührungen in mir auslösen. Wenig später gleitet der Stoff über meine Hüften. Mein Körper verspannt sich, ich weiß nicht genau, was ich fühle.
„Keine Angst, ich werde nichts tun, was du nicht willst. Schlüpf unter die Decke.“ Mit der Hand zwischen meinen Schulterblättern schiebt er mich in Richtung des Bettes. Schnell verschwinde ich unter der wärmenden Decke.
Seine Berührungen haben mir gefallen, mich erregt. Mein Glied hat sich mit Blut gefüllt und ich würde es gern anfassen, zeitgleich schäme ich mich ein wenig für meine Empfindungen.
Tomaz zieht sich ebenfalls aus und ich kann die Augen nicht abwenden. Er ist schön, seine Brustwarzen setzen sich dunkel von seiner Haut ab. Auf seiner Brust locken sich ein paar dunkle Haare, weniger als in dem Dreieck über seinem Glied. Ich wende den Blick ab, fühle mich ertappt und will eigentlich trotzdem hinsehen.
„Darf ich zu dir kommen?“, fragt er leise und ich nicke. Er schiebt sich neben mich unter die Decke. Kimmi beäugt uns vom Tisch aus. Sein angestammter Platz ist gerade nicht frei.
Tomaz legt seine Hand auf meine Wange. „Du sagst, wenn du etwas nicht willst, wenn es dir Angst macht oder dir missfällt.“ Es klingt fast wie eine Frage und ich nicke, beiße mir auf die Unterlippe. Langsam kommt er näher und küsst mich. Ich mag dieses Gefühl seiner Lippen auf meinen. Sachte liebkosend, ohne Druck, nur erkundend.
Ich schiebe meine Hand in seinen Nacken, ziehe ihn näher, will, dass aus dem sanften Kribbeln wieder dieses tosende Summen wird.
Mit der Zunge stupst er gegen meine Unterlippe und ich lasse ihn hinein, komme ihm entgegen. Ein sanfter Tanz beginnt, doch je lauter das Summen in mir wird, desto schneller wird sein Takt. Ich strebe ihm entgegen, mit meinem Körper und meinem Herz, das aufgeregt und viel zu hart in meiner Brust schlägt.
Seine Hände fahren über meinen Körper, streicheln meinen Rücken, gleiten über meine Hüften, berühren meinen Bauch und wandern zu meiner Brust. Ich tue es ihm gleich, erkunde seinen Körper, fühle seine Haut. Mit meinen Fingern wühle ich in seinen Haaren.
Er verlässt meinen Mund, küsst mein Kinn, mein Hals, folgt meiner Kehle, die ich ihm entgegenstrecke. Mit den Zähnen knabbert er an meinem Schlüsselbein, lässt seine Zunge über meine Brust gleiten und nimmt meine Brustwarzen zwischen seine Lippen. Ein Stöhnen entkommt mir, das fühlt sich unglaublich an. Kleine kribbelnde Wellen fließen von seiner Berührung direkt in meinen Unterleib. Das Summen ist ein Rauschen geworden, das laut in meinen Ohren klingt.
Sein Mund wandert weiter über meinen Körper, meinen Bauch. Mit der Zunge umkreist er meinen Bauchnabel, küsst sich tiefer. Ich beobachte ihn, kann nicht glauben, was er tut, als seine Zungenspitze über mein hartes Glied leckt.
Ich verbrenne, schmelze, vergehe in dem Feuer, das er in mir entzündet. Seine Lippen schieben sich um meine Eichel, ich kann seine Zunge spüren, die mich umspielt. Mein Becken zuckt hoch, ihm entgegen und er legt seine Hände auf meine Hüften, hält mich fest. Ohne den Blick zwischen uns zu unterbrechen, bewegt er seinen Kopf, treibt mich mit seiner Zunge in den Wahnsinn. In meinem Unterleib pulsiert das Blut, versammeln sich all meine Gefühle. Nicht mehr lang und sie werden explodieren. Ich weiß nicht, was ich tun soll, ob er etwas von mir erwartet, ob ich ihn warnen muss.
Mühsam stöhne ich seinen Namen und seine Bewegungen werden schneller, er saugt an mir und ich habe das Gefühl, nur noch aus meinem Schaft in seinem Mund zu bestehen. Mein Atem rast, mein Gehirn ist leer. Noch einmal entkommt mir sein Name zusammen mit einem tiefen Stöhnen, dann explodiert die Welt erneut. Unkontrolliert zucke ich, spüre, wie ich mich in seinen Mund ergieße und kann die Augen nicht von dem Bild abwenden, während ich mich auflöse, nicht mehr bin, nur noch fühle.
Erst als ich wieder langsam zu mir selbst finde, löst er seinen Mund von mir, lächelt zärtlich. Ich greife in sein Haar, ziehe daran, will ihn in meinen Armen, dicht neben mir haben. Er folgt dem Zug, kommt hoch und schließt seine Arme um mich.
Eine Ewigkeit sehen wir uns an, ehe ich ihn küsse. Ein merkwürdiger, aber nicht unangenehmer Geschmack liegt auf seiner Zunge. Das dürfte das Sperma sein, das ich in seinen Mund vergossen habe.
Was er getan hat, offensichtlich mit Genuss, ist das, wozu Dagur mich zwingen wollte. Doch Tomaz hat es gefallen. Er tat es freiwillig. Ich weiß nicht, ob ich das könnte. Zum Glück scheint er das aber auch nicht zu erwarten – auch wenn ich seine Härte an meinem Oberschenkel fühlen kann.
Vorsichtig lasse ich meine Hand über die Rundung seines Hinterns, seine Hüfte streicheln und berühre sein Glied. Es ist hart unter der samtigen Haut. Ungeschickt umfasse ich es und streiche daran entlang.
Tomaz hält mein Handgelenk fest. „Du musst das nicht tun“, sagt er ernst und ich nicke.
„Ich weiß“, entgegne ich und fahre fort ihn zu streicheln. Seine Augen verdunkeln sich sichtlich, er öffnet die Lippen leicht und sein Atem geht schneller. Ich betrachte sein Gesicht und küsse ihn. Er schiebt sich mir entgegen, stöhnt leise in meinen Mund. Meinen Rhythmus verändernd versuche ich herauszufinden, was ihm gefällt.
Seine Lust zu sehen, erregt mich. Ich will, dass es ihn fortträgt, dass er sich in meiner Hand verströmt. Seine Hüften bewegen sich, er stößt in meine Hand. Auf einmal verkrampft sich sein Körper, er keucht meinen Namen und heiß läuft sein Sperma über meine Hand. Wunderschön sieht er aus in diesem Moment, losgelöst und glücklich. Sanft küsse ich ihn, atme die Luft, die er ausstößt, berausche mich an seinem Duft.
Nie hätte ich geglaubt, dass Sex mit einem Mann schön sein kann. Nein, nicht nur schön, sondern unglaublich wunderschön. Ich möchte diesen Moment festhalten und mir keine Gedanken über unser Morgen machen. Für mich könnte diese Nacht eine Ewigkeit dauern.
Elion schläft noch, seinen Kopf auf meiner Schulter gebettet, seine Hand auf meinem Bauch. Schon länger liege ich wache, sehe, wie aus der Nacht langsam ein Morgen wird. Auch wenn ich weiß, dass unser Entschluss richtig ist, mache ich mir Sorgen. Der Abstieg wird mit den Kindern schwer. Auch Caja will mit uns gehen, sie steht kurz vor der Geburt ihres Kindes. Gerade der erste Teil ist schwierig. Der Weg nur schmal und ein falscher Schritt kann zu einem Sturz führen. Wir werden Sicherungsseile mitnehmen und die kleinen Kinder tragen.
Morgen um diese Zeit brechen wir auf, um bis zum Abend zumindest eine Stelle zu erreichen, auf der wir sicher ruhen können. Nach dem Abstieg müssen wir im Dunkel die Pferde stehlen, sie einspannen und schnellstmöglich verschwinden. Um das Innenleben der Wagen können wir uns erst kümmern, wenn wir weit genug fort sind.
„Guten Morgen“, murmelt Elion auf meiner Brust, gähnt und sieht mich mit einem Lächeln an. Sofort fühle ich mich besser, glücklich. Was kommt, ist egal, solange meine kleine Sonne an meiner Seite ist.
„Guten Morgen“, erwidere ich und streiche ihm durch die noch kurzen Haare. Er dreht sich ein Stück, kommt höher und küsst mich. Nichts ist vergleichbar mit seinen Küssen, dem Gefühl seiner Haut unter meinen Fingern, einem Blick in seine Augen, seinem Geruch – einfach mit ihm. Ich habe mein Herz an ihn verloren und möchte es nie wieder zurück.
„Nein, so viel könnt ihr nicht mitnehmen!“
Seit einer Stunde stehen Dagur, Audur, Katla und ich im Keller und streiten uns über die Vorräte, die wir mitnehmen wollen.
„Wir sind allein den Berg hinab fünf bis sieben Tage unterwegs. Danach müssen wir erst einmal Vorräte besorgen.“ Katla bemüht sich um Ruhe, während ich Dagur am liebsten anschreien würde. Um jedes Stück Schinken, jede Schaufel Mehl wird gestritten. Dabei geht es nur um seine gekränkte Eitelkeit.
„Wenn wir tatsächlich nur auf dem Fußweg unsere Vorräte auffüllen können, dann müssen wir mit dem, was da ist, haushalten.“
„Gestern war es nach deinen Worten kein Problem, für uns alle genügend Vorräte hier heraufzuschaffen. Jetzt geht es nicht für eine deutlich geringere Anzahl von Menschen?“, mische ich mich genervt ein.
Dagur wirft mir einen giftigen Blick zu. „Ich bin verantwortlich für die Menschen hier und es ist meine Entscheidung.“
„Nein! Wir sind ein Teil der Gemeinschaft und uns steht unser Anteil, den wir auch mit angelegt haben, zu. Zumindest genügend, um zehn Tage ohne Probleme zu überstehen.“ Ich halte seinem Blick stand.
„Ihr löst euch aus der Gemeinschaft, euch steht eigentlich gar nichts zu!“
„Wir wollen überleben und darum gehen wir! Mit ausreichend Vorräten für zehn Tage. Ihr habt hinterher durch unseren Weggang immer noch mehr Vorräte.“
Auf einmal stößt er die Luft hörbar aus. „Gut, nehmt, was ihr für zehn Tage braucht.“ Damit wendet er sich ab und verlässt den Keller. Audur folgt ihm.
„Warum ist er so stur?“, fragt Katla mich.
„Weil er wütend auf mich ist und niemals zugeben würde, dass ich recht habe.“
„Aber er stürzt sich und die anderen damit ins Verderben …“
Müde nicke ich. „Ja, aber das wird ihm erst zu spät bewusst werden.“
Bis spät in den Abend haben wir die Rucksäcke gepackt, die Vorräte verteilt, die Seile geprüft und bereitgelegt.
Die letzte Mahlzeit im Kreis der Gemeinschaft war sehr schweigsam. Die Fronten sind verhärtet. Viele, die seit Beginn Dagur vertrauen, halten uns für Verräter. Sie glauben mir nicht.
Hunger habe ich an diesem Abend keinen. Ich würde sie gern überzeugen, dass es die einzig richtige Entscheidung ist, uns zu folgen, doch keiner von ihnen würde mir zuhören. Dass es überhaupt so viele sind, ist ein Wunder.
Nur wenige von denen, die mitgehen, können kämpfen. Wie Elion haben die anderen drei, Elida, Rurik und Sjur, noch nie eine Waffe in der Hand gehabt. Im Frühjahr sollte der Unterricht in Selbstverteidigung beginnen.
Wir müssen hoffen, nicht in ein ernsthaftes Scharmützel mit den Soldaten verwickelt zu werden.
„Was ist mit Kimmi?“ Elions Frage reißt mich aus meinen Gedanken. Der Kater sitzt am Fußende des Bettes und sieht uns an.
„Wir können ihn nicht mitnehmen. Wie soll das funktionieren?“
„Wir können ihn auch nicht hierlassen. Nachher essen sie ihn, wenn die Vorräte knapp werden.“
Der schwarze Kater hat seinen Kopf schräg gelegt und sieht uns an. Fast als könnte er unsere Worte verstehen.
„Wenn du einen Weg findest, nimm ihn mit“, sage ich und küsse Elion. „Und jetzt sollten wir schlafen, die nächsten Tage werden anstrengend.“
Auch wenn Schlafen eine gute Idee ist, fällt es mir schwer, wenn Elion mich küsst und seinen Körper an mir reibt. Dann wird der Schlaf wohl noch etwas warten müssen.
Früh am Morgen mit der aufgehenden Sonne sind wir losgegangen. Am Mittag erwischt uns der Regen, mitten in einer der schwierigsten Passagen des Abstiegs. Hart und kalt prasselt er auf uns nieder, sorgt dafür, dass die Steine unter unseren Füßen und Händen rutschig werden.
Ich gehe vorweg, direkt hinter mir Elion. Katla befindet sich in der Mitte und Egill bildet das Schlusslicht. Stehen bleiben können wir nicht, hier gibt es keinen Schutz und keinen Halt. Auf dem schmalen Weg ist es uns nur möglich, hintereinander zu gehen. Ich wende den Kopf und blicke die Reihe entlang. Caja schlägt sich gut, ebenso wie Kari und Eggert, die zu groß sind, um von ihren Vätern getragen zu werden.
Langsam gehe ich weiter, räume einen größeren, lockeren Felsbrocken aus dem Weg. Frühestens zum Nachmittag werden wir einen Vorsprung erreichen, an dem wir halten können. Der Regen tropft kalt in meinen Nacken und lässt mich schaudern. Für einen Moment frage ich mich, ob es eine gute Idee war, die Festung zu verlassen, doch dort oben auf den Tod zu warten, ist eigentlich keine Alternative – und ich bin mir sicher, dass der König und seine Soldaten es ernst meinen.
Hinter mir rutscht Geröll den Berg hinab und ich fahre herum, Unnur hatte den Halt verloren, doch Jokull, der hinter ihr geht, konnte sie festhalten. Ich werfe einen Blick auf Elion, er sieht konzentriert aus. Nie könnte ich mir verzeihen, wenn ihm etwas passiert. Kurz berühre ich seine Hand und er lächelt mich an.
Müde und erschöpft erreichen wir den Vorsprung, kaum groß genug, damit sich alle ausruhen können. Katla verteilt Brot und Käse, ehe sie sich neben mich setzt. Sie ist blass.
„Wie geht es dir?“, frage ich leise.
„Ich schaffe es“, sagt sie nur und legt ihren Kopf auf meine Schulter. Bis zum Abend steht uns noch ein schwieriges Stück bevor, dann können wir uns in einer Höhle ausruhen.
Es ist fast dunkel, als wir die Höhle erreichen. Sie ist groß und führt weit in den Berg. Erschöpfung zeichnet alle Gesichter. Der Regen hat uns den ganzen Tag nicht verlassen und wir sind nass bis auf die Knochen. Am Eingang der Höhle entzündet Egill ein Feuer. Wir müssen versuchen, bis zum Morgen zumindest unsere Jacken zu trocknen.
Erschöpft sinke ich neben Elion auf unsere Decken, ziehe ihn an mich. Seine Haut ist kalt. Er schmiegt sich dicht an mich. Plötzlich spüre ich eine Bewegung unter unserer Decke, die eindeutig nicht von ihm kommt. Erstaunt spähe ich darunter und sehe in Kimmis funkelnde Augen.
„Wie hast du ihn hierher bekommen?“, frage ich.
„Im Rucksack“, entgegnet er und grinst. Verrückter Kerl.
Der Morgen beginnt, wie der Abend geendet hat, mit Regen. Immer noch sind die Sachen klamm, doch eigentlich spielt es keine Rolle, weil wir bei dem Wetter sofort wieder nass werden.
Katla verteilt Milchbrei mit Beeren. Zumindest der ist warm.
Der schlimmste Teil des Abstiegs liegt vor uns. Der Weg ist übersät mit Geröll, die Wand neben uns fast völlig glatt und bietet keinen Halt. Nur ganz langsam geht es vorwärts.
Im Laufe des Vormittags hört der Regen auf und gegen Mittag kommt sogar die Sonne zum Vorschein. Wir haben keine Möglichkeit, eine Rast einzulegen, diesen Abschnitt müssen wir hinter uns bringen. Ich bewundere die Kinder, die sich nicht einmal beschweren.
Als ich mich zu Elion umdrehe, sehe ich Kimmi, der seine Nase aus dem Rucksack steckt, er macht erstaunlicherweise keine Anstalten, sein Gefängnis zu verlassen.
Den nächsten Vorsprung erreichen wir am frühen Abend nach einem letzten steilen Stück. Trotz des Regens liegen wir gut in der Zeit. Noch ein harter Tag, dann erreichen wir einen breiteren Pfad.
Müde rolle ich mich nach dem Essen neben Elion zusammen. Es ist eng und ich spüre Katla, die auf der anderen Seite neben mir liegt.
Mitten in der Nacht schrecke ich hoch. Ein Geräusch hat mich geweckt und es dauert einen Moment, ehe ich es als leises Stöhnen identifiziere. Im blassen Mondlicht sehe ich Caja und Janusch. Offenbar hat sie Schmerzen. Ich gehe zu den beiden.
„Sag nicht, dass das Baby kommt“, sage ich leise zu Janusch und hocke mich neben ihn.
„Das hoffe ich nicht, aber zumindest droht es damit.“ Janusch flößt Caja einen Löffel mit einer bräunlichen Flüssigkeit ein. „Verhindern können wir es nicht, wenn es raus will.“
„Es kommt nicht!“, wirft Caja zwischen zusammengebissenen Zähnen ein. „Ich verbiete es ihm. Es darf erst im Tal heraus.“ Sie keucht und ich nehme ihre Hand. Fest umfasst sie diese.
„Ich hoffe, es hört auf dich.“ Obwohl er es zu verbergen sucht, ist Janusch besorgt. Wie sollten wir Mutter und Kind heil von diesem Berg bekommen, wenn das Kind sich heute Nacht entschließt, seine warme Zuflucht zu verlassen?
Ich möchte lieber nicht darüber nachdenken und hoffe, dass es auf seine Mutter hört.
Erst spät krieche ich durchgefroren zu Elion. Zum Glück hat das Kind sich den Wünschen seiner Mutter gebeugt und Caja schläft ruhig. Wieder frage ich mich, ob es die richtige Entscheidung war. Vielleicht wäre es doch möglich, genügend Vorräte ohne Fuhrwerke in die Festung zu schaffen …
Nein, nicht für über fünfzig Menschen. Schon längst hätten wir uns Gedanken über eine Alternative machen sollen. Nicht umsonst haben die ehemaligen Herren ihre Burg in den Bergen verlassen.
Die aufgehende Sonne weckt mich. Ein atemberaubender Anblick, wie sie sich langsam über den Horizont schiebt, groß und golden.
Nach dem morgendlichen Milchbrei geht es weiter. Der Weg führt steil nach unten über mehrere Absätze und eine fast senkrechte Passage. Anschließend führt der Pfad dagegen fast sanft weiter.
Ich bin erleichtert, als alle diesen Teil hinter sich haben und Egill als Letzter neben mir steht. Außer Geröll ist nichts vom Berg gestürzt.
Nach einer kurzen Rast geht es weiter, am Abend erreichen wir den Fluss, der immer noch durch das Schmelzwasser bedrohlich durch sein Bett donnert. Erst morgen werden wir ihn überqueren.
Egill steht auf dem anderen Ufer und befestigt das Seil, an dem wir uns auf dem Weg durch das Wasser festhalten können. Der Fluss ist eisig. Im Sommer kann man ihn an dieser Stelle problemlos passieren. Doch jetzt im Frühjahr führt er noch die Reste des geschmolzenen Schnees der Bergkämme.
Wir versuchen die Rucksäcke und Jacken über unseren Köpfen möglichst trocken auf die andere Seite zu bekommen. Die Kinder sitzen auf den Schultern ihrer Eltern. Ich gehe mehrmals, helfe zusammen mit Janusch Caja durch die Strömung und bringe anschließend ihren Rucksack hinüber. Zuletzt löse ich das Seil und nehme es mit zu Egill, der mich erwartet. Meine Beine spüre ich kaum noch. Glücklicherweise scheint auch heute die Sonne auf uns hinab.
Am Abend hört man das ein oder andere Niesen in der Höhle, die uns für die Nacht Schutz bietet. Janusch braut einen scharf riechenden Tee und verteilt ihn. Der restliche Weg ist anstrengend, aber nicht mehr so gefährlich wie die überstandenen Passagen.
Sechs Tage waren wir unterwegs und alle haben das Tal erreicht. Es ist noch hell und wir müssen auf die Dunkelheit warten, ehe wir die Pferde holen können.
Wir können nur hoffen, dass uns keiner dabei überrascht. In der Dämmerung begeben wir uns zu den Wagen, entscheiden, welche wir mitnehmen wollen und überprüfen ihren Zustand. Immerhin stehen sie seit dem letzten Herbst ungenutzt hier herum.
Da sich keiner in die Nähe des Lagers traute, ist noch alles vorhanden, was wir brauchen, um die Pferde einzuspannen. Unter der Führung von Katla beginnen einige, die Wagen von innen herzurichten, während Egill, Mogens, Jokull und ich uns zu den Pferden aufmachen.
Friedlich grasen sie auf einer abgelegenen Wiese, kräftige, dunkelbraune Tiere. Weder bin ich bisher geritten, noch habe ich einen Wagen gelenkt. Der Einzige von uns, der damit Erfahrung hat, ist Mogens.
Unter seiner Führung gelingt es uns, die Pferde zum Lager zu bringen und sie einzuspannen. Er erklärt uns, worauf es ankommt und ich hoffe, es ist so einfach, wie es klingt.
„Sie sind es gewohnt, die Wagen zu ziehen, wir müssen sie nur tun lassen, was sie können, und ihnen sagen, wo es langgeht, den Rest machen sie allein.“
Bevor es wieder hell wird, brechen wir mit acht der zwölf Wagen auf. Die Pferde scheinen tatsächlich ohne Probleme zu wissen, was von ihnen erwartet wird, und ehe die Sonne aufgeht, haben wir uns schon ein ganzes Stück von dem Lagerplatz entfernt. Bis zum Mittag sind wir in der Nähe des Dorfes, bei dem auch die Soldaten lagern. Katla und ich besorgen einige Vorräte und holen für Janusch noch ein paar Kräuter und Tinkturen aus der Apotheke. Keiner beachtet uns.
Am Abend rasten wir in einem kleinen Waldstück. Ich kann kaum glauben, dass wir es bis hierher geschafft haben.
In dem Wagen, den ich und Elion bewohnen, herrscht ein buntes Durcheinander und wir beginnen aufzuräumen. Der Wagen ist zweckmäßig aufgebaut, es gibt einen Schlafplatz, der groß genug für uns beide ist, einen kleinen Tisch mit einer Bank und einen Schrank, der gefüllt ist mit farbenfrohen Kleidern, schwarzen Hosen und roten und weißen Hemden. Die meisten Kleidungsstücke können wir nicht gebrauchen, aber die Hosen passen Elion.
Alles, was wir nicht nutzen, packen wir in eine große Truhe. Diese werden wir zurücklassen. Ich bezweifele sehr, dass die Besitzer noch leben. Ketzerei ist eine schwerwiegende Anklage.
Nach einem gemeinsamen Essen am Lagerfeuer liege ich endlich mit Elion zwischen frischen Laken in dem kleinen Bett. Werden wir den Süden erreichen, von dem Njal uns im Schein der Flammen erzählt hat? Der Weg ist weit und gefährlich. Doch wir haben keine andere Möglichkeit, als uns darauf einzulassen.
„Schwere Gedanken?“ Elion dreht sich auf den Bauch und legt seinen Kopf auf meiner Brust ab.
„Nein, eigentlich nicht. Ich bin froh hier zu sein, auch wenn ich mir Gedanken über unsere Zukunft mache. Doch lieber habe ich mein Schicksal in der Hand, als in der Festung darauf zu warten, dass die Katastrophe hereinbricht.“ Ich streichle durch sein Gesicht. Im schwachen Mondlicht, das durch die Fenster fällt, kann ich die atemberaubende Farbe seiner Augen nicht erkennen. „Und mit dir in diesem Bett zu liegen, gefällt mir sehr.“
Er lacht leise und küsst meine Brust. „Mir auch.“
Ich liebe das Gefühl Tomaz’ Haut unter meinen Lippen. Die Gänsehaut, die meine Berührung auslöst. Langsam erkunde ich seinen Körper, spüre seinen Herzschlag unter meinem Mund, höre seinen Atem, der schneller geht. Neben seinem Bauchnabel hat er einen kleinen dunklen Leberfleck, auf der Hüfte eine schmale Narbe. Die Haare auf seinen Beinen sind stachelig, nur an den Innenseiten seiner Oberschenkel sind kaum welche. Wenn ich ihn dort küsse, entlockt es ihm ein Keuchen.
Lange Beine hat Tomaz, empfindsame Knöchel, die ich mit meiner Zunge umkreise. Zwischen seinen Beinen sitzend, wandert mein Mund wieder höher. Ich liebe das V, das seine Leisten bilden, die ausgeprägten Adern, durch die das Blut pulsiert, den kleinen runden Nabel, die dunklen Brustwarzen, die sich erwartungsvoll zusammengezogen haben.
Am meisten liebe ich, dass er sich mir überlässt, nichts fordert, sondern abwartet, was ich ihm zu geben bereit bin. Ich darf ihn erobern, kennenlernen, probieren und seinen Duft in mich aufnehmen. Auch wenn sein Glied schon schwer und erwartungsvoll auf seiner Bauchdecke liegt.
Wenn ich die zarte Haut an der Unterseite seiner Oberarme küsse, erschaudert er, wenn ich dicht über dem Puls an seinem Handgelenk sauge, entweicht ihm ein Stöhnen. Er hat lange, schlanke Finger, die kraftvoll zufassen können. Mit der Zunge gleite ich von seiner Hand über den Arm hoch bis zu seinem Hals, knabbere an seinem Schlüsselbein, doch dort ist er, im Gegensatz zu mir, nicht besonders empfindlich. Dafür liebt er es, wenn ich seine Brustwarzen zwischen meine Lippen nehme und leicht daran ziehe.
„Dreh dich um“, fordere ich leise und Tomaz folgt der Aufforderung sofort.
Seinen Rücken zeichnen ein paar Narben, Peitschenhiebe, wie sie jeder Minensklave kennt. Auf seiner Haut sind sie verblasst, doch deutlich im fahlen Licht zu erkennen.
Mein Mund folgt dem Schwung seines Rückgrates hinab bis zu seinem wohlgeformten Hintern. Zwei Grübchen sitzen darüber, machen den Anblick perfekt.
Ich streichele, knete die runden Backen, bekomme zur Belohnung wieder ein Stöhnen. Den Spalt zu erkunden traue ich mich noch nicht, doch wir haben Zeit.
In meinen Augen sind sogar seine Kniekehlen wunderschön. Mit den Händen fahre ich an der Außenseite seiner Beine hinab und an der Innenseite hinauf, an seinen Seiten entlang, was ihn kichern lässt, bis zu seinen Schultern. Ich lege mich auf ihn, küsse seinen Nacken, die winzige Zahl hinter seinem Ohr, bedecke ihn mit meinem Körper, auch wenn er etwas größer als ich ist.
„Ich liebe dich“, flüstere ich in sein Ohr.
„Ich dich auch, meine kleine Sonne“, antwortet er.
Einen Moment bleibe ich liegen, genieße dieses Gefühl, dann lasse ich mich neben ihn rutschen und ohne Aufforderung dreht er sich zu mir um.
Seine Arme umfassen mich, ziehen mich näher und er küsst mich. Allein sein Mund kann einen Gefühlssturm in mir auslösen. Aus der sanften Zärtlichkeit wird brodelndes Verlangen. Ich will, brauche Erlösung und seine Hand, die zwischen unsere Körper gleitet, verspricht sie mir. Tomaz umfasst uns beide, verreibt die ersten Zeichen unserer Lust und bewegt seine Hand rhythmisch. Meine Hände klammern sich an seine Schultern, mein Mund sucht seinen, hektisch, unkontrolliert. Pulsierend, heiß spüre ich sein Glied neben meinem, habe das Gefühl, es nicht mehr auszuhalten. Alle meine Energie konzentriert sich im Unterleib. Doch noch ist sein Takt zu langsam, treibt mich höher, bringt mich aber nicht über den Rand. Ich murmele, keuche unzusammenhängende, flehende Worte und endlich hat Tomaz ein Einsehen, erhöht das Tempo.
Summend, sirrend steigt die Anspannung in meinem Körper, bis ich endlich falle, fliege, alles in mir explodiert und mein Geist von dieser Welle für einen wunderbaren Moment leer gefegt ist. Ich klammere mich an Tomaz, flüstere seinen Namen und verliere mich in ihm. Tomaz – er ist alles, der Anfang und das Ende, meine Sonne, um die ich mich drehe und ohne deren Licht ich vergehen müsste.
Stirn an Stirn liegen wir keuchend in diesem Bett und ich wünsche mir, dass ich nie mehr woanders sein muss.
Seit fünf Tagen sind wir unterwegs und mir gefällt dieses Leben. Wir halten uns fern von den Dörfern und Städten, nur ab und an besuchen zwei von uns eine Ansiedlung, um unsere Vorräte zu ergänzen. Noch scheinen wir keinem aufgefallen zu sein.
Caja hat ihr Baby bekommen, ein kleines Mädchen, dem sie den Namen Lahja gegeben hat. Bis heute weiß ich nicht, ob Janusch der Vater ist oder nicht. Auf jeden Fall kümmert er sich rührend um die beiden.
Wegen Lahja werden wir ein paar Tage hierbleiben, damit Mutter und Kind sich von der schweren Geburt erholen können. Fast die ganze Nacht dauerte es, bis das kleine Mädchen auf der Welt war. Ich habe Janusch geholfen und es war ein unbeschreiblicher Moment, als Lahja das erste Mal ihre Lungen mit Luft füllte und schrie.
Tomaz ist mit Njal in das nächste Dorf gegangen, um unsere Vorräte aufzufüllen. Und ich versorge zusammen mit Mogens die Pferde. Obwohl sie groß sind, mag ich sie, streichele gern das weiche Fell zwischen ihren Nüstern oder lehne meinen Kopf gegen ihren kräftigen Hals. Sie sind gemütlich und ich kann ihnen stundenlang beim Grasen zusehen. Mein Leben in den Minen kommt mir hier fast unwirklich vor. Habe ich tatsächlich jahrelang unter der Erde gelebt? Ohne das warme Gefühl der Sonne in meinem Gesicht, den Gesang der Vögel oder den Duft der Blumen? Wie habe ich diese Zeit überstanden? Doch damals wusste ich nicht, was mir fehlt, wie die Welt über der Erde aussieht und sich anfühlt. Heute würde ich es nicht mehr ertragen, dort zu leben – zu vegetieren. Wie schlimm muss die Minenarbeit für jene Männer und Frauen sein, die aufgrund ihrer Verbrechen dazu verurteilt wurden? Sie kannten all dies und wussten genau, was sie verlieren.
Der Gedanke lässt mich schaudern. Hoffentlich erwischen uns die Soldaten des Königs niemals. Ich will nicht wieder in die Minen.
Wir sind wieder unterwegs. Leider ist die Sonne hinter dicken Wolken verschwunden und den ganzen Tag fällt Regen aus ihnen. Es ist kalt, ein böiger Wind fährt immer wieder unter meine Kleider und lässt mich frieren. Nur den Pferden scheint dieses Wetter nichts auszumachen, wie jeden Tag ziehen sie unsere Wagen Richtung Süden.
Am Abend bauen wir unsere kleine Wagenburg und entzünden ein Feuer. Der Regen hat nachgelassen und ich freue mich auf mein Bett, darauf, dass Tomaz die Kälte aus meinem Körper vertreibt. Doch leider hat er die erste Wache und wird erst später zu mir unter die Decke kommen.
In den Nächten sind wir uns immer nähergekommen, ich kenne seinen Körper besser als meinen. Gestern Nacht hat er erstmals mit seinem Finger mein Inneres berührt. Es war ein komisches Gefühl, doch nach einer Weile fühlte es sich gut an und als er eine bestimmte Stelle streichelte, dachte ich, ich müsste sofort zerfließen. Auch wenn ich Angst habe, würde ich gern weitergehen, nicht nur seine Finger in mir spüren.
Schon allein der Gedanke lässt mich erröten und ich sehe ihn an. Er unterhält sich mit Katla, lacht und mein Herz klopft. Auf einmal ist dort wieder eine Erinnerung, tanzende Flammen, fröhliche Stimmen, ich laufe, meine Hand wird gehalten und ich bin glücklich. Fast scheint es mir, als könnte ich den Schleier davor zerreißen, sehen, wo ich bin, wer bei mir ist, doch dann verschwindet alles im grauen Nebel. Wieder einmal verfluche ich die wöchentlichen Spritzen, die sie uns in den Minen gaben und die mir meine Erinnerungen nahmen.
Kimmi liegt neben mir im Bett, schnurrend kuschelt er sich an meinen Bauch. Brav ist er den ganzen Abstieg in meinem Rucksack geblieben und auch hier entfernt er sich nie zu weit von unseren Wagen. Immer noch schläft er jede Nacht zu unseren Füßen. Ich schließe die Augen und denke an Tomaz.
„Elion, aufstehen.“
Ich schrecke hoch, habe ich so lange geschlafen und nicht mitbekommen, dass Tomaz ins Bett gekommen ist? Doch es ist noch dunkel. Ich höre Tomaz im Wagen kramen.
„Schnell, beeil dich.“ Seine Stimme klingt besorgt und ich setze mich auf das Bett.
„Was ist los?“, frage ich verschlafen.
„Wir bekommen Besuch und du verschwindest zusammen mit Katla.“ Er reicht mir meine Kleider und immer noch verschlafen ziehe ich mich an.
„Nein, ich gehe ohne dich nirgends hin“, widerspreche ich, als seine Worte langsam einen Sinn bekommen.
„Doch, du und alle, die nicht kämpfen können. Ihr bringt euch in Sicherheit.“
„Nein, ich bleibe bei dir!“
„Elion, meine kleine Sonne, wenn du hier bist, dann muss ich mir Sorgen um dich machen, also gehst du. Sobald wir geklärt haben, was hier los ist, komme ich zu dir.“ Sanft küsst er mich. „Mir geht es besser, wenn ich weiß, dass du in Sicherheit bist.“
Murrend will ich mich weigern, doch er küsst mich erneut.
„Kümmere dich um die Kinder. Sie vertrauen dir.“ Tomaz drückt mir meinen Rucksack in die Hand und schiebt mich aus der Tür. Das Lager ist dunkel, ich kann nur einige Schatten erahnen. Entschlossen bringt Tomaz mich zu ihnen.
„Ihr geht tiefer in den Wald, sucht euch ein Versteck und seid leise. Katla führt euch, vertraut ihr.“ Tomaz drückt noch einmal meine Hand, dann gehen wir los. Ich bin dicht hinter Katla, Eggert an meiner Hand. Noch immer bin ich verwirrt und überfordert mit der Situation. Wer kommt? Die Soldaten des Königs? Warum fliehen wir nicht alle? Doch diese Fragen kann ich jetzt nicht stellen, wir müssen so leise wie möglich verschwinden.
Zielstrebig führt Katla uns durch den Wald. Bald ist er so dicht, dass die Bäume und Sträucher nach uns zu greifen scheinen. Wir kommen zu einem kleinen Fluss und Katla lässt uns ein Stück hindurchwaten. Zum Glück ist er nicht sehr hoch. Im eisigen Wasser folgen wir seinem Lauf und gehen an der gleichen Uferseite wieder raus. Mit nassen Schuhen und Füßen gehen wir wieder tiefer in den Wald, ehe Katla uns auf einer kleinen Lichtung halten lässt.
Ich habe Zeitgefühl und Orientierung verloren. In mir ist nur die bange Frage, was mit den anderen ist? Was mit Tomaz ist?
Der Trupp, der sich uns nähert, sind keine Soldaten des Königs. Sie tragen keine Uniformen, bewegen sich aber in geordneter Formation. Vorne weg reitet anscheinend ihr Anführer. Die dunklen Gestalten beunruhigen mich und ich bin froh, Elion und die anderen fortgeschickt zu haben.
Das Feuer ist gelöscht, die Wagen hüllen sich in Dunkelheit. Vielleicht haben wir Glück und sie übersehen uns – oder beachten uns nicht.
Unser Lager liegt auf einem Hügel am Waldrand, daher sah ich sie schon frühzeitig kommen. Fünfzehn bewaffnete Reiter. Wer sind sie? Angst vor den Soldaten scheinen sie nicht zu haben. Ungefähr zwanzig Fuß vor unseren Wagen hebt der Anführer seine Hand und sie bleiben stehen. Vorbeireiten werden sie nicht, wir müssen uns auf einen Kampf einrichten. Mein Herz schlägt laut und in meinem Inneren hoffe ich, dass Elion in Sicherheit ist.
Die Formation löst sich auf, bildet eine Reihe und ohne sichtbares Signal greifen sie uns an. Wir sind zu neunt geblieben, alle, die kämpfen können. Doch jene, die uns angreifen, sind kriegserprobt. So lange wie möglich versuchen wir sie aufzuhalten, doch als Kolbrun neben mir verletzt zusammenbricht, gebe ich das Zeichen zur Aufgabe. Wir haben keine Chance und wissen nicht, mit wem wir es zu tun haben. Ich kann nicht verantworten, dass Mütter und Väter hier sinnlos sterben. Sofort ist Janusch bei Kolbrun und sieht nach der Wunde.
Der Anführer reitet auf seinem Schimmel zwischen die Wagen. Noch nie sah ich einen Mann wie ihn. Seine Haut ist gelblich, seine schmalen Augen dunkel wie Kohle. Sein glattes, schwarzes Haar ist kurz. Die Lippen sind nicht mehr als ein Strich in seinem Gesicht.
Geschickt gleitet er vom Pferd und kommt auf mich zu, begutachtet mich von oben bis unten.
„Wer seid ihr?“, fragt er mit einer kalten Stimme. Er spricht mit einem Akzent, der seine Worte hart wie Peitschenhiebe klingen lässt.
„Fahrendes Volk“, antworte ich ruhig.
Spöttisch hebt er die linke Augenbraue. „Fahrendes Volk mit Waffen?“
„Ihr habt uns angegriffen“, entgegne ich. „Wir mussten uns verteidigen.“
Langsam geht er um mich herum, ignoriert die anderen. „Wie heißt du?“
„Tomaz.“
„Tomaz.“ Aus seinem Mund klingt mein Name merkwürdig. „Wo ist der Rest von euch?“
„Es gibt nur uns“, erwidere ich und sehe in seine dunklen Augen.
„Fahrendes Volk ohne Kinder? Acht Wagen für neun Menschen? Für wie dumm hältst du mich?“ Er tritt einen Schritt näher. „Du lügst.“
Noch einmal geht er um mich herum, streicht mein Haar zur Seite. „Ihr seid auch kein fahrendes Volk, ihr seid Rebellen.“
„Nein.“ Egal, wie offensichtlich das ist, ich werde es nicht zu geben. Weder das eine noch das andere.
Ein Lächeln umspielt seine Lippen, das seine Augen nicht erreicht. „König Eskil zahlt ein schönes Sümmchen für Rebellen.“
Jede Regung unterdrückend sehe ich ihm weiter in die Augen. „Für uns werdet ihr nichts bekommen.“
Jetzt lacht er. „Du hast Mut, aber die Ziffern hinter deinem Ohr verraten dich. Der König lässt keine Sklaven frei, also muss jeder freie Sklave ein Rebell sein.“
„Und was seid ihr?“, frage ich. „Kopfgeldjäger?“
„Söldner im Dienste des guten König Eskil. Wir kommen aus den weiten Steppen Dzuraziemas und euer König suchte gute Krieger.“ Wieder lacht er. „Hier gibt es eine Menge Rebellen, die es sich lohnt zu fangen.“
Ich antworte nicht, was soll ich auch darauf erwidern?
Noch einmal taxiert mich, dann wendet er sich an seine Leute: „Legt sie in Ketten, wir bleiben heute Nacht hier.“
Dichtgedrängt sitzen wir neben einem der Wagen. Die Männer sitzen um das Feuer und reden in einer fremden Sprache. In meine Ohren klingt sie hart und unmelodisch. Eine Aneinanderreihung einzelner Laute. Eisen fesseln unsere Hände und Füße. Der einzige Gedanke, der mich beruhigt, ist, dass sie nicht nach den anderen suchen.
Was wird passieren, wenn sie uns vor den König führen? Was steht auf Rebellion? Der Tod oder die Minen. Doch in eine Mine gehe ich nie wieder. Lieber sterbe ich.
Immer wieder streift mich der Blick ihres Anführers. Ich kann den Ausdruck in seinen Augen nicht deuten, zu glatt und undurchdringlich ist seine Miene.
Irgendwann ziehen sie sich in die Wagen zurück, zwei von ihnen bleiben als Wachen bei uns zurück. Gelangweilt setzen sie sich an das Feuer und reden leise miteinander.
Vielleicht hätten wir alle fliehen sollen, doch ich befürchte, dann wären sie uns gefolgt. Im Moment haben die anderen unter Katlas Führung wenigstens die Hoffnung auf ein Entkommen.
Die Müdigkeit lässt meinen Kopf auf meine Knie sinken. Meine Schultern tun weh, doch mein Körper braucht Schlaf.
Ich schrecke hoch, als mich die beiden Wachen auf die Füße zerren und zu einem Wagen schleppen. Hart stoßen sie mich in das Innere. Unsanft lande ich auf meinen Knien, schüttele meinen Kopf, um wach zu werden.
„Du bist der Anführer dieses dreckigen, kleinen Haufens“, stellt eine Stimme fest. Ich hebe den Kopf und sehe in die Augen des Mannes, der mich schon den ganzen Abend beobachtet hat. Er hat sein Hemd ausgezogen und trägt nur seine engen dunkelgrünen Hosen. Von oben sieht er auf mich herab.
„Ich überlege, ob ich den Rest deines kleinen Rebellentrupps einfangen lassen soll. Immerhin bekommen wir für jeden Kopf einen Preis.“ Er trinkt einen Schluck klarer Flüssigkeit aus einer Flasche. „Was bietest du mir für deine Freunde?“
„Wir haben nichts, außer unseren Leben. Was könnte ich dir bieten?“ Gern würde ich aufstehen, doch die Fußfesseln hindern mich.
Mit einem Grinsen tritt er ganz nahe an mich heran, greift in mein Haar und zieht meinen Kopf nach hinten. „Ein hübscher Junge wie du hat doch bestimmt etwas zu bieten“, sagt er und leckt sich über die Lippen. Abscheu steigt in mir auf, doch ich verberge sie in meiner Brust.
„Lass meine Freunde frei und du bekommst alles, was ich dir bieten kann.“
Rau und bösartig lacht er. „Warum sollte ich das tun? Du bist mein Gefangener und ich kann mir nehmen, wonach mir ist. Gibst du es mir freiwillig, sehe ich davon ab, deine Freunde zu verfolgen. Das ist ein großzügiges Angebot.“ Grob streicht er mit seinem Finger über meine Lippen. „Auch wenn du ein hübscher Junge bist.“
Ich entreiße ihm meinen Kopf. „Du bekommst mich freiwillig nur, wenn du sie gehen lässt. Alle. Wenn ich dein Wort erhalte, dass ihnen nichts geschieht und du sie nicht verfolgst.“ In seine Augen kann ich das Begehren sehen, das mit seiner Habgier kämpft.
„Warum soll ich dir glauben?“
„Warum soll ich dir glauben? Doch ich bin bereit, auf dein Wort zu vertrauen. Lass meine Freunde gehen und versprich ihnen nicht zu folgen und ich biete dir mich.“ Reicht sein Verlangen nach mir? Er hat recht, er kann mich jederzeit nehmen, ohne dass ich ihm groß Widerstand leisten kann. Und doch scheint er etwas anderes zu wollen, meine Freiwilligkeit.
„Wie soll ich beurteilen, ob du das wert bist? Ich muss meinen Männern erklären, warum ich auf reiche Beute für einen kleinen Rebellen verzichte.“
Ich sehe ihm in die Augen, lächele. „Weil ich dir mehr bieten kann, als du dir vorstellen kannst.“
Wieder sieht er mich von oben bis unten an. Ich kann seine Blicke fast spüren. Er hockt sich vor mich, zieht ein Messer aus seinem Stiefel und durchtrennt die Schnürung meines Hemdes. Ungeduldig schiebt er es von meinen Schultern, lässt seine Hand über meinen Körper gleiten.
„Du bist hübsch, Tomaz, aber bist du es wirklich wert?“
Ich beuge mich vor, drücke meine Lippen gegen die seinen, küsse ihn und verbanne jeden Gedanken an Elion aus meinem Kopf. Hier geht es nicht um mich, nur um die Sicherheit der anderen, nur um seine Sicherheit.
Seine Hand legt sich auf meinen Hinterkopf, seine Zunge bittet erstaunlich sanft um Einlass und ich gewähre ihn. Zärtlich erkundet er meinen Mund und ich muss mich beherrschen, ihn meinen Widerwillen nicht spüren zu lassen. Sein Kuss schmeckt nach Alkohol. Gegen meinen inneren Widerstand lege ich alles in diesen Kuss, hoffe, dass es reicht. Atemlos löst er sich von mir.
„Und du gibst dich mir freiwillig hin? Bleibst bei mir?“, fragt er unsicher.
„Ja, für das Leben meiner Freunde, für ihre Sicherheit und dein Versprechen, sie in Ruhe zu lassen.“
„Dann sei es so“, sagt er und küsst mich erneut. Nur mühsam zucke ich nicht zurück. Ich hoffe nur, erhält sein Wort.
Nach diesem Kuss verlässt er den Wagen, ich kann ihn reden hören. Seine Wachen scheinen unzufrieden mit seiner Entscheidung, doch er ist ihr Anführer und sie gehorchen. Mit Hilfe des Tisches komme ich auf die Beine, kann aus dem Fenster sehen. Die Wachen lösen den anderen die Fesseln.
Njal hebt Kolbrun, seine Frau, auf seine Arme, dann verlassen sie langsam, ungläubig den Wagenkreis. Janusch blickt sich suchend um, doch mit harschen Worten scheuchen die Wachen ihn und die anderen fort.
Wenig später steht der Anführer der Männer wieder im Wagen. „Ich habe Wort gehalten.“
„Fürs Erste ja. – Wie heißt du?“
„Vasya.“
„Dann löse meine Fesseln, damit auch ich Wort halten kann, Vasya.“
Einen Moment zögert er, dann tritt er hinter mich und nimmt die Eisen ab, die mich binden.
Drei Tage bin ich mit den Dzuraziemen unterwegs. Ich habe Wort gehalten, habe ihm meinen Körper zur Verfügung gestellt und ihm gegeben, was er erwartet. Den Ekel vor mir selbst kann kein Wasser von meinem Körper waschen.
Wie weit sind die anderen in drei Tagen gekommen? Noch nicht weit genug. Sicher werden sie erst sein, wenn sie die Grenze hinter sich gelassen haben. Ich versuche, nicht an Elion zu denken, doch in jeder Minute ist er in meinem Herzen. Selbst wenn Vasya eines Tages die Nase von mir voll hat, werde ich nicht zu ihm zurückkehren können. Zu tief habe ich mich erniedrigt, diesem Mann gegeben, was ihm vorbehalten war.
Die Stadt, in die wir reiten, ist groß, umgeben von einer mächtigen Mauer. Auf meine Frage hin hat Vasya mir erklärt, dass wir in den nächsten zwei Wochen einen Steuereintreiber des Königs begleiten werden. Da das Land arm und ausgeblutet ist, werden wieder viele Kinder in den Minen des Königs landen. Ich weiß nicht, was mich mehr anekelt, der Gedanke, daran beteiligt zu sein oder jede Nacht bei Vasya zu liegen.
Die Männer an seiner Seite betrachten mich abfällig, doch aufgrund seines Schutzes trauen sie sich nicht, mir zu nahe zu treten.
Gegen Mittag kehren wir in ein Gasthaus ein. Die Schar wird von den Gästen neugierig und misstrauisch begutachtet. Der Steuereintreiber ist schon dort, sitzt an einem Tisch. Vor ihm ein gebratenes Huhn. Ich merke, dass ich hungrig bin, auch wenn mir der Anblick, wie er sich das Tier gierig in den Mund stopft, zuwider ist.
„Wer ist das?“, fragt er undeutlich mit vollem Mund und weist mit einem fetttriefenden Finger auf mich.
„Das geht Euch nichts an. Er gehört mir“, entgegnet Vasya und funkelt ihn an.
„Oh, ich verstehe, Euer Spielzeug. Von mir aus. Ich stehe mehr auf dralle Brüste“, sagt er und macht eine entsprechende Geste mit seinen Händen, dann lacht er laut.
Vasya zieht die Augenbrauen zusammen. „Wann wollt Ihr Euch auf den Weg machen?“
„Morgen, nach einem ausgiebigen Frühstück. Wir haben knapp zwanzig Dörfer in der Gemarkung. Der Wagen für die Minensklaven steht schon bereit.“ Wieder lacht er, als habe er einen Scherz gemacht. Ich verabscheue ihn.
„Gut, dann werden wir uns für die Nacht ein Zimmer nehmen. Ihr zahlt.“ Vasya steht auf und nickt dem Mann zu, der nur unbestimmt winkt und sich wieder seinem Essen widmet.
Wir bleiben in dem Gasthof, auch wenn der Wirt nicht besonders erfreut über seine neuen Gäste aussieht. Am Abend ist die Schankstube voll. Alle betrachten die Reiter mit ihren fremden Gesichtern und ihrer gelblichen Haut misstrauisch. Keiner wagt sich jedoch den bewaffneten Männern gegenüber eine Bemerkung fallen zu lassen.
Vasya und seine Männer sprechen reichlich dem selbst gebrauten Schnaps des Wirtes zu. Ihre Stimmen werden immer lauter und irgendwann fängt einer an zu singen. Ein trauriges, wehmütiges Lied, das meine Stimmung noch mehr drückt.
Vermisst Elion mich? Kann er meine Entscheidung verstehen? Geht es ihm gut? Wird er mich eines Tages vergessen und einen anderen Mann lieben?
„Mach nicht so ein trübes Gesicht.“ Vasya legt seinen Arm auf meine Schulter. „Wir wollen feiern, singen und das Leben genießen. Für Trauer ist morgen noch Zeit, wenn der Kopf schwer ist und dir zeigt, dass du den fremden Schnaps nicht verträgst. – Bis dahin trink und feiere mit uns.“ Er schenkt ein Glas voll und hält es mir hin. „Komm, mein Süßer, ich will dich lachen sehen.“
„Das gehörte nicht zu unserer Vereinbarung. Du hast meinen Körper bekommen, nicht meine Freundschaft“, erwidere ich scharf.
„Ich will auch nicht deine Freundschaft, ich will deinen willigen Körper, das hindert uns aber nicht daran, fröhlich miteinander zu feiern. Wer weiß, was der morgige Tag bringt und ob wir noch einmal zusammen feiern können.“ Mit seinem Glas stößt er an meins. „Komm schon, mein Schöner, spring über deinen Schatten.“
Nur widerwillig nehme ich das Glas und trinke einen Schluck. Das Gesöff ist scharf und bitter, es brennt in meiner Kehle. „Willst du mich vergiften? Das schmeckt scheußlich!“
Vasya lacht und fällt fast vom Stuhl. „Bist du ein Mädchen? Trink, mit jedem Schluck wird es besser.“
Nach zwei Gläsern ist meine Kehle abgehärtet, dass ich den dritten kaum noch spüre. In meinem Kopf herrscht ein seltsamer Nebel, der mich träge und müde macht. Zeitgleich verhindert er, dass ich denke. Ich schließe die Augen und lausche den Geräuschen.
Ohne dass ich es bemerkt habe, ist mein Kopf auf der Tischplatte gelandet und ich bin eingeschlafen. Als Vasya mich irgendwann später hochzieht, dreht sich die Welt furchtbar. Ich halte mich an ihm fest und lasse mich in unser Zimmer bringen. Heute ist es mir gleichgültig, was er mit mir macht, da mein Geist angenehm betäubt ist.
Der Morgen beginnt mit Kopfschmerzen und Übelkeit. In meinem Mund scheint ein fremdes, pelziges Wesen zu wohnen. Vasyas Kopf liegt schwer zwischen meinen Schulterblättern. Vorsichtig versuche ich ihn von mir zu schieben und aus dem Bett zu kommen. Ich hasse es, wenn er mich beim Aufwachen berührt, auf mir liegt oder sich an mich schmiegt. Fast kommt mir das als noch größerer Verrat vor, als mit ihm zu schlafen. Verrückt eigentlich.
Leicht schwankend, da mein Gleichgewichtssinn offenbar noch liegen geblieben ist, gehe ich ins Bad. Den Blick in den Spiegel vermeide ich, nur wenn ich mich rasiere, sehe ich hinein. Statt etwas Wasser in die Waschschüssel zu füllen, stecke ich meinen Kopf in den Eimer Frischwasser. Vielleicht hilft das.
Auf jeden Fall bin ich munterer als auf dem Hinweg. Vasya ist inzwischen wach und sieht mir entgegen. Lüstern gleitet sein Blick über meinen Körper. Ich verabscheue, wenn er mich anstarrt und ich förmlich sehen kann, wie ihm der Geifer im Mund zusammenläuft. Jeden Tag wird es schwerer, seine Berührungen zu ertragen, meinen Widerwillen zu verstecken, mit dieser Rolle zu leben, die ich mir selbst ausgesucht habe.
„Leider haben wir keine Zeit mehr, mein Hübscher“, sagt Vasya und geht an mir vorbei, streichelt über meinen Hintern. „Aber dafür freue ich mich auf heute Abend.“
Wann wird der Moment kommen, an dem ich mich nicht mehr beherrschen kann? Ich hoffe, er wird mich dafür töten und damit dem Ganzen ein Ende setzen.
Das erste Dorf. Schon von Weitem kann man erkennen, dass es hier nichts zu holen gibt. Die Hütten sind baufällig und die Zäune zerfallen. Der Dorfälteste erwartet uns. In einer Hand hält er einen kleinen Beutel, den er dem Steuereintreiber mit gesenktem Kopf überreicht.
„Das reicht nicht!“, sagt dieser umgehend. „Wo ist der Rest?“
„Mehr haben wir nicht, Herr“, murmelt der alte Mann leise.
„Wo sind eure Kinder?“
Ich schließe meine Augen, möchte nicht sehen, was gleich passiert.
„Bitte, Herr, wir hatten eine schlechte Ernte im letzten Jahr. Es reichte kaum für den Winter. In diesem Jahr wird es besser, Herr, bitte. Wir bezahlen im nächsten Jahr alle Schulden.“ Die Stimme des Alten klingt flehend, doch ich weiß, dass er den Mann, den wir begleiten, nicht erweichen kann.
„Steuerschulden werden nicht gestundet. So will es das Gesetz. Holt eure Kinder.“
Ich öffne die Augen. Vier kleine Kinder stehen vor dem Mann. Zwei Mädchen, zwei Jungs. Sie halten sich an den Händen und starren den Mann des Königs ängstlich an.
Der guckt in seine Liste, murmelt etwas, dann zeigt er auf eins der Mädchen. „Zusammen mit den Talern reicht die Kleine für dieses Jahr. Strengt euch mehr an, dann habt ihr im kommenden Jahr keine Probleme.“
Einer von Vasyas Männern nimmt das Mädchen, löst ihre Hand von den anderen und schleppt sie zu der Kutsche, die wir mitführen. Bitterlich weinend streckt sie ihre Hände nach den anderen aus, ruft nach ihrer Mutter. Heiße Wut strömt durch meine Adern, doch ich kann nichts tun, nur ertragen, was geschieht.
Im Laufe des Nachmittags erreichen wir den nächsten Ort. Hier sieht es besser aus. Die Häuser sind gepflegt und in den Vorgärten blühen Blumen. Wie unterschiedlich das Schicksal mit den Menschen umgeht.
Der Dorfälteste bringt dem Steuereintreiber einen gut gefüllten Sack voll Taler und dieser ist sichtlich zufrieden. Bevor wir weiterziehen, verkündet er allerdings noch, dass die Steuern im nächsten Jahr um 10 Prozent steigen. Selbst für ein Dorf wie dieses keine Kleinigkeit.
Die Nacht verbringen wir auf freiem Feld. Der Steuereintreiber, dessen Namen ich nicht kenne, hat neben einer Heerschar von Dienern auch ein Zelt mit auf die Reise genommen. Vasya geht zu ihm zum Speisen, doch ich schiebe die Nachwirkungen des letzten Abends vor und bleibe mit Unwohlsein am Feuer. Immer wieder gehen meine Augen zu der Kutsche. Ich stelle mir das kleine Mädchen darin vor, ihre Angst, ihren Kummer und ihre Trauer. Sie weiß nicht, was sie erwartet, ich schon.
In dieser Nacht träume ich von den Minen – und von Elion. Gesichtslose Wärter reißen ihn aus meinen Armen, schleppen ihn in Richtung einer riesigen, schwarzen Kutsche. Ich will hinterherrennen, doch ich kann mich nicht bewegen. Fesseln liegen auf einmal um meine Hände, meine Füße. Als sich die Tür öffnet, sehe ich Vasya mit nacktem Oberkörper, ein wölfisches Grinsen im Gesicht streckt er seine Hände aus und zieht den sich wehrenden und meinen Namen rufenden Elion in das Innere der Kutsche. Elion hält sich an der Tür fest, seinen Blick flehend auf mich gerichtet. Vasya reißt ihn hinein, Flammen schlagen heraus, ehe sich die Tür schließt. Ich zucke hoch, bin mir nicht sicher, ob ich nicht seinen Namen geschrien habe.
Vasya liegt neben mir und schläft. Laut geschrien habe ich wohl nicht. Schwer atmend setze ich mich auf. Elion.
Ich stehe auf, nehme meine Kleider, schlüpfe hinein und entferne mich von unserem Lager. Für einen Augenblick brauche ich Abstand, muss allein sein.
Vasya behandelt mich nicht schlecht, er ist freundlich zu mir, doch mein innerer Widerwille wächst mit jeder Berührung. Ich fühle mich beschmutzt. Wie lange werde ich dem Drang widerstehen können, ihm meine Abneigung ins Gesicht zu schreien?
Dabei kann er nichts dafür, ich habe mich freiwillig darauf eingelassen. Hoffentlich hat es sich wenigstens gelohnt und Elion ist in Sicherheit.
Die Nacht ist kühl und ich friere, doch ich bin noch nicht wieder bereit, mich neben Vasya zu legen. Ich wende mein Gesicht dem Mond zu, der groß und hell am nächtlichen Himmel steht, und schließe die Augen, denke an Elion. An das Gefühl, ihn in meinen Armen zu halten, den Duft seiner Haut, sein Lachen und seine wunderschönen Augen. Ich liebe ihn, auch wenn ich ihn nie wiedersehen werde, denn wenn ich eines Tages meine Gefühle nicht unter Kontrolle habe und Vasya meine Abneigung ins Gesicht sage, wird er mich töten.
Und wenn nicht, könnte ich doch niemals zu meiner kleinen Sonne zurückkehren.
Am Mittag erreichen wir das nächste Dorf auf unserem Weg. Die Bauern sind dabei, die Felder zu bestellen. Wir reiten auf den Marktplatz, in dessen Mitte ein ungewöhnlicher Brunnen steht. Statt einfach nur eines simplen Rohrs als Wasseraustritt sprudelt die aus der Erde gepumpte Flüssigkeit aus einem steinernen Fischmaul.
Ein Mann bedient den Pumpenschwengel, während ein Junge seinen Eimer mit Wasser füllt. Der Anblick scheint mir vertraut, weckt eine Erinnerung, die jedoch sich jedoch wie immer hinter einem dicken Schleier verbirgt. In meinem Kopf ist ein Lachen, Wasser spritzt, ich weiß, es ist heiß, Sommer und …
Doch alles verschwindet, lässt sich nicht halten. Verärgert schüttele ich den Kopf, konzentriere mich auf die Gegenwart.
„Wir bleiben drei Tage hier. Die umliegenden Anwesen bringen ihre Steuern hierher“, verkündet der mit jedem Tag unsympathischer werdende Steuereintreiber. Ich glaube, sein Name ist Pontus. Aber eigentlich will ich das gar nicht wissen.
Es gibt einen kleinen Gasthof. Auf dem Schild über der Tür ist ebenfalls ein großer Fisch abgebildet. Groß und schuppig reißt er sein Maul auf.
Es gibt nicht genug Zimmer für alle, darum müssen Vasyas Männer mit dem Stall vorliebnehmen. Das Essen ist gut, die Wirtin ist eine dralle, ältere Frau mit grauen Strähnen in ihrem rotbraunen Haar. Als sich unsere Blicke begegnen, verschlägt es mir fast den Atem. Ihre Augen haben fast die gleiche Farbe wie Elions.
„Ihr verdammten Lausejungs, wenn ich euch erwische …“ Der Satz taucht aus dem Nichts in meinem Kopf auf.
„Seid begrüßt in meinem Haus. Mein Name ist Fylla und ihr bekommt hier die besten Karpfen des ganzen Landes.“ Mit einem Strahlen sah sie von einem zum anderen. Auf mir ruht ihr Blick einen Moment länger, auf ihrer Stirn bildet sich eine Falte, dann schüttelt sie den Kopf und lächelt wieder unverbindlich.
Ich habe keinen Hunger, mein Kopf ist voller Bilder, die sich verstecken und für mich nicht zu greifen sind. Wo sind wir hier und warum kommt mir alles zeitgleich fremd und vertraut vor?
Der beleibte Steuereintreiber isst und redet für zwei, der letzte Rest Appetit vergeht mir, wenn ich ihn betrachte. Er stopft das Essen in sich hinein. Selbst Vasya ist der Ekel anzusehen.
Am Nachmittag steht ein Tisch auf dem Marktplatz, hinter dem Pontus sitzt und auf die Steuerschuldner wartet. Vasya und seine Männer stehen hinter ihm, werfen den Ankommenden finstere Blicke zu.
Im Umland gibt es einige größere Gehöfte, die nicht zu dem Dorf gehören und selbst Steuern zu zahlen haben. Zum Teil zahlen sie in Talern, zum Teil in Naturalien. In ihren Sonntagsgewändern erscheinen sie vor dem königlichen Eintreiber. Sie bringen Schweine, Ziegen und sogar einen Ochsen. Dies scheint eine reiche Gegend zu sein.
Pontus trägt alles in seine Listen und gibt jedem mit, dass die Steuern im nächsten Jahr um 10 Prozent steigen werden.
Am Abend ist der Hof des Gasthauses mit Tieren gefüllt. Wenn die Steuern alle bezahlt sind, wird ein Teil von Vasyas Männern die Tiere zum königlichen Hof bringen.
Nach einem ausgiebigen Frühstück nimmt Pontus am nächsten Tag seinen Platz wieder ein, erwartet die nächsten Bauern. Mit Vasyas Einverständnis verlasse ich den Marktplatz und erkunde das Dorf. Die Häuser sind sehr gepflegt, die Straßen ungewöhnlich sauber. Kinder toben im Spiel an mir vorbei, sie treiben einen Reifen die Straße hinab. Lächelnd sehe ich ihnen nach. In diesem Dorf werden wir keine Kinder für die Minen mitnehmen, hier sind alle in der Lage, ihre Steuern zu bezahlen.
„Entschuldigt, Herr“, spricht mich eine Frau an. Als ich mich umdrehe, erkenne ich die Wirtin. „Dürfte ich Euch nach Eurem Namen fragen?“
„Tomaz“, antworte ich verblüfft. Ihre Augen sind nur ein Hauch dunkler als Elions.
„Verzeiht mir die Frage, aber Ihr kommt mir so bekannt vor.“ Nervös knetet sie die weiße Schürze vor ihrem Bauch. „Wart ihr schon einmal in unserem Dorf?“
„Nein, ich glaube nicht“, entgegne ich. „Auch wenn mir manches vertraut vorkommt.“
„Wo kommt Ihr her?“
Ich zucke mit den Schultern. „Ich weiß es nicht.“
Mit großen Augen sieht sie mich an. „Warum wisst Ihr es nicht?“
Eigentlich sind ihre Fragen unverschämt, doch ich erkenne ehrliches Interesse in ihren Augen.
„Ich war in den Minen, dort vergisst man seine Herkunft.“
„In den Minen des Königs? Ihr wart dort?“ Sie legt die Hand auf ihren Mund. „Wie ist es dort?“
„Furchtbar. Ich … ich bin ihnen nur mit Glück entkommen.“ Ich will nicht darüber reden.
„Mit Glück? Seid ihr auch als Kind in die Minen gekommen? Was geschieht mit den Kindern?“ Sie legt ihre Hand auf meinen Unterarm, sieht mich drängend an.
„Ja, ich wurde auch für die Steuerschuld meines Dorfes in die Minen geschickt. Minensklaven arbeiten, schlafen und essen. Sie sehen kein Tageslicht, verbringen ihre Zeit nur unter der Erde und sterben auch dort. Nur den allerwenigsten gelingt es, dieser Hölle zu entkommen.“
Fyllas Augen füllen sich mit Tränen. „Nein, sagt, dass das nicht wahr ist. Sie sollen doch nur so lange dortbleiben, bis die Schuld getilgt ist, dann kümmert sich der König um sie.“
Hart und bitter lache ich auf. „Nein, gute Frau, wer einmal in die Minen geschickt wird, bleibt dort. Jedes Kind, das ihr dem König zur Tilgung eurer Schulden überlasst, verurteilt ihr zu einem Leben in der Hölle der Berge. Es gibt kein Entkommen, es gibt nur Arbeit, Demütigung und Verzweiflung, bis zum Tod.“
Deutlich kann ich die Tränen in ihren Augen sehen. Jetzt ähneln sie noch mehr Elions. Doch ich kann ihr die Wahrheit nicht ersparen. Jeder Mann und jede Frau sollen wissen, wozu sie ihr Kind verurteilen, wenn sie es dem König überlassen.
„Dann gibt es keine Hoffnung?“, fragt sie leise.
„Nein.“
Ihre Hand rutscht von meinem Arm, ihr Blick ist verzweifelt. „Wie seid Ihr entkommen?“
„Mich haben jene gerettet, die der König als Rebellen jagen lässt. Bei ihnen fand ich ein Zuhause, bekam eine Zukunft.“ Dass ich diese gerade an Vasya verschenkt habe, brauche ich ihr nicht zu sagen.
„Aber Ihr reitet mit dem verfluchten Steuereintreiber!“
„Ihr könnt mir glauben, dass ich das nicht freiwillig tue, aber manchmal hat man keine Wahl.“
Eine Weile stehen wir nur schweigend voreinander, dann seufzt sie tief. „Danke, für Eure Offenheit.“
„Habt Ihr dem Steuereintreiber einen kleinen Jungen überlassen?“, frage ich, als sie sich schon abgewandt hat.
„Ja, vor vielen Jahren, als es unserem Dorf nach einem langen Winter sehr schlecht ging. Die Ernte des Vorjahres war dem Hagel zum Opfer gefallen und das Vieh war erkrankt, viele Tiere starben. Wir hatten keine Wahl – und dieses Scheusal entschied sich für meinen Sonnenschein.“ Sie schluchzt. „Immer habe ich gehofft, ihn eines Tages wiederzusehen …“
Ich traue mich nicht, sie nach dem Namen ihres Sohnes zu fragen. Tief in mir kenne ich ihn.
„Tomaz!“ Vasyas Stimme klingt wie ein Peitschenhieb, unter dem ich zusammenzucke. „Komm, wir müssen einen der Höfe besuchen.“
Die Zähne zusammenbeißend drehe ich mich zu ihm um. Der Mine bin ich entflohen, doch jetzt liege ich wieder in Ketten, die mich an diesen Mann fesseln, den ich dafür verabscheue.
Das Gut, auf das wir reiten, ist riesig. Auf den Feldern sind Männer und Frauen dabei, das Land zu bestellen. Es gibt Weiden mit Kühen und Pferden.
„Man kann kaum glauben, dass dieser Hof vor ein paar Jahren kurz vor dem Ruin stand“, sagt Pontus feixend. „Ein Feuer hat die Ernte vernichtet und ein Großteil des Viehs getötet. Von dem Haupthaus stand nicht viel mehr als die Grundmauern. Es war mein erstes Jahr als Steuereintreiber, ich ritt damals mit meinem Vorgänger, Verrus.“ Er kichert. „Die Steuerschulden waren immens und nichts da, um sie zu begleichen. Wir haben den Herrn vor die Wahl gestellt, sein letztes Vieh oder einen seiner beiden Söhne.“
Der Ekel vor diesem Mann würgt mich. Was für eine Wahl für einen Gutsbesitzer, ohne Vieh kann er nicht neu beginnen … trotzdem wünsche ich mir, die Vaterliebe hätte gesiegt. Aber wenn ich den Worten Fyllas Glauben schenke, dann wissen die Menschen nicht, was mit ihren Kindern wirklich geschieht. Vielleicht denken sie tatsächlich, dass es mit ein paar Jahren Minenarbeit erledigt ist und ihre Sprösslinge anschließend eine Chance haben – auch wenn sie ihren König besser kennen sollten.
Der Gutsherr sitzt in einem Stuhl auf der Veranda seines Hauses, ein verbundenes Bein auf einen Stuhl gelegt.
„Verzeiht, dass ich mich nicht erhebe, um Euch zu begrüßen“, sagt er mit tiefer Stimme, „doch gestern erst fiel ich vom Dach des Schuppens und brach mir mein Bein.“
„Macht Euch keine Gedanken, Ingvar, für Euch nehmen wir auch diesen Weg auf uns“, erwidert Pontus mit einem unterwürfigen Lächeln. Die Steuern dieses Mannes müssen immens sein, wenn er sich so gebärdet.
„Für Euren Großmut werden wir Euch auch gerne heute Mittag bewirten.“
Im selben Moment öffnet sich die Tür zum Haus und eine Frau tritt hinter den Mann. Sie ist groß, ihr schwarzes Haar mit silbernen Strähnen durchzogen. In ihrem Gesicht liegt kaum unterdrückter Widerwille gegen die Männer, die dort auf ihrem Hof stehen. Ihre ganze Gestalt strahlt eine natürliche Würde aus. Ihr Blick schweift über uns, ehe sie zu reden beginnt. „Willkommen, Pontus. Danke, dass Ihr den Weg zu uns auf Euch genommen habt. Wir fühlen uns …“ Ihr Blick begegnet meinem und sie verstummt. Die Farbe weicht aus ihrem Gesicht und sie hält sich an der Schulter Ihres Mannes fest, dann holt sie tief Luft. „… geehrt, dass Ihr mit uns speisen werdet.“ Immer noch sieht sie mich an und auch ich kann die Augen nicht abwenden. Ihr Gesicht berührt etwas in mir.
„Werte Sunniva, die Ehre ist ganz auf unserer Seite“, entgegnet Pontus mit einer Verbeugung, ehe er sich plump von seinem Pferd rutschen lässt. „Doch zuvor würde ich gerne Euer Land inspizieren.“
„Mein Sohn Arik wird Euch dabei statt meiner begleiten“, sagt Ingvar und wie aufs Stichwort erscheint ein junger Mann neben ihm. Er ist groß wie seine Mutter, doch seine Haare haben die gleiche Farbe wie die seines Vaters, dunkelblond.
Vasya gibt seinen Männern und mir das Zeichen abzusteigen.
„Arik, zeig den Männern, wo sie ihre Pferde tränken können, dann begleite den ehrenwerten Pontus bei seinem Rundgang“, weist Ingvar seinen Sohn an.
Arik kommt die Treppe herunter auf uns zu. Seine Haut ist von der Frühlingssonne leicht gebräunt und er hat freundliche braune Augen. Über seiner rechten Augenbraue ist eine winzige Narbe. Für einen Moment verrutscht die Wirklichkeit, ich sehe einen weinenden kleinen Jungen hinter dem Schleier, laut ruft er nach seiner Mutter. In meiner Brust weiß ich, dass ich etwas Schlimmes getan habe und …
Dann steht der junge Mann vor mir und lächelt mich freundlich an. „Hinter dem Haus ist die Tränke, wenn Ihr mir folgen wollt.“
Fast bin ich geneigt zu sagen, ich weiß, denn ich weiß es wirklich. Gleich hinter dem Haus steht eine steinerne Tränke, daneben ein weiß blühender Rosenstock. Ich schüttele meinen Kopf, versuche die Bilder loszuwerden, will nicht über die Bedeutung nachdenken.
„Du bleibst bei den Pferden“, weist Vasya mich an und ich nicke nur, setze mich auf die Stufen, die in die Küche des Hauses führen. Es ist noch zu früh im Jahr, die Rosen blühen noch nicht, doch ich weiß, wie sie aussehen, wie sie riechen.
Viel zu laut schlägt das Herz in meiner Brust, während mein Blick scheinbar ruhig über das Land gleitet. Ich sehe den Kräutergarten, dahinter einen kleinen Schuppen für die Gartengeräte. Weiter hinten steht ein Apfelbaum, alt und knorrig. Ich weiß es, auch wenn ich ihn nicht sehen kann. Von seiner Spitze aus kann man auf den kleinen See blicken. Ein kleiner hölzerner Steg führt ins Wasser, das im Sommer herrlich erfrischend ist.
In dem Wald, der hinter den Feldern beginnt, gibt es wilde Himbeeren und auf einem der Bäume ein Baumhaus. Vielleicht ist es inzwischen auch zerfallen.
All das weiß ich, auch wenn ich es nicht will. Die Tür hinter mir geht leise quietschend auf. Schritte kommen die Treppe hinunter und jemand setzt sich neben mich. Ich kann sie riechen, ein wenig Lauge vom Waschen, Gewürze aus der Küche und …
„Darf ich Euch nach Eurem Namen fragen?“
Zum zweiten Mal heute diese Frage und ich schließe meine Augen. Honigkuchen, Milch und die Geschichte von den Bären. Unterdrücktes Lachen über schmutzige Kleider vom Toben im Regen. Eine tröstende Hand …
„Tomaz“, antworte ich leise, traue mich nicht, sie anzusehen.
„Wo kommt Ihr her?“
„Ich weiß es nicht.“ Bis vor ein paar Minuten war das wahr.
„Würdet Ihr mich ansehen, bitte.“ Ihre Stimme ist sanft, klingt in mir nach. Langsam wende ich meinen Kopf, sehe in ihre Augen, die meinen so ähnlich sind. Stumm blicken wir uns an.
„Ich hatte die Hoffnung fast aufgegeben, dich jemals wiederzusehen“, flüstert sie und legt ihre Hand auf meine Wange. „Ich hätte ihn umbringen können, als er dich mir wegnahm. Ich wollte ihn verlassen, doch wo sollte ich mit zwei kleinen Kindern hin? Und er versprach mir, dass es dir gut gehen würde …“
Ich senke meinen Blick. „Das war eine Lüge. Keinem Minensklaven geht es gut.“
Vorsichtig legt sie ihren Arm um meine Schulter und als ich mich nicht wehre, zieht sie mich an sich heran. „Ich hätte es nicht zulassen dürfen. Niemals.“ Trauer macht ihre Stimme heiser.
„Du hättest es nicht verhindern können.“ Sie riecht gut, vertraut und mein Herz tut weh.
„Aber du warst so klein und …“
„Nicht, bitte“, unterbreche ich sie. „Es ist vorbei und lässt sich nicht ändern.“
„Bleib hier. Du gehörst hierher.“
Ich seufze, sehe mich um. „Nein, ich gehöre nicht mehr hierher – und selbst wenn ich wollte, kann ich nicht bleiben.“ Mein Wort bindet mich an Vasya – und dies hier ist nur eine Erinnerung aus einem fernen Leben, das nicht mehr meins ist. „Wie hast du mich genannt?“
„Jesper.“ Der Name löst nichts in mir aus, anders als ihre Gegenwart und der Hof, auf dem ich vor einer Ewigkeit in einem anderen Leben aufgewachsen bin.
Ihre Nähe tut gut, weckt Erinnerungen, die sich erstmals nicht hinter einem Schleier verbergen. Der Weg hinunter zu dem kleinen See führt durch eine Wiese, auf der im Sommer Blumen blühen und die Bienen schwirren. Dort stehen die Bienenstöcke meiner Mutter.
„Ich kann mich noch gut an den letzten Sommer erinnern“, sagt sie plötzlich. „Ich war mit Ilvy schwanger. Es ging mir nicht gut und der Arzt sagte, ich müsse mich schonen. Fylla kam jeden Tag her und kümmerte sich um alles.“ Sanft streichelt sie durch mein Haar. „Sie brachte ihren kleinen Sohn mit. Er liebte dich vom ersten Moment, wie ein junger Hund lief er hinter dir her. Ich sehe euch noch durch die Wiese toben, im See planschen. Obwohl er zwei Jahre jünger als du war, hast du ihn überallhin mitgenommen. – Arik war gerade drei und hat furchtbar geschrien, weil er nicht mit euch gehen durfte.“
Ich schließe die Augen, höre wie aus weiter Ferne Lachen, spüre die Sommersonne in meinem Gesicht.
„Wie hieß ihr Sohn?“, frage ich, auch wenn ich die Antwort kenne, muss ich sie aus ihrem Mund hören.
„Elion. Er war Fyllas Sonnenschein.“
Schwer schlucke ich den Kloß herunter, der in meiner Kehle drückt. Meine kleine Sonne, kein Wunder, dass es der perfekte Name für ihn war. Tief in meinen Erinnerungen wusste ich, wer er war. Jetzt werde ich ihn nie wiedersehen, ihm niemals von seiner Mutter erzählen können. Von unserer Kindheit.
„Tomaz?“ Ich bin froh, dass sie diesen, meinen Namen benutzt. Trotz aller Erinnerungen bin ich der, den die Zeit aus mir gemacht hat, nicht mehr der kleine Junge, der durch die Wiesen läuft und keinen schlimmeren Kummer kennt, als den fetten Frosch nicht von seinem Blatt fangen zu können.
„Was ist zwischen dir und diesem merkwürdigen Mann?“
„Das ist eine sehr lange Geschichte, doch ich gab ihm mein Wort und muss an seiner Seite bleiben. Wenn er will, kann er mich dem König ausliefern, dann komme ich entweder zurück in die Minen oder sterbe auf dem Schafott.“
Der Griff um meine Schulter wird fester. „Gibt es nichts, was wir tun können? Ich schäme mich so, dich damals diesem furchtbaren Mann überlassen zu haben. Ich habe geweint, geflucht und monatelang mit niemandem geredet.“
„Was war geschehen? Dies ist ein reiches Land, wieso konntet ihr die Steuern nicht bezahlen?“ Pontus hatte zwar schon erzählt, dass ein Feuer schuld daran war, doch ich wollte es von ihr hören, die ganze Geschichte.
„Es war ein guter Sommer und wir fuhren reiche Ernte ein. Die Kühe standen gut im Futter und gaben reichlich Milch. Uns ging es gut. Bis zu jener unseligen Nacht, in der alles in Flammen aufging. Im beginnenden Frühjahr. Nicht die Zeit der Brände.“ Sie seufzte tief. „Nur mit Mühe sind wir den Flammen entkommen. Alles verbrannte, die Ernte, das meiste Vieh und das Haus. Wir hatten mit einem Schlag nichts mehr als unser Leben, drei Kühe und einen Bullen. – Einen Tag später stand der Steuereintreiber auf dem verkohlten Grund. Ingvar hat versucht ihn zu vertrösten, er wollte sich Geld leihen, doch der Mann war unerbittlich. Er verlangte den Bullen und zwei Kühe. Das war unmöglich, waren es doch unsere letzten Tiere. Daraufhin bot er uns an, eine Kuh und dich mitzunehmen. Du müsstest in den Minen fünf Jahre leichten Dienst leisten, dann würdest du die Chance bekommen, dich den Soldaten des Königs anzuschließen, die für deine Ausbildung sorgen würden.“ Sie schweigt einen Augenblick. „Ich habe ihm nicht geglaubt, wollte, dass wir ihm das Vieh geben. Vieh kann man kaufen, dich würde ich nicht wiederbekommen. Doch es sind nicht irgendwelche Rinder, man kann sie nicht einfach erwerben, sie entstammen einer langen Zuchtreihe. Trotzdem habe ich getobt und geschrien, Ingvar verflucht und wollte nie mehr mit ihm reden. Noch heute schrecke ich manchmal aus dem Schlaf auf und höre dich nach mir rufen wie an jenem Morgen, als dich dieser widerliche Verrus in die Kutsche gesetzt hat.“
Auch an diesen Morgen kann ich mich wieder erinnern, an meine Angst, an die Tränen und das Lachen des Steuereintreibers. In der Kutsche saßen schon zwei Jungen und sahen mich mit großen Augen an.
„Kannst du mir das je verzeihen?“ Ihre Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern.
Stumm nicke ich. Im Grunde hatte sie genauso wenig eine Wahl wie ich. Selbst mein Vater musste sich zwischen dem Wohl der Familie und mir entscheiden. Auch wenn ich in meinem Herzen wünsche, er hätte sich anders entschieden.
Wir hören Stimmen und ich löse mich von ihr. „Es ist besser, sie wissen nicht, wer ich bin“, sage ich leise. Mit Tränen in den Augen nickt sie und steht auf, geht langsam ins Haus zurück. Ich bleibe sitzen und starre auf den Kräutergarten, der schon damals an dieser Stelle lag.
Der Tisch ist reich gedeckt. Pontus schlägt sich wie immer den Bauch voll. Fett läuft an seinem Kinn herab und ich wende den Blick ab. Vasya sitzt neben mir und wirft mir immer wieder nachdenkliche Blicke zu. Ich versuche gelassen zu bleiben, widme mich dem Fleisch auf meinem Teller. Das meine Gedanken rasen, Purzelbäume schlagen und immer mehr längst verschüttet geglaubte Erinnerungen an die Oberfläche drängen, versuche ich zu verbergen.
Pontus diskutiert mit Ingvar über die Steuern, die Politik, das Wetter und die Rinderzucht. Auch an Ingvar erinnere ich mich inzwischen, an seine ruhige und überlegte Art. Er ist nie laut geworden, wenn ich wieder einmal Unsinn gemacht habe, seine Strafen waren immer dem Vergehen angemessen und nie hat er mich geschlagen.
Meine ersten Schläge erhielt ich auf dem Weg in die Minen, in jener Kutsche, in der meine Kindheit mit sieben Jahren endete und ich zu einem Sklaven wurde. Besitz des Königs, eine Art Rohstoff der besonderen Art. Nur dazu gut, den Reichtum des Landes zu mehren, damit der König noch ein prunkvolleres Schloss bauen oder noch mehr Soldaten in seinen Dienst stellen kann. Oder Söldner, wie Vasya und seine Männer.
Nach dem Essen übergibt Ingvar Pontus die zu zahlenden Steuern. Einen Teil in Taler und zwei Pferde. Stumm bin ich den Rest der Zeit Vasya gefolgt, habe es vermieden, Sunniva anzusehen. Wieder muss ich gehen, gehöre nicht mir selbst, sondern einem Mann, an den mich mein Wort bindet.
Auch beim Abschied sehe ich nicht in ihre Augen, will den Schmerz nicht sehen, den ich ebenso empfinde. Wie muss es sein, nach Hause zu kommen? Geliebt zu werden? Zu einer Familie zu gehören?
Ich weiß, wie es sich anfühlt, denn für lange Zeit gab mir die Gemeinschaft dieses Gefühl. Heute gehöre ich nirgendwo hin. Den Mann, den ich liebe, werde ich ebenso wenig wiedersehen wie die Familie, zu der ich einst gehörte.
Mit einem Mal fühle ich mich erschöpft und müde. Was passiert, wenn Vasya genug von mir hat? Schickt er mich dann dem König? Oder schneidet er mir mit seinem Dolch die Kehle durch und lässt mich zurück? – Und halte ich es überhaupt bis dahin aus? Wie lange kann ich mich einem Mann hingeben, für den ich nichts empfinde? Oder nur mit jedem Mal mehr Abneigung empfinde.
Wir erreichen den Gasthof mit dem letzten Tageslicht. Ich will mich nur noch hinlegen und vergessen. Den Tag. Die Erinnerungen. Meine Familie. Elion.
In dieser Nacht ertrage ich Vasyas Berührungen kaum, sie brennen wie Feuer auf meiner Haut, mir ekelt vor mir selbst. Wie weit sind Elion und die anderen gekommen? Sind sie in Sicherheit? Ich beiße die Zähne zusammen, als er sich in mir verströmt, schwer atmend auf meinen Rücken sinkt. Alles in mir schreit auf, als er meinen Nacken küsst. Meine Hände krallen sich in das Laken, damit ich still liege und ihn nicht von mir stoße. Noch ein bisschen muss ich durchhalten. Ein paar Tage, dann müssten sie weit genug gekommen sein und ich kann Vasya sagen, was ich von ihm halte. Ich hoffe, er wird wütend genug sein, mein Leben mit seiner Klinge zu beenden.
Die Wagen stehen auf einer Lichtung mitten im Wald. Nachdem die Söldner mit Tomaz den Platz verlassen haben, sind wir zurückgekehrt und haben sie geholt. An unseren Wagen und Pferden hatten sie kein Interesse, ebenso wenig wie an uns. Alles, was ihr Anführer wollte, war Tomaz. Mein Herz krampft sich zusammen und ich schlucke den Kloß in meinem Hals herunter. Er ist bei ihm geblieben, damit wir frei sind, doch was bedeutet meine Freiheit ohne ihn? Nichts.
„Sie haben sich in einem Gasthaus einquartiert und werden noch ein paar Tage bleiben“, sagt Unnur, die zusammen mit Hekla in die Ansiedlung gegangen war, um herauszufinden, ob sie noch hier sind.
Wir mussten nicht lange nachdenken, nachdem wir wieder an unseren Wagen angekommen waren. Ohne Tomaz würden wir den Weg nach Süden nicht fortsetzen und wir beschlossen, ihnen zu folgen, auf eine Gelegenheit zu warten, Tomaz zu befreien. Wie immer wir das auch umsetzen werden.
Katla kommt aus ihrem Wagen, ihre langen Haare hat sie abgeschnitten und schwarz gefärbt. Sie trägt Männerkleider und hat sich mit Hilfe der in den Wagen vorhandenen Schminke eine Narbe auf die Wange gemalt, die verdammt echt aussieht. Sie wirkt wie ein sehr junger Mann. Alle sehen sie staunend an.
„Ich werde mir ebenfalls ein Zimmer in dem Gasthaus nehmen. Wir müssen wissen, was sie machen.“ Sie setzt eine schwarze Klappe schräg auf ihren Kopf und sieht damit verwegen aus. Bewaffnet schwingt sie sich auf das Pferd, das wir vor zwei Tagen von einem Bauern samt Sattel und Zaumzeug erworben haben.
„Du kannst nicht allein gehen“, murrt Egill.
„Doch, allein bin ich unauffällig“, entgegnet sie ruhig, dabei hat sie ihre Stimme gesenkt, damit sie tiefer klingt.
„In diesem Aufzug bist du alles andere als unauffällig“, widerspricht Egill und sieht ihr missmutig ins Gesicht. Er weiß, dass er sie nicht von ihrer Idee abbringen kann.
„Keiner wird mich für eine Frau halten und nicht einmal Tomaz wird mich erkennen. Der Ort ist groß genug, damit nicht jeder Fremde auffällt und ich sehe aus wie einer von hundert Abenteurern, die durch das Land ziehen.“ Mit einem grimmigen Lächeln sieht sie ihn an. „Und du weißt genau, dass ich mich gut selbst verteidigen kann.“
Egill murmelt etwas, doch ich kann nicht viel mehr verstehen als Halvor. Katla ignoriert ihn.
„Sobald ich etwas erfahre, komme ich zurück.“ Auf einen leichten Druck ihrer Fersen setzt sich das Pferd in Bewegung. Mit schwerem Herzen sehe ich ihr hinterher.
Die Zeit will nicht vergehen. Seit einem Tag ist Katla erst fort, doch fühlt es sich an wie eine Ewigkeit. Egill hat begonnen, jeden Morgen mit mir und den anderen zu trainieren. Wir sollen lernen zu kämpfen – zumindest uns selbst zu verteidigen. Meine Arme tun weh von den ungewohnten Übungen. Doch selbst wenn mein Körper beschäftigt ist, sind meine Gedanken bei Tomaz. Ich habe Angst um ihn.
Die Nächte allein in dem Bett sind die Hölle, meine Gedanken ufern aus, ich sehe die schrecklichsten Bilder, Tomaz tot, blutüberströmt, geschunden. Wenn ich schlafe, quälen mich Alpträume. Keine Nacht, seit er weg ist, habe ich durchgeschlafen.
Inzwischen graut mir vor der Dunkelheit, der Einsamkeit in unserem Wagen. Auch Kimmis Nähe bringt mir keinen Trost. Wann wird Katla zurückkommen? Wird sie irgendetwas in Erfahrung bringen, was uns hilft? Gibt es überhaupt eine Chance, Tomaz zu befreien, oder laufen wir nur Gefahr, ebenfalls in die Hände der Söldner zu fallen?
Die Dunkelheit breitet sich aus. Das Lagerfeuer verströmt flackerndes Licht und Wärme, die mein gefrorenes Inneres nicht erreichen kann. Lustlos stochere ich in dem Essen herum, das Unnur zubereitet hat, lausche den Gesprächen, ohne etwas zu verstehen.
Das Knacken eines brechenden Zweiges lässt alle verstummen und nach ihren Waffen greifen. Aus dem dichten Gebüsch, das unseren Lagerplatz umgibt, tritt Katla in den Schein der Flammen, hinter ihr ein junger Mann und eine ältere Frau. Aufatmend werden die Waffen beiseitegelegt und die Ankömmlinge begrüßt.
„Das sind Arik und Sunniva“, stellt Katla ihre Begleiter vor. „Auf ihrem Hof waren der Steuereintreiber und die Söldner heute.“
Alle sehen die beiden Fremden an. „Warum hast du sie mitgebracht?“, formuliert Njal die Frage, die uns allen durch den Kopf geht.
Die Frau, Sunniva, tritt einen Schritt näher. Ihr Blick geht durch die Runde, bleibt an mir hängen. Sie hat lange schwarze Haare, die von grauen Strähne durchzogen sind, und ihre Augen – mir stockt kurz der Atem. Sie haben die gleiche Farbe wie Tomaz’.
„Ich bin Tomaz’ Mutter und das ist sein Bruder Arik.“ Mit einer Geste deutet sie auf den jungen Mann an ihrer Seite. „Ich habe meinen Sohn heute zum ersten Mal seit vielen Jahren wiedergesehen.“
Die drei haben uns Vorräte mitgebracht. Sunniva und Arik setzen sich zu uns ans Feuer. Ich kann den Blick nicht von der Frau wenden. Die Ähnlichkeit mit ihrem Sohn bannt meinen Blick, weckt meine Sehnsucht.
Katla erzählt uns, wie sie dem Steuereintreiber und seinen Begleitern zu dem Gut von Tomaz’ Eltern gefolgt ist. Natürlich wusste sie nicht, wohin diese ritten. Sie sah Tomaz mit seiner Mutter und als der Trupp das Anwesen wieder verlassen hat, sprach sie Sunniva an.
„Wir hatte einen harten Winter in dem Jahr. Tomaz war im Sommer sieben geworden, Arik drei und ich schwanger mit ihrer Schwester. Trotz aller Schwierigkeiten ging es uns gut, die Steuern waren kein Problem. Doch kurz bevor der Eintreiber des Königs, Verrus, kam, geschah das Unglück. Ein Feuer vernichtete unser Haus, die Scheunen und Ställe, die gesamte Ernte … Ein Gut wie das unsere zahlt hohe Abgaben und als Verrus vor den Ruinen unserer Existenz stand, konnten wir diese nicht leisten. Der König kennt kein Erbarmen, er gewährt keinen Aufschub. Verrus stellte uns vor die Wahl, ihm unseren letzten Zuchtbullen zu geben oder unseren Sohn. Er versicherte uns, dass Tomaz fünf Jahre bei leichte Arbeit die Schulden abarbeitet und dann in den Dienst des Königs aufgenommen wird. Der König brauche immer Soldaten. Ich war dagegen, doch mein Mann erklärte, ohne den Bullen könnten wir die Zucht nicht wiederaufbauen, wir verlören alles. Gegen meine Weigerung gab er dem Scheusal Tomaz mit.“ Eine Träne fällt von ihren Wimpern und rollt langsam über ihre Wange, doch sie kümmert sich nicht darum. „Nach einigen Jahren der Entbehrung ging es wieder aufwärts mit unserm Hof, heute gehören wir zu den reichsten Gutsbesitzern der Gegend – doch um welchen Preis? Ich lieferte meinen Sohn der Zwangsarbeit in den Minen aus, überließ ihn den Tieren von Wärtern und hätte ihn nie wiedergesehen, wenn es das Schicksal nicht gut mit ihm gemeint hätte.“
Alle sehen betreten ins Feuer.
„Heute sah ich ihn wieder und obwohl er den furchtbaren Minen entkommen ist, befindet er sich wieder in Gefangenschaft. Gebunden durch sein Wort. – Ich werde das nicht zulassen! Was immer nötig ist, um ihm seine Freiheit wiederzugeben, ich werde es tun.“
„Er hat sich für uns an diesen Mann gebunden“, sagt Katla. „Wir sollten in den Süden gehen, während er bei diesem Mann bleibt. Keiner von uns wollte gehen. Ohne Tomaz wären wir nicht hier und ohne ihn gehen wir nirgendwo hin.“
„In drei Tagen brennt das Kaesvaetfeuer auf unserem Acker, vertreibt die Reste des Winters und begrüßt den Frühling. Viele Bauern und Anwohner des Dorfes kommen an diesem Tag zu uns. Ich habe meinen Mann überredet, auch Pontus und sein Gefolge einzuladen. Vielleicht kann ich diesen Mann, Vasya, überreden, Tomaz freizugeben.“
„Das wird er nicht tun“, entgegnet Egill. „Ich sah seinen Blick auf Tomaz. Er will ihn besitzen und wird ihn freiwillig erst gehen lassen, wenn er ihn nicht mehr will. Nichts und niemand, kein Geld und keine guten Worte werden ihn davon abbringen.“
„Aber es muss doch eine Möglichkeit geben …“ Verzweifelt sieht Sunniva uns der Reihe nach an. Wieder verweilt ihr Blick auf mir.
„Wir warten auf die richtige Gelegenheit“, sagt Katla. „Es gibt nur die Möglichkeit, den Steuereintreiber, Vasya und seine Männer zu töten. Ansonsten werden sie uns jagen.“
„Das werden sie auch, wenn ihr Pontus tötet“, warf Arik ein. „Alle Soldaten des Landes werden Jagd auf euch machen.“
„Es muss aussehen, als ob sie einem Raubüberfall zum Opfer gefallen sind“, erwidert Egill. „Niemand darf uns damit in Verbindung bringen. Darum müssen auch alle sterben.“
Mich schaudert, auch wenn ich den Plan kenne, missfällt es mir, die Menschen zu töten, doch eine andere Lösung gibt es nicht. Manchen Abend haben wir darüber diskutiert. Wenn nur einer überlebt, wissen sie sofort, wen sie suchen müssen.
„Dann werde ich versuchen herauszufinden, welchen Weg sie nehmen. Vielleicht bietet sich eine günstige Gelegenheit.“ Sunniva scheint entschlossen, alles für ihren Sohn zu tun. „Wir werden euch bei allem unterstützen. Nie wieder lasse ich meinen Sohn im Stich.“
Bevor die beiden aufbrechen, kommt Sunniva zu mir. „Dein Gesicht kommt mir bekannt vor. Wie ist dein Name?“
„Elion.“
„Elion? Du bist Fyllas Sohn! Weiß sie, dass du hier bist?“ Ungläubig sieht sie mich an. „Du warst auch in den Minen. Ich erinnere mich gut an Fyllas Schmerz, als Pontus dich auswählte. Sie kam zu mir und wir teilten unseren Kummer.“
„Ihr kennt meine Mutter?“ Mein Blut rauscht. „Ich bin hier geboren?“
„Ja, du warst in dem Sommer, bevor … das Unglück geschah, jeden Tag mit ihr auf unserem Hof, hast mit Jesper – Tomaz – gespielt. Ihr wart Freunde. – Kannst du dich nicht daran erinnern?“
„Nein“, entgegne ich überfordert. Tomaz und ich waren Freunde, als wir Kinder waren? Darum wusste er meinen Namen – doch erinnerte er sich an diese Zeit? Warum hatte er dann nie etwas gesagt?
„Komm zum Kaesvaetfeuer auf unseren Hof, dann stelle ich sie dir vor.“ Sanft streichelt sie durch mein Gesicht. „Ich bin froh, dass du lebst, und sie wird es glücklich machen.“
Verwirrt von dem Gehörten liege ich in meinem Wagen. Wusste Tomaz, wer ich war? Doch das kann ich mir nicht vorstellen. Vielleicht war es einer dieser Erinnerungsfetzen, die ihn dazu gebracht hatten, mir diesen Namen zu geben. Meinen Namen, meinen wirklichen Namen.
Liegt er jetzt bei diesem Mann? Ich will nicht daran denken, verdränge die Bilder, die sich bei diesem Gedanken in meinen Kopf schieben. Ich hasse Vasya für das, was er Tomaz antut – was er uns beiden antut. Wir waren glücklich, wir gehören zusammen und er hat es zerstört. Warum ist das Leben dermaßen ungerecht? Haben wir nicht genug gelitten in den Minen?
Nein, ich darf mich nicht dem Selbstmitleid hingeben, muss in die Zukunft sehen. Tomaz braucht mich – und ich brauche ihn. Irgendwie werden wir einen Weg finden. Egal, was es kostet.
Drei endlose Tage, drei grauenvolle Nächte. Katla schimpft ständig mit mir, weil ich zu wenig esse, doch ich kann nicht. Nur mit Mühe gelingt es mir überhaupt etwas herunterzuwürgen.
Katla begleitet mich zu dem Anwesen. Wir sollen uns als Küchenhilfen ausgeben. Mein Herz trommelt in meiner Brust. Liegt es daran, dass ich meine Mutter, an die ich keine Erinnerungen habe, treffe oder an dem Wiedersehen mit Tomaz. Auch wenn er mich nicht sehen darf. Ich befürchte, er würde sehr wütend werden, wenn er wüsste, dass wir nicht im Süden sind. Glaubt er wirklich, ich würde ohne ihn gehen?
Schon am Mittag herrscht große Aufregung auf dem Hof. In der Küche herrschte rege Betriebsamkeit. Eine Frau koordiniert souverän das scheinbare Chaos. Sie ist nicht besonders groß, ihre rotbraunen Haare durchziehen silberne Strähnen und wenn sie Befehle erteilt, stemmt sie ihre Hände auf die ausladenden Hüften.
Als sie uns entdeckt, winkt sie uns zu sich.
„Seid ihr die beiden Hilfen, die Sunniva mir …“ Mitten im Satz bricht sie ab und schlägt sich die Hand vor den Mund. Mit großen Augen sieht sie mich an. „Elion“, flüstert sie zwischen ihren Fingern.
Ihre Augen sind grün, wie die meinen, und mein Herz wummert. Bilder rasen durch meinen Kopf. Ihr Lachen, ihre Stimme, ein Einschlaflied, sie schimpft mit mir, die Hände in die Hüfte gestemmt …
„Bist du es wirklich?“ Tränen steigen in ihre Augen. „Mein Kleiner.“ Ihre Hand zittert unkontrolliert, als sie meine Wange streichelt.
Die Welt um uns herum hört auf zu existieren. Ich bin wieder fünf und sie hält mich weinend im Arm, nicht bereit, mich gehen zu lassen. Doch ich muss – muss dem Mann folgen, der mich mitnimmt, wegbringt von ihr, von Zuhause, fort in die Minen, die mein Schicksal sind. Ich weine, will nicht fort, klammere mich an sie. Unerbittlich werden meine Hände gelöst, zerren mich starke Arme von ihr weg, hinein in die Kutsche. Ein letzter Blick und die Tür schließt sich.
„Ich habe aufgehört zu hoffen, dass ich dich noch einmal wiedersehe“, sagt sie mit tränenerstickter Stimme und zieht mich in ihre Arme. „Tausendmal bin ich innerlich gestorben, weil ich dich gehen ließ.“
Ganz von selbst legen sich meine Arme um sie und ich spüre die Tränen, die aus meinen Augen quellen. Ihr Duft, ich erinnere mich, sie roch immer nach Zuhause, nach Geborgenheit …
„Mama“, wispere ich und kann mich nicht wehren gegen die Gefühle, die mich übermannen. Wie konnte ich all dies vergessen?
Katla schiebt uns in eine stille Ecke und übernimmt das Kommando, während wir uns halten, uns versichern, uns nach all den Jahren wiedergefunden zu haben.
„Was habe ich dir nur angetan?“ Sie nimmt mein Gesicht in ihre Hände. „Kannst du mir je verzeihen?“
Wie könnte ich nicht? Sie ist meine Mutter. „Es gibt nichts zu verzeihen“, sage ich leise. „Ich weiß, du hattest keine Wahl.“
Ich weiß nicht, wie lange es dauert, ehe wir in der Lage sind, uns zu trennen. Der Schleier über meinen Erinnerungen ist fort. Ich sehe Bilder meiner Kindheit und auf einmal weiß ich auch, dass ich Tomaz schon von damals kenne. Wir waren Freunde. Er war älter als ich und ich liebte ihn. Anders, unschuldig. Er war mein Vorbild, wie er wollte ich immer sein. Bis sie ihn mir wegnahmen. Zwei Jahre bevor sie mich in die Minen brachten. Ich hatte vergessen, wie glücklich ich hier war, wie wir durch die Wiesen liefen und im See badeten. Jetzt ist das alles wieder da, alle Bilder und alle Gefühle. Noch stärker als zuvor ist mir klar, dass ich ohne ihn nirgendwo hingehe. Wir gehören zusammen, früher und heute.
Alles ist gleich – und alles ist anders. Ich folge Vasya , wie er es erwartet, doch in Gedanken bin ich weit weg. Erinnerungen bestürmen mich, viele nur bruchstückhaft, dafür aber sehr intensiv. Gern würde ich ihnen nachgehen, zurückkehren auf das Anwesen, mit meiner Mutter sprechen, meinen Bruder kennenlernen, der damals fast noch ein Baby war, meinen Vater und meine Schwester, die ich noch nie sah.
Wie würde es Elion gehen, wenn er dies alles sehen könnte? Würde auch er sich erinnern? An unseren gemeinsamen Sommer?
Mein Herz wusste schon in dem Moment, als ich ihn das erste Mal sah, nach all den Jahren, ohne von unserer Vergangenheit zu ahnen, dass er zu mir gehört, dass ich ihn kenne.
Mit jeder Erinnerung fällt es mir schwerer, mein Wort zu halten. Nur der Gedanke, dass ich Elion die Chance gebe, in Sicherheit zu gelangen, lässt mich durchhalten.
„Wir sind eingeladen, mein Hübscher.“ Ich hasse es, wenn er mich so nennt. Schwer lässt er sich neben mich auf das Bett fallen, greift in meine Haare. „Morgen Abend, auf einen der großen Höfe. Irgendetwas mit Freudenfeuern.“
„Kaesvaetfeuer. Sie sollen den Winter vertreiben und den Frühling willkommen heißen“, sage ich und erinnere mich an die letzten Feuer, die ich gesehen habe. Die Funken, die in den dunklen Nachthimmel aufsteigen und die Geister der kalten Zeit mit sich nehmen. Mein Vater entzündete es feierlich, je nachdem, wie der Holzstoß brennt, gibt der Funkenflug Auskunft über den kommenden Sommer.
„Du kennst diese Sitte? Du bist ein kluger Bursche.“ Er dreht meinen Kopf und küsst mich. All das Toben in mir niederringend erwidere ich sein Lippenspiel.
„Zeig mir, warum ich deine Freunde entkommen ließ. Überzeug mich, dass es sich für mich gelohnt hat“, flüstert er und zieht mich auf sich. „Lass mich deine Kunst fühlen, mein süßer Sklave.“
Ich schließe die Augen und versuche mich zu vergessen. Alles zu vergessen, was mich ausmacht, zu werden, was ich einst war – ein Sklave ohne Rechte, ohne Gefühle und ohne den bitteren Ekel vor mir selbst.
Am Abend reiten wir gemeinsam mit einem freudig erregten Pontus, der sich von der Einladung sehr geschmeichelt fühlt, los. Schnell erkenne ich, wohin uns der Weg führt. Soll ich mich darüber freuen, noch einmal an den Ort meiner kurzen Kindheit zurückzukehren?
Unruhig schlägt mein Herz, ungeduldig und ängstlich zugleich. Viele Besucher sind auf dem Hof. Pferde und sogar zwei Kutschen stehen etwas abseits. Die Stimmung ist fröhlich, Kaesvaetfeuer sind Freudenfeuer.
Sunniva, meine Mutter, kommt uns entgegen. Sie meidet meinen Blick und ich bin ihr dankbar. Alles in mir will sie berühren, ihren Duft einatmen und in Erinnerungen baden. Ich möchte noch einmal spüren, wie es sich angefühlt hat, wenn sie mich tröstete, mich mit ihrer Liebe umhüllte. Doch dies ist nicht der Ort und nicht der Zeitpunkt dafür. Wahrscheinlich kommt beides nie.
Wein wird ausgeschenkt und Ferkel drehen sich über dem Feuer. Wieder eine Erinnerung, wie ich versuche, ein winziges rosa Geschöpf vor seinem Schicksal zu bewahren. Ich versteckte es in meinem Zimmer, was natürlich nicht lang unbemerkt blieb. In diesem Jahr aß ich nichts von dem Fleisch.
Sunniva hängt ihren Arm bei Pontus ein und geht an seiner Seite über den Hof zu den Tischen, die im Garten aufgestellt wurden. Es war ein klarer Tag und die Nacht wird sicherlich kalt werden. In metallenen Eimern brennen überall Feuer.
Ich folge Vasya, als Arik auf uns zukommt. Er ist groß geworden und ähnelt unserem Vater. Per Handschlag begrüßt er Vasya und mit einem beiläufigen Nicken mich. Auch wenn ich weiß, dass er mich nicht kennt, tut es weh. Dies ist meine Familie – nein, sie war es, denn heute gehöre ich nicht mehr dazu, bin nur noch der Sklave des Mannes, den sie eingeladen haben. Der Schmerz, der dieser Erkenntnis folgt, ist unglaublich. Vor ein paar Tagen wusste ich nichts von ihnen und nun fehlen sie mir.
Neben Vasya setze ich mich Arik gegenüber, betrachte ihn, seine braunen Haare, seine warmen braunen Augen. In dem Sommer, bevor ich ging, war er noch winzig klein. Mit seinen kurzen, dicken Beinchen versuchte er immer Elion und mir zu folgen. Wütend stampfte er mit seinen Füßchen auf und schrie die Welt zusammen, wenn wir ihm entkommen waren. Sicher kann er sich nicht mehr an diese Zeit erinnern.
Die Dämmerung weicht der Nacht und alle machen sich auf zu dem Acker, auf dem die Knechte einen riesigen Holzstoß zusammengetragen haben.
Die Bilder in meinem Kopf verwischen, die Erinnerung und die Gegenwart. Da Ingvar, mein Vater, aufgrund seines gebrochenen Beines verhindert ist, tritt Sunniva vor und hebt die Fackel.
„Damit der Winter endet und der Frühling kommt. Auf ein gutes Jahr und reiche Ernte. Auf genügend Wasser, Sonne und frohe Herzen.“ Damit wirft sie die Fackel in das Holz. Zischend fangen die extra getrockneten Zweige Feuer, schnell breitet es sich aus und schon bald steht alles in Flammen.
„Die Zeichen stehen gut für das kommende Jahr. Lasst uns trinken auf diesen Sommer und feiern, dass der Winter vorbei ist.“
Die Zeichen stehen gut? Nein, dem kann ich nicht zustimmen. Nicht einmal in den Minen standen sie jemals schlechter. Dort spürte ich mein Leid nicht, oder nur betäubt von den wöchentlichen Spritzen. Heute verbrennt es mich wie das Feuer den Holzstoß. Keine Chance, dass mehr übrig bleibt als graue Asche.
Diener gehen um, reichen selbst gebrannten Schnaps in kleinen tönernen Bechern, die mit einer Ähre als Zeichen einer guten Ernte verziert sind.
Vasya reicht mir ebenfalls einen. „Trink, vielleicht hörst du dann auf, wie ein geprügelter Hund zu gucken.“
Sunniva tritt zu uns, sie hält eine Flasche des sehr scharfen Schnaps in ihrer Hand. „Möchtet Ihr noch einen?“
Auffordernd hält Vasya ihr seinen Becher hin. Meiner ist noch fast voll, da ich am Inhalt nur genippt habe.
„Trink aus!“, befiehlt er mir. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie meine Mutter zusammenzuckt.
„Vielleicht schmeckt Eurem …“, sie weiß nicht, wie sie mich bezeichnen soll, „der Gerstenschnaps nicht.“
„Mein Sklave trinkt, wenn ich das befehle.“ Er funkelt sie an und sie erblasst.
Um Vasya, der dem Wein schon reichlich zugesprochen hat, nicht weiter zu provozieren, trinke ich den Schnaps. Er ist scharf und brennt in meiner Kehle.
„Schenk ihm nach!“, fordert Vasya und lässt dabei den erforderlichen Respekt für die Herrin des Anwesens fehlen. Gern würde ich ihn zurechtweisen, doch das darf ich nicht.
Ihre Hände zittern, als sie den Becher wieder füllt. Deutlich kann ich den Wunsch in ihren Augen sehen, etwas zu sagen, doch damit würde sie es nur schlimmer machen.
Vasya beobachtet sie genau. „Tut Euch mein Sklave leid?“, fragt er mit falscher Freundlichkeit. „Habt Ihr keine Sklaven auf dem Hof?“
„Nein, wir bezahlen unsere Mägde und Knechte. Ich würde nie auf die Idee kommen, einen Menschen …“
„Ihr wisst nicht, was Euch entgeht“, unterbricht Vasya sie. Seine Augen sind von dem Alkohol glasig und sein Lächeln verzerrt. „Ein Sklave tut alles für Euch. – Knie dich hin“, befiehlt er mir. Ich möchte aufbegehren, ihm sein Lächeln aus dem Gesicht schlagen, doch er würde mich dafür hier büßen lassen, vielleicht würde er mich sogar töten und auch wenn ich den Tod begrüßen würde, soll dies nicht unter den Augen meiner Mutter geschehen. Ich folge also seiner Forderung, vermeide es, Sunniva in die Augen zu sehen. In diesem Moment schwöre ich mir, Vasya mitzunehmen, wenn es Zeit wird zu sterben.
„Leg deinen Kopf in den Nacken und mach den Mund auf!“
Ich schließe dabei die Augen.
„Gib mir die Flasche!“, fordert er erneut in unverschämtem Ton von meiner Mutter. „Sieh, wie brav ein Sklave trinkt, wenn sein Herr es befiehlt.“ Er lacht wild auf, dann lässt er den Schnaps in meinen Mund laufen.
„Hört sofort auf! Euer Betragen lässt jeden Respekt fehlen!“
Der Strom, der viel zu schnell in meinen Mund und über meine Wangen läuft, wird unterbrochen.
„Ihr seid Gast auf unserem Hof, also benehmt Euch auch entsprechend!“
Ich spuckte den Schnaps, der sich noch in meinem Mund befand, in den Sand. Bis in die Nase ist er mir gelaufen und ich huste gegen das Gefühl zu ersticken.
„Dieser Mann gehört mir, es geht niemandem etwas an, wie ich mit ihm umgehe!“, entgegnet Vasya ungehalten.
„Mit Eurem Eigentum könnt Ihr machen, was Ihr wollt, solange Ihr Euch meiner Mutter gegenüber anständig benehmt – und nicht den guten Schnaps an einen Sklaven verschwendet.“ Es ist Arik und in sein herbes Lachen fällt Vasya mit ein.
„Ihr habt recht. Verzeiht mir.“ Er verbeugt sich tief und schwankend vor meiner Mutter.
„Wenn Ihr wollt, zeige ich Euch unsere Pferde. Pontus erzählte mir, Ihr kennt Euch aus mit guten Tieren. Vielleicht verratet Ihr mir, was Ihr von unserer Zucht haltet.“ Arik nimmt Vasya vertraulich am Arm und zieht ihn mit sich in Richtung der Ställe. Kaum sind sie ein paar Schritte fort, sinkt meine Mutter vor mir auf den Boden.
„Verzeih mir“, flüstert sie unter Tränen. „Ich ahnte nicht, was für ein Mensch er ist.“ Mit ihrer weißen Sonntagsschürze wischt sie den restlichen Alkohol aus meinem Gesicht.
„Vergiss es“, sage ich und wende mich ab. Nicht einen Tag länger werde ich diesen Mann ertragen. Wenn es das Schicksal wollte, dann würden wir heute Nacht beide sterben. Immer noch besser, als mich weiterhin von ihm demütigen zu lassen.
„Komm.“ Sie steht auf und streckt mir die Hand hin. Ich ignoriere sie und stehe auf. „Bitte, Jes… Tomaz, ich muss mit dir reden.“ Flehend sieht sie mich an. Mit einem Nicken folge ich ihr ins Haus, in das Arbeitszimmer meines Vaters.
„Ich werde nicht zulassen, dass dieser Mann dich wie sein Eigentum behandelt!“ Ihre Schultern sind angespannt und ihre Lippen zusammengekniffen.
„Ich habe ihm mein Wort gegeben.“
„Meinst du, nur weil ein paar Jahre vergangen sind, sehe ich nicht, was hinter deiner Stirn vorgeht? Du wirst ihn töten und damit deinen eigenen Tod provozieren.“
Fast richtig, denke ich und spare mir eine Antwort.
„Bitte, Tomaz, hör mir zu. Wir haben einen Plan.“ Unerwartet kräftig umfasst sie meine Oberarme. „Pontus hat mir erzählt, wohin ihr übermorgen reist. Der Weg führt euch durch den Vaarapass, am Valkeaberg . Der Valkea hat in den letzten Wochen mehrmals gebebt, der Weg durch den Pass ist nicht ungefährlich, schnell kann es zu einem Steinschlag kommen …“ Beschwörend sieht sie mir in die Augen. „Dabei kann es schnell passieren, dass der königliche Steuereintreiber und seine Begleiter einen tödlichen Unfall erleiden.“
„Wir?“, frage ich leicht überfordert.
„Warte“, sagt sie und lässt mich einfach stehen. An das Bild meines Vaters, der hinter seinem Schreibtisch sitzt, kann ich mich gut erinnern, sonst habe ich kaum Bilder von ihm in meinem Kopf. Neugierig trete ich an die Landkarte heran, die hinter dem Schreibtisch hängt, auf ihr ist das Gebiet des Anwesens eingezeichnet – und auch der Valkeaberg.
War es möglich, Vasya zu entkommen, ohne die Sicherheit Elions und der anderen zu gefährden? Vielleicht könnte ich … nein, nie wieder kann ich Elion unter die Augen treten!
„Tomaz?“
Haben sich meine Gedanken verselbstständigt? Höre ich, was ich mir am meisten wünsche? Mein Herz galoppiert in meiner Brust. Langsam drehe ich mich um, hoffe zu sehen, was ich mir wünsche, und hoffe zeitgleich, dass es nicht wahr ist.
Einen Schritt von der geschlossenen Tür und nur zwei Schritte von mir entfernt steht Elion. Meine Gefühle rasen, Glück, Angst, Wut, Freude. Liebe …
„Was machst du hier? Bist du verrückt? Warum nehme ich den ganzen Mist auf mich, wenn du nicht fliehst, dich nicht in Sicherheit bringst?“ Meine Wut gewinnt. Die ganzen Tage habe ich durchgehalten mit dem Gedanken, dass er in Richtung Süden unterwegs ist. Jetzt steht er hier, mitten im Haus meiner Familie, mitten unter den Feinden, die draußen feiern.
„Ich …“, hilflos sieht er mich an, dann strafft er seine Schultern. „Glaubst du tatsächlich, ich verschwinde und überlasse dich deinem Schicksal? Ich liebe dich und gehe ohne dich nirgendwo hin, du Idiot!“ Er überbrückt die Distanz zwischen uns, nimmt mich in den Arm. Einen Moment zögere ich, dann schlinge ich meine Arme um ihn, lege meinen Kopf auf seine Schulter und atme seinen vertrauten, vermissten Geruch ein.
Er ist wirklich da! Fester ziehe ich ihn an mich, spüre die Tränen in mir aufsteigen. Meine kleine Sonne. Die Anspannung, die Wut, die Sorge, der Hass der letzten Tage fällt von mir ab, wird zu Liebe für den Mann in meinen Armen. Bis hierher hat meine Kraft gereicht, jetzt verlässt sie mich, löst sich auf und zerfließt. Sanft streicheln seine Hände meinen Rücken.
„Jetzt wird alles gut. Wir haben einen guten Plan. Wenn alles klappt, dann sind wir alle in zwei Tagen auf dem Weg in den Süden und niemand vermisst oder verfolgt uns.“
„Wir? Du willst doch nicht sagen …“
„Natürlich. Wie kannst du annehmen, dass nur einer von uns ohne dich geht. Du gehörst zu uns – und vor allem gehörst du zu mir!“ Zärtlich hebt er meinen Kopf, sieht mir in die Augen und küsst mich.
„Ich gehöre zu dir und du gehörst zu mir. Das war immer so und wird immer so bleiben“, murmelt er an meine Lippen. „Wir sind Blutsbrüder, Geliebte und Gefährten.“
Blutsbrüder. Ich erinnere mich. Heimlich hinter der Scheune, mit meinem Schnitzmesser, ein Schnitt in die Flächen unserer linken Hände, ein dunkler Schwur über Treue bis in den Tod. Meine Mutter hat mir hinterher den Hintern versohlt, nicht weil wir uns geschnitten, sondern weil wir das alte Schnitzmesser genommen hatten.
„Ich liebe dich, meine kleine Sonne“, flüstere ich.
„Darum werden wir beide zusammen weggehen. Nur zwei Tage, dann gehört uns die Zukunft.“
Ich nicke, kann kaum glauben, was hier geschieht.
„Das soll ich dir von Janusch geben. Zehn Tropfen sollst du vor dem Zubettgehen Vasya geben. Mit Wein oder Wasser ist egal. Er schläft dann ziemlich schnell ein und bis zum Morgen durch.“ Elion gibt mir eine kleine Ampulle. „Dieser Vasya ist ein Dreckskerl und verdient es nicht anders. – Und dieser furchtbare, fette, verfressene Pontus auch!“
Ich nicke nur. Wenn sie alle tot sind, wage ich darüber nachzudenken, ob sie es verdient haben. Jetzt müssen sie erst einmal aus unserem Leben verschwinden.
„Sunniva hilft euch?“
„Sunniva, Arik, Ingvar, auch wenn er gehandicapt ist, Fylla, meine Mutter.“ Ein glückliches Lächeln huscht über sein Gesicht.
„Ich wusste es, du siehst ihr ähnlich.“
„Und du Sunniva.“
Wir halten uns einen Moment fest. Nie wieder möchte ich ihn loslassen, zu viel kann passieren, wenn wir uns wieder trennen.
„Zwei Tage, dann liegst du wieder in meinen Armen.“ Elion küsst mich noch einmal. „Dann wird uns niemand mehr trennen.“
Ich hoffe, er hat recht.
Vasya ist fast zu betrunken, um sich auf seinem Pferd zu halten. Besorgniserregend schwankt er von rechts nach links. Pontus, der hinter ihm reitet, lacht die ganze Zeit über das Bild, das Vasya bietet. Auch Vasyas Männer sind betrunken, sie reden laut miteinander, kichern wie kleine Kinder.
In unserem Zimmer angekommen, gebe ich Vasya eine Glas Wasser, in das ich die Tropfen gezählt habe. Gierig trinkt er aus.
„Du hast Glück gehabt“, sagt er undeutlich und rülpst lautstark. „Wenn es nicht unhöflich gewesen wäre, hättest du mir einen blasen können vor den schockierten Augen dieser arroganten Schlampe. – Was Frauen sich in eurem Land alles erlauben.“ Er schüttelt den Kopf und schließt die Augen. „Vielleicht hätte sie etwas lernen können.“ Wiehernd lacht er, doch seine Augen bleiben geschlossen.
Gern würde ich ihm jetzt die Kehle aufschlitzen und zugucken, wie das Blut zusammen mit dem Leben aus seinem Körper gepumpt wird.
Vasya dreht sich auf die Seite und schnarcht sofort. Januschs Tropfen sei Dank.
Angezogen lege ich mich neben ihn und drehe ihm den Rücken zu. Zwei Nächte, dann ist es vorbei. Ich kann es noch nicht glauben.
Zwei Tage können einem unendlich vorkommen. Heute Morgen schickte Pontus die erste Kutsche mit Kindern sowie das Vieh und die Kiste voller Taler zusammen mit den gestern eingetroffenen Soldaten zum König.
Dass die meisten Bauern der Gemarkung ihre Steuern zahlen konnten, scheint bei dem gefräßigen Steuereintreiber zu gespaltenen Gefühlen zu führen. Einerseits liebt er es, viele goldene Taler durch seine Hände rinnen zu lassen, andrerseits saßen nur vier Kinder in der Kutsche. Ich wünschte, ich könnte irgendetwas für sie tun.
„Das Gebiet hinter dem Valkeaberg ist karg, ich denke, dort werden viele Bauern Schwierigkeiten haben, die Abgaben zu leisten“, sagt Pontus, während er sich ein kleines Würstchen in den Mund schiebt. Möge er daran ersticken.
Vasya schweigt und stützt seinen Kopf auf die Hände. Januschs Tropfen scheinen zu einigen Nebenwirkungen zu führen.
„Was ist mit dir?“, fragt Pontus Vasya und schlägt ihm eine Hand weg. „Schläfst du nicht genug? Ich brauche aufmerksame Wachen.“
Vasya knurrt nur und funkelt ihn an.
„Vielleicht solltest du deinen kleinen Liebessklaven hierlassen, wenn er dich von der Arbeit ablenkt“, spottet Pontus und lacht laut über Vasyas Gesicht.
„Ich lasse mein Eigentum nicht zurück.“ Besitzergreifend legt er seine Hand in meinen Nacken. „Wenn ich es nicht mehr haben will, dann töte ich es.“
Was immer geschieht, dieser Mann stirbt heute noch, keinen Tag länger, keine Berührung mehr ertrage ich von ihm. Hass bekommt durch ihn eine nie gekannte Bedeutung. Niemals habe ich einem Menschen den Tod mit solcher Inbrunst gewünscht und noch nie wollte ich selbst derjenige sein, der ihm das Leben nimmt.
Gleich nach dem Frühstück brechen wir auf. Pontus, Vasya, seine Männer, eine leere Kutsche mit Kutscher und zwei Dienern. Gegen Mittag erreichen wir die ersten Ausläufer des Valkeabergs. Rau und zerklüftet streckt er sich in den Himmel. Im Vergleich zu dem Gebirge, in dem die Festung liegt, ist er klein. Ein wenig wirkt er, als hätten riesige Hände die Erde zusammengeschoben und dabei das Gestein aus ihrem Inneren wie Knochen herausgebrochen. Entweder umgeht man den bebenden Berg, wie manche Bauern ihn nennen, was viel Zeit kostet, man überquert ihn, was mit Pferden unmöglich ist, oder man nimmt die Schlucht, die wie ein tiefer Riss das Gebirge an seiner östlichen Seite durchschneidet.
Diese Route ist nicht ungefährlich und Reisende laufen Gefahr, bei einem Beben des Berges von herunterfallendem Geröll erschlagen zu werden. Im Laufe der Jahre wurden die Beben immer seltener und der Berg schwieg ganze Jahre hindurch.
Vor der Schlucht halten wir, Pontus lässt sich kalten Braten von einem Diener bringen. Mit dem, was dieser Mann an einem Tag isst, müssen Minensklaven eine ganze Woche auskommen, vielleicht auch zwei.
„Wie lange brauchen wir durch die Schlucht?“, fragt Vasya missmutig.
„Bis zum Abend müssten wir auf der anderen Seite sein“, antwortet Pontus kauend. „Keine Angst, der Berg hat schon lange keinen mehr getötet.“
„Ich habe keine Angst vor dem Berg, nur vor den Menschen, die in dieser Enge auf uns warten könnten.“ Was immer ich über Vasya sagen kann, dumm ist er nicht.
„Auf dem Rückweg könnte ich deine Bedenken verstehen, doch jetzt führen wir nichts Wertvolles mit uns, warum sollte uns jemand auflauern?“ Pontus wischt sich den fettigen Mund an seinem Ärmel ab. „Selbst die einfältigen Bauerntölpel sind nicht so dumm, sich den Zorn des Königs für nichts zuzuziehen. – Vor zwei Jahren haben Diebe einen Steuereintreiber getötet und sind mit den Abgaben geflohen. Drei Wochen später wurden sie und ihre Familien auf dem Marktplatz auf das Rad geflochten. Ihrem Anführer wurde bei lebendigem Leib die Haut abgezogen und er anschließend in ein Salzfass gesteckt. Die Rache des Königs ist grausam – und abschreckend.“
Entkommen können wir diesem Zorn nur, wenn es uns gelingt, dem Berg die Schuld zuzuschieben. Wenn der König oder seine Soldaten Verdacht schöpfen, erwartet uns ein ähnliches Schicksal.
Pontus reitet zusammen mit Vasya als Erster in die Schlucht. Ich folge den beiden. Hinter mir Vasyas Männer in Zweierreihen und zum Schluss die Kutsche mit den Dienern.
Laut pulsiert das Blut in meinen Ohren, in meinem Kopf rasen die Gedanken. Wenn sie nicht hier sind? Wenn sie hier sind, aber alles schiefgeht? Wenn Elion getötet wird? Mühsam versuche ich diese Vorstellung zu verdrängen.
Nach fast einer Stunde in der engen Passage lässt die Aufmerksamkeit der Männer nach. Das Ende ist näher als der Eingang und nichts ist passiert, nichts ist zu hören.
Der Angriff kommt scheinbar aus dem Nichts. Die Gesichter hinter Tüchern verborgen, fallen sie von hinten über die Ahnungslosen her. Ich treibe mein Pferd an, schließe zu Vasya auf, der gerade seine Waffe zieht. Ehe er schießen kann, reiße ich ihn aus dem Sattel, falle zusammen mit ihm auf den Boden, zwischen die stampfenden Pferdehufe.
Vasya verliert die Pistole, versucht an seinen Dolch zu kommen, doch ich halte seine Arme fest. Schweigend, mit zusammengebissenen Zähnen ringen wir. Fast gelingt es ihm die Klinge aus ihrer Scheide zu ziehen, da ramme ich ihm mein Knie in den Unterleib. Stöhnend verliert er für einen Moment die Kontrolle und ich fixiere seine Arme unter meinen Beinen. Wütend funkelt er mich an, versucht mich von seinem Körper zu katapultieren.
Die königlichen Soldaten durften keinen Verdacht schöpfen, daher darf ich ihm nicht die Kehle aufschneiden und seine schwarze Seele mit dem roten Blut herausrinnen lassen. Stattdessen lege ich meine Hände um seinen Hals. Noch nie tötete ich auf diese Weise einen Menschen. Er sieht mir in die Augen, kämpft gegen meinen Körper, meine Hände. Erst ist nur Wut in seinem Blick, dann die Erkenntnis, dass er sterben wird. Immer hektischer und unkontrollierter werden seine Bemühungen. Blanke Panik verzerrt sein Gesicht.
Was fühle ich? Nichts. Keine Genugtuung, keinen Ekel und kein Mitleid. Mein Geist scheint von außen interessiert zuzusehen, wie meine Hände Vasya den Tod bringen.
Die Zuckungen werden weniger und endlich liegt er still, die Augen aus den Höhlen gequollen, die Zunge hängt aus dem geöffneten Mund und er hat sich in seinem Todeskampf entleert.
„Tomaz.“ Eine Hand legt sich auf meine Schulter und erst jetzt bin ich in der Lage, den Griff zu lösen. Ich möchte weinen, laut schreien, hebe den Blick und sehe Elion. Die Tränen kommen und er zieht meinen Kopf an seinen Bauch, hält mich fest, bis ich aufhöre zu weinen.
„Komm“, sagt er leise und hilft mir auf die Beine. Um uns herum herrscht Schweigen, die Stille des Todes.
„Was ist mit den Pferden?“, fragt jemand.
„Wir … müssen sie töten. Einen Teil zumindest, die anderen könnten ihre Reiter abgeworfen haben und geflohen sein.“ Egills Stimme war fest. „Geht nach oben und bereitet die Steine vor, Njal, Jokull und ich kümmern uns darum.“
Elion zieht mich mit sich und ich folge wie betäubt. Vasya ist tot, alle sind tot. Ich – nein, wir sind frei. Wenn keiner Verdacht schöpft, dann können wir in aller Ruhe in den Süden ziehen, weit weg von König Eskil, von den Minen und den bitteren Erinnerungen.
Elion bleibt mit mir vor der Schlucht, während die anderen den Berg erklimmen. Inzwischen ist es Nachmittag, die Sonne hat den Zenit überschritten.
Ich sitze zwischen Elions Beinen, lehne meinen Kopf an seine Schulter und genieße das Gefühl, von ihm gehalten zu werden.
Ein Frosch quakt irgendwo und ein Raubvogel zieht einsam seine Kreise am Abendhimmel. Jedes Wort scheint in diesem Moment zu viel, ich will ihn nur spüren, das Heben und Senke seiner Brust bei jedem Atemzug in meinem Rücken fühlen, seine Hand halten, unsere Finger miteinander verflochten. Wir gehören zusammen und ich schwöre mir, dass mich nichts mehr von Elion trennt. Kein König und kein Schicksal.
Fast apathisch liegt Tomaz in meinen Armen, ich mache mir Sorgen. Was geht in seinem Kopf vor? Was hat Vasya mit ihm gemacht? Wie wird er damit fertig, dass er ihn erwürgt hat? In seinem Gesicht lag dabei so viel Hass …
„Ich liebe dich, Tomaz. Ich bin so froh, dich wieder in meinen Armen zu halten“, flüstere ich ihm leise ins Ohr. „Wir gehen zusammen von hier fort, in den Süden. Dorthin, wo es warm ist. Ich will mit dir das Meer sehen – und die Schmetterlinge.“
„Ich …“ Seine Stimme ist sehr rau und Tomaz räuspert sich. „Bist du dir sicher?“
„Worüber? Dass ich dich liebe? Ja, ganz sicher. Dass ich mit dir fortgehen will? Ja, auch darüber bin ich mir ganz sicher.“ Ich lege meine Hand auf seine Brust, dorthin, wo sein Herz schlägt.
„Bist du dir sicher, dass du mit mir zusammen sein willst, nachdem ich … also, ich meine …“ Er holt tief Luft. „Nachdem ich mit Vasya – zusammen war.“ Unter meiner Hand spüre ich seinen schnellen Herzschlag.
„Bist du mit ihm gegangen, weil du mit ihm zusammen sein wolltest? Weil du ihn begehrtest?“
Vehement schüttelt er den Kopf. „Nein! Es war die einzige Chance, dass sie dir – euch nichts tun.“
„Warum soll ich dann nicht mehr mit dir zusammen sein wollen? Ich … ich schäme mich, dass es notwendig war, dass du dich opfern musstest.“ Ich lege meine Wange gegen die seine.
„Dafür gibt es keinen Grund. Sie waren zu viele und zu gut ausgebildet. Wenn wir gekämpft hätten, hätten wir verloren – und der Gedanke, dass dir etwas geschieht, ist für mich unerträglich.“ Sanft schmiegt er sich an mich. „Alles, was ich will, bist du.“
„Dann lass uns Vasya vergessen und fortgehen.“ Auch wenn ich weiß, dass ihm das nicht leichtfallen wird. Der Mann hat ihn gedemütigt, in sein Bett gezwungen und seinen Körper in Besitz genommen. Dafür hasse ich ihn und bin froh, dass er tot ist. Ein wenig bedaure ich in diesem Moment, dass nicht ich ihn getötet habe.
„Ich liebe dich, Elion. Nur dich. Niemals fühlte ich für jemanden das, was ich für dich empfinde. Du bist meine Sonne, die mich wärmt, nur für mich strahlt und die ich nie in meinem Leben missen möchte.“ Er legt seine Hand auf meine, drückt sie gegen seine Brust. „Mein Herz schlägt nur für dich.“
Eine Zeit lang sitzen wir still beieinander, lassen unsere Gedanken wandern, ehe Tomaz wieder das Wort ergreift: „Ich habe schon vorher getötet. Im Kampf. Mann gegen Mann. Doch niemals wollte ich einen Menschen umbringen, wollte sehen, dass das Leben aus seinem Körper weicht. – Es macht mir Angst, doch ich wollte Vasya unbedingt töten, wollte ihn sterben sehen, durch meine Hand sterben sehen.“
„Das kann ich verstehen. Ich wollte ihn auch töten. Schon bei den Feuern, als er dich … das war unerträglich. „
„Ich hätte ihn auf jeden Fall getötet, auch wenn ihr nicht gekommen wärt. Ich wartete nur auf den richtigen Moment, wenn ich mir sicher gewesen wäre, dass ihr weit genug weg seid. – Ich konnte nicht ahnen, dass ihr verrückt genug seid, mir helfen zu wollen.“
„Du glaubst tatsächlich, ich könnte einfach fortgehen und dich vergessen? Irgendwo ohne dich leben und glücklich werden? – Du bist verrückt!“ Ich ziehe ihn ganz fest an meine Brust. „Ohne dich wäre ich verkümmert und langsam gestorben.“
Ein lautes Rumpeln aus der Schlucht lässt uns aufhorchen. Gestein rutscht den Berg hinab und trotz der großen Entfernung hören wir das Echo der zu Boden rasenden Brocken.
Nicht lange danach verlassen Egill, Njal und Jokull die Schlucht. Sie führen einige Pferde mit sich.
„Wenn wir gleich verschwinden, lassen wir sie laufen, vielleicht finden sie in ihren Stall und man sucht nach dem Steuereintreiber“, sagt Egill und setzt sich neben uns. „Verfluchtes Pack, diese Blutsauger des Königs. Jedes Jahr wollen sie mehr und mehr von den Bauern, zwingen sie und ihre Familien zu hungern, nur damit sich der König ein neues Schloss bauen oder mehr Soldaten leisten kann. Ob Eskil jemals an seine Untertanen denkt?“
„Wenn ja, dann stellt er sie sich bestimmt als Herde dicker, fetter Kühe vor, die er unendlich lange melken kann“, erwidert Jokull.
„Bestimmt denkt er noch, sein Volk sei glücklich, ihn und seine Brut durchfüttern zu dürfen. Die Menschen seien stolz, in seinen Schlachten zu sterben. Menschen wie er machen sich niemals Gedanken über andere, die in ihren Augen wie Ameisen durch die Welt laufen. Er muss sich um viel wichtigere Dinge kümmern. Steuern erhöhen. Kriege führen. Menschen ausspionieren und auf das Schafott bringen lassen.“ Jokull spuckt aus.
Wenig später stoßen auch die anderen zu uns und wir erheben uns. Tomaz sieht noch immer blass und erschöpft aus. Erstaunt geht er auf seinen Bruder zu, der neben Katla steht.
Einen Moment sehen sie sich schweigend in die Augen, dann tritt Arik vor und zieht seinen Bruder in eine Umarmung.
„Ich hätte den Bastard töten können für das, was er dir antat. Verzeih mir, dass ich dir nicht helfen konnte“, flüstert Arik kaum hörbar.
„Es hätte uns alle ins Unglück gestürzt“, erwidert Tomaz. „Danke, dass du hier bist.“
„Lass uns zum Anwesen reiten. Mutter erwartet uns.“
Auf einmal befällt mich die Angst, dass Tomaz gar nicht mehr gehen will, wenn er hier auf dem Gut seiner Eltern bleiben kann. Er ist der erstgeborene Sohn, der Erbe dieses riesigen Anwesens. Hier sind die Menschen, die ihm verbunden sind, seine Mutter, sein Vater und sein Bruder. Warum sollte er mit uns gehen?
Auf dem Weg spricht er mit Arik, der ihm alles Mögliche erzählt, von dem Land, den Menschen und seiner Familie. Ein reiches Land und eine glückliche Familie. Hierher gehört Tomaz und ich könnte es ihm nicht einmal übernehmen, wenn er hierbleiben wollte. Was können wir – was kann ich ihm stattdessen bieten? Eine ungewisse Zukunft auf der Flucht. Keiner weiß, ob wir den Süden erreichen und was uns dort erwartet.
„Alles in Ordnung?“, fragt er mich plötzlich. Ich habe nicht bemerkt, dass er sich zurückfallen ließ und nun neben mir reitet.
„Warum?“, rette ich mich in eine Gegenfrage.
„Du siehst so nachdenklich aus“, entgegnet er und streift mit seiner Hand meinen Oberschenkel.
„Ich habe nur darüber nachgedacht, wie es weitergeht.“ Damit habe ich nicht einmal gelogen.
„Wir gehen in den Süden und sehen das Meer“, sagt er mit einem kleinen Lächeln.
Ich erwidere es und versuche meine Befürchtungen zu verdrängen.
Sunniva erwartet uns geduldig. Die Augen mit der Hand abgeschirmt sieht sie uns entgegen. Kaum reiten wir auf den Hof, kommt sie die Treppen herunter.
„Tomaz!“ Sie schließt ihn in ihre Arme und ich kann ihre Freude sehen. Aus dem Haus tritt Fylla, meine Mutter. Auch wenn ich mich inzwischen an sie erinnern kann, steht für mich außer Frage, dass ich weggehe. Hier ist nicht mein Zuhause – und ich kann nicht vergessen, dass sie mich in die Minen gehen ließ, selbst wenn ich die Beweggründe verstehe und ihr nicht böse bin.
Alle steigen ab und Sunniva lässt sich von Arik erzählen, was geschehen ist, dabei liegt ihr Arm um Tomaz’ Hüfte.
„Jetzt werde ihr alle mit uns essen, ehe die Soldaten sich auf die Suche nach ihrem verfluchten Steuereintreiber machen.“ Sunniva zieht Tomaz mit sich hinter das Haus, wo reich gedeckte Tische stehen. In meinem Magen liegt ein Felsbrocken und ich habe keinen Hunger. Die Furcht, Tomaz zu verlieren, nagt an mir, ebenso wie die grausige Tat. Ich habe noch nie getötet und heute sind viele gestorben. Warum war dies nötig? Warum kann der König sein Volk nicht in Frieden leben lassen?
Um dem Trubel zu entfliehen, gehe ich ein paar Schritte, folge dem Weg, der mich zu dem kleinen See führt. An ihn erinnere ich mich gut. Wir haben hier gebadet, auch wenn unsere Mütter dies nicht wollten, weil es zu gefährlich sei. Wir haben auf dem Steg gesessen und den Fröschen gelauscht, manchmal haben wir welche gefangen, doch diese am Abend wieder in die Freiheit entlassen.
Wir haben uns im hohen Ufergras vor Arik versteckt und unsere Münder zugehalten, damit er unser Kichern nicht hört. Er war immer so herrlich wütend, wenn wir ihn nicht mitnehmen wollten.
Der Wind kräuselt die Oberfläche des Sees, ab und zu verursacht ein Fisch, der nach Fliegen schnappt, Ringe auf dem Wasser, die sich langsam ausbreiten. Noch ist Frühling und der Wind kühl, die Natur wacht gerade auf. Zarte Knospen, frisches Grün deuten auf den Neubeginn hin. Vor ein paar Wochen wusste ich nichts davon, dank Katla, Egill und Tomaz kenne ich nun die Jahreszeiten, den Kreis des Lebens. Und doch gibt es viele Dinge, die ich noch nicht kenne, von denen ich keine Ahnung habe.
Ich weiß nicht, wie ich überleben soll, wenn Tomaz mich verlässt. Dieser Gedanke zieht mir den Magen zusammen. Vielleicht habe ich dann nie wieder Hunger und sterbe einfach.
„Was machst du hier?“
Erschrocken fahre ich herum. Tomaz steh nur einen Schritt hinter mir und sieht mich fragend an.
„Nachdenken.“
„Das scheinen schwere Gedanken zu sein. Deine Stirn liegt in Falten und deine Schultern beugen sich unter ihrem Gewicht.“ Er tritt neben mich und legt den Arm um meine Schulter. „Was bedrückt dich?“
Den Kloß in meinem Hals herunterwürgend suche ich nach Worten. Wie soll ich meine Bedenken in Worte fassen?
Sanft dreht er mich um, sodass ich ihm in die Augen sehe. „Denkst du etwa, ich würde hierbleiben und dich verlassen?“
Statt einer Antwort senke ich den Blick. Tomaz legt seine Hand unter mein Kinn und hebt meinen Kopf.
„Das hier ist nicht mehr mein Zuhause. Es ist schön, meine Familie zu sehen, zu wissen, wo ich herkomme, doch ich gehöre zu dir, meine kleine Sonne.“ Sanft küsst er mich.
Ich schlinge meine Arme um ihn. „Aber du bist der Erstgeborene, dies ist dein Land.“
„Nein, das ist Ariks Land. Er ist hier aufgewachsen und kümmert sich um das Gut.“ Tomaz schüttelt seinen Kopf. „Und ich habe keine Beziehung zu dem Anwesen und keine Ahnung, wie man es bewirtschaftet – und ehrlich, es interessiert mich auch nicht.“
Sachte, als sei ich zerbrechlich, zieht er mich näher, bis meine Stirn seine berührt.
„Die meisten Erinnerungen an dieses Stück Land verbinde ich mit dir, mit dem Sommer, als du mit deiner Mutter jeden Tag hierherkamst. Weißt du noch, wie wir versucht haben, die kleinen Kätzchen vor meinem Vater zu beschützen? Er wollte sie ertränken, weil wir schon so viele Katzen auf dem Hof hatten.“
„Die Katze hatte in der Scheune geworfen, oben auf dem Boden. Wir sind hochgeklettert und haben die Leiter zu uns gezogen. Zwei Decken, Kekse und eine Flasche Wasser waren alles, was wir mitgenommen hatten.“ Gut konnte ich mich erinnern, wie Ingvar unten stand und mit uns schimpfte. Hinter ihm stand Sunniva mit einem halb verborgenen Lächeln im Gesicht.
„Nach zwei Tagen dort oben durften wir sie behalten.“ Tomaz lacht leise. Ich liebe dieses Geräusch. „Dank meiner Mutter. Ich glaube, mein Vater hätte uns dort oben ausgehungert.“
„Und du bist dir sicher, dass du gehen willst? Was ist mit deiner Mutter? Sie liebt dich.“
„Ja, und ich liebe sie, doch du bist meine Zukunft und darum werden wir heute mit den anderen von hier fortgehen. – Und nun komm, ich will noch etwas von der Pastete abbekommen.“ Tomaz nimmt meine Hand und zieht mich mit sich. Bereitwillig folge ich ihm. Mit ihm würde ich überall hingehen.
Die Dämmerung verwischt die Schatten, als wir endlich bei den Wagen ankommen. Irgendwie sieht das Lager gespenstisch aus. Ich möchte endlich allein sein mit Tomaz, wünsche mir neben ihm zu liegen und ihn in meinen Armen zu halten.
Sunniva ist der Abschied sichtlich schwergefallen, doch sie hat nicht versucht, ihren Ältesten aufzuhalten. Auch Tomaz kämpfte gegen die Tränen, als er seine Mutter ein letztes Mal in den Arm nahm. Wahrscheinlich werden sie sich nie wiedersehen. Doch diesmal weiß Sunniva, dass es ihrem Sohn gut geht und er hat versprochen, sie zu benachrichtigen, wenn wir einen Ort gefunden haben, an dem wir bleiben wollen.
Mein Abschied von Fylla hinterlässt gemischte Gefühle in mir. Ganz kann ich nicht verzeihen, dass sie mich damals einfach dem Steuereintreiber überließ, trotzdem bin ich traurig, dass ich sie nicht wiedersehe, nicht mehr mit ihr reden werde. Aber sie gehört der Vergangenheit an, einer lang zurückliegenden Zeit, an die ich nur noch bruchstückhafte Erinnerungen habe. Genau wie Tomaz verbinde ich die meisten mit unserem gemeinsamen Sommer.
Egill entzündet ein Lagerfeuer und teilt die Wachen ein, dann endlich können wir in unserem Wagen verschwinden. Nach endlosen einsamen Nächten wird endlich Tomaz wieder neben mir schlafen.
Befangen stehen wir uns gegenüber. Darf ich ihn berühren? Quälen ihn Erinnerungen an Vasya?
Zögernd hebt er seine Hand und streicht durch mein Gesicht. „Deine Haare sind länger geworden“, sagt er leise und streichelt darüber. „Ich habe dich vermisst, mich jede Nacht nach dir gesehnt und hatte doch keine Hoffnung, dich wiederzusehen. Jetzt stehst du vor mir und ich frage mich, ob ich vielleicht träume.“
Ich nehme seine Hand und küsse seine Finger. „Das ist kein Traum. Küss mich und überzeuge dich.“
Tomaz zieht mich an sich und unsere Lippen begegnen sich. Mit einem Mal ist alle Befangenheit verschwunden, ich lege meine Arme um seinen Hals und er umarmt mich. Ich will ihn, will ihn die Nächte mit Vasya vergessen lassen, sie aus seinem Kopf streichen und durch unsere Nächte ersetzen. Auffordernd stupse ich mit meiner Zunge an seine Lippen und er lässt mich ein. Zärtlich erobere ich seinen Mund, koste seinen Geschmack. Lange vermisst und herbeigesehnt. Immer mehr dränge ich mich gegen ihn, mein Blut pulsiert rasend durch meinen Körper.
Tomaz legt seine Hände unter meinen Hintern, hebt mich hoch und ich schlinge meine Beine um seine Hüften. Immer fordernder werden unsere Küsse. Er trägt mich zwei Schritte und lässt mich auf das Bett fallen. Fahrig zieht er sich aus und ich bewundere den Anblick im flackernden Schein der Öllampe. Er ist wunderschön. Sehnsüchtig strecke ich meine Hand nach ihm aus.
„Erst ausziehen“, fordert er rau und ich folge gehorsam, streife unter seinem brennenden Blick meine Kleider ab. Langsam kommt er auf mich zu, krabbelt auf das Bett, schiebt mich dabei zurück, bis ich unter ihm liege. Lange sehen wir uns nur an, jeden Zentimeter seines Gesichts sauge ich in mich auf, will niemals vergessen, wie er in dieser Nacht aussieht, seine geschwungenen Augenbrauen, sein wundervoll, verlockender Mund. Endlich beugt er sich zu mir herab und küsst mich. Jeder klare Gedanke verlässt mich und ich bin nur noch Liebe, Verlangen, Lust.
Mit kreisenden Hüften reibt Tomaz sich an mir und ich stöhne in seinen Mund. Ich will ihn, will ihn mehr als alles andere in dieser Welt.
„Nimm mich“, keuche ich.
Für einen Moment unterbricht er seine Bewegungen und sieht mich an. „Bist du dir sicher?“
„Ja“, hauche ich und ziehe ihn wieder zu mir. Ich liebe ihn so sehr, dass es fast wehtut. Es ist ein süßer Schmerz, der in meinem Herzen wohnt und mir sagt, dass ich lebe, dass ich da bin, wo ich hingehöre.
Tomaz zieht mit seiner Zunge eine feuchte Spur über meinen Hals, meine Brust, umkreist meine Brustwarzen, knabbert an ihnen. Ich verbrenne, schmelze unter seinen Liebkosungen. Sein Mund, seine Hände erkunden mich, nehmen mich erneut in Besitz. Meine Bauchdecke hebt und senkt sich unter seinen Küssen hektisch, meine Nerven sirren, mein ganzer Körper summt. Fordernd spreize ich meine Beine, doch er ignoriert mich, malt mit seiner Zungenspitze unsichtbare Ornamente auf die Innenseiten meiner Oberschenkel, entlockt mir unbekannte Töne. Jede Berührung lässt mich nach mehr verlangen. Auf die empfindliche Haut meiner Leisten setzt er kleine saugende Küsse, ehe er endlich über die gesamte Länge meines Glieds leckt. Ich stöhne laut, kann mich nicht beherrschen. Seine Lippen legen sich um meine Eichel, seine Zunge umkreist sie, reizt das kleine Bändchen und stupst in den winzigen Spalt. Ich will mehr, doch er verlässt mich. Unwillige brumme ich, öffne die Augen und sehe ihn eine kleine Ampulle von der Fensterbank nehmen.
Kaum zurück, nimmt er mich ganz in seinen Mund auf. Heiß und feucht umschließt er mich und mein Becken wölbt sich ihm entgegen. Ich spüre seine Hand, die meine Hoden massiert, tiefer gleitet und schließlich den Muskelring findet, den er erobern will – soll – muss. Ich brauche ihn heute Nacht, muss ihn spüren, eins mit ihm werden.
Langsam dringt er in mich ein, bewegt seinen Finger und stößt ihn sanft in mich, während sein Mund mich weiterhin verwöhnt.
Ich entspanne mich, lasse mich fallen, gebe mich ihm hin und werde mit einer neuen Art Lust belohnt. Sacht komme ich ihm entgegen, will die Reibung in mir. Tomaz berührt jene wunderbare Stelle in mir, jagt pure Erregung durch meinen Körper. Ich stammele sinnlose Worte, doch er versteht mich, weiß, wonach es mich verlangt.
Jedes Zeitgefühl entgleitet mir, die ganze Welt verschwindet, reduziert sich auf Tomaz und mich. Alles andere verliert seine Bedeutung. Ich schwebe, getragen von meinen Gefühlen. Behutsam bereitet Tomaz mich vor, quält mich süß mit meinem Verlangen.
Endlich kniet er zwischen meinen Beinen, sucht meinen Blick, meine Erlaubnis, ehe er sich mir vorsichtig nähert.
Seine Härte ist größer, kompakter als seine Finger und die Berührung ängstigt mich ein wenig. Kann ich ihn aufnehmen? Wird er mir wehtun?
Beruhigend legt er seine Hand auf meinen Bauch, beugt sich vor und küsst mich, verdrängt die Bedenken. Langsam schiebt er sich in mich, gibt mir Zeit, mich zu gewöhnen und beruhigt mich mit seinen streichelnden Händen.
Endlich ist er ganz in mir, ungewohnt, irgendwo zwischen unangenehm und schön.
Tomaz legt seine Unterarme neben meinen Kopf, sieht mir tief in die Augen und küsst mich, bevor er beginnt sich zu bewegen. Kleine reibende Stöße, denen ich mein Becken entgegenwölbe. Mit jedem entzündet er kleine Feuer, deren Hitze sich über meinem Körper ausbreitet, die alles andere verbrennen und nur pures Verlangen übrig lassen. Ich stöhne und dies ist das Zeichen für Tomaz, sich mehr zu bewegen, seine Stöße werden härter, treiben ihn tiefer in meine Inneres und ich komme ihm ungeduldig entgegen.
Mein Mund sucht seinen, auch wenn ich nur zu kurzen Lippenberührungen in der Lage bin. Ich brauche Kontakt, will ihn überall fühlen, klammere mich an ihn. Mein hartes, empfindliches Glied ist zwischen unseren Körpern gefangen, reibt sich mit jedem Stoß an seinem Körper. Wie sehr kann man einen Menschen begehren? Wie viel Hitze ertragen, ehe man in Flammen aufgeht? Ich verglühe, bin voller summender Energie, die sich auf meinen Unterleib konzentriert. Ich brauche Erlösung und will sie nie bekommen, will gefangen bleiben in dieser Hitze, unter Tomaz, verbunden mit ihm. Eins für die Ewigkeit.
Tomaz will sich ein Stück von mir lösen, um seine Hand zwischen uns zu schieben, doch ich halte ihn fest. Ich brauche keine weitere Berührung, ich will, dass es so bleibt.
Seine Bewegungen werden schneller, sein Atem abgehackter. Er stöhnt meinen Namen und alles in mir ballt sich zusammen, wartet auf die Erlösung. Als er sich mit einem harten Stoß in mich treibt und seine Lust ihn mitreißt, explodiert das Feuer in mir, schleudert mich aus der Welt. Nur gehalten durch Tomaz schwebe ich auf den Wellen meines Orgasmus in einem Meer aus reinstem Glück. Niemals war etwas schöner als dieser Moment, nie war ich freier und niemals so sicher, dass ich meinen Platz im Leben gefunden habe.
Nur langsam kehrt die Welt zurück, wird wieder zu dem Wagen, in dem wir verschwitzt auf unserm Bett liegen. Tomaz gleitet aus mir heraus und sofort vermisse ich ihn, seine absolute Nähe. Er rollt sich neben mich, zieht mich in seinen Arm und küsst meine Schläfe.
„Ich liebe dich, Elion“, flüstert er.
„Und ich liebe dich“, erwidere ich leise.
Still liegen wir nebeneinander, genießen das Gefühl zusammen zu sein, bis wir in den Schlaf gleiten. Wenn es eine Ewigkeit gibt, dann will ich sie an Tomaz’ Seite verbringen.
Vogelgezwitscher weckt mich. Das blasse Licht des Morgens erhellt den Wohnwagen. Elions Kopf liegt auf meiner Brust, sein Bein hat er um meinen Oberschenkel geschlungen.
Die Bilder des vergangenen Tages tauchen in meinem noch verschlafenen Bewusstsein auf. Die Schlucht, der Überfall, Vasyas Gesicht im Todeskampf. Niemals zuvor habe ich so viel Hass gespürt. Mich schaudert vor meinem zügellosen Zorn, der Wut, die mich dazu gebracht hatte, den Mann mit bloßen Händen zu töten.
Elion brummt leise, legt seinen Arm um meine Brust und presst sich an mich. Sacht, um ihn nicht zu wecken, streichele ich seine Schulter. Womit verdiene ich ihn? Doch verdient man Liebe, oder bekommt man sie geschenkt? Elion ist ein Geschenk. Ich muss gut auf ihn aufpassen, muss ihn hüten und beschützen.
Das wird nicht einfach auf unserer Reise durch das Land. Die Soldaten des Königs sind überall und fahrendes Volk ist unbeliebt. Auch wenn wir keine Zigeuner sind und man uns vielleicht nicht der Hexerei beschuldigen wird.
Warum ist dieser König ein gnadenloser Despot? Er ist jung, nicht viel älter als ich. Die Krone setzte man ihm schon mit vierzehn Jahren mitsamt der Verantwortung für das Land auf das Haupt. Als ich in die Minen gebracht wurde, war noch Eskils Vater Talis König. War dieser schon ein harter Herr seines Landes, scheint es, als ob sein Sohn ihn übertreffen will. Vielen kleinen Bauern geht es schlecht, die Steuerabgabe, die jährlich steigt, lässt ihnen kaum genug zum Leben. Auch den Dörfern geht es nicht besser. Sie müssen eine Gesamtabgabe leisten, die sich nach den Einwohnern, nicht nach deren Einkommen richtet. Je höher Eskil die Steuern treibt, desto weniger bleibt den Leuten zum Ausgeben und führt letztlich dazu, dass sie auch weniger verdienen. Ein Kreislauf, der nur in die Katastrophe für die Menschen führen kann – oder in einen Aufstand gegen den Herrscher.
Auf unserem Weg in den Süden werden wir dicht an der Hauptstadt Fokkodorai vorbeikommen. Die Gerüchte sagen, der König lebe sehr zurückgezogen, nur seine engsten Vertrauten, sein Lordkanzler und ausgewählte Diener bekommen ihn zu Gesicht. Seine Angst vor Anschlägen ist zu groß, sich dem Volk zu zeigen.
Vielleicht hat er recht damit. Der Unwille der Bürger steigt mit jedem Tag.
Elions Atmung verändert sich, zeigt mir, dass er erwacht. Er streckt seinen Rücken, umfasst mich dabei fester und schlingt sein Bein weiter um meins.
„Guten Morgen“, murmelt er an meiner Brust und ich streichele seinen Nacken, ehe ich antworte: „Guten Morgen, Sonnenschein.“
Elion hebt den Kopf und sieht mich an. Das Grün seiner Augen ist noch verdunkelt vom Schlaf. Sein Lächeln löst Kribbeln in meinem Magen aus. Wie sehr habe ich ihn vermisst.
Wir kommen nur langsam vorwärts, da wir uns von den Ansiedlungen fernhalten und die großen Straßen meiden. Mehrfach haben wir Soldaten gesehen, die durch das Land ziehen. In den Dörfern, in denen wir das Nötigste erwarben, herrschen Furcht und Unzufriedenheit. Fremde wie wir werden misstrauisch betrachtet.
Je weiter wir uns der Hauptstadt und König Eskil nähern, desto besser geht es den Bewohnern. Nach zehn Tagen erreichen wir ein Waldgebiet in der Nähe des Schlosses. Beeindruckend streckt es seine Türme in den blauen Himmel.
Ein gutes Gefühl habe ich nicht dabei, dem Ungeheuer von König nahe zu kommen, doch ein anderer Weg ist mit den Wagen nicht möglich. Über den Grenzfluss im Osten müssten wir die königliche Fähre nutzen und im Westen führt der Weg durch ein Gebirge.
Elion steht neben mir, sichtlich beeindruckt von dem Schloss, von dem wir nur die Wehrtürme sehen. Die letzten zehn Tage waren die schönsten in meinem Leben. Und natürlich die dazugehörigen Nächte. Auch wenn wir uns noch auf dem Gebiet Eskils befinden, fühlen wir uns frei. Jeden Moment miteinander genießen wir und die Zeit neben Vasya erscheint mir wie ein schlechter Traum, der langsam verblasst. Elion heilt meine Wunden, ist Balsam für meine Seele. Nur noch wenige Wochen und wir sind am Meer und endgültig befreit von den Schergen des Königs.
„Ich würde es gern einmal von Nahem sehen“, sagt Elion versonnen.
„Ich weiß nicht, es ist die Behausung eines Ungeheuers und wir sollten uns ihm nicht freiwillig nähern.“ In der Hauptstadt wird es von Soldaten wimmeln.
„Ich gehe in die Stadt Vorräte kaufen, Elion, Elida und Sjur können mich begleiten“, sagt Katla plötzlich neben mir.
Der Gedanke gefällt mir nicht, wenn ich jedoch Elions begeistertes Gesicht sehe, kann ich nicht widersprechen.
„Passt auf. Verhaltet euch unauffällig und bleibt nicht zu lange“, sage ich nur. Katla verdreht ihre Augen.
„Ja, Papa“, sagt sie lachend und ich knuffe sie in die Seite. „Du kannst uns ja begleiten und aufpassen.“
„Würde ich, doch die Wagen müssen überprüft und zum Teil repariert werden.“ Dass ich keine Lust habe, mich dem König nur einen Schritt weiter zu nähern, als ich muss, verschweige ich.
„Gut, dann arbeite du schön und wir sehen uns in der Stadt um. Sagt, wenn ihr noch etwas braucht, das wir mitbringen sollen.“
„Kommt einfach nur heil wieder“, erwidere ich und versuche das schlechte Gefühl in meinem Magen zu ignorieren.
Das Leben in den Wohnwagen gefällt mir. Wir sind nicht an einen Ort gebunden, können bleiben, wo wir wollen, und die Gemeinschaft, in der wir reisen, besteht aus Freunden. Zusammen mit Egill, Jokull, Njal und Mogens kontrolliere ich die Wagen. Es ist einiges zu tun. In der Zeit räumen die anderen die Wagen auf, sortieren aus, was wir nicht brauchen, waschen Wäsche und überprüfen die Vorräte. Die Kinder springen derweil um uns rum.
Für einen Augenblick denke ich an jene, die in der Festung geblieben sind. Wie mag es ihnen gehen? Haben sie eine Chance zu überleben? Schnell schüttele ich den Gedanken ab. Ich hoffe das Beste für meine Freunde.
Bei der Arbeit vergeht der Tag schnell und bald steht die Mittagssonne über uns. Deutlich merkt man, dass wir weiter im Süden sind. Der Frühling hat hier die ersten Blumen aus dem Boden getrieben und die Bäume ziert frisches Grün.
Zum Essen sitzen wir zusammen, als Elida völlig aufgelöst angelaufen kommt. Schwer atmend, die Hände auf die Oberschenkel gestützt, bleibt sie vor uns stehen. Mir wird schlecht, ich weiß, dass etwas Furchtbares geschehen ist – Elion geschehen ist.
„Was ist passiert?“, fragt Hekla besorgt.
„Elion und Sjur …“, beginnt sie keuchend, „sie wurden entführt.“
Mein Herz setzt einen Schlag aus, ehe es losrast. „Was ist geschehen?“, schreie ich Elida an und springe auf.
„Wir waren auf dem Markt. Katla kaufte Kartoffeln. Ich stand bei den Tonwaren. Elion und Sjur betrachteten etwas weiter entfernt den Schmied bei seiner Arbeit. Dann kam eine Kutsche, hielt neben den beiden. Männer sprangen heraus, packten sie und zogen sie einfach hinein. Bevor ich verstand, was geschah, waren sie schon wieder weg.“ Tränen laufen dem Mädchen über das Gesicht. „Katla hat mich hergeschickt, sie folgt der Kutsche.“
In meinem Kopf dreht sich alles. Elion entführt, verschleppt.
„Wie sah die Kutsche aus?“, fragt Egill.
„Schwarz, völlig schwarz, ebenso die Pferde und die Männer.“ Elida schluchzt. „Es ging so schnell.“
Unnur tritt neben sie und legt den Arm um sie. „Ruhig, dich trifft keine Schuld.“
„Kein Wappen? Kein Emblem?“, fragt Egill nach. Elida schüttelt den Kopf.
„Wie die Kutsche des Teufels“, flüstert sie.
Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Nicht dass ich an einen Teufel glaube, halte ich unseren König für einen. Doch wenn es seine Leute waren, warum fuhr die Kutsche dann ohne Wappen? Warum waren es keine Soldaten, die die beiden entführten?
„Wir müssen auf Katla warten“, entschied Egill und auch wenn ich lieber sofort losstürmen würde, Elion zu suchen, weiß ich, dass er recht hat.
Die Zeit tröpfelt und ich habe das Gefühl, verrückt zu werden. Unruhig laufe ich durch die Gegend, hoffe jeden Moment, dass Katla mit Nachrichten zu uns kommt. Meine Fantasie zeigt mir die schlimmsten Bilder. Elion gefoltert, verstümmelt, missbraucht, tot. Das Warten scheint mir unerträglich, die Ungewissheit quält mich und die Untätigkeit treibt mich in den Wahnsinn.
Alle sitzen mit hängenden Köpfen um das Lagerfeuer, sogar die Kinder sind still. Auch sie merken, dass etwas geschehen ist. Wo bleibt Katla? Haben sie sie bemerkt und ebenfalls gefangen genommen? Wie sollen wir sie dann finden?
Als die Sonne sich dem Horizont nähert, bin ich so weit, dass ich nicht länger warten will – kann. Doch bevor ich meinen Entschluss, in die Stadt zu gehen, umsetzen kann, kommt Katla endlich ins Lager. Ihr Blick ist ernst und mein Magen krampft sich zusammen. Alle sehen sie erwartungsvoll an.
„Ich bin der Kutsche quer durch die Stadt gefolgt. Zu Fuß gar nicht so einfach. Dabei sah ich, dass sie unterwegs noch einen jungen Mann entführt haben. Die Menschen in unmittelbarer Umgebung reagierten gar nicht. Sie sahen weg, als gäbe es weder die Kutsche noch den jungen Mann.“ Schwer lässt sie sich vor das Feuer fallen. „Überhaupt schien kein Bewohner auf die schwarze Kutsche zu achten. Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen wir bei dem Schloss an, jedoch nicht am großen Tor, sondern an einem versteckten Seiteneingang. Dieser wurde geöffnet und vier Jungs mit Säcken über dem Kopf direkt von der Kutsche in das Schloss gebracht. Es waren zu viele Männer, die sie bewachten, darum konnte ich nicht eingreifen.“
„Du meinst, es waren Männer des Königs?“, frage ich nach.
„Ich weiß es nicht, auf jeden Fall brachten sie die Gefangenen ins Schloss. – Ich habe versucht, etwas über die schwarze Kutsche in Erfahrung zu bringen, doch keiner will über sie reden. Nur eine alte, betrunkene Frau sagte, dass sie die Teufel des Königs sein und dass sie öfter Menschen fingen, von denen man nie wieder etwas hörte.“
Am liebsten würde ich mich übergeben, doch mein Magen ist leer. Warum entführt man junge Männer? Ich möchte die Antwort nicht wissen.
„Ich werde Elion und Sjur nicht diesen Männern überlassen“, sage ich.
„Das wollen wir alle nicht, doch wir müssen uns gut überlegen, was wir tun“, sagt Egill beruhigend. „Wenn wir überstürzt handeln, sitzen wir morgen alle im Gefängnis.“
Ich möchte widersprechen, sofort losstürmen, doch ich weiß, er hat recht. Wie soll ich auch nur eine Sekunde in der Ungewissheit aushalten, ohne verrückt zu werden? Nur der Gedanke, dass ich für Elion einen klaren Kopf brauche, verhindert, dass ich durchdrehe.
„Du gehst nicht mit!“ Egills Stimme macht deutlich, dass er keinen Widerspruch duldet. Er und Katla wollen sich an diesem Morgen in der Nähe des Schlosses umsehen und vielleicht eine Möglichkeit finden, Elion und Sjur zu befreien.
„Ich muss mit!“, widerspreche ich trotzdem.
„Nein! Du bist zu ungeduldig. – Ich kann das verstehen, doch damit könntest du alles gefährden.“ Er legt mir die Hand auf die Schulter. „Wir unternehmen nichts ohne dich, aber Katla und ich gehen allein. Wenn wir etwas herausfinden, dann kommen wir wieder.“
Die Aussicht, hier einen weiteren Tag untätig herumzusitzen, während Elion wer weiß wo eingesperrt ist, lässt meinen Magen verkrampfen.
„Kümmert euch um die Wagen, macht alles bereit, dass wir von hier verschwinden können.“ Ernst sieht Egill mir in die Augen. „Wir finden die Jungen – und wir holen sie zusammen dort raus. Vertrau mir und hab Geduld.“
Geduld ist genau das, was ich überhaupt nicht habe, doch ich nicke. Was bleibt mir auch übrig? Innerlich vergehe ich vor Sorge um meine kleine Sonne. Wenn ihm etwas geschieht, würde ich das nicht überstehen.
Um uns herum ist es dunkel. Ich höre nur das Keuchen und Schniefen anderer hier in der Kutsche. Ich begreife nicht, was geschehen ist. Sjur und ich standen vor der Schmiede und sahen dem beeindruckend kräftigen Mann bei seiner Arbeit zu, als plötzlich die Kutsche hinter uns hielt. Im selben Moment, in dem ich mich umdrehte, packten mich schon zwei Männer und zerrten mich in ihr Inneres, genau wie Sjur. Ehe wir auch nur ein Wort sagen konnten, saßen wir hier in der völligen Lichtlosigkeit und rumpelnd setzte sich das Gefährt in Gang.
Nach einiger Zeit, ich kann nicht sagen, ob es nur wenige Augenblicke oder Stunden waren, hielten wir wieder und ein weiterer Mensch wurde zu uns hineingestoßen. Seitdem fahren wir. Hat Katla gesehen, dass wir entführt wurden? Doch selbst wenn, was kann sie tun?
Plötzlich bleiben wir stehen, die Tür wird geöffnet, jemand zieht mich grob aus dem Verschlag, stülpt mir einen Sack über den Kopf und bindet meine Hände. Wortlos schubst er mich aus der Kutsche. Ich wäre gefallen, würden mich nicht starke Arme auffangen und auf die Füße stellen. Der Sack riecht muffig und lässt nur wenig Licht durch. Wo sind wir?
Noch ehe ich mir Gedanken darüber machen kann, erhalte ich einen Stoß in den Rücken und laufe los. Es verunsichert mich, nicht sehen zu können, wohin ich laufe. Doch darauf nehmen unsere Entführer keine Rücksicht.
Endlich stoppen wir, quietschend öffnet sich eine Tür vor uns und mit weiteren Stößen in den Rücken werde ich wieder vorwärtsgetrieben.
„Vorsicht, Stufen“, brummt jemand neben mir und ich kann mich gerade noch abfangen, als es abwärts geht. Eine Wendeltreppe führt uns nach unten. Es ist kalt und dunkel. Durch den Stoff des Sackes kann ich kein Licht mehr erkennen. Irgendwann sind wir am Ende der Stufen angekommen. Eine Hand greift meinen Oberarm und zieht mich mit. Wieder quietscht eine Tür und ich werden nach vorn geschubst. Unsanft werden die Fesseln von meinen Händen gelöst und der Sack von meinem Kopf gerissen. Ohne ein Wort verlässt der in Schwarz gekleidete Mann den Raum. Doch es ist kein Raum, es ist eine Zelle. Steinerne Wände, Stroh in einer Ecke und durch ein winziges Fenster unerreichbar weit oben fällt ein Streifen Licht hinein.
Meine Handgelenke reibend sehe ich mich um. Wo bin ich? Warum bin ich hier? Was wollen die Männer von uns?
Darauf kann ich in dieser Kerkerzelle keine Antwort finden und setze mich auf den Boden, lehne den Rücken an die kalten Steine.
Was wird Tomaz denken? Er wird sich Sorgen machen. Wird er nach mir suchen? Sicher, doch wie soll er mich hier finden? Und selbst wenn, wie soll er mich hier herausholen?
Die Mauern sind dick und lassen kein Geräusch in meine Zelle dringen. Ich kann nicht sagen, wie lange ich hier sitze und gegen meine Panik kämpfe. In meine Gedanken schleichen sich die wildesten Spekulationen ein, was hier unten geschieht. Immer wieder erinnere ich mich an die Wärter in den Minen, an ihre Lust, uns zu misshandeln, zu demütigen und sich an uns zu vergehen. Erwartet mich hier Ähnliches? Damals waren meine Gefühle durch die Wirkung der Spritzen betäubt, heute bin ich hellwach und Herr meiner Sinne, meiner Gefühle. Die feuchte Kälte und die Angst lassen mich frieren.
Nach einer gefühlten Ewigkeit wird die Tür geöffnet und einer der schwarz gekleideten Männer kommt herein.
„Mitkommen“, befiehlt er und ich erhebe mich. Meine Beine zittern und ich kämpfe gegen den Drang zu weinen.
In dem Gang vor meiner Zelle versammeln sich mehrere junge Männer, ich zähle zwölf. Verstohlen betrachte ich ihre Gesichter, einige sind noch sehr jung, eigentlich noch Kinder. In fast allen Gesichtern kann ich die Angst sehen, auch in Sjurs, der ein paar Meter weiter steht.
Schwere Schritte kommen die Wendeltreppe herab. Automatisch sehen alle dorthin. Ein älterer Mann mit grauen Haaren und selbst für mein unerfahrenes Auge teurer Kleidung tritt in den Gang. Er ist bestimmt ebenso alt wie Dagur, doch im Gegensatz zu dessen stattlicher Gestalt ist er klein, hat einen dicken Bauch, eine kartoffelartige, gerötete Nase und mehr als ein Kinn. Seine Augen funkeln kalt, als er einen nach dem anderen betrachtet. Wie ein Käufer auf dem Markt geht er an uns vorbei und begutachtet uns.
„Das ist alles?“, fragt er mit unangenehm hoher Stimme einen der Männer. „Die ganze Ernte eines Monats?“
Einer der schwarz gekleideten Männer, offensichtlich der Verantwortliche, schluckt sichtbar. „Verzeiht, Lordkanzler, aber wir sind zum Teil schon weit geritten, um überhaupt welche zu finden. Nur mit Glück konnten wir gestern vier von ihnen in den Straßen der Stadt aufsammeln.“
Der Lordkanzler verzieht seinen Mund zu einem schmalen Strich. „Ihr werdet weiter in den Norden reiten müssen.“
Der Angesprochene senkt zustimmend seinen Kopf.
„Dann macht jenen dort“, er zeigt auf einen der Jungen mit strohblondem Haar, „fertig. Die anderen bleiben in ihren Zellen.“ Mit diesen Worten dreht er sich um und verschwindet wieder hinter der ersten Biegung der Treppe.
„Was will er von mir?“, fragt der Junge, auf den der Lordkanzler gedeutet hat, mit zittriger Stimme, als einer der Männer ihn am Arm packt, während die anderen uns wieder in die Zellen treiben. „Wird er mir etwas tun?“
„Oh, gewiss, genau dafür seid ihr hier“, entgegnet der Mann und lacht auf, während er ihn die Treppe hoch zerrt.
Wenig später sitze ich wieder in meinem Kerker und starre die Wand an. Egill hat uns beigebracht, dass der Lordkanzler der engste Berater des Königs ist. Gerade in der ersten Zeit, als Eskil noch sehr unerfahren war, stand er ihm mit Rat und Tat zur Seite. Wenn ich an den schrecklichen Mann denke, dann ist es kein Wunder, dass aus dem jungen König ein Ungeheuer wurde.
Sind wir Spielzeug für den König? Wissen die Bürger dieser Stadt, was ihr König hier treibt? Keiner hat reagiert, als wir in die Kutsche gezogen wurden, obwohl zumindest der Schmied es deutlich gesehen hat. Sein Blick ist meinem begegnet, doch er hat keine Anstalten gemacht, uns zu helfen.
Seufzend lege ich meinen Kopf auf die Knie. Vielleicht waren die Tage mit Tomaz alles, was mir an Glück zustand. Statt an das Ungewisse zu denken, das mich erwartet, erinnere ich mich an unsere Zeit, das Gefühl, in seinen Armen einzuschlafen, nachdem wir uns geliebt haben, neben ihm aufzuwachen und in seine eisblauen Augen zu sehen, die mich voller Zärtlichkeit anschauen. Was immer mich hier erwartet, diese Erinnerungen können sie mir nicht wegnehmen, genauso wenig wie meine Liebe zu Tomaz.
Den ganzen Tag versuche ich mich mit körperlicher Arbeit von meinen Sorgen um Elion abzulenken, doch keinen Augenblick verlässt sein Bild meinen Kopf. Vielleicht ist er schon nicht mehr am Leben? Doch das kann ich nicht glauben, das würde ich spüren, tief in meinem Herzen. Aber was wollen sie von ihm, Sjur und den anderen? Alles junge, hübsche Männer – und die Lösung ist eigentlich nicht schwer, doch will ich sie nicht denken, nicht in Worte oder Bilder fassen.
Das Feuer erhellt die Nacht, als Egill und Katla endlich wieder zurückkommen. Müde setzen sie sich an das Feuer und Unnur reicht ihnen etwas zu essen. Ich brenne vor Ungeduld, doch zügele mich.
„Kein Mensch will über die schwarze Kutsche reden. Jeder kennt sie, jeder fürchtet sie, doch alle schweigen. Vielleicht wissen sie auch nichts. Die schwarzen Schatten, so nennen sie die Männer hinter vorgehaltener Hand, sind überall und sehr mächtig. Man sollte sich nicht mit ihnen anlegen und keine Fragen stellen.“ Egill seufzt. „Ich denke, sie sind eine Art Geheimpolizei des Königs. Immerhin bringen sie die Jungs in einen Teil des Schlosses.“
„Dieser König ist ein Monster“, sagt Unnur leise.
„Ja, das scheint so“, erwidert Egill. „Wir werden versuchen müssen, ins Schloss zu kommen. Doch auch das ist schwierig, jedenfalls ohne dass man dabei erwischt wird.“
„Darum werden wir auch gar nicht versuchen, uns ins Schloss zu schleichen, wir werden durch das Tor gehen“, ergänzt Katla. „Der Hof bereitet den Geburtstag des Königs vor. Viele adlige Gäste werden erwartet. Daher besteht Bedarf an Küchenpersonal. Ich und Egill werden versuchen, dort eine Anstellung zu bekommen.“
„Du glaubst doch nicht, dass ich hier warte?“, werfe ich ein. „Ich gehe mit euch!“
„Ich hatte befürchtet, dass du das sagst. – Tomaz, ich bezweifele, dass das klug wäre“, sagt Katla.
„Das ist mir egal, ich gehe mit euch! Du kannst nicht ernsthaft erwarten, dass ich hier sitze und Däumchen drehe.“ Das würde ich nicht ertragen. Ich muss meinen Teil dazu beitragen, um Elion wiederzubekommen.
„Nein, ich würde es mir wünschen, aber erwartet habe ich es nicht“, entgegnet Katla mit einem kleinen Lächeln. „Dann gehen wir drei morgen ganz früh zum Hof und sehen, ob sie überhaupt Fremde einstellen. – Und Tomaz, wir müssen vorsichtig sein. Es nutzt Elion nichts, wenn wir im Kerker landen!“
Ich nicke nur, denn ich weiß, sie hat recht und ich muss meine Ungeduld zähmen.
Eindrucksvolle, hochgewachsene Männer bilden die Schlosswache, die uns kritisch beäugen, ehe sie uns zu dem Haus- und Hofmeister Arnar in den Dienstbotentrakt schicken. Selbst dieser Teil des Schlosses, der den Dienern, Zimmermädchen, Mägden und Knechten vorbehalten ist, ist prachtvoller als alles, was ich bisher sah.
Ein aufgeregt wirkender, großer Mann kommt uns entgegen. Katla fragt ihn höflich nach Arnar.
„Das bin ich. Was wollt ihr?“ Der Haus- und Hofmeister des Königs ist sehr groß und sehr schlank. Seine grauen Haare trägt er kurz und aus dem Kragen seines weißen Hemdes schaut ein dürrer Hals mit einem ausgeprägten Kehlkopf.
„Wir sind neu in der Stadt und suchen Arbeit. Da ich gelernte Köchin bin und die beiden“, Katla zeigt auf Egill und mich, „mir schon oft in der Küche geholfen haben, schickte man uns zu Euch, da am Hof gerade Bedarf an Küchenhilfen bestünde.“
„Eigentlich beschäftigen wir nicht jeden Dahergelaufenen“, erwidert der Mann hochnäsig. „Zeigt mir eure Hände.“
Folgsam strecken wir unsere Arme vor, damit er mit seiner Adlernase unsere Finger und Handflächen inspizieren kann.
„Wenigstens seid ihr sauber und seht halbwegs gepflegt aus. Ich will es mit euch versuchen. Ihr werdet heute in der Küche arbeiten, wenn der Koch mit euch zufrieden ist, könnt ihr erst einmal bis zur Geburtstagsfeier des Königs bleiben.“ Er mustert uns noch einmal von oben bis unten. „Habt ihr ein Quartier?“
„Wie ich sagte, Herr, wir sind gerade erst angekommen und hatten noch keine Zeit, uns eine dauerhafte Bleibe zu suchen.“
„Wenn der Koch zufrieden ist, könnt ihr für die Zeit der Vorbereitungen im Gesindehaus wohnen. Anschließend habt ihr genug Geld, euch eine Unterkunft zu suchen. – Folgt mir, ich stelle euch dem Koch vor.“ Mit diesen Worten dreht er sich um und geht mit großen Schritten den Flur entlang, schnell folgen wir ihm.
Die Küche ist riesig, viel größer als die in der Festung. Unzählige Frauen und Männer sind hier beschäftigt. Zielstrebig geht Arnar auf einen kleinen, ganz in Weiß gekleideten Mann zu, der hingebungsvoll in einem großen Topf rührt.
„Mikkel, hier habe ich noch drei Bewerber um eine Arbeit bei dir“, sagt Arnar. Es scheint, als habe der Koch ihn nicht gehört. Genießerisch zieht er den Duft, der aus dem Topf steigt, in seine Nase. Arnar seufzt.
„Mikkel“, sagt er ungeduldig.
„Diese Suppe ist ein Gedicht“, stellt der Mann fest, ohne auf den Haus- und Hofmeister einzugehen. „Sie wird den Gästen am Festtag vorzüglich munden.“ Dann sieht er endlich auf und betrachtet Arnar mit einem Schmunzeln. „Ihr seid immer so ungeduldig, mein Freund. Essen verträgt keine Ungeduld.“ Dann wendet er sich uns zu und betrachtet uns mit kritischem Blick. „Was qualifiziert euch, in meiner Küche zu arbeiten?“
„Ich bin gelernte Köchin“, antwortet Katla und deutet eine Verbeugung an. „Und diese beiden gingen mir schon oft zur Hand. Sie sind äußerst geschickt.“
Mikkel ist für einen Koch erstaunlich schlank, sein Gesicht ist schmal und wird von einigen Pockennarben gezeichnet. Seine dunklen Augen funkeln und ich finde ihn sympathisch.
„Hm, wir werden sehen“, sagt er. „Ihr drei bereitet mir eine kräftige Rinderbrühe für den König vor. Ihm ist heute nicht ganz wohl. Wollen wir sehen, was ihr hinbekommt. – Enno, kümmere dich um die drei, zeig ihnen, wo sie sich die Hände waschen können und anständige Kleidung finden.“ Damit wendet er sich wieder seinem Topf zu.
Arnar seufzt noch einmal. „Vielleicht sehen wir uns wieder, vielleicht nicht. Viel Glück“, sagt er und verschwindet aus der Küche, während uns ein kräftiger, junger Mann durch die Küche führt.
Während wir nach Katlas Anweisungen die Zutaten für ihre Rinderbrühe vorbereiten, sehe ich mich um. Der kleine Koch scheint seine Leute gut im Griff zu haben. Am liebsten würde ich meinen Platz verlassen und anfangen, das Schloss nach Elion zu durchsuchen, doch ich weiß, dass dies ein Fehler wäre. Ich hoffe, dass ihm in der Zeit, die wir benötigen, um ihn zu finden, nichts geschieht.
Endlich kommt Mikkel und probiert die Brühe. Ohne die Miene zu verziehen, kostet er von einem kleinen Löffel. Nachdenklich blickt er Katla an und ich werde nervös. Wenn er uns ablehnt, haben wir keine Chance, wieder in dieses Schloss zu kommen.
„Erstaunlich gut“, sagt er endlich. „Ich versuche es mit euch. Morgen Abend ist das Probeessen für die Minister des Königs. Wenn ihr euch bewährt, könnt ihr bleiben.“
Bevor er geht, nimmt er noch einen Löffel voll Suppe. „Wirklich erstaunlich“, brummt er.
Kurz darauf kommt Enno zu uns und führt uns in das Gesindehaus, in dem wir zwei Schlafräume zugewiesen bekommen. Ich teile mir das Zimmer mit Egill.
„Und nun?“, frage ich ungeduldig.
„Warten wir ab“, antwortet er und wirft sich auf sein Bett.
Ich habe das dringende Bedürfnis, ihn zu erwürgen, doch ich weiß, dass er recht hat.
Am Nachmittag kommt Enno und bittet uns, ihm zu Mikkel zu folgen. Dieser erwartet uns in der Küche.
„Der König war sehr zufrieden mit deiner Suppe. Ich würde gern wissen, was du noch alles kannst, danach bereiten wir das Essen für den Hofstaat zu“, wandte der Koch sich direkt an Katla.
„Isst der König nicht mit dem Hofstaat?“, fragt Katla interessiert.
„Nein, der König speist fast immer allein. Nur zu besonderen Anlässen, wie seinem Geburtstag, nimmt er seine Mahlzeit mit den Gästen ein.“ Mikel seufzt. „König Eskil lebt sehr zurückgezogen, kaum einer bekommt ihn zu Gesicht. Alle Befehle erhalten wir von dem Lordkanzler.“
„Hat er Angst vor Anschlägen auf sein Leben?“, fragt Katla nach.
„Er ist nicht sehr beliebt beim Volk“, entgegnet der kleine Koch mit einem Schulterzucken. „Schon mehrfach sollen Attentäter versucht haben, ihn umzubringen.“
„Kennt Ihr den König?“
„Ich hatte schon zweimal die Ehre, zu ihm gerufen zu werden.“ Die Brust des Kochs schwillt sichtbar an. „Er war sehr nett und lobte mein Essen.“
Nett? Bisher habe ich noch niemanden den König mit dem Wort nett titulieren gehört. Alles, was ich von ihm weiß, ist auch alles andere als nett.
„Und nun erzählt mir von dem, was du besonders gut kannst“, wechselt Mikkel das Thema und lehnte sich zu Katla herüber. „Vielleicht ist noch eine Anregung für unser Festmenü dabei.“
Katla redet und meine Gedanken gehen auf Wanderschaft. Irgendwo innerhalb dieser Mauern ist Elion eingesperrt. Wie kann ich ihn finden? Wie gut wird das Schloss überwacht? Der Herrscher ist nicht sehr beliebt, die Gefahr eines Attentats hoch. Bestimmt gehen Tag und Nacht Wachen durch das Schloss.
Katla hat uns gezeigt, wo die Kutsche gehalten hat, um die Gefangenen in die Mauern zu führen. Das Tor liegt auf der anderen Seite des Gebäudes. Ein weiter Weg, wenn überall patrouilliert wird. Dazu wissen wir nicht, ob die Gebäudeabschnitte nicht durch verschlossene Türen voneinander getrennt sind.
Mir ist klar, dass wir Zeit brauchen, doch es drängt mich, durch die Räume zu laufen und nach Elion zu rufen. Die Sorge um ihn macht mich verrückt.
Nachdem Mikkel zufrieden ist, beginnen wir mit den Vorbereitungen für das Essen des Hofstaates. Hier wird an nichts gespart. Es gibt Fleisch, Fisch, Gemüse, Brot. Alles in unvorstellbaren Mengen. Wie viele Menschen leben vom König?
Diener in braunen Uniformen, die mit goldenen Kordeln verziert sind, servieren das Essen. Bald kommen die ersten Suppenterrinen wieder herunter. Sie sind halb voll.
„Was geschieht mit den Resten?“, frage ich Enno.
„Die werden weggeworfen“, erklärt er mit einem Schulterzucken.
„Warum isst die Dienerschaft nicht davon?“ Die Verschwendung will mir nicht einleuchten.
„Weil dies das Essen der Herrschaft ist und einem Diener nicht zusteht.“ Enno scheint diese Regel nicht anzuzweifeln.
Fast volle Platten mit Bratenaufschnitt werden in große Tonnen geleert. Draußen hungert das Volk und hier wird gutes Essen fortgeworfen. Mit jeder Fassette, die ich von diesem Herrscher sehe, wird er mir unsympathischer. Ich kann all jene verstehen, die es auf das Leben dieses Mannes abgesehen haben.
Wir dürfen die Küche erst verlassen, als alles Geschirr gespült und weggeräumt ist. Ich bin müde und mir zeitgleich sicher, dass ich nicht schlafen kann. Egill rollt sich auf seinem Bett auf die Seite und beginnt fast umgehend zu schnarchen.
Wie geht es meiner kleinen Sonne? Was machen sie mit ihm? Hat ihn schon irgendjemand angefasst, ihm wehgetan? Ich will nicht daran denken, doch ich kann auch nicht an etwas anderes denken.
Erst als es anfängt zu dämmern, falle ich in einen unruhigen Schlaf.
Die Dienerschaft bei Hofe muss früh aus den Betten. Als es an unsere Tür klopft, bin ich fast umgehend wach. Egill gähnt ausgiebig, ehe er sich aufsetzt.
„Zumindest die Betten sind gut“, bemerkt er gähnend. Ich spare mir jede Antwort, da mich die Qualität der Schlafstätten nicht im Geringsten interessiert.
Wenig später sind wir in der Küche. Wie Enno erklärt, isst der König morgens nur einen gesüßten Milchbrei. Die Zubereitung überlässt Mikkel wieder Katla, während er sich um das weitaus aufwendigere Mahl des Hofstaates kümmert.
Nichts geht über Katlas Milchbrei und auch der Koch ist ganz angetan davon. Der persönliche Kammerdiener des Königs erscheint, um das Frühstück seinem Herrn zu servieren. Ein mundfauler, derber Kerl mit kleinen Augen. Ich muss gestehen, dass ich diesen Kerl nicht als meinen Kammerdiener den ganzen Tag um mich herum haben möchte.
Wieder werden wenig später voll beladene Tabletts mit den köstlichsten Speisen von den Dienern ins Speisezimmer getragen und wieder werden große Teile davon weggeworfen. Warum duldet der König diese maßlose Verschwendung? Weil sie ihm egal ist. Im Schloss herrscht keine Not, ob gute oder schlechte Ernte, die Kammern des Königs sind stets gefüllt.
Der Tag ist mit Arbeit angefüllt, da die Minister des Königs, allen vorweg der Lordkanzler, das Festmenü des Königs am Abend probeessen.
„Wird der König auch an diesem Mahl teilnehmen?“, fragt Katla im Laufe des Tages Mikkel.
„Nein, er verlässt sich auf seinen Lordkanzler, wie in den meisten Dingen.“
Am Abend flitzen die Diener von oben nach unten, schleppen Schüsseln, Platten, Teller und Unmengen von Weinkaraffen in den Speisesaal. Auf dem Weg nach unten stürzt einer von ihnen und landet ziemlich unsanft auf seinem Rücken. Anschließend kann er kaum noch laufen. Sofort bricht helle Panik in der Küche auf. Arnar erscheint und sieht sich suchend um, bis sein Blick auf mich fällt.
„Du. Komm her.“ Er winkt mich energisch zu sich und betrachtet mich kritisch. „Hast du schon einmal serviert?“
Ich schüttele den Kopf und er seufzt. „Dann wirst du es lernen. Die Gesellschaft ist schon ziemlich betrunken, denen werden kleine Fehler nicht auffallen. Merk dir nur, dass du nichts zu sagen hast, die Speisen immer von rechts anreichst. Sieh einfach den anderen zu. – Und zieh dich um.“ Als ich ihn etwas überrascht ansehe, scheucht er mich mit einer Handbewegung los. „Geh. Beeil dich.“
Enno nimmt meinen Arm und zieht mich mit in einen Raum. „Los, hier hängen die Uniformen, zieh dir eine an .“ Schon ist er wieder weg. Rasch wechsele ich die Kleidung und gehe wieder in die Küche. Sofort drückt mir Mikkel eine kunstvoll garnierte Gemüseplatte in die Hand.
„Fall nicht und benimm dich. Achte immer auf den Diener vor dir.“ Mit einem leichten Schlag auf die Schulter schickt er mich los. Schnell versuche ich mit den anderen Schritt zu halten, nicht aufzufallen. Mit gehobenem Kopf schreiten wir der Reihe nach in den Festsaal. Nur Männer sitzen um den reich gedeckten Tisch. Ihre geröteten Gesichter sprechen für den vielen Wein, den sie schon getrunken haben, ebenso wie ihre erhobenen Stimmen und ihr Lachen. Ich behalte den Diener vor mir im Auge und mache ihm alles nach, halte den Speisenden die Platten ebenso entgegen, vermeide ihre Blicke und gehe von einem zum anderen. Am Kopf der Tafel, auf dem Platz, der eigentlich dem König vorbehalten ist, sitzt ein kleiner, feister Mann. Schweigend nippt er an seinem Weinglas und betrachtet die anderen. Dies dürfte der Lordkanzler sein.
Sein kalter Blick begegnet meinem und ich senke schnell die Augen, reiche dem nächsten die Platte. An dem Essen scheinen die Männer kaum interessiert, dafür an dem Wein. Als ich neben dem Lordkanzler stehe, legt er seine Hand auf meinen Unterarm. Ich hebe den Blick, seine Augen wirken wie Kieselsteine, kalt und gefühllos.
„Wer bist du?“, fragt er mich leise. „Ich kenne dich nicht.“
„Mein Name ist Tomaz, Herr. Ich arbeite eigentlich in der Küche und helfe nur aus, weil ein Diener sich verletzt hat.“ Ist Herr die richtige Anrede? Wie um alles in der Welt spricht man einen Lordkanzler an?
Er betrachtet ausführlich mein Gesicht, dann lächelt er. „Ich denke, du solltest dich nicht in der Küche verstecken, sondern immer servieren.“ Damit lässt er meinen Arm los und ich atme innerlich auf. Die Berührung war mir unangenehm. Schnell gehe ich weiter.
Mir tun die Beine und Arme weh, als der Tisch endlich wieder abgedeckt ist und ich mich für einen Moment in die Küche setze. Ich habe völlig unterschätzt, wie anstrengend diese Aufgabe ist. Katla reicht mir mit einem mitleidigen Blick eine Tasse heißen Tee.
„Der Lordkanzler wünscht, dass du in Zukunft immer servierst“, sagt Arnar, der zu mir getreten ist. „Nicht nur beim Essen, sondern auch später, wenn die Herrschaften zusammensitzen und Karten spielen.“
Erstaunt hebe ich die Augenbrauen. „Ich kann das doch gar nicht.“
„Du wirst es lernen. Dem Lordkanzler widerspricht man nicht“, sagt Arnar streng. „Und noch eins, was immer in diesem Raum gesprochen wird, behältst du für dich. Nur ein Wort über die Unterhaltungen und du landest bestenfalls im Kerker. – Und glaub mir, in diesem Schloss haben die Wände Ohren.“ Warnend sieht er mich an. „Da keiner dich kennt, wirst du besonders streng unter Kontrolle stehen, also pass auf, was du sagst.“
„Warum soll ich dort servieren, wenn alles so streng geheim ist?“
„Weil dein Anblick den Lordkanzler erfreut.“ Mit diesen Worten lässt er mich einfach sitzen und geht. Der Gedanke, dass ich dem Lordkanzler gefalle, erfreut mich nicht. Gern wüsste ich, ob dieses Gefallen unter Umständen mehr bedeutete und ich mich auf Annäherungsversuche des hohen Herrn gefasst machen muss.
„Beschwer dich nicht“, sagt Egill leise zu mir. „Dort erfährst du sicher eher etwas als in der Küche.“
Damit hat er wahrscheinlich recht, außerdem ermöglicht es mir, mich in einem größeren Bereich des Schlosses umzusehen.
Die körperliche Erschöpfung sorgt dafür, dass ich in dieser Nacht schnell einschlafe, doch sie kann nicht die Alpträume verhindern, die mich quälen. Ich weiß nicht genau, was ich träume, doch immer geht es um den Verlust von Elion. Schweißgebadet wache ich vor dem Klopfen an der Tür auf. Mit jeder Stunde, die ich nicht weiß, wie es ihm geht, werde ich unruhiger. Doch ich muss ausharren, versuchen, so viel wie möglich in Erfahrung zu bringen, damit ich ihm helfen kann – und hoffen, dass es ihm gut geht.
Vom Küchendienst bin ich befreit, dafür zeigt mir Erlis, was ein Diener alles können muss. Erlis ist schon seit zehn Jahren im Dienste des Königs. Als der alte König starb, hat der Lordkanzler viele der früheren Diener entlassen und neues Personal eingestellt.
Erlis ist freundlich und sieht über meine Ungeschicklichkeit einfach hinweg. Unermüdlich erklärt er mir, worauf es ankommt, warnt mich, was alles passieren kann, und erzählt von den Ministern und Höflingen, die auf dem Schloss leben.
„Den König sah ich erst zehnmal in den ganzen Jahren“, sagt er, während ich mit einem Tablett voller Gläser durch den Raum gehe. „Nur an den Festlichkeiten zu seinem Geburtstag.“
„Und wie ist er?“, frage ich neugierig. Erlis zuckt mit den Schultern.
„Ruhig und zurückhaltend. Im Gegensatz zu seinem Hofstaat bedankt er sich immer höflich, wenn man ihm das Essen reicht.“ Er lacht fröhlich. „Der König wirkt immer ein wenig abwesend und ich glaube, er mag seinen Hofstaat nicht besonders.“
„Das würde zumindest erklären, warum er nicht mit ihnen speist.“ Ich versuche ein Glas abzustellen und die anderen dabei nicht vom Tablett zu kippen.
„Die Einzigen, die viel Zeit mit dem König verbringen, sind der Lordkanzler und sein Kammerdiener. – Obwohl ich den überhaupt nicht mag“, fügt er flüsternd hinzu.
„Ich auch nicht“, erwidere ich leise und wir grinsen uns an.
Die Zeit verfliegt und ich bin Elion nicht einen Schritt näher gekommen. Das Schloss ist groß und Erlis erklärt mir, dass einige Bereiche für die Dienerschaft tabu sind. Natürlich ranken sich viele Gerüchte darum, doch keiner weiß, was hinter den verschlossenen Türen vor sich geht. Ich möchte wetten, hinter einer dieser Türen verbirgt sich Elions Gefängnis.
Bevor wir den Hofstaat bedienen, dürfen wir selbst etwas essen. In der Küche finde ich Katla in einem Gespräch mit Mikkel verwickelt. Egill betrachtet die beiden missmutig. Ich gehe zu ihm und stelle mich neben ihn.
„Seit Stunden reden die beiden miteinander. Sie verstehen sich prächtig.“ An Egills Stimme kann ich hören, dass ihm dieser Umstand gar nicht gefällt. Schon lange frage ich mich, warum zwischen Egill und Katla nicht mehr als Freundschaft besteht. Sie verstehen sich hervorragend und wenn ich die Blicke sehe, mit denen sie sich manchmal betrachten, denke ich, ihnen fehlt einfach ein Tritt in den Hintern, damit sie bemerken, was sie füreinander empfinden.
„Wenn es zu etwas führt“, sage ich nur und nehme mir einen Apfel aus einer Schale.
„Hm, ich will lieber nicht wissen, wohin das führt“, brummt Egill und dreht sich um.
„Hast du irgendetwas herausgefunden?“, frage ich unauffällig, während ich den Apfel zerschneide.
„Nein, außer dass es Bereiche in diesem Schloss gibt, in denen die Dienerschaft nichts zu suchen hat.“
„Ja, das habe ich auch gehört. Genau dort müssen wir suchen.“
„Ja, aber nur zum richtigen Zeitpunkt, ansonsten hängen wir morgen am höchsten Turm des Schlosses und dienen den Raben als Lebendfutter.“
Kein schöner Gedanke. Die Geheimnisse in diesem Schloss müssen immens wichtig sein. Eins von ihnen ist es auf jeden Fall für mich – und ich werde es erkunden.
Das Bedienen im Speisesaal folgt einem genauen Plan. Jeder muss im richtigen Moment mit der richtigen Platte, Schale oder dem richtigen Teller losgehen und genau den Abstand zu seinem Vordermann beachten. Man darf nicht trödeln, muss auf die Bewegungen der Speisenden achten, damit man nicht aus Versehen mit jemandem zusammenprallt. Gestern ist mir das nicht aufgefallen, da ich mich nur auf meinen Vordermann konzentriert habe. Zum Glück ist nichts passiert.
Wieder wandern Großteile des Essens in die Tonne. Enno murmelt etwas davon, dass sich die Schweine heute freuen können.
„Die Schweine werden damit gefüttert?“, frage ich fassungslos.
Enno nickt nur.
„Es ist zu gut für die Dienerschaft, aber die Schweine des Königs werden damit gefüttert?“ Die Dekadenz dieser Menschen macht mich sprachlos.
„Immerhin kommt es auf diesem Wege wieder in die Mägen ihrer Hochwohlgeborenen.“ Enno spricht das letzte Wort höhnisch aus und wirft zeitgleich einen vorsichtigen Blick nach links und rechts.
Kopfschüttelnd stelle ich das dreckige Geschirr zu dem anderen. Zwei junge Mädchen sind dabei, alles abzuwaschen.
„Tomaz?“ Erlis steht in der Tür und winkt mir. „Komm, es geht weiter.“
Meine Beine schmerzen und der Gedanke, jetzt noch im Spielzimmer zu bedienen, gefällt ihnen gar nicht, doch ich folge Erlis brav. Immerhin könnte ich dort mehr erfahren.
An verschiedenen Tischen sitzen die Männer und spielen Karten. Einige rauchen dabei eine Pfeife, alle sprechen reichlich dem Alkohol zu. Wein, Whisky und Gin werden wie Wasser heruntergestürzt. Manch einer betrachtet die Welt schon durch glasige Augen.
Der Lordkanzler winkt mir und gehorsam gehe ich zu ihm.
„Bring mir und Graf Keld etwas von dem besonderen Whisky“, sagt er und lächelt mir zu. Mit einer Verbeugung gehe ich los. Ich weiß, dass er mir hinterhersieht und auf meinen Hintern starrt. Genau erkenne ich die Lüsternheit in seinem Blick.
„Was ist der besondere Whisky?“, frage ich leise Erlis. Er bückt sich und holt eine dunkelbraune Flasche ohne Etikett hervor.
„Aus dieser darf nur der Lordkanzler bedient werden“, sagt er eindringlich und ich nicke. Mit den beiden Gläsern auf einem Tablett gehe ich zurück und stelle sie vor den beiden Herren auf den Tisch; wie Erlis es mir gezeigt hat, trete ich einen Schritt zurück an die Wand und betrachte die Männer, versuche zu sehen, wenn einer etwas wünscht.
„Ihr habt neue Ware?“, fragt Graf Keld leise den Lordkanzler.
„Ja, sehr gute Stücke dabei, genau das, was ihr bevorzugt“, erwidert der Lordkanzler. „Jedoch ist der Preis gestiegen, es wird schwerer, geeignete Ware zu finden.“
„Ihr wisst, dass Geld keine Rolle spielt.“
Beide Männer lachen und in meinem Magen kribbelt es. Über was sprechen die beiden? Was verkauft der Lordkanzler?
„Wann kann ich sie sehen?“
„In ein paar Tagen findet eine Vorstellung statt, dort könnt ihr Euch von der Ware überzeugen und nach Eurem Geschmack entscheiden.“
„Ich kann es kaum erwarten.“
Etwas im Blick des Grafen sagt mir, dass wir von ganz bestimmter, menschlicher Ware reden. Es ist die Gier, die Geilheit, die aus seinen Augen spricht. Mein Magen verkrampft sich. Ein paar Tage. Bis dahin muss ich Elion gefunden und aus diesem verdammten Schloss gebracht haben. Ich hoffe, dass der Lordkanzler seine Ware unbeschädigt verkauft.
Steht die Zeit oder rast sie? Ich kann es nicht sagen. Das Licht verändert sich, ab und an kommt eine der Wachen, bringt mir etwas zu essen. Hungern muss ich zumindest nicht, doch das ist nur ein schwacher Trost.
Das Warten zermürbt mich, meine Gedanken kreisen, verharren und springen umher. Ich hoffe, verzweifele, flehe und versinke im Trübsinn.
Sinnlose Fragen nach dem Warum, Wieso und Wozu. Grenzenloser Hass auf das Schicksal, den König und das Leben. Bodenlose Verzweiflung über meine Situation.
Ich versuche mich zu erinnern, an Tomaz, unsere Tage, Nächte und unsere Gefühle füreinander. In den kalten Steinmauern der Zellen jedoch verschwimmen sie, entfernen sich, zerfließen vor meinen Augen.
Gibt es ein Leben außerhalb dieser Wände oder hat es aufgehört in dem Moment, in dem sich die Tür hinter mir schloss? Gab es dieses Leben nie und war alles nur eine Illusion meines verzweifelten Geistes? Ein Traum, der zerplatzt ist wie eine Seifenblase?
Still sitze ich auf dem Boden, während mein Geist rennt, schreit und mit beiden Fäusten an die Türen dieses Verlieses schlägt.
Unendlich lange war ich eingesperrt, viel länger, als ich frei war, und doch kann ich dieses Gefühl nicht mehr ertragen. Vielleicht verliere ich den Verstand, ehe etwas geschieht – oder vielleicht habe ich ihn auch verloren und bin deswegen hier?
Nur noch einmal wünsche ich mir Tomaz zu sehen, in seine wundervollen Augen zu blicken und seine Stimme zu hören, wie sie ‚Ich liebe dich’ flüstert.
Ebenso wie ich mir wünsche, dass sich die Tür öffnet, habe ich Angst davor. Was erwartet mich, wenn sie mich hier herausholen, das Los auf mich fällt und ich den Wachen folgen muss?
Doch ich will nicht darüber nachdenken, will gar nicht mehr denken, will mich auflösen, verschwinden und in Tomaz’ Armen wieder erwachen.
Die Ruhe in diesen vier Wänden ist beängstigend, ich kann nichts hören, keine Schritte, keine Worte, nicht mal den Klang von Stimmen. Erst wenn der Schlüssel sich im Schloss dreht, erwacht die Welt vor meiner Tür zum Leben.
Wenn das geschieht, dann klopft mein Herz vor Angst, bekomme ich etwas zu essen oder holen sie mich ab?
Schon höre ich wieder, wie der Schlüssel in das Schloss geschoben, knarrend umgedreht wird und sich mit leisem Quietschen die Tür öffnet. Ist es jetzt so weit? Werden sie mich mitnehmen?
Da die Wände in diesem Schloss Ohren haben und jeder zweite, dem man in diesen Mauern begegnet, ein Soldat des Königs ist, schreibe ich auf, was ich erfahre. Anschließend gebe ich es Egill, der es liest und Katla weiterreicht, die es, nachdem sie den Text gelesen hat, verbrennt.
Die meisten Bediensteten und Soldaten können nicht lesen. Zur Schule gehen in diesem Land nur die reichen Kinder, die armen müssen von klein auf arbeiten.
Seit zwei Tagen bediene ich im Spielsalon und immer wieder lässt der Lordkanzler sich von mir seinen Whisky bringen. Noch zwei ähnliche Gespräche habe ich gehört. Doch leider konnte ich nicht herausfinden, wann genau dieser Verkauf geschehen soll. Dafür habe ich gesehen, dass der Lordkanzler am Abend immer noch einmal im hinteren, verbotenen Teil des Schlosses verschwindet. Dort muss ich hin.
Am Ende des Abends trödele ich beim Aufräumen. Als schon fast alle Gläser abgeräumt sind, schmeiße ich eins um. Es war halb voll und der Inhalt verteilt sich über den Tisch. Erlis, der auf mich wartet, schnauft genervt.
„Geh schon, ich wische das schnell weg und komme dann“, sage ich und suche einen Lappen.
„Beeil dich aber, in ein paar Minuten kontrollieren die Soldaten das Zimmer, dann musst du weg sein.“
Ich nicke und er geht. Fahrig wische ich die Pfütze auf, stecke das Glas in meine Tasche und gehe mit einem Blick über meine Schulter zu dem Ausgang, durch den der Lordkanzler immer verschwindet. Mein Herz rast.
Ich komme in einen Gang. Auf der rechten Seite liegt eine große Doppelflügeltür. Am Ende führt eine Wendeltreppe sowohl nach unten als auch nach oben. Leise schleiche ich dorthin, überlege, wo ich mich verstecken könnte, doch hier ist nichts, keine Nische und keine Säule. Nur mit dunklem Tuch bespannte Wände.
Vorsichtig gehe ich ein paar Stufen abwärts. Flackernd erleuchten Fackeln die Wände. Erstaunlich, da es im Rest des Schlosses das gleiche künstliche Licht wie in den Minen gibt.
„Ich bin zufrieden mit euch. Die Ernte er letzten Tage war erstaunlich gut. In der Nacht nach dem Geburtstag Ihrer Majestät verkaufen wir sie.“ Die hohe Stimme des Lordkanzlers. „Pass gut auf, dass ihnen nichts geschieht. Die Männer wollen intakte Ware, für die Beschädigung sorgen sie lieber selbst.“ Er lacht und ich würde ihm gern die Gurgel umdrehen, doch da unten sind bestimmt zu viele Wachen.
Ehe ich überlegen kann, wie es weitergeht, kommen Schritte die Treppe hoch. Schnell weiche ich zurück. Die Tür in den Salon kann ich nicht erreichen, dann würde mich der Lordkanzler sehen, also steige ich die Treppe weiter hinauf. Leider folgt mir der Mann.
Die Stufen enden und ich stehe in einem weiteren Gang, in dem ich noch nie war. Vier Türen gehen hiervon ab. Die Schritte kommen näher und ich habe keine Wahl, öffne die erste zu meiner linken und schlüpfe hinein. Es ist dunkel in dem Zimmer und ich kann nichts hören.
Mein Ohr lege ich an die Tür, der Lordkanzler geht vorbei und ich atme auf.
„Wer bist du?“
Die Frage lässt mein Herz einen winzigen Moment aussetzen, dann rast es los. Langsam drehe ich mich um. An einem Durchgang zu einem weiteren Zimmer steht ein junger Mann und sieht mich mit großen Augen an.
„Verzeiht …“ Meinem Kopf will keine Ausrede einfallen. „Ich sollte gehen“, murmele ich und lege die Hand auf die Klinke.
„Warte … bitte.“
Wieder drehe ich mich um. Der junge Mann ist näher gekommen und sieht mich flehend an. Ich nehme die Hand runter und trete einen Schritt in den Raum.
„Bitte setzt dich“, sagt er und deutet auf einen Sessel. „Ich werde das Feuer entzünden.“ Ehe ich reagieren kann, hockt er neben dem Kamin. Bald schlängeln sich Flammen von dem dürren Reisig über die dicken Scheite.
„Würdest du mir verraten, wer du bist?“
Wir sitzen uns in zwei Sesseln gegenüber. Im Schein der Flammen kann ich ihn zum ersten Mal richtig sehen. Seine Haare sind lang, fallen in Wellen über seine Schultern. Die Augen sind dunkel, ich vermute braun. Er sieht gut aus, seine Figur ist schlank und lange, schmale Finger liegen auf seinen Knien.
„Ich sehe, dass du zur Dienerschaft gehört“, sagt er, nachdem ich noch keine Worte gefunden habe, mit einer Geste auf meine Kleidung. „Hierher verirrt sich sonst niemand – schon gar nicht mitten in der Nacht.“
Wie soll ich das nur erklären? Und wer ist der Mann?
„Ich …“, beginne ich zögernd und verstumme wieder.
„Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Was immer dich hierhergeführt hat, ich werde es keinem verraten“, sagt er mit einem kleinen Lächeln.
„Wieso sollte ich Euch vertrauen?“, entfährt es mir.
„Weil ich der König bin?“ Sein Lächeln ist mit einem Mal bitter. Mein Herz überlegt für einen Moment, den Dienst einzustellen. Dies ist das Ungeheuer? Das Monster, dass unser Land unter seiner Knute bluten lässt? Ich kann es nicht glauben.
Offenbar zeigen sich meine Gefühle deutlich in meinem Gesicht, denn der junge Mann lacht bitter auf. „Ich kann verstehen, wenn du dies bezweifelt, tue ich das doch selbst von Zeit zu Zeit.“
„Majestät, ich bitte um Vergebung … ich … natürlich wollte ich nicht …“
„Hör auf. Ich bin froh, ein anderes Gesicht als das meines Kammerdieners – oder besser Leibwächters – nein, eigentlich Kerkermeisters zu sehen.“
Ich bin verwirrt.
„Kann ich dir vertrauen?“
Der König fragt mich, ob er mir vertrauen kann? Ich nicke, fühle mich von der Situation überfordert.
„Auf dem Papier bin ich der König. Ich habe sogar eine Krone, wenn du mir nicht glaubst, doch in Wahrheit bin ich der Gefangene des Lordkanzlers. – Warum ich dir das erzähle? Weil dir sowieso keiner glauben würde. Und sollte diese Geschichte dem Lordkanzler zu Ohren kommen, so wärst du tot.“ Der König lehnt sich zurück. „Doch ich musste es dir sagen, weil du offensichtlich kein Lakai dieses Monstrums bist.“
„Ihr seid hier gefangen? Und der Lordkanzler hat Euch eingesperrt? – Warum?“
„Das ist eine lange Geschichte, hast du Zeit?“
Immer noch verwundert sehe ich den Mann genau an. Vielleicht ist er nur ein Irrer, ein Verwandter des Königs, der hier sein Dasein fristet?
„Die Tür war nicht versperrt“, sage ich, weil mir gerade dieses Argument gegen eine Gefangenschaft durch den Kopf geht.
„Sicher. Normalerweise steht mein Kammerdiener den ganzen Tag vor dieser Tür. Doch es braucht keine Schlösser, um mich einzusperren.“ Er seufzt tief.
„Erzählt mir Eure Geschichte“, fordere ich, vielleicht erfahre ich etwas, das mir helfen kann.
„Schon während der Regentschaft meines Vaters war Lord Vaekison der Lordkanzler. Mein Vater interessierte sich nicht für Politik oder sein Volk. Er genoss sein Leben ohne Grenzen, trank, jagte und hurte sich durch die Betten. Vaekison regierte in seinem Namen das Land. Bis mein Vater sich verliebte, nicht in meine Mutter, die war ihm aufgezwängt worden, eine Heirat aus diplomatischen Gründen. Nein, er verliebte sich in eine Magd. Sie erzählte ihm von den Zuständen im Land, von der Abscheu seines Volkes. Ihr zuliebe wollte er das ändern, die Zügel des Landes selbst in die Hand nehmen. Eine Woche nachdem er mit Vaekison darüber gesprochen hat, starb er.“ Der junge König biss auf seine Unterlippe. „Mein Vater und mich verband keine große Liebe. Ich war der Thronfolger, den die Etikette von ihm erwartete, mehr nicht. Trotzdem bestürzte mich sein plötzlicher Tod. Ich war vierzehn und bisher behütet in der Obhut meiner Mutter aufgewachsen. Jetzt kam der Lordkanzler und holte mich ins Schloss. Vom ersten Tag in diesen Mauern war ich sein Gefangener. Er überwachte jeden Schritt von mir und wenn ich nicht sagte, was er wollte, bestrafte er mich. Die ganzen Jahre bestimmte er, mit wem ich reden, wer mich besuchen und was ich sagen darf.“
„Habt Ihr nie versucht, ihm zu entkommen? Mit anderen Menschen zu sprechen?“, frage ich schockiert von dem Gehörten.
„Doch sicher, aber die Narben jener Versuche lehren mich, es nicht zu tun. – Außerdem hat Vaekison meine Mutter in seiner Gewalt. Wenn ich nicht will, dass ihr etwas geschieht, muss ich mich beugen.“ Er lächelt traurig. „Darum bist du der erste Mensch, der nicht zu Vaekisons Gefolge gehört, den ich seit Jahren sehe.“
Unziemlich starre ich den König an. Mit seinen Worten hat er gerade mein Bild von ihm auf den Kopf gestellt.
„Was aber bringt dich in meine Gemächer? Und wie heißt du?“
„Tomaz, Majestät, und das ist ebenfalls eine lange Geschichte“, erwidere ich.
„Hier bin ich nicht der König, nur ein Gefangener, darum nenn mich Eskil, Tomaz. – Deine Geschichte würde ich gern hören. Wer weiß, ob ich je wieder die Gelegenheit dazu bekomme.“
Also erzähle ich ihm alles, wirklich alles, von den Minen, den Rebellen, unserer Flucht und wie wir hiergekommen sind. Nur die Episode mit dem Steuereintreiber lasse ich aus. Mit einem Mord möchte ich ihn nicht belasten. Allerdings erzähle ich ihm von den hohen Steuern und der Last, unter der sein Volk leidet, von den Kindern, die ihren Eltern fortgenommen werden und in den Minen landen, ohne eine Chance darauf, diese jemals zu verlassen.
Erschüttert sieht er mich an. „Das kann nicht wahr sein.“ Doch in seiner Stimme kann ich hören, dass er keins meiner Worte anzweifelt. „Und der junge Mann ist hier im Schloss? Eingesperrt mit anderen, die der Lordkanzler verkaufen will?“
Eskil spring von seinem Stuhl auf, läuft unruhig durch das Zimmer. „An meinem Geburtstag, dem einzigen Tag im Jahr, den ich diese Räume verlassen darf, genau dann will er seine dreckigen Geschäfte abwickeln.“
Vor mir bleibt er stehen. „Wir müssen ihn stoppen! Dieser Wahnsinn muss ein Ende haben! Du musst mir helfen!“
„Aber wie, Eskil, du wirst überwacht und ich bin nur mit viel Glück hier gelandet. Morgen früh steht wieder dein Wachhund vor der Tür und lässt dich nicht aus den Augen.“
„Willst du mir helfen?“
„Natürlich, wenn Elion dadurch ebenfalls freikommt.“
„Er und all die anderen. Er und mein ganzes Volk. Lieber will ich bei dem Versuch sterben, als mir diese Farce noch länger anzusehen.“ Der eben noch schüchterne junge Mann wirkt mit einem Mal wie ein König. Ein König, der dieses Land vielleicht nicht ausblutet.
„Wie viele Freunde hast du? Werden sie uns helfen?“
„Ja, werden sie. Aber wir sind nur vierzehn Erwachsene, die mehr oder weniger gut kämpfen können.“
„Es muss an dem Tag meines Geburtstages sein, wenn das ganze Volk zusieht, wenn alle, die gegen die Unterdrückung sind, ihre Waffen erheben können. – Du weißt, dass dies auch mit dem Tod enden kann?“ Eskil begegnet meinem Blick.
„Elions Tod wäre eh der meine. Wenn wir es nicht schaffen, werden wir hoffentlich zusammen sterben.“
Der König nimmt meine Hände. „Wir werden leben, wir müssen leben. Für deinen Elion, für mein Volk. Lange genug habe ich mich gebeugt, jetzt ist Schluss damit.“
Lange haben wir uns noch unterhalten. Die einzige Chance, in Verbindung zu bleiben, war ich. Immer wenn es mir möglich war, musste ich mich nachts zum König schleichen. Damit würden meine Schlafphasen noch kürzer ausfallen, doch das war nebensächlich.
Leise bewegte ich mich durch den Salon. Nur noch schwach glimmen die Reste des Feuers in dem großen Kamin. Vorsichtig spähe ich in den Flur. Niemand ist zu sehen. Schnell husche ich in mein Zimmer, atme erst auf, als die Tür hinter mir ins Schloss fällt. Egill sieht mich fragend an, doch ich bedeute ihm zu schweigen.
Nachdem ich mich meiner Uniform entledigt habe, schreibe ich in Stichworten auf einen Zettel, was geschehen ist. Egills Auge werden beim Lesen immer größer.
Tonlos formulieren seine Lippen die Fragen, wie es weitergehen soll. Ich zucke mit den Schultern und nehme das Blatt.
Wir müssen uns etwas einfallen lassen, schreibe ich darauf.
Egill schnauft nur, als er das liest.
Am Morgen in der Küche gebe ich Katla unauffällig den Zettel. Geschwind liest sie ihn, starrt mich einen Moment an, dann wirft sie ihn in die Flammen.
Kurz darauf kommt der grimmige Kammerdiener des Königs. Ich muss an den freundlichen, jungen Mann denken, der die Krone trägt, ohne ihre Macht zu besitzen, eingesperrt von dem größten aller Ungeheuer.
Am Nachmittag habe ich frei, ebenso wie Egill. Katla lässt ihren Charme bei Mikkel spielen und überredet ihn, ihr ebenfalls für ein paar Stunden freizugeben. Angeblich, weil wir uns nach einer Bleibe umsehen wollen.
Unauffällig schlendern wir durch die Straße, verschwinden in einem Haus und zur Hintertür wieder hinaus. Durch ein Gewirr von Gassen, in dem wir uns fast verirren, gelangen wir zur Stadtmauer. Wir verweilen einen Moment im Schatten einiger Weiden und versuchen zu erkennen, ob uns jemand folgt. Als wir niemanden sehen können, verlassen wir die Stadt und schlagen uns in die Büsche. Hier finden wir schnell den Weg zu den Wagen. Kurz vorher schlagen wir noch einen Bogen, doch keiner folgt uns.
Viel Zeit haben wir nicht, darum erzähle ich in einer kurzen Zusammenfassung, was wir wissen.
„Was interessiert uns der König?“, fragt Elida missmutig. „Wir wollen unsere Freunde befreien.“
„Ja, aber vielleicht können wir beides, unsere Freunde und das Land befreien“, entgegnet Katla. „Und vielleicht endet dann die Regentschaft des Schreckens. Das ist für mich Grund genug, es zu versuchen.“
Zustimmendes Gemurmel.
„Und wie soll das funktionieren?“ Njal reibt sich nachdenklich das Kinn. „Unzählige Soldaten innerhalb des Schlosses und der Stadt. Ein Lordkanzler, der alles seit Jahren im Griff hat, und einen König, der eingesperrt im Turmzimmer sitzt.“
„Die einzige Chance, die wir haben, sind die Festlichkeiten. Eskil verlässt an diesem Tag sein Gefängnis. Im Schloss und in der Stadt herrscht rege Betriebsamkeit. Fremde fallen nicht auf. Viele Adlige, die zum großen Teil nicht hinter der Politik des Lordkanzlers stehen, werden das Fest zu Ehren seines Geburtstages besuchen. – Wir müssen durch den Seiteneingang, durch den Elion und Sjur in das Schloss geführt wurden, eindringen, die Wachen der Jungs überwältigen. Anschließend erscheinen wir beim Festmahl und geben dem jungen König Rückendeckung, wenn er dem Volk die Wahrheit sagt. Besonders müssen wir auf den Lordkanzler achten. Er darf nicht entkommen, da er der Kopf der Verschwörer ist.“ Den Plan, den Egill vorträgt, haben wir auf dem Weg hierher besprochen. Er ist nicht perfekt und kann zu jedem Zeitpunkt scheitern, doch auf die Schnelle und mit wenigen Leuten ist mehr nicht möglich. Wir müssen hoffen, dass sich Adelige und Volk hinter ihren König und gegen den Lordkanzler stellen. Ansonsten sind wir alle verloren.
Noch zwei Tage bis zum Fest. Immer wieder sind wir den Plan durchgegangen, haben uns abgestimmt. Ich werde heute den König informieren und hoffe, nicht erwischt zu werden. Mir kommt es so vor, als seien noch mehr Wachen im Schloss unterwegs. Zweimal hätten sie mich fast ertappt, ehe es mir gelang, die Wendeltreppe hochzulaufen und im Gemach des Königs zu verschwinden.
Eskil sitzt am Fenster und betrachtet den Hof. Die ersten Gäste sind eingetroffen und ihre prachtvollen Kutschen stehen dort unten.
„Seit ich hier eingesperrt bin, habe ich das Schloss nicht mehr verlassen. Ich weiß nicht, wie mein Land aussieht, wie die Felder sich im Wind wiegen …“ Er dreht sich zu mir um. „Wie schmeckt die Freiheit?“
„Glaubt mir, Eskil, ihren wahren Wert kann man erst ermessen, wenn man sie verloren hat“, entgegne ich.
„Ich frage mich, ob ich der Aufgabe gewachsen bin.“ Schwermütig wendet er den Blick wieder ab. „Ich habe keine Ahnung von den Geschäften des Landes.“
„Aber du hast ein Herz und du hast Verstand. Damit kann es nur besser werden, als es jetzt ist.“ Ich trete neben ihn. „Wir werden dir helfen. Am Tag deines Geburtstages werden wir die Wachen im Kerker überwältigen, die Gefangenen befreien und zusammen in den Thronsaal kommen. Dort wirst du den Adligen die Wahrheit sagen. Wenn genügend auf unserer Seite stehen, wird der Lordkanzler am gleichen Abend mit den anderen Verrätern im Gefängnis sitzen. Wenn zu viele gegen uns sind, dann werden wir sterben. Doch wir sind bereit das Risiko zu tragen. Bist du es auch?“
„Ja, lieber tot als weiter eingesperrt“, sagt er ernst. „Ich wollte immer ein besserer König als mein Vater sein, vielleicht bekomme ich die Gelegenheit dazu.“
„An uns soll es nicht scheitern.“ Ich betrachte ihn. Er sieht gut aus, sehr blass, da seine Haut lange nicht das Sonnenlicht sah. Fast wie ein Minensklave. Wenn wir Erfolg haben, wird es diesem Land irgendwann wieder besser gehen, denn dieser König wird es nicht weiter knechten.
„Du liebst deinen Freund sehr“, stellt er nach einem Augenblick fest und wendet sich wieder mir zu.
„Ja“, entgegne ich schlicht.
„Er muss sehr glücklich sein, jemanden wie dich zu haben.“
„Ich bin glücklich, dass er mich genauso liebt wie ich ihn.“ Der Gedanke an sein Gesicht reicht, um mich lächeln zu lassen.
„Ich hoffe, du kannst ihn befreien und ihm ist nichts geschehen.“ Kurz legt Eskil mir seine Hand auf den Arm. „Und ich hoffe, Vaekison erhält seine gerechte Strafe.“
„Was ist die gerechte Strafe für dieses Ungeheuer?“
„Allein der Hochverrat reicht für die Todesstrafe“, erwidert Eskil.
„Auch wenn ich schon getötet habe, halte ich die Todesstrafe für verkehrt. Ein König sollte nicht morden, er sollte andere Formen der Strafe finden.“ Vasyas Tod hatte meinen Hass gestillt, doch eine gerechte Strafe für sein Vergehen war er nicht, ebenso wenig wie der Tod von Halvor. „Ein einzelner Mensch darf hassen, ein König muss gerecht sein.“
„Und der Tod ist nicht gerecht?“
„Nein, einem Menschen das Leben nehmen, weil er einem anderen das seine genommen hat, bedeutet nur dasselbe zu tun. Ein Mord für einen Mord. Was, wenn er zwei oder drei Menschen getötet hat? Oder, wie im Fall Vaekisons, unzählige Leben? Du kannst ihn nur einmal töten lassen, aber du kannst ihn anders strafen, lebenslang.“
„Ich werde darüber nachdenken. Ich muss über so viel nachdenken. Wie kann ich all das Unrecht wiedergutmachen, das dieses Monster verursacht hat? Wie betreibe ich die Minen, ohne weiter Sklaven einzusetzen?“
„Du kannst weiterhin Verbrecher einsetzen, ansonsten wirst du auch freiwillige Minenarbeiter finden, wenn du sie entlohnst und die Arbeitsbedingungen verbesserst.“ Einen Moment schweige ich. „Ich habe eine Bitte. Die Rebellen in den Bergen, sie haben sich gegen die Bedingungen aufgelehnt, die Vaekison geschaffen hat, nicht gegen dich. Lass Gnade walten, es sind gute Menschen, Frauen und Kinder. Im Moment hungern deine Soldaten sie aus und ich habe Angst, dass viele von ihnen sterben werden, wenn du sie nicht begnadigst.“
Lange sieht er mich an. „Jeder, den die Politik des bisherigen Lordkanzlers zu drastischen Maßnahmen gezwungen hat, wird begnadigt. Ich werde versuchen, das Unrecht wiedergutzumachen, doch es wird seine Zeit dauern. Zu lange hat Vaekison geherrscht.“
„In zwei Tagen ist diese Herrschaft hoffentlich zu Ende und du kannst deinem Volk zeigen, dass du ein anderer, ein gerechter König bist.“
Zwei Tage später schlägt mein Herz bis zu meinem Hals, meine Hände sind schweißnass. Ich kann mich kaum konzentrieren, lasse beim Frühstück fast eine Platte fallen. Der Lordkanzler betrachtet mich wie immer und zieht eine Braue hoch. Ich zwinge mich zu einem entschuldigenden Lächeln, das er huldvoll erwidert.
Die Zeit schleicht und rast, scheint zu verharren und sprunghaft weiterzugehen. Ich sehne mich nach dem Zeitpunkt, wenn alles vorbei ist, so oder so.
Der Trubel ist unser Vorteil, keiner hat mehr den Überblick. Soldaten, Diener, Kammerzofen und Mägde schwirren durch die Gänge. Am Abend findet das Bankett für den König statt, kurz vorher müssen wir handeln.
Meine Gedanken hüpfen wie ein Frosch von Elion zu dem König, zu den Wachen, zu unserem Plan, zurück zu Elion. Es darf nichts schiefgehen, wir sind wenige und wenn die Soldaten sich gegen ihren König stellen, werden wir sterben.
Ängste lassen mich erschaudern, wenn Elion nicht im Kerker ist? Wenn er tot ist? Wenn der König uns verrät? Vielleicht ist alles gar nicht, wie es scheint? Wenn die anderen nicht kommen? Wenn die Wachen uns erwarten?
Endlich ist es Zeit und alle Ängste fallen von mir ab. Wir werden siegen oder verlieren, leben oder sterben. Alles spielt keine Rolle, solange ich Elion finde. Mit ihm verliert alles seinen Schrecken, sogar der Tod.
In der Küche herrscht reges Treiben, ich gebe Egill und Katla ein Zeichen. Möglichst unauffällig verschwinden wir nacheinander, treffen uns im Salon. Hier ist um diese Zeit keiner, alles konzentriert sich auf den Thronsaal.
Wir laufen leise durch den Gang zur Wendeltreppe, lauschen auf Geräusche und hören Schritte. Eine – nein, mindestens zwei Wachen bewegen sich am Ende der Stufen. Vorsichtig bewegen wir uns abwärts.
„Wann kommen die Käufer?“, fragt eine Stimme.
„Nach den Feierlichkeiten“, erwidert eine andere.
„Ich würde auch lieber feiern, als hier nutzlos warten. Was soll passieren? Die Türen sind zu und keiner kann weglaufen. Warum müssen wir hier Wache schieben?“ Wieder der erste Sprecher.
„Wir sollen aufpassen, dass sich die kostbare Ware nicht selbst beschädigt“, lautet die Antwort und beide Männer lachen.
Gerade als ich weitergehen will, ertönt eine dritte Stimme. „Hört auf zu lamentieren. Wir werden gut bezahlt und wer will schon dieses Lamm von einem König sehen? Wie können die Menschen nur denken, dass er regiert? Wenn Vaekison neben ihm steht, kann man doch deutlich sehen, wer der Wolf und wer das Schaf ist.“
Ich hebe drei Finger und die beiden hinter mir nicken.
Mit dem nächsten Schritt kann ich in den Gang vor den Zellen sehen – und gesehen werden. In meinem Sichtfeld ist niemand und ich gehe sprungbereit eine weitere Stufe hinab. Jetzt sehe ich einen der Männer, er steht im Profil zu mir und redet mit den anderen. Ich gebe Egill und Katla ein Zeichen und wir überwinden zügig die Distanz zu den Wachen.
Das Überraschungsmoment ist auf unserer Seite, ehe die drei ihre Waffen ziehen können und ernsthaft Widerstand leisten, liegen unsere Klingen an ihren Kehlen.
„Einen wunderschönen guten Abend. Wären Sie so freundlich, uns die Zellenschlüssel auszuhändigen?“, fragt Katla und erntet nur ein Knurren. Sie seufzt theatralisch und ritzt die zarte Haut über der Kehle des Mannes an. „Weißt du, mein Lieber, mir ist es egal, ob du auf diesem kalten Boden verblutest oder ob du in einer der Zellen eingeschlossen überlebst. Die Schlüssel bekomme ich auf die eine oder die andere Weise.“
Widerwillig gibt er ihr sein Schlüsselbund.
„Geht doch. Danke schön“, sagt sie und zieht ihm einen kleinen Knüppel fast liebevoll über den Kopf, dass er zusammenbricht. Mit einem Blick zu den anderen sagt sie: „Keine Angst, er ist nicht tot. Ich habe Übung darin.“ Sie schenkt ihnen ein Zwinkern und öffnet die erste Tür.
Heute Morgen haben uns die Wachen zusammengetrieben, in einen Waschraum geführt und verlangt, dass wir uns reinigen. Endlich den Dreck vom Körper zu waschen war herrlich, auch wenn es unter den Augen der Wachen geschah. Anschließend verteilten sie frische Kleider an uns. Was immer mit uns geschehen soll, es wird heute geschehen. Mein Kopf ist leer, ich habe das Gefühl, alle Gedanken gedacht zu haben.
Nicht einmal mehr Angst habe ich. Wie seit Tagen starre ich auf den einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand, ein winziges Loch in dem Stein. Wäre ich eine Ameise, könnte ich mich in ihm verstecken.
Der Schlüssel wird ins Schloss gesteckt, dreht sich knarrend und quietschend öffnet sich langsam die Tür. Ich hebe den Blick nicht, sondern fixiere weiterhin die Wand.
„Elion?“
Mein Blick fliegt zur Tür, mein Herz beginnt zu rasen und ich frage mich einen winzigen Moment, ob ich vielleicht Wahnvorstellungen habe. Tomaz steht in der Tür! Ich kann es nicht verhindern, die Tränen, die ich tagelang nicht geweint habe, stürzen aus meinen Augen. Mit wenigen Schritten ist er bei mir, zieht mich hoch in seine Arme.
„Alles wird gut. Ich bin bei dir“, murmelt er leise in mein Ohr. Ich schlinge die Arme um ihn, verberge mein Gesicht an seinem Hals, atme seinen Duft und begreife, dass er real ist.
„Tomaz“, flüstere ich, weil ich keine anderen Worte finden kann. Immer wieder nur seinen Namen. Er hat mich gefunden!
„Komm, meine kleine Sonne, wir müssen weg hier. Auf uns wartet noch eine Aufgabe.“ Sanft löst er mein Gesicht von seinem Hals und küsst mich. „Anschließend verschwinden wir.“
Alles ist egal, solange er mich nicht verlässt. Mit ihm gehe ich überall hin.
Seine Hand legt sich um meine und zieht mich mit. Im Flur stehen die anderen Gefangenen, überrascht von der Entwicklung. Egill und Katla schleppen gerade eine bewusstlose Wache in eine der Zellen und verschließen diese.
„Ihr seid frei und könnt das Schloss gleich verlassen“, sagt Egill zu den jungen Männern. Wie ich können sie nicht begreifen, was geschehen ist, doch sie folgen Katla nach oben.
Dort schließt sie eine eiserne Tür auf. Davor stehen unsere Freunde. Ich fühle mich überfordert. Während die Jungs das Schloss verlassen, kommen sie herein.
„Ihr bleibt hier, ich sehe nach, ob der König schon im Thronsaal ist“, sagt Tomaz. Sanft löst er sich von mir. „Keine Angst, ich bin gleich wieder da.“
Auch wenn ich ihm vertraue, fühle ich mich verlassen, sobald ich ihn nicht mehr sehe.
Nur wenige Augenblicke später steht er wieder neben mir.
„Der König hat den Thronsaal eben betreten. Alle sitzen an den Tischen und gleich werden die Diener beginnen, das Festmahl zu servieren.“ Tomaz sieht Egill und Katla an. „Es wird Zeit.“
Tomaz geht vor und wir folgen ihm. Zusammen gehen wir durch die Küche, einem der wenigen Räume im Schloss, in dem keine Soldaten sind. Keiner beachtet uns, was in dem Trubel auch nicht verwunderlich ist. Wir betreten eine kleine Kammer, in der die Uniformen der Diener an Kleiderstangen hängen. Schnell kleiden wir uns um.
„Ihr folgt mir einfach, als ob ihr dazugehört. Wenn wir in dem Thronsaal sind, gruppieren wir uns um den König. Sein Leben gilt es zu schützen.“
Ungläubig sehe ich Tomaz an. Wir wollen den König schützen? Den Mann, der das Hand mit unerbittlicher Hand regiert? Der Kinder in die Minen schickt und sein Volk verhungern lässt?
Doch keiner der anderen zweifelt seine Anweisung an.
„Ich erkläre es dir später“, flüstert er in mein Ohr. „Die Dinge sind anders, als sie scheinen.“
Wenn Tomaz das sagt, dann vertraue ich ihm, also ziehe ich mir eine der Uniformen über. Wenig später drückt mir einer der Köche eine Platte in die Hand, ich folge Tomaz, versuche es ihm gleichzutun und die Platte mit einer Hand über meiner Schulter zu halten.
Im Thronsaal stehen unzählige Tische, an denen Menschen in kostbarer und aufwendiger Kleidung sitzen. Am Kopf, leicht erhöht, befindet sich der Tisch des Königs. Er ist erstaunlich jung und sein Blick ernst. Rechts neben ihm sitzt der Lordkanzler, den ich schon im Kerker gesehen habe.
Wir umrunden die Tische zügigen Schrittes und kommen hinter dem Tisch des Königs zum Stehen. Tomaz beugt sich vor und flüstert dem Herrscher etwas ins Ohr. Die schmalen Schultern straffen sich, der Lordkanzler wirft Tomaz einen misstrauischen Blick zu und Eskil erhebt sich.
Überrascht blicken alle Gäste ihn an. Offenbar ist es ungewöhnlich, dass der König zu ihnen spricht.
„Ich bin Eskil, König von Malmirika, unserer Heimat. Vor zehn Jahren verstarb mein Vater und ich übernahm die Bürde der Herrschaft von ihm. Zu dieser Zeit war ich noch ein Knabe, unerfahren und lenkbar. Der Lordkanzler Vaekison“, der König legt seine Hand auf dessen Schulter, „übernahm es, die Geschäfte des Landes zu leiten.“
Ich kann sehen, wie sich die Schultern des Angesprochenen versteifen, seine Hand will unter sein Wams gleiten, doch Tomaz hält seinen Arm fest.
„Vaekison traf in meinem Namen Entscheidungen, von denen ich nichts wusste. Als ich versuchte, mir selbst ein Bild zu machen, sperrte er mich ein. Seit Jahren bin ich ein Gefangener in meinem eigenen Schloss. Wahrscheinlich wäre ich dies noch lange geblieben, wenn der Zufall mir nicht ein paar tapfere Männer an die Seite gestellt hätte.“
Auf einmal reißt sich der Lordkanzler los, springt auf und schreit: „Ergreift sie! Sie sind Verräter! Sie haben den König in ihre Gewalt gebracht und wollen sich durch ihn unseres Landes bemächtigen! Wachen!“
Ein Tumult entsteht, Soldaten greifen zu ihren Waffen, ebenso wie wir. Bevor es jedoch zu einem Kampf kommen kann, hebt Eskil die Hände. „Ich bin der König und ich befehle Euch die Waffen niederzulegen! Wer sein Schwert gegen diese Männer hebt, wird schwer bestraft!“
Die Gäste an den Tafeln betrachten das Geschehen ungläubig. Einige tuscheln miteinander.
Zwei Wachen wollen sich trotz der Worte des Königs auf uns werfen, doch Egill und Njal bringen sie schnell zur Vernunft. Ein Mann in recht schlichter Kleidung erhebt sich.
„Mein König, seit Jahren wundern wir uns über Eure Entscheidungen. Das Volk hungert, es kann die Last nicht tragen, die auf seinen Schultern liegt. Doch Ihr wart nicht bereit uns anzuhören. Wenn es wahr ist, was wir heute hier hören, dann ist der Lordkanzler nicht nur für die Lage im Land verantwortlich, sondern ein Hochverräter.“
Einige murmeln bestätigend, andere sehen gehetzt umher, als suchten sie einen Ausweg.
„Nicht nur der Lordkanzler, sondern alle Männer, die ihm folgten. Alle, die sich an seinen dunklen Geschäften beteiligten und den König in Verruf brachten. Jeder Einzelne von ihnen wird sich in einem Prozess zu verantworten haben.“ Der Blick des Herrschers geht über die Menge. Köpfe werden gesenkt, ein Mann versucht aufzuspringen und den Saal zu verlassen, doch die Männer neben ihm verhindern das.
Diesen Augenblick der Unaufmerksamkeit nutzt der Lordkanzler und zieht einen Dolch unter seinem Wams hervor. Sein Versuch, den König damit zu erstechen, wird jedoch von Katla unterbunden, die ihn kurzerhand niederschlägt.
„Wer hätte gedacht, dass wir einmal den König retten?“ Egill lacht übermütig. „Vom geächteten Rebellen zu umjubelten Helden.“
„Genau, du bist ein Held.“ Katla erwidert sein Lachen.
„Wir könnten hierbleiben, am Hofe leben und die Berater des Königs werden. Janusch wird sein Hofarzt …“
„Träum weiter, du Spinner“, sagt Katla und zieht ihn mit. „Vielleicht willst du auch noch geadelt werden und einen Landsitz geschenkt bekommen.“
„Na ja, dem König wird seine Rettung doch wohl etwas wert sein“, entgegnet Egill.
Wir gehen hinter den beiden. Tomaz hat seinen Arm um meine Schulter gelegt und ich genieße die Nachtluft. Immer noch verstehe ich nicht ganz, was geschehen ist und warum der König auf einmal nicht das Ungeheuer war, wie wir immer vermutet haben. Anscheinend war ihm kein besseres Schicksal vergönnt als uns. Gefangen im eigenen Schloss, ohne Macht und von der Außenwelt isoliert.
„Ich will gar nicht hierbleiben“, sagt Tomaz neben mir. „Ich will in den Süden und das Meer sehen.“
„Ich auch“, flüstere ich in sein Ohr. Er dreht seinen Kopf und küsst mich.
Etliche Männer waren an diesem Tag verhaftet worden. Die Männer, die den Lordkanzler unterstützten, die Wachen, die sich für seine Machenschaften hergaben. Es wird eine Reihe von Prozessen nötig sein, bis sie alle ihrer gerechten Strafe zugeführt werden. Auch wird es lange dauern, bis sich das Land von der Herrschaft des Lordkanzlers erholt hat. König Eskil wird viel ändern und sich den Respekt seines Volkes verdienen müssen.
Vor den Wagen brennt ein Feuer, Caja sitzt dort zusammen mit Janusch. Sie haben auf die Kinder aufgepasst, während die anderen zum Schloss gegangen sind. Freudig empfangen sie uns, schließen mich und Sjur in die Arme.
„Wollen wir uns noch mit den anderen an das Feuer setzen oder bist du müde?“, fragt Tomaz mich leise.
„Ich möchte mit dir allein sein“, antworte ich und schmiege mich an ihn. Nach den Tagen im Kerker, der Angst, ihn nie wieder zu sehen und der Kälte, die fast mein Herz erreicht hat, brauche ich seinen warmen Körper neben mir.
„Komm, kleine Sonne, lass uns verschwinden.“ Mit einem kurzen Nicken zu Katla, die dies erwidert, verschwinden wir in unserem Wagen.
Tomaz zieht mich in die Arme, kaum dass die Tür hinter uns geschlossen ist. Hier bin ich zu Hause, in diesem Wohnwagen, bei diesem Mann.
Erst als sich die Tür hinter uns schließt, fällt die Spannung von mir ab. Endlich allein. Ich ziehe Elion in meine Arme, muss ihn spüren, seinen Körper, seine Wärme, seinen Herzschlag fühlen.
Über den Tag, die letzten Tage, will ich nicht nachdenken. Wichtig ist nur der Moment, nur Elion.
Vorsichtig fragend berühre ich seine zarten Lippen, streiche liebkosend darüber. Elion kommt mir entgegen, erwidert meine Umarmung und meinen Kuss.
Ich habe ihn vermisst, seinen Geruch, seinen Geschmack, das Gefühl, ihn in den Armen zu halten.
„Ich liebe dich“, murmele ich gegen seine Lippen, doch diese drei Worte sind viel zu wenig für das, was ich fühle.
„Ich liebe dich auch“, flüstert Elion, hebt seinen Kopf und sieht mich an. „Ich hatte Angst, dich nie wieder zu sehen, nie wieder in den Armen zu halten. Der Gedanke war schrecklich.“
Ich nehme seine Hand, küsse seine Handfläche, wandere mit meinem Mund weiter über die zarte Haut an seinem Handgelenk, spüre seinen Herzschlag unter meinen Lippen und sein Erschauern.
„Aber jetzt bist du wieder hier, bei mir.“ Gern würde ich ihm versprechen, dass uns nichts mehr trennen kann, doch das vermag ich nicht, zweimal schon hat uns das Schicksal gezeigt, wie schnell wir uns verlieren können. „Lass uns heute Nacht nicht daran denken, was war oder was kommt. Lass uns einfach jeden Moment genießen.“
Er nickt und ich setze den Weg mit kleinen Küssen seinen Arm hinauf fort.
„Deine Kleider stören“, brumme ich leise und er lacht.
„Dann zieh sie mir aus.“
Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Im fahlen Mondlicht, das durch die Fenster hereinfällt, scheint seine helle Haut fast silbern. Jeden Zentimeter, den ich von dem störenden Stoff befreie, begrüße ich mit meinen Lippen. Wie kostbare Seide, kühl und glatt. Wo ihn mein Mund berührt, stellen sich die kleinen Härchen auf.
Der Duft von Seife umgibt ihn, vereint sich mit seinem ureigenen Geruch, nach dem ich süchtig bin. Ich liebe es, ihn zu riechen, zu schmecken und jeden Winkel seines Körpers zu erforschen, den Wirbeln seines Rückgrates hinab bis zu den runden Hügeln zu folgen, dem Lauf seiner Muskeln an seinem Oberschenkel hinab zu seinen perfekten Knöcheln. Er reagiert wunderbar empfindlich, wenn ich saugende Küsse darauf verteile. Ich sitze zwischen seinen Beinen und betrachte die wundervolle Landschaft seines Körpers. Elion vertraut mir, er überlässt sich mir und ich werde ihn nicht enttäuschen.
Meine Fingerspitzen streichen über die Innenseiten seiner Oberschenkel. Meine Hände erreichen die glatten Hügel, die ich umfasse und leicht knete, ehe meine Hände an seinen Seiten hochgleiten bis zu seinen Schultern. Ich lege mich auf seinen Rücken, lasse ihn spüren, wie sehr er mich erregt. Ein leises, wohliges Brummen ist die Antwort und sein Körper drückt sich mir entgegen.
Ich beiße sacht in seinen Nacken und Elion senkt den Kopf in die Kissen, bietet mir seinen schmalen Hals. Unter meinen Lippen spüre ich zarten Flaum. Er liebt es, wenn ich ihn abwechselnd leicht beiße und küsse. Sein Atem wird schneller. Ich ziehe mich etwas zurück, gebe ihm Platz.
„Dreh dich um“, raune ich in Elions Ohr und er kommt der Aufforderung sofort nach.
Wird er mit jedem Tag schöner? Ich beuge mich erneut über ihn und küsse seine Stirn, Nase, Kinn, die Mundwinkel und letztlich seine Lippen.
Seine Hände zerzausen mein Haar, kraulen meinen Nacken. Die Erregung lässt seine Augen funkeln. Für eine Sekunde oder eine Ewigkeit sehen wir uns nur an, dann legt er seine Beine um meine Hüften.
„Komm, will dich spüren, brauche dich“, murmelt er zwischen fordernden Küssen.
„Nicht so ungeduldig“, erwidere ich leise, verlasse seinen Mund und knabbere mich über seinen Hals, seine Brust und die kleinen, empfindlichen Perlen, seinen Bauch, der sich heftig im Takt seiner Atmung bewegt, zu der Ader, die das Blut pulsierend zu jenem Ort führt, auf den ich mich langsam hinarbeite. Zu Elions Unwillen, der versucht mich direkt dorthin zu leiten. Ein frustriertes Knurren entkommt ihm, als meine Zunge über seine Leisten gleitet.
Mit einem Lächeln betrachte ich ihn, ehe ich endlich über seinen harten Schaft lecke. Elions Körper kommt mir entgegen und ich lege meine Hand auf seine Hüfte, halte ihn unten, während meine Lippen sich um seinen pralle Eichel legen und langsam herabgleiten.
Elion keucht meinen Namen in süßer Qual. Mein Blut jagt durch meinen Körper, rauscht in meinen Ohren, pocht hart in meinem Glied. Doch meine eigene Lust muss warten.
Ungeduldig spreizt Elion seine Beine, zieht sie an seinen Körper. Eine wortlose Aufforderung, ihn nicht länger warten zu lassen.
Ich nehme etwas Öl auf meine Finger, massiere seine Hoden, die sich schon erwartungsvoll zusammenziehen, streichele die zarte Haut darunter und weiter zwischen seine Backen. Als ich den engen Muskelring durchdringe, kommt Elion mir sofort entgegen.
Seine Geduld ist am Ende – und meine auch. Ich dehne ihn, versuche ihm nicht wehzutun, doch wir beide brennen. Fahrig verteile ich etwas Öl auf meinem Glied und rutschte an ihn heran.
Die Enge zu überwinden, ist ein grandioses Gefühl, langsam in die Hitze seines Körpers zu gleiten, fest umschlossen, nimmt es mir den Atem. Ich verharre, lege meine Stirn an seine, meine Unterarme liegen neben seinem Kopf.
Ganz vorsichtig bewege ich mich, nur kurze, sanfte Stöße, mehr halte ich nicht aus, sonst wäre dies sofort für mich beendet.
Ein Stück hebe ich den Kopf, sehe in seine Augen, die hellsten Sterne in meinem Universum. Seine Beine verschränken sich hinter meiner Hüfte, seine Hände in meinem Nacken. Mit kleinen, fast schaukelnden Bewegungen, die unsere Nähe, Verbundenheit spürbar machen, treiben wir auf dem Meer der Lust, steuern langsam auf eine riesige Welle zu, die uns in ein fernes Universum schleudern wird.
Ich sehe Elions Erregung, seine Emotionen und er die meinen. Offen, intensiv verbunden … näher kann man sich nicht kommen.
Der Takt wird schneller, unsere Atem vermischen sich wie unser Keuchen. Fast zeitgleich erfasst uns die Welle, reißt uns mit, löst uns für diesen winzigen Moment von der Erde, lässt uns fliegen, frei wie Adler oder Schmetterlinge, nur einander verbunden. Für die Ewigkeit dieses Momentes.
Unser abflauendes Keuchen füllt den Wohnwagen. Ich will mich zurückziehen, doch Elion hält mich fest und ich bleibe auf ihm liegen.
„Nirgends bin ich sicherer als in deinem Arm, verborgen durch deinen Körper, der mich wärmt und schützt, eins mit dir.“
Ich möchte ihm versprechen, dass er immer sicher ist, dass ich ihn vor Schaden bewahre, aber wir beide wissen inzwischen, dass dies nicht möglich ist, darum halte ich ihn einfach nur fest.
„Tomaz.“ Hart wird gegen die Tür unseres Wagens geschlagen. Müde richte ich mich auf, blicke auf Elion, der mit leicht zerknautscht wirkendem Gesicht neben mir liegt.
In den einfallenden Sonnenstrahlen tanzen träge winzige Staubkörner. Es muss schon Mittag sein.
„Tomaz!“ Es ist Egill.
„Gleich“, antworte ich, gähne, steige aus dem Bett und wickele eins der Laken um mich, ehe ich die Tür öffne.
Als Erstes sehe ich Egill, dann Eskil, den König, und hinter ihm Soldaten. Für einen Moment frage ich mich, ob er uns festnehmen will, doch dann sehe ich sein Lächeln und entspanne mich.
„Der König“, raunt Egill überflüssigerweise.
„Guten Morgen, Eure Majestät“, sage ich und deute eine Verbeugung an.
„Nicht so förmlich, mein Freund.“ Eskil tritt näher und ich frage mich, welchen Eindruck ich gerade mache. Schnell werfe ich einen Blick über die Schulter und sehe, dass Elion sich ein Kissen über den Kopf gezogen hat.
„Verzeih, dass ich euch wecke, doch ich musste das Schloss verlassen, endlich einmal die Welt hinter den Mauern sehen.“ Eskil lacht und seine Augen funkeln. „Und ich wollte euch alle heute Abend auf das Schloss einladen. Ich weiß, ihr werdet bald weiterziehen, darum lasst uns heute Abend einmal zusammen feiern wie Freunde.“
Ich werfe einen kurzen Blick auf diejenigen von uns, die ich sehen kann, und lese Zustimmung in ihren Augen, also nicke ich. „Wir nehmen diese Einladung gern an. – Und Eskil, du solltest vorsichtig sein, es gibt bestimmt noch genügend Menschen, die dich lieber tot als lebendig sehen würden.“
Er nickt. „Darum die Soldaten. Ich hoffe, eines Tages nicht mit einem halben Heer durch mein Land reiten zu müssen.“
„Das hoffe ich auch, für dich und für dein Volk.“ Einen Augenblick sehen wir uns in die Augen.
„Wir sehen uns heute Abend“, sagt er und wendet sich ab.
Schnell schließe ich die Tür und drehe mich um. Das Kissen wird ein kleines Stück angehoben und Elion blinzelt mich an.
„Komm her.“ Er streckt seinen Arm aus und signalisiert mir zu ihm zu kommen. Wie sollte ich dieser Einladung widerstehen? Ich werfe das Laken zur Seite und gehe zu ihm. Mit einem eindeutigen Blick zieht er mich herunter.
„Müssen wir schon aufstehen?“, fragt er mit einem Schmunzeln.
„Nein, ich denke, es ist der Mond, der leuchtend hereinscheint und wir haben noch ein paar Stunden Zeit, ehe wir uns erheben müssen“, entgegne ich grinsend.
„Das ist gut.“ Und schon liegen seine Lippen auf meinen, erobern mich, fordern mich heraus und ich gehe gern darauf ein.
Am liebsten würde ich nie wieder aufstehen, oder erst viel später – in ein bis zwei Tagen. Auf meinen Ellenbogen aufgestützt betrachte ich Tomaz, der sich anzieht, und bedaure, dass sich sein Körper hinter dem Stoff, seine seidenweiche Haut unter der Kleidung versteckt.
„Aufstehen, Träumer“, sagt Tomaz und wirft mit einem Kissen nach mir.
„Können wir nicht einfach hierbleiben?“, frage ich und strecke mich, lasse die Decke von meinem Körper gleiten.
„Auch wenn ich deinem Anblick nur schwer widerstehen kann“, entgegnet er mit einem begehrlichen Blick über meinen Körper, „gehen wir heute Abend ins Schloss – und morgen machen wir uns auf den Weg in den Süden.“
„Du magst den König.“ Ich stehe auf und schnappe mir mein Hemd. Gewaschen habe ich mich schon, sodass ich mich nur ankleiden muss.
„Ja, den König, den ich kennengelernt habe, mag ich.“ Tomaz lächelt mich an. „Er war genauso ein Gefangener wie wir.“
„Na, wohl kaum genauso, oder musste er auch mit dreißig anderen Menschen auf Strohmatten schlafen? Oder sich nur einmal in der Woche waschen? Oder hatte er jeden Tag Hunger? Wurde von seinen Wärtern behandelt wie der letzte Dreck, gedemütigt und missbraucht?“
„Nein, du weißt, was ich meine.“ Tomaz zieht mich in seine Arme. „Trotzdem war er eingesperrt und isoliert.“
„Ja, das habe ich verstanden, und der böse Lordkanzler Vaekison hat all die grausamen Taten in seinem Namen begangen, weshalb ihn das Volk hasst und erst lernen muss, seinem König zu vertrauen.“
„Ja, genau so.“ Er küsst mich auf die Nasenspitze. „Ich mag es, wenn du eifersüchtig bist.“
Brummend schiebe ich ihn von mir. „Bin ich gar nicht. Nur, während ich im Kerker sitze, nicht weiß, ob ich dich jemals wiedersehe und langsam verzweifele, amüsierst du dich mit diesem gut aussehenden König.“
„Du weißt, dass ich nur ein Ziel hatte, dich zu befreien, wieder in meinen Armen zu halten und mit dir aus diesem Land zu entfliehen. Dem eingesperrten König bin ich nur zufällig begegnet.“ Ernst sieht er mir in die Augen. „Deine Rettung war das Wichtigste, alles andere nur Beiwerk.“
Ich muss kichern. „Die Rettung eines Königs und damit vielleicht eines ganzen Landes nur Beiwerk.“
„Ja, denn ohne dich bedeuten mir weder der König noch das Land noch irgendein anderer Mensch etwas.“
Die Wahrheit dieser Worte kann ich in seinen Augen sehen, schnell schmiege ich mich an ihn, verberge mein Gesicht an seinem Hals. „Ich liebe dich“, flüstere ich, überwältigt von dem, was ich gesehen hab.
„Ich liebe dich auch, meine Sonne.“ Wir küssen uns und wieder überkommt mich der Wunsch, mit ihm ins Bett zurückzukehren. Nur mühsam löse ich mich und ziehe mich an. Was sind ein paar Stunden? Bald sind wir wieder in unserem Wagen unterwegs und reisen gen Süden.
Unter einer Feier ‚nur unter Freunden’ versteht ein König offensichtlich etwas anderes als ich. Im Thronsaal erwarten uns viele der Adligen, die zur Eskils Geburtstag angereist sind und den gestrigen Tag miterlebt hatten. Viele von ihnen haben sich gegen den Lordkanzler und auf die Seite des Königs gestellt, weil sie schon lange nicht mehr zufrieden mit der Politik des Hofes sind.
Überschwänglich begrüßt der König Tomaz, feiert ihn als seinen Retter. Er besteht darauf, dass Tomaz an seiner Seite sitzt und legt ihm immer wieder vertrauensvoll die Hand auf die Schulter.
Ich will nicht eifersüchtig sein, doch mein Magen rebelliert bei diesem Anblick. Zu wenig Zeit hatten wir bisher, unsere Liebe zu festigen, zweimal hat uns das Schicksal auseinandergerissen und in mir lauert die Angst, dass es jederzeit wieder geschehen könnte. Vielleicht entwickelte dieser Eskil auch eine Obsession für Tomaz und will ihn zwingen bei ihm zu bleiben? Notfalls mit Gewalt?
Meine Fantasie ist überreizt von den Tagen in der Stille des Kerkers, in der ich zu viele Gedanken gedacht, zu viele Ängste durchlebt habe. Ich brauche Ruhe und Frieden an Tomaz’ Seite.
Mühsam versuche ich nicht zu starren, mich auf meinen Teller und die Fröhlichkeit im Raum zu konzentrieren, doch ich sehne mich nur nach der Stille unseres Wagens, nach dem Zirpen der ersten Grillen, dem morgendlichen Zwitschern der Vögel, nach Kimmis Schnurren – und Tomaz’ leisem Schnarchen, wenn er auf dem Rücken liegt, mehr ein leises Schnaufen. Sein Grummeln, wenn die Sonne durch das Fenster fällt und ihn weckt.
Während alle um mich herum ihre Gläser heben und auf alles Mögliche trinken, will ich nur fort. Eins weiß ich genau, hier gehöre ich nicht her. Die Leute sind mir zu laut, zu grell und zu aufdringlich.
Aus den Augenwinkeln werfe ich Tomaz einen Blick zu. Er scheint sich zu amüsieren, lacht über etwas, das der König sagt, der sich viel zu nah zu Tomaz’ Ohr lehnt. Tomaz muss sein Atmen spüren.
Bis vor Kurzem hasste ich das Ungeheuer, für das ich Eskil hielt, jetzt hasse ich den charmanten König, der er zu sein scheint.
„Schmeckt dir das Essen nicht?“ Katla sieht mich von der Seite an. Ich schüttele bloß den Kopf.
„Oder verdirbt dir der König den Appetit?“
Schnell senke ich den Blick. Sie wird sofort erkennen, was ich fühle.
„Hey, Elion, du musst Tomaz vertrauen, er liebt dich, sonst wären wir gar nicht hier.“ Sanft legt sie ihre Hand auf meinen Unterarm. „Lass dem König die Freude, in wenigen Stunden wird Tomaz dich nach Hause begleiten und mit dir unter die Decke schlüpfen. Nichts anderes will er und nichts anderes bedeutet ihm etwas.“ Sie lächelt mir beruhigend zu. „Vertrau ihm einfach.“
Das tu ich, doch das heißt nicht, dass mir die Situation gefallen muss.
Nach dem Essen räumen die Diener zügig die Tische an die Wand. Eine kleine Kapelle erscheint und spielt auf. Männer und Frauen beginnen zu tanzen. Es sieht anders aus als die Tänze auf der Festung. Steifer, förmlicher und nicht so lustig.
„Warum siehst du so ernst aus?“ Tomaz stellt sich neben mich und betrachtet mich.
„Ich bin müde und mir ist das alles zu laut“, erwidere ich. Das ist zumindest ein Teil der Wahrheit.
„Wollen wir gehen?“ Er tritt noch einen Schritt näher und sieht mir tief in die Augen.
„Und der König?“, frage ich heiser.
„Der tanzt und feiert. Lass uns gehen, ich will allein mit dir sein.“ Schon nimmt er meine Hand und zieht mich hinter sich her. Nur kurz hält er neben dem König, flüstert ihm etwas ins Ohr, worauf dieser mich ansieht und nickt. Bevor ich mir Gedanken darüber machen kann, geht Tomaz schon weiter und ich folge ihm.
Wir gehen zu Fuß, der Mond ist fast rund und dunkle Wolkenstriche ziehen an der gelben Scheibe vorbei. Tomaz hält meine Hand und wir schweigen, lauschen auf die nächtlichen Geräusche. Erstaunlich, wie viel es im Wald zu hören gibt.
Plötzlich bleibt Tomaz stehen und dreht sich zu mir um.
„Ich bin froh, endlich mit dir allein zu sein. Ein Leben in diesem Trubel wäre nichts für mich.“ Seine Stimme ist leise und er legt seine Stirn an meine. „Ich bin froh, wenn wir endlich weg sind.“
„Aber du magst den König“, werfe ich ein.
„Ja, den König, aber nicht diesen Aufstand, diesen Lärm. Lieber sitze ich mit dir im Mondlicht am See und höre den Fröschen beim Quaken zu.“ Er legt seinen Arm um meine Schulter und wir gehen weiter. „Vielleicht muss man in einem Schloss geboren sein, um dieses Trara zu mögen.“
Ich umfasste seine Hüfte. „Mir sind quakende Frösche auf jeden Fall auch lieber.“
Nur Janusch sitzt am Feuer und hielt Wache, als wir am Lager ankommen. Caja und die Kinder schlafen schon, die anderen feiern noch auf dem Schloss.
„Weiß der König, dass wir geflohene Minensklaven sind?“, frage ich Tomaz, als wir in unserem Wohnwagen verschwinden.
„Ja, ich hoffe, zukünftig wird es keine Minensklaven mehr geben. Überhaupt keine Kinder, die für den König ihren Eltern weggenommen werden. Allerdings weiß ich nicht, wie sich der König in den nächsten Tagen, Wochen und Jahren entwickelt, wer ihn beeinflusst und wie viel von dem, was er jetzt für richtig hält, wirklich umsetzt.“
„Willst du lieber hierbleiben und ihm helfen?“
Tomaz schüttelt den Kopf. „Nein, ich bin kein königlicher Berater und will es auch nicht sein. Auch wenn der König jetzt selbst regiert, wird es Intrigen und Machtspiele am Hof geben. Damit will ich nichts zu tun haben. Ich will mit dir in den Süden, in die Sonne und ein ganz neues Leben beginnen. Schön, wenn die Dinge sich hier verändern, doch ich will hier nicht leben.“
Von hinten umfasse ich Tomaz, küsse seinen Nacken. „Das ist schön, denn ich möchte auch nicht hierbleiben“, flüstere ich und puste über die feinen Härchen.
Seine Hände legen sich über meine und er neigt den Kopf nach hinten, bietet mir seinen Hals an. Sanft knabbere ich eine Linie von seinem Ohr zu seinem Schlüsselbein. Ich weiß, dass ihm das gefällt, höre das zufriedene Brummen.
„Lass uns ins Bett gehen“, locke ich und ziehe ihn einen Schritt mit mir. „Dort können wir liegen und ich kann mich mehr widmen als nur deinem Hals.“
„Ein Angebot, das ich nicht ablehnen kann“, entgegnet Tomaz und dreht sich in meinem Arm. Mit einem Mal hebt er mich hoch und ich schlinge meine Beine um seine Hüften, halte mich an seinen Schultern fest. Mit zwei Schritten sind wir am Bett und Tomaz legt mich sacht ab, dann beginnt er mich auszuziehen.
Er lässt sich Zeit dabei, bedeckt jeden Flecken Haut, den er freilegt, mit Zärtlichkeiten. Ich überlasse ihm die Initiative und genieße. Alles ist vergessen, der König, sein Hofstaat, dieses Land und seine Probleme.
Mit einem gehauchten „Ich liebe dich“ und seinen Lippen auf meinem Mund, fegt Tomaz den letzten Gedanken aus meinem Kopf und ich bin nur noch Liebe und Verlangen. Möge sich das nie ändern.
Am nächsten Morgen sitzen wir, diejenigen, die vor ein paar Wochen – oder waren es schon Monate – die Gemeinschaft verlassen hatten, zusammen. Ich sehe in ihre Gesichter, sie alle sind meine Familie.
„Die Lebensbedingungen in diesem Land werden sich ändern, es gibt keinen Grund mehr, das Land zu verlassen. Eskil hat zugesagt, die Belagerung der Gemeinschaft aufzugeben und Dagur anzubieten, sich irgendwo anders anzusiedeln.“ Mein Blick fällt auf Unnur, die jedoch starr in die Flammen sieht. „Der Weg in den Süden, bis ans Meer, ist weit und ich kann verstehen, wenn …“ Eigentlich will ich ihnen sagen, dass wer immer möchte, hierbleiben soll, doch das ist nicht einfach in Worte zu fassen, denn im Grunde möchte ich, dass sie alle mitgehen.
„Also ich will in den Süden“, sagt Egill bestimmt. „Sicher wird sich hier etwas ändern, wie viel, das bleibt abzuwarten, doch das ist für mich kein Grund hierzubleiben – und zurückkehren kommt für mich auch nicht infrage!“
Katla nickt neben ihm. „Auch ich werde weitergehen.“
Janusch hebt seinen Blick und sieht mich an. „Ich denke, wir alle werden mit dir gehen. Ich sah noch nicht viel von der Welt und dies ist die einmalige Gelegenheit, das Meer zu sehen.“
Zustimmendes Gemurmel von allen Seiten.
„Danke“, sage ich. „Dann lasst uns heute noch aufbrechen. Mit jedem Tag, den wir hierbleiben, wird es schwerer und wir finden Gründe, nicht zu gehen.“
Kurz darauf sind wir auf dem Weg. Eskil gab uns einen königlichen Passierschein, der uns vor Ärger und Unannehmlichkeiten bewahren soll. Damit können wir auch die offiziellen Straßen nutzen und müssen uns nicht auf Schleichwegen durch die Wälder bewegen.
Der Tag ist warm, Frühlingsduft liegt in der Luft und laut brummend umschwirren uns dicke Hummeln. Zartes Grün zeigt sich an den Büschen und Bäumen. Bald wird der Winter vergessen sein und die Welt wird ihr Sommerkleid tragen.
Für viele von uns ist dies die erste große Reise. Bisher kannten wir nur die Berge und die umliegenden Dörfer. Auf den zurückgelegten Meilen haben wir nicht viel mehr gesehen als Wälder, Gehöfte und kleine Ansiedlungen. Die ganze Zeit waren wir auf der Hut oder befanden uns in Gefahr. Ab jetzt können wir die Reise genießen. Sicherlich ist auch der Rest des Weges nicht ungefährlich, aber der König und seine Soldaten bedrohen uns nicht mehr.
Drei Tagesreisen von der Hauptstadt entfernt beginnt das Grenzvorland. Hier begegnen wir mindestens zweimal am Tag einer Patrouille Soldaten und ich bin für den Passierschein dankbar. Wie wir ohne durch diese Gegend gekommen wären, weiß ich nicht. Auf jeden Fall nicht mit den Wagen.
Auf unserem Weg begegnen uns auch Händler mit ihren Waren. Ihre Kleidung und ihr Aussehen unterscheidet sich teilweise erheblich von uns und wir betrachten sie wahrscheinlich ziemlich ungebührlich.
Auch die Reise durch das Grenzvorland dauert noch einmal zwei Tage. Hier gibt es nur einige Gasthöfe, die mit Erlaubnis des Königs Reisende bewirten und Vorräte abgeben dürfen. Zum Glück haben wir unsere Unterkünfte dabei, denn die Preise sind horrend.
Am Abend des zweiten Tages kommen wir an die eigentliche Grenze. Zwischen den Wachhäusern, die jeweils in den Farben der Königshäuser angemalt sind, befindet sich ein Streifen neutrales Land. Nachdem wir unseren Passierschein vorgewiesen haben, lässt uns der königliche Grenzposten durch. Bald stehen wir vor den Soldaten Agurigezas.
Neugierig betrachten uns die beiden jungen Männer in ihren blaugrünen Uniformen und fragen uns nach dem Grund unserer Einreise. Ehrlich antworte ich, dass wir nur auf der Durchreise und auf dem Weg nach Marreame sind.
„Ihr habt Wohnwagen, doch Ihr seid keine Zigeuner“, stellt der etwas kleinere von beiden fest. Zwischen seinen Schneidezähnen klafft eine ziemlich große Lücke.
„Nein, wir sind keine Zigeuner und trotzdem leben wir in diesen Wohnwagen. Doch wir verdienen unser Geld mit ehrlicher Arbeit.“ Ich lächele ihn offen an. Die meisten Menschen haben abergläubische Angst vor den Zigeunern und geben ihnen die Schuld für jedes Unglück. Noch bin ich bisher keinem begegnet, doch die Einrichtungen der Wohnwagen sprechen dafür, dass es sich um ebensolche Menschen handelt wie wir. Doch dies mit den Grenzsoldaten zu diskutieren, wäre wohl kein guter Einfall.
Beide betrachten uns noch einen Moment kritisch, sehen sich an und nicken. Damit bekommt jeder von uns eine Schriftrolle, die wir während unserer Reise durch Agurigeza bei uns tragen und im Fall einer Kontrolle vorlegen müssen.
Nur wenige Meilen hinter dem Grenzübergang treffen wir auf die erste Weide. Eine unglaublich große Zahl kauender dunkelbrauner Rinder steht auf der leuchtend grünen Wiese. Gelbe und weiße Blumen wachsen zwischen den Grasbüscheln und runden das friedliche Bild ab.
Weide folgt auf Weide, nur unterbrochen von Feldern und großen Anwesen. Diese Höfe stellen alles in den Schatten, was wir in Malmirika gesehen haben.
Auf den Flächen, die nicht als Weideland dienen, wiegt sich entweder das sprießende Getreide oder Gras im leichten Wind. In diesem Land kann man scheinbar unendlich weit sehen. Keine Berge begrenzen den Horizont.
Die Menschen, denen wir begegnen, sind freundlich und grüßen uns fröhlich. Am Abend haben wir kein Problem, in der Nähe eines Anwesens unsere Wagen aufstellen zu dürfen. Der Bauer kommt mit der Dämmerung zu uns und bringt uns frisch gebackenes Brot und Milch von seiner Frau.
Der Frühling ist hier deutlich weiter fortgeschritten als in Malmirika und die Nächte sind wärmer.
Im Bett liegend lauschen Elion und ich dem Konzert einiger Frösche. Ihre Stimmen sind tief und laut, ich stelle mir riesige Frösche vor, die diese Töne von sich geben.
Aus einem der Wagen klingt Gelächter, aus einem anderen leises Stöhnen. Wenn man nur durch die dünnen Holzwände voneinander getrennt lebt, dann bekommt man fast alles mit.
Elion liegt auf meiner Brust und malt verträumt kleine Achten auf meine Haut. Ich mag diese selbstvergessene Zärtlichkeit, mit der er mich berührt. Wir brauchen beide viel Körperkontakt, müssen uns versichern, dass der andere da ist.
Vor dem Fenster faucht eine Katze und Kimmi hebt lauschend den Kopf. Um hinauszugehen, ist er viel zu faul. Sein festes Reich ist der Wohnwagen und nur von Zeit zu Zeit geht er in der Dämmerung draußen jagen, jede Nacht jedoch kehrt er auf seinen Platz am Ende des Bettes zurück.
„Fast habe ich Angst“, sagt Elion leise und aus den Achten werden Kreise. „Unser Leben ist viel zu schön, als dass es von Dauer sein kann. Immer erwarte ich, dass das nächste Unglück passiert, wir auseinandergerissen werden und nicht wieder zusammenfinden.“
„Keiner weiß, was in der Zukunft auf uns wartet“, sage ich leise und rolle mich über ihn, um ihm in die Augen zu sehen. „Darum müssen wir jede Minute, jeden Tag genießen und nicht mit Angst verschwenden.“
Zart fahre ich mit meinem Finger die Züge seines Gesichts nach. „Lass dir das Glück nicht von dem Gedanken an ein mögliches Unglück vermiesen. Wenn es kommen soll, können wir es sowieso nicht ändern.“ Sacht küsse ich seinen Augenbrauen, seine Lider, seine Nase und die Mundwinkel, die sich ein kleines Stückchen heben. „Lass uns jeden Augenblick bewusst wahrnehmen, auskosten, damit wir uns niemals fragen müssen, ob wir Zeit verschwendet haben.“ Ich lege meine Lippen auf seine und liebkose sie sanft. Elion legt seine Hand in meinen Nacken.
„Das klingt so einfach bei dir“, murmelt er zwischen zwei Küssen.
„Das ist so einfach. Lass dich von deinem Herzen leiten.“ Ich lege meine Hand auf seine Brust, dort wo das Organ hart unter seinen Rippen schlägt. „Sag mir, was du willst und was du nicht willst. Erzähl mir, wovon du träumst, was du sehen und erleben willst. Wir sind frei und wir können alles tun.“
„Solange wir die Möglichkeit bekommen, Geld zu verdienen“, wirft er ein. „Ansonsten verhungern wir in Freiheit.“
„Lieber frei verhungern, als in den Minen ewig nach der Freiheit dürsten. Lieber jeden Tag für meinen Lebensunterhalt arbeiten, als eingesperrt in den goldenen Käfig eines Palastes. Lieber jede Nacht mit dir unter den Sternen schlafen, als von tausend Augen bewacht in den Betten eines Schlosses.“ Ich küsse ihn erneut.
„Du bist verrückt“, murmelt Elion leise lachend.
„Ja, nach dir, meine kleine Sonne.“ Und ich nehme seinen Mund, seinen Körper in Besitz, vertreibe jede Angst und jede Sorge aus seinen Gedanken.
Arbeit zu finden stellt in diesem Land kein Problem dar. Offenbar gibt es viel zu wenig Arbeitskräfte für die großen Höfe. Der Bauer, auf dessen Land wir unsere Wagen abgestellt haben, nimmt unser Angebot, ihm zur Hand zu gehen, sofort an.
Noch nie habe ich Rinder aus der Nähe gesehen, geschweige denn sie berührt, doch es sind friedliche und sanftmütige Tiere. Zumindest die Kühe, die sich bereitwillig melken lassen.
Melken ist nicht so einfach, wie es aussieht und es dauert eine Weile, bis Elion und ich die Technik heraushaben. Auch dann brauchen wir immer noch länger als die Magd, die uns kichernd beobachtet.
Fliegen umschwirren mich und von Zeit zu Zeit trifft mich der wedelnde Schwanz der Kuh. Milch von Kühen gab es in der Festung nie, wir hatten Ziegen und Schafe, aber kein Rindvieh. Die Milch, die der Bauer uns gestern Abend gebracht hat, schmeckte anders, mir persönlich besser.
Nach dem morgendlichen Melken werden die Kühe auf die Weide getrieben und die Ställe gesäubert. Der Bauer und seine Frau kümmern sich um die Milch, die zum Teil verkauft, zum Teil verarbeitet wird.
Sechs Kinder laufen auf dem Hof herum, mindestens vier von ihnen gehören eindeutig zu dem Bauern, denn sie haben die gleichen feuerroten Haare wie er. Die älteren arbeiten mit, die jüngeren spielen im Stroh.
Auf meine Frage, ob die Kinder nicht unterrichtet werden, erfahren wir, dass in diesem Land nicht viele lesen und schreiben können. Selbst die Besitzer der großen Anwesen beschäftigen Schreiber, die sich um alles kümmern. Die Magd ist beeindruckt, als sie erfährt, dass wir alle lesen, schreiben und rechnen gelernt haben. Im Stillen danke ich Dagur dafür, dass er Bildung für ein hohes Gut hält und darauf bestanden hat, dass jeder in der Gemeinschaft zumindest lesen und schreiben lernen musste.
Nach einer Woche ziehen wir weiter, das landschaftliche Bild bleibt das gleiche, Weiden, Felder und Anwesen wechseln sich ab, nur selten unterbrochen von kleinen Waldstücken und Flüssen, die das Land durchziehen.
Nachdem wir inzwischen zwei Wochen in Agurigeza sind, erreichen wir zum ersten Mal einen Hügel, den mehr als das ist die sanft geschwungene Erhöhung der Landschaft nicht. An den flachen Hängen grasen Schafe; die ersten, die uns in diesem Land begegnen.
Die Steigung zieht sich lang hin und erst am Nachmittag erreichen wir den Scheitelpunkt. Der Anblick, der sich uns von hier aus bietet, ist atemberaubend. Im Licht der Sonne glitzert das große Oval eines dunkelblauen Sees vor uns, auf der einen Seite umgeben von hellgrünem, hohem, im Wind wiegenden Gras, auf der anderen von einem smaragdgrünen Waldgebiet. Den Hügel hinab zieht sich eine mit Blumen übersäte Wiese, auf der es brummt und summt.
Elion springt vom Wagen und läuft auf die Wiese, langsam folge ich ihm.
„Tomaz, komm“, ruft er aufgeregt und streckt mir die Hand entgegen. Ich nehme sie und er zieht mich heran, zeigt auf eine der Blumen. Zwischen ihren dunkelroten Blütenblättern sitzt ein weißer Schmetterling.
Noch während wir ihn betrachten, erhebt sich aus der Blüte daneben ein kleiner, zartlila gefärbter.
„Schmetterlinge“, sagt Elion, strahlt mich an und dreht sich um die eigene Achse. Überall um uns herum steigen die Falter auf, gelbe, weiße, bunte.
Mit leuchtenden Augen betrachtet Elion sie und ich lege meine Arme um ihn.
„Sie sind wunderschön!“
Nicht so schön wie du, denke ich und küsse ihn.
Wir schlagen unser Lager an dem See auf. Unter der klaren Oberfläche kann man Fische träge schwimmen sehen. Ab und an schnappt einer nach den über das Wasser schwebenden Mücken und setzt das Blau ringförmig in Bewegung.
In der Dämmerung beginnen Frösche im hohen Gras lauthals zu quaken und zaghaft zirpen die ersten vorsommerlichen Grillen.
Das weiß rauchende Feuer, in das Katla irgendetwas geschmissen hat, dass uns die Mücken vom Leib halten soll, erhellt die Nacht.
Fenno holt eine Laute aus dem Wagen und spielt eine kleine Melodie. Ich wusste nicht, dass er spielen kann. Doch Fenno ist nicht als Kind in Minen gekommen, sondern als verurteilter Dieb. Er war nicht lange dort, ehe er mit Glück in die Hände der Gemeinschaft fiel.
„Spiel ein Lied“, fordert Hekla, seine Frau, und lehnt den Kopf gegen seine Schulter.
Fenno lächelt und schlägt die Saiten an. Erst tanzt nur die Melodie um die Flammen, dann fängt er an zu singen. Er hat eine tiefe und schöne Stimme.
Elion lehnt sich an mich und ich lege meinen Arm um seine Schulter. Dies sind die Tage, die wir in vollen Zügen genießen müssen, die Momente im Leben, von denen wir nicht wissen, wie viele wir davon haben werden.
Nach und nach verschwinden alle in ihren Wagen, das Feuer brennt herunter, verglüht langsam. Ich stehe auf und nehme Elions Hand, ziehe ihn hoch und mit mir. Langsam gehen wir Arm in Arm am Ufer des Sees entlang. Der sichelförmige Mond spiegelt sich zusammen mit tausenden Sternen auf der dunklen Oberfläche. Am Waldrand bleibe ich stehen, ziehe Elion in meine Arme und küsse ihn.
„Lass uns schwimmen gehen“, flüstere ich in sein Ohr.
„Ich kann nicht schwimmen“, entgegnet er.
„Das macht nichts, wir gehen nicht weit hinein und ich passe auf dich auf.“ Ich öffne sein Hemd und streife es ihm von den Schultern. Er tut es mir nach. Ohne Hast ziehen wir uns gegenseitig aus, gehen anschließend Hand in Hand ins Wasser.
Der See ist kühl und es kostet ein wenig Überwindung, in ihm einzutauchen. Als das Wasser seine Brust erreicht, hebe ich Elion hoch, lege seine Beine um meine Hüften. Seine Hände verschränken sich hinter meinem Nacken. Wir sehen uns in die Augen, bewegen uns zu einer unhörbaren Melodie. Der See streichelt unsere Körper mit seinen kühlen Fingern. Langsam und bedächtig küssen wir uns, zärtlich umtanzen sich unsere Zungenspitzen, dringen vor, erobern und ziehen sich zurück, um erobert zu werden. Ein Tanz, dessen Rhythmus bald schneller wird, den Takt unserer schlagenden Herzen annimmt. Das Verlangen treibt das Blut pulsierend in meinen Unterleib und schon bald reibt sich meine Härte gegen Elions.
Liebkosend beginne ich ihn vorzubereiten, dringe mit meinem Finger in ihn ein. Ungeduldig bewegt er sich mir entgegen. Das Wasser erleichtert es mir und meine eigene Erregung macht es mir unmöglich, länger zu warten. Während ich mit meiner Zunge seinen Mund erobere, nehme ich ihn mit meinem Glied in Besitz. Elion klammert sich an mich, wölbt sein Becken, damit ich besser, tiefer in ihn hineinkomme.
Der See nimmt unsere Bewegungen auf, kleine Wellen umspülen uns im Takt unserer Vereinigung. Ich lasse Elion das Tempo bestimmen, halte ihn und lasse mich immer tiefer fallen. Wir sind nicht nur mit unseren Körpern eins, auch unsere Herzen. Ich löse meine Lippen, sehe ihn an, das Verlangen in seinen Augen, die Lust, die ihn durchströmt und langsam auf die Erlösung hinausläuft. Wie die Wellen, die ans Ufer schlagen und immer höher gepeitscht werden bei Sturm, steigert sich unsere Lust, bis wir hinausgeschleudert werden, für diesen einen magischen Moment alles vergessen und Zeit und Raum verschwimmen. Zuckend verströmt Elion sich in den dunkeln See, während ich mich in ihm ergieße. Nur mit Mühe und dank des Wassers halte ich mich auf Beinen und uns beide über der Oberfläche.
Schwer atmend kehren wir in die Welt zurück, glücklich und zufrieden. Eng umschlungen bleiben wir stehen, bis ich aus ihm herausgleite, erst dann trage ich ihn hinaus ans Ufer. Schwer lassen wir uns ins Gras fallen, lauschen den nächtlichen Geräuschen. Hier draußen ist es nie wirklich still, Frösche quaken, Grillen zirpen, Mäuse rascheln durch das Gras und irgendwo ruft eine Eule.
Elion legt seinen Kopf auf meine Brust und ich streichele seinen Rücken. Schweigend genießen wir den Moment. Die Oberfläche des Sees spiegelt den Himmel mit seinen Sternen, lockt Insekten an, die dicht über der Wasseroberfläche tanzen.
„Es ist wunderschön hier“, sagt Elion. „Friedlich und ruhig.“
Eine Hand schiebe ich unter meinen Kopf, die andere lege ich auf seine Schulter. „Ja, traumhaft schön. Manchmal kommt es mir so vor, als sei die Zeit unter der Erde nur ein böser Traum gewesen.“
„Ja, aber manchmal kommt die Erinnerung zurück und verfolgt mich bis in den Schlaf.“ Elion kuschelt sich dichter an mich heran.
„Ganz vergessen werden wir es nie. – Aber wenn du neben mir liegst, dann habe ich keine Angst vor meinen Träumen, denn wenn ich aufwache, bist du da und hältst mich.“
„Und du mich.“
Bevor wir im Gras einschlafen, gehen wir zurück zu unserm Wagen. Malerisch liegt das Lager im fahlen Mondlicht. Die letzten Reste des Lagerfeuers glimmen noch und ich lösche sie mit etwas Wasser.
Im Wagen legen wir uns nebeneinander in das Bett. Elion nimmt wieder seine Lieblingsposition auf meiner Brust ein und ich lege meinen Arm um ihn. Auf diese Weise möchte ich mit Elion an meiner Seite alt werden, ihn noch in meinen Armen halten, wenn wir grau und am Ende unseres Weges sind.
Zehn Tage sind wir schon hier am See und ich möchte gar nicht fort. Bei einem Bauern in der Nähe haben wir Arbeit gefunden. Auf diesem Hof gibt es Schafe, Ziegen und Hühner. Auf weiten Feldern wird Getreide angebaut.
Heute ist der erste Viehmarkt des Jahres, wie uns der Bauer erklärt hat, und er wird mit einem Teil seiner Tiere, die er verkaufen will, zu diesem in die nächste Stadt fahren. Wer möchte, kann ihn gern begleiten.
Außer Tomaz und mir kommen noch Katla, Egill, Unnur und Janusch mit, der hofft, dort eine Apotheke zu finden.
Früh am Morgen brechen wir auf. Eine kleine Herde dicker, weißer Schafe begleitet uns ebenso wie ein paar meckernde Ziegen und aufgeregt flatternde Hühner in Käfigen, die hinten auf dem Karren stehen, den ein riesiges Pferd zieht. Die hellen Fransen der Mähne fallen ihm über die Augen und der gleichfarbige Schweif schlägt ungeduldig nach den Fliegen, die es trotz der frühen Stunden schon eifrig umschwirren.
Der Weg ist weit und führt über einen geschwungenen, befestigten Weg durch Felder und Wiesen, die von Blumen übersät sind. Der Fluss, der unseren Weg kreuzt, überqueren wir mithilfe einer steinernen Brücke. Dahinter kommt die Stadt in Sicht. Noch nie auf unserem Weg sind wir durch eine so große Ortschaft gekommen. Nur die Residenzstadt des Königs war ähnlich beeindruckend.
Den Bauern begleiten wir zu dem Gelände, auf dem schon die ersten Rinder, Pferde, Schafe, Ziegen und Hühner auf den Verkauf warten.
Zusammen mit seinen beiden ältesten Söhnen bleibt er dort, während wir uns in die Stadt begeben.
Keine Ortschaft in Malmirika kann sich mit Belcida vergleichen. Die dicht gedrängt stehenden Fachwerkhäuser sind in verschiedenen Farben gestrichen und mit Ornamenten verziert, die an die Dekoration von Torten erinnern: Blumen, Blätter und fantasievolle Schnörkel.
Um einen Brunnen, der eine Magd darstellt, die ein paar Gänse vor sich hertreibt, befinden sich einige Läden: Ein Bäcker, aus dessen Geschäft es köstlich nach frischem Brot und Kuchen duftet, ein Schneider, über dessen Tür eine große goldene Schere hängt, ein Schuster, ein Laden, in dessen Auslage Stoffballen liegen, ein Gasthaus und eine Apotheke, in der Janusch als Erstes verschwindet.
Katla sieht uns alle kritisch an. „Neue Kleider wären dringend nötig. Die Kinder wachsen aus ihren Anziehsachen heraus und unsere sehen aus, als würden sie uns bald vom Leib fallen. – Wir könnten ein paar Ballen Stoff mitnehmen.“
„Oh ja“, sagt Unnur und ihre Augen leuchten. „Ich kann gut nähen.“
Schon verschwinden die beiden in der Stoffhandlung.
„Ich habe Hunger“, sagt Egill. „Wollt ihr auch etwas von dem duftenden Kuchen?“
Tomaz schüttelt den Kopf und ich nicke. Mein Magen knurrt schon bei dem Gedanken an die süße Köstlichkeit.
Egill bringt kleine Gebäckteilchen mit Äpfeln und Zimt mit, sie sind noch warm und zergehen auf der Zunge. Nachdem Tomaz bei mir abgebissen hat, bereut er, nein gesagt zu haben. Doch Egill kennt ihn und hat ihm trotz seiner Ablehnung wohlweislich ein Stück mitgebracht.
Anschließend sehen Tomaz und ich uns noch weiter in dem Ort um, während Egill auf Katla und Unnur wartet.
In einer Seitenstraße gibt es ein Geschäft, in dem man Besen und Bürsten kaufen kann, einen Laden für Tonwaren und eine Schreibstube.
Ich finde alles faszinierend und kann mich nicht sattsehen. Die meisten Häuser haben Blumenkästen vor den Fenstern, deren Bewuchs in ein paar Wochen sicherlich prachtvoll blüht.
Die Menschen, denen wir begegnen, sind freundlich und grüßen uns. Kinder spielen auf der Straße und von Zeit zu Zeit rollt ein Wagen oder auch mal eine Kutsche über das Kopfsteinpflaster. In einer entlegenen Gasse gibt es eine Gastwirtschaft, die noch geschlossen ist. Über der auffällig grünen Eingangstür hängt ein hölzernes Schild mit einem Keiler darauf.
Hier scheint es keinen Dreck, keine Armut und keine Bettler zu geben – allerdings auch keine Schulen.
Als wir zu den anderen zurückkehren, liegen neben Egill mehrere eingeschlagene Stoffballen.
„Die beiden sind beim Schuster“, sagt er auf Tomaz’ Frage nach Katla und Unnur. „Danach wollen sie etwas im Gasthof essen.“ Also schleppen wir die Ballen schon einmal in das Lokal.
Eine Frau in einem dunkelblauen Kleid, mit strahlend weißer Schürze und Haube kommt sofort, stellt sich als die Wirtin vor und erkundigt sich, was wir wünschen. Da wir auf Katla und Unnur warten wollen, bestellen wir nur etwas zu trinken. Wenig später bringt sie uns einen Krug frischen Wassers und fünf Becher.
Am Nebentisch sitzen drei Reisende zusammen. Ihre Kleider sind staubig und sie sehen erschöpft aus. Die Frau tritt zu ihnen und begrüßt sie. Offenbar kennt sie die Männer.
„Ihr kommt aus Marreame?“, fragt sie, als sie eine Weinflasche und Gläser auf den Tisch stellt. „Stimmen die Gerüchte, die wir gehört haben? Herrscht dort wirklich Krieg zwischen den Fürsten?“
„Ja, leider. Die Zustände sind unseren Geschäften nicht sehr zuträglich. Nachdem die Regierung auseinandergebrochen ist, streiten sich die Fürsten um die Regentschaft. Die einen wollen einen neuen Verbund, die anderen wollen den verbannten König zurückholen.“ Der große Mann mit dem grauen Bart schüttelt den Kopf. „Wenn der König zurückkommt, dann beginnen harte Zeiten für das Land.“
Wir spitzen unsere Ohren, immerhin wollen wir nach Marreame weiterreisen.
„Wer kann sich denn einen solchen König zurückwünschen?“, fragt die Wirtin und schüttelt den Kopf. „Es hat doch einen guten Grund gehabt, dass sich die Fürsten gegen ihn gestellt haben.“
„Ja, das sollte man denken, doch einige scheinen vergessen zu haben, wie es damals zuging. Die Kerker waren voll und fast täglich fanden Hinrichtungen statt. Jeder war ein potenzieller Spitzel und man konnte wegen allem möglichen Unfug vor Gericht gestellt werden.“ Der Mann sieht besorgt aus. „Händlern wurden ihre Waren unter fadenscheinigen Gründen abgenommen, wenn sie aufbegehrten, landeten sie im Gefängnis.“
„Warum ist der Bund der Fürsten auseinandergefallen?“ Die Frau setzt sich zu den Männern.
„Weil das Gerücht aufgekommen ist, dass Fürst Odwald dem eigenen Geschlecht mehr zugetan ist als den Frauen“, antwortet ein junger Mann mit hellblonden Haaren.
„Und das ist eine Sünde in Marreame?“
Die drei Männer nicken. „Eine Sünde und ein Verbrechen, das schlimmstenfalls mit dem Tod bestraft werden kann“, erläutert der ältere Mann.
„Dieses Land hat mir noch nie gefallen!“, sagt die Wirtin und steht wieder auf. „Liebe verbieten und Hass schüren sie.“ Kopfschüttelnd wendet sie sich ab.
„Ich glaube nicht, dass wir nach Marreame gehen sollten“, sagt Tomaz und sieht mich an. Ich kann ihm nur recht geben. In einem Land, in dem ich ihn nicht lieben darf, will ich nicht leben.
Zum Glück können die Stoffballen am Abend auf dem Karren des Bauern mitfahren, da er seine Hühner verkauft und selbst nur einen bunten Hahn erworben hat. Das Tier kräht die ganze Rückfahrt. Auch die Schafe und Ziegen haben neue Eigentümer gefunden und der Bauer dafür zwei staatliche Schafböcke mitgenommen.
Als wir an unseren Wagen ankommen, versinkt die Sonne schon hinter dem Hügel. Ich bin müde und lasse mich schwer neben dem Lagerfeuer nieder. Tomaz setzt sich neben mich und ich lehne mich an seine Schulter.
Katla und Unnur erzählen von der Stadt, zeigen die Stoffe, die sie erworben haben. Dunklen Stoff für Hosen, dunkelroten für Kleider und weißen für Hemden und Schürzen. Grünen und blauen für Kinderkleidung. Während sie reden, merke ich, wie mir die Augen zufallen. Erst als sich Tomaz’ Schultern straffen, schenke ich den Worten wieder mehr Aufmerksamkeit. Es geht um das Ziel unserer Fahrt.
„Elion und ich werden nicht in den Süden fahren“, sagt Tomaz gerade. „Wenn unsere Liebe dort verboten ist, hat das für uns keinen Sinn.“
„Aber wenn wir nicht an das Meer reisen, was machen wir dann?“, fragt Njal.
„Wir könnten hierbleiben“, entgegnet Katla. „Hier gibt es Arbeit, Platz und die Leute sind freundlich.“
„Vielleicht nicht mehr, wenn wir dauerhaft bleiben“, entgegnet Hekla besorgt.
„Das kann man herausfinden. Mir gefällt es hier.“ Katla sieht alle der Reihe nach an. „Was für Möglichkeiten haben wir noch? Uns trennen? Ein Teil reist in den Süden und der Rest bleibt hier? Ganz woanders hinziehen?“
„Ich würde gern ankommen“, sagt Caja leise. „Vielleicht ein Haus bauen und im Garten Gemüse züchten.“
„Ja, ich auch“, schließt sich Janusch an. „Hier gibt es nur einen Arzt für unzählige Menschen und keine Schulen. Vielleicht haben die Bauern ja Interesse daran, dass wir ihre Kinder unterrichten. Egill und Katla haben darin Erfahrung.“
„Ich würde auch gern wissen, wo ich hingehöre“, sagt Elida. „Einen Platz, wo ich mich zu Hause fühle.“
Einen Moment schweigen alle, dann fragt Katla: „Dann stimmen wir ab: Wer will gehen?“
Keiner hebt die Hand, trotzdem fragt Katla, wer bleiben will und alle heben die Hand.
„Gut, dann sollten wir mit dem Bauern sprechen. Wir brauchen Land, oder zumindest die Aussicht, dieses erwerben oder pachten zu können. Dabei finden wir vielleicht gleich heraus, wie die Menschen hier dazu stehen, wenn wir nicht weiterfahren.“
Einstimmig sprechen sich alle dafür aus, dass Katla und Tomaz gleich am nächsten Tag mit dem Bauern reden sollen.
In diese Nacht bin ich nur müde, kuschele mich an Tomaz und hoffe, dass keiner etwas dagegen hat, wenn wir bleiben.
Katla und Tomaz bleiben am nächsten Tag bei dem Bauern, während wir schon zu den Wohnwagen zurückkehren. Unnur hat begonnen von allen die Maße zu nehmen, um demnächst die Kleider zu nähen. Hekla und Kolbrun wollen ihr helfen.
Alvilde und Disa sind mit den Kindern am Wasser, lassen sie in dem seichten Uferbereich planschen.
Der Abend ist warm, ein leichter Wind streicht über die Blumen der Wiese und sie wiegen sich sanft. Einige Schmetterlinge tanzen in dem Licht der untergehenden Sonne. Vereinzelt brummen noch dicke Hummeln und Bienen zwischen den Blüten. Schon bald werden sie verstummen und die Grillen werden ihr Konzert beginnen.
Nichts von alle dem hätte ich mir in der Dunkelheit der Mine vorstellen können. Jetzt ist die Zeit weit weg, die Dunkelheit ist nur noch ein Schatten der Vergangenheit, der manchmal meine Träume erreicht.
Der Geruch von gebratenem Fleisch steigt in meine Nase. Der Bauer hat uns heute zwei Hühner mitgegeben, die sich über dem Feuer drehen. Ich hebe die Hand gegen das blendende Licht der Sonne, als ich zwei Gestalten über die Kuppe des Hügels kommen sehe. Katla und Tomaz gehen nebeneinander, reden und lachen. Angesichts ihrer guten Laune gehe ich davon aus, dass wir bleiben dürfen, und mir wird leichter ums Herz.
Als Tomaz mich wenige Augenblicke später lachend in die Arme zieht und ausgiebig küsst, ist es Gewissheit, wir haben ein Zuhause gefunden.
Ein Jahr später …
„Kimmi, nicht schon wieder!“ Leicht verzweifelt sehe ich der Maus hinterher, die, von dem Kater träge beobachtet, panisch unter das Bücherregal flüchtet. Zum dritten Mal schleppt Kimmi uns eine Maus ins Haus. Ich weiß die Ehre durchaus zu schätzen, wäre aber noch begeisterter, wenn die Tiere tot wären und sich nicht immer unter dem Bücherregal einnisten würden, unter dem der Kater sie nicht wieder hervor bekommt.
Seufzend hole ich den Besen, um sie hervor zu scheuchen. Vielleicht erlegt Kimmi sie dann gnädigerweise.
Das Bücherregal ist noch fast leer. In einem Land, in dem die meisten Menschen nicht lesen und schreiben können, gibt es nicht viele Bücher zu kaufen. Zweimal haben Tomaz und ich deswegen schon die Grenze zu Marreame überschritten. Die Fürsten des Landes streiten immer noch über die Regierungsform, den Herrscher und ihre jeweilige Position, doch in der Frage der Bildung sind sie sich anscheinend einig. Bücher kann man dort in den Städten problemlos erwerben. Fast den ganzen Tag waren wir in einem dieser Geschäfte und haben gestöbert, dabei gleich Lehrbücher für den Unterricht mitgebracht, Landkarten, Atlanten und Fibeln für Kinder.
Die Bauern waren erst misstrauisch, als Katla ihnen vorschlug, ihre Kinder zu unterrichten, weshalb sie ihnen anbot, auch ihnen das Lesen und Schreiben beizubringen. Seitdem betreiben wir eine kleine Schule, in der vormittags die Kinder und abends die Eltern unterrichtet werden.
Leider konnten wir nicht direkt am See unsere Häuser errichten, da in der herbstlichen Regenzeit das Wasser über die Ufer tritt und das Land bis zu den Wiesen hinauf überschwemmt. Doch der Bauer verpachtete uns ein Stück Land nicht weit davon entfernt.
Zehn Häuser bilden nun die kleine Siedlung, die unsere Gemeinschaft bildet. Jeder hat ein Stückchen Garten, die einen pflanzen Kräuter und Gemüse, die anderen Blumen. Neun sind bewohnt, eins ist das Schulgebäude. Unnur, Egill, Katla, Sjur und Tomaz unterrichten dort.
Nebenbei betreiben wir ein bisschen Landwirtschaft. In diesem Frühjahr haben wir die ersten Kühe gekauft. Hühner und Schafe hatten wir schon über den Winter. Ähnlich wie in der Festung, gehört alles der Gemeinschaft. Wir bestellen zusammen die Felder, versorgen das Vieh und helfen uns gegenseitig.
Während ich mit dem Besenstiel versuche, die Maus aus ihrem Versteck zu scheuchen, denke ich an den Winter. In diesem Land ist er geradezu friedlich und sanftmütig. Dank der Wälder ist Kaminholz kein Problem und in unserer kleinen Hütte war es immer warm.
Mit einem Quieken rennt die Maus aufgescheucht unter dem Regal vor und Kimmi beweist sein Können als Jäger. Zum Glück tötet er sie diesmal, statt sie wieder laufen zu lassen.
Mit stolzgeschwellter Brust lässt er sie fallen und sieht mich an. Brav bedanke ich mich mit einem Streicheln über seinen Kopf bei ihm und nehme die Maus mit, um sie im Garten zu entsorgen.
In unserem Garten steht der Wohnwagen, von dem wir uns nicht trennen konnten. Vielleicht wollen wir irgendwann doch woanders hin, ans Meer oder einfach ein anderes Land sehen.
Drumherum wachsen Blumen und zu meiner Freude werden diese oft von den bunten Schmetterlingen besucht.
Ich trete an den Zaun und sehe zum Schulgebäude hinüber. Es ist gerade Pause und die Kinder toben unter Tomaz’ Aufsicht vor der Schule herum. Als könne er meinen Blick spüren, hebt er den Kopf, sieht mich an und lächelt.
Immer noch erhöht sich mein Herzschlag, wenn ich ihn sehe, fliegen Schmetterlinge in meinem Bauch und ich freue mich auf den Moment, wenn er zu mir nach Hause kommt.
Das dauert jedoch noch eine Weile. Ich werde gleich zu Janusch hinübergehen und ihm helfen. Er wohnt mit Caja und der kleinen Lahja zusammen. Ein Raum in ihrem Haus dient als Behandlungszimmer. Die umliegenden Bauern nehmen seine ärztliche Hilfe gern in Anspruch. Inzwischen vertrauen sie ihm mehr als dem Arzt in der Stadt.
Neben dem Schulgebäude steht das kleine Häuschen von Katla und Egill. Die beiden haben uns mit dem Entschluss, zusammenwohnen zu wollen, nicht wirklich überrascht. Endlich haben die beiden gemerkt, dass sie mehr als nur Freundschaft verbindet. Katla ist schwanger und wird im Sommer ihr erstes Kind bekommen.
Erstaunt hat mich, dass Elida und Unnur zusammenleben – und sich lieben. Dies ist der gesamten Gemeinschaft nicht aufgefallen, bis sie verkündet haben, einen gemeinsamen Hausstand gründen zu wollen, weil sie zusammengehören. Wenn ich sie heute sehe, frage ich mich, wie wir so blind sein konnten. Ihre Zuneigung zueinander ist eigentlich nicht zu übersehen.
Sjur und Rurik leben ebenfalls in einem Haus, doch das ist mehr eine Zweckgemeinschaft. Ich glaube, Rurik hat sich in die Tochter eines Bauern verliebt und trägt sich mit dem Gedanken, ein eigenes Haus zu bauen.
Bevor ich ins Haus zurückkehre, setze ich mich auf die Stufen des Wohnwagens, blicke in den blauen Himmel, über den nur ganz vereinzelt flauschige Wattewölkchen ziehen.
Vor nicht allzu langer Zeit gab es in meiner Welt keinen Tag und keine Nacht, keinen Himmel, keine Sonne und keinen Mond, es herrschte ewige Finsternis, die willkürlich durch künstliches Licht unterbrochen wurde.
Mein Dasein in der Mine war ein reines Existieren, kein Leben. Erst als ich Tomaz begegnete, durch meine Befreiung und die folgende Zeit in der Gemeinschaft, die meine Familie geworden ist, begann ich zu leben.
Heute ist meine Welt bunt, voller Menschen – Freunde, Sonne, Wärme – und Liebe. Auf unserem Weg habe ich gelernt, wie schnell sich dies ändern kann, wie schnell man die, die man liebt, verlieren kann.
Jeden Tag nehme ich mir die Zeit, mir das bewusst zu machen, daran zu denken, was ich habe und wie wertvoll dies ist.
Ich schließe meine Augen, lausche den Geräuschen und muss lächeln. Der Weg war lang, oft schwierig, fast wäre ich verzweifelt auf ihm und nur mit Hilfe bin ich ihn bis zum Ende gegangen, doch es hat sich gelohnt. Ich bin angekommen, dies ist mein Zuhause, der Ort, an den ich gehöre – mit dem Mann an meiner Seite, den ich über alles liebe.
Ich hoffe, dass sich das nie ändert, dass der Rest unseres Weges ruhiger wird und wir ihn bis zum Ende gemeinsam gehen. Tomaz und ich.
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