E s gab einen Unterschied zwischen mutmaßlich tot und tot , einen Unterschied zwischen dem Betreten einer Garderobe, die mit dem Blut meiner Mutter besudelt war, und der Nachricht, dass nach fünf langen Jahren eine Leiche gefunden worden war.
Mit zwölf, dreizehn, vierzehn Jahren hatte ich jede Nacht gebetet, dass man meine Mutter finden würde, dass die Polizei sich täuschen und dass sie trotz all der Spuren, trotz all des verlorenen Blutes irgendwann wieder auftauchen würde. Lebendig.
Irgendwann hatte ich aufgehört zu hoffen und darum gebetet, dass man die Leiche meiner Mutter finden würde. Ich hatte mir vorgestellt, wie ich gerufen würde, um ihre sterblichen Überreste zu identifizieren. Ich hatte mir gewünscht, mich von ihr verabschieden, sie beerdigen zu können.
Aber das hier hatte ich mir nicht vorgestellt.
»Ist die Polizei sicher, dass sie es ist?«, fragte ich mit leiser, aber fester Stimme.
Mein Vater und ich saßen uns auf der Veranda gegenüber. Nur wir beide, das Maximum an Privatsphäre, das Nonnas Haus zu bieten hatte.
»Der Ort passt.« Er sah mich nicht an, sondern starrte in die Nacht hinaus. »Der Zeitpunkt auch. Sie versuchen, die zahnärztlichen Unterlagen abzugleichen, aber ihr beiden seid so oft umgezogen.« Ihm schien aufzugehen, dass er mir damit nichts Neues erzählte.
Die zahnärztlichen Unterlagen meiner Mutter würden schwer aufzutreiben sein.
»Das haben sie gefunden.« Mein Vater reichte mir eine dünne Silberkette.
An ihrem Ende hing ein kleiner roter Stein.
Meine Kehle war wie zugeschnürt.
Ihre.
Ich schluckte und versuchte den Gedanken zu verdrängen, als würde reine Willenskraft dazu ausreichen. Mein Vater wollte mir die Kette geben. Ich schüttelte den Kopf.
Ihre.
Mir war klar gewesen, dass meine Mutter mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tot war. Ich hatte es gewusst . Ich hatte es geglaubt. Aber jetzt, beim Anblick der Kette, die sie in jener Nacht getragen hatte, rang ich um Atem.
»Das ist Beweismaterial.« Ich presste die Worte heraus. »Die Polizei hätte es dir nicht geben dürfen. Es ist ein Beweisstück.«
Was hatten sie sich nur dabei gedacht? Ich arbeitete erst seit einem halben Jahr für das FBI. Die meiste Zeit hatte ich hinter den Kulissen verbracht, aber selbst ich wusste, dass man Beweise nicht aus der Hand geben durfte, nur damit ein halb verwaistes Mädchen etwas bekam, das seiner Mutter gehört hatte.
»Es waren keine Fingerabdrücke darauf«, versicherte mir mein Vater. »Auch keine Spuren.«
»Sag ihnen, sie sollen sie behalten«, warf ich ein, stand auf und ging an den Rand der Veranda. »Sie werden sie vielleicht brauchen. Zur Identifizierung.«
Fünf Jahre waren seither vergangen. Wenn sie schon nach zahnärztlichen Unterlagen suchten, gab es wahrscheinlich nichts mehr für mich zu identifizieren. Nichts außer Knochen.
»Cassie ...«
Ich schaltete auf Durchzug. Von einem Mann, der meine Mutter kaum gekannt hatte, wollte ich nicht hören, dass die Polizei keine konkreten Spuren hatte und bedenkenlos Beweismittel herausgab, weil sie offenbar nicht damit rechneten, dass dieser Fall jemals gelöst würde.
Nach fünf Jahren hatte man endlich eine Leiche gefunden. Das war eine Spur. Kerben in den Knochen. Die Art ihrer Bestattung. Der Ort, an dem ihr Mörder sie beerdigt hatte. Es musste etwas geben. Einen Anhaltspunkt für das, was geschehen war.
Er ist mit einem Messer auf dich losgegangen . Ich schlüpfte in die Rolle meiner Mutter, und wie schon so oft zuvor versuchte ich zu verstehen, was an diesem Tag geschehen war. Er hat dich überrascht. Du hast gekämpft .
»Ich will den Ort sehen.« Ich wandte mich wieder meinem Vater zu. »Den Ort, an dem sie die Leiche gefunden haben.«
Mein Vater hatte damals meine Bewerbung für das Begabtenprogramm von Agent Briggs unterschrieben, aber er hatte keine Ahnung, welche Art von »Ausbildung« ich erhielt. Er hatte keinen Schimmer, worum es bei dem Programm wirklich ging. Er wusste nicht, über welche Fähigkeiten ich verfügte. Mörder und Opfer, Täter und Leichen – das war meine Welt. Meine. Und was war mit meiner Mutter passiert?
Auch das war meine Welt.
»Ich halte das für keine gute Idee, Cassie.«
Das hast du nicht zu entscheiden , dachte ich, ohne es laut auszusprechen. Ich hatte keine Lust, mit ihm zu diskutieren. Wenn ich Zugang zu dem Ort, den Fotos und möglichen Beweisstücken haben wollte, dann war Vincent Battaglia nicht der richtige Ansprechpartner.
»Cassie?« Mein Vater erhob sich und machte einen zögerlichen Schritt auf mich zu. »Wenn du darüber reden möchtest ...«
Ich wandte mich ab und schüttelte den Kopf. »Mir geht es gut«, unterbrach ich ihn. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter. »Ich will einfach nur zurück in die Schule.«
»Schule« war leicht übertrieben. Das Naturtalente-Programm umfasste insgesamt fünf Schülerinnen und Schüler und unser Unterricht bestand hauptsächlich aus praktischen Übungen . Wir waren nicht nur Schüler. Wir waren wertvolle Ressourcen, die genutzt wurden.
Ein Eliteteam.
Alle fünf besaßen wir je eine besondere Fähigkeit, eine Begabung, die durch unsere Kindheitserfahrungen bis zur Perfektion geschärft worden war.
Wir hatten alle keine normale Kindheit . Diese Worte gingen mir wieder und wieder durch den Kopf, als ich vier Tage später am Ende der Einfahrt meiner Großmutter stand und auf meine Mitfahrgelegenheit wartete. Denn sonst wären wir keine Naturtalente.
Um nicht an meine eigene Kindheit denken zu müssen, mit einer Mutter, die von Stadt zu Stadt gezogen war und den Leuten vorgegaukelt hatte, sie sei Hellseherin, dachte ich an die der anderen – an Deans psychopathischen Vater und wie Michael lernen musste, Gefühle zu lesen, um zu überleben. Ich dachte an Sloane und Lia und daran, was ich über ihre Kindheit vermutete.
Eine besondere Art von Heimweh überkam mich, als ich an die anderen Naturtalente dachte. Ich wollte sie hier um mich haben, alle, jeden Einzelnen von ihnen, so sehr, dass ich fast keine Luft mehr bekam.
» Tanz dich frei.« Ich hörte die Stimme meiner Mutter in meiner Erinnerung. Ich sah sie vor mir, in einen königsblauen Schal gehüllt, das rote Haar feucht von Kälte und Schnee, wie sie das Autoradio einschaltete und aufdrehte.
Das war unser Ritual gewesen. Jedes Mal, wenn wir umzogen – von einer Stadt in die nächste, von einer Gemeinde in die nächste, von einer Show zur nächsten –, drehte sie die Musik auf, und wir tanzten auf unseren Sitzen, bis wir alles und jeden vergessen hatten, den wir zurückgelassen hatten.
Meine Mutter war niemand, der Dingen oder Menschen lange nachtrauerte.
»Du siehst so nachdenklich aus.« Eine tiefe, nüchterne Stimme holte mich in die Gegenwart zurück.
Ich kämpfte gegen die Erinnerungen an – und gegen die mit ihnen aufsteigende Flut von Gefühlen. »Hey, Judd.«
Der Mann, den das FBI angeheuert hatte, um auf uns aufzupassen, musterte mich einen Moment, dann hob er meine Tasche hoch und wuchtete sie in den Kofferraum. »Willst du dich verabschieden?«, fragte er und nickte in Richtung Veranda.
Ich drehte mich um und sah Nonna dort stehen. Sie liebte mich. Wild. Entschlossen. Von dem Moment an, als du mich das erste Mal gesehen hast. Das Mindeste, was ich ihr schuldete, war ein Lebewohl.
»Cassandra?« Nonna klang resolut, als ich näher kam. »Hast du etwas vergessen?«
Jahrelang hatte ich geglaubt, meine Fähigkeit, leidenschaftlich und frei zu lieben, sei mit meiner Mutter gestorben.
Die letzten Monate hatten mich eines Besseren belehrt.
Ich umarmte meine Großmutter, und sie schlang ihre Arme um mich, hielt mich fest, als ginge es um Leben und Tod.
»Ich muss gehen«, sagte ich nach einer Weile.
Sie tätschelte meine Wange mit etwas mehr Schwung als nötig. »Ruf an, wenn du etwas brauchst«, befahl sie. »Egal, was.«
Ich nickte.
Sie zögerte einen Moment. »Es tut mir leid«, sagte sie vorsichtig. »Das mit deiner Mutter.«
Nonna war meiner Mutter nie begegnet. Sie wusste nichts über sie. Ich hatte der Familie meines Vaters nie von dem Lachen meiner Mutter erzählt, oder von den Spielen, mit denen sie mir beigebracht hatte, Menschen zu lesen, oder davon, wie wir » Egal, was passiert« gesagt hatten, statt » Ich liebe dich« , weil sie mich nicht nur liebte – sie liebte mich für immer und ewig, egal, was kommen mochte.
»Danke«, sagte ich zu meiner Großmutter. Meine Stimme klang ein wenig heiser. Ich unterdrückte die emporquellende Traurigkeit. Früher oder später würde sie mich einholen.
Ich war schon immer besser darin gewesen, meine Gefühle in Schubladen zu stecken, statt mich ganz von ihnen zu befreien.
Als ich mich von Nonnas forschendem Blick abwandte und zu Judd und dem Auto zurückging, konnte ich die Erinnerung an die Stimme meiner Mutter nicht abschütteln.
» Tanz dich frei.«