J udd fuhr schweigend. Er wartete darauf, dass ich die Stille durchbrach, sobald ich dazu bereit war.
»Die Polizei hat eine Leiche gefunden.« Ich brauchte zehn Minuten, um die Worte über meine Lippen zu bringen. »Sie glauben, dass es die Leiche meiner Mutter ist.«
»Ich habe davon gehört«, sagte Judd. »Briggs hat einen Anruf bekommen.«
Special Agent Tanner Briggs war einer der beiden Führungsbeamten des FBI bei den Naturtalenten. Er war derjenige, der mich rekrutiert hatte, und er hatte den Fall meiner Mutter dazu benutzt.
Natürlich hatte er einen Anruf bekommen.
»Ich will die Leiche sehen«, sagte ich und starrte auf die Straße vor uns. Später würde ich es verarbeiten können. Später würde ich trauern können. Jetzt brauchte ich Antworten, Fakten. »Fotos vom Tatort«, fuhr ich fort, »alles, was Briggs von den örtlichen Behörden bekommen kann.«
Judd wartete einen Moment. »Ist das alles?«
Nein. Das war nicht alles. Ich wünschte mir verzweifelt, dass es nicht die Leiche meiner Mutter war. Und gleichzeitig wollte ich genau das. Natürlich war das alles völlig widersprüchlich. Ich bereitete mich darauf vor, auf jeden Fall zu verlieren, egal, was am Ende herauskommen würde.
Meine Zähne gruben sich in die Innenseite meiner Wange und ich biss fest zu. Nach einer Weile antwortete ich laut auf Judds Frage. »Nein, das ist nicht alles. Ich will auch die Person zur Strecke bringen, die ihr das angetan hat.«
Wenigstens das war einfach. Das war klar. Ich war dem Naturtalente-Programm beigetreten, um Mörder hinter Gitter zu bringen. Meine Mutter hatte Gerechtigkeit verdient. Ich verdiente Wiedergutmachung für alles, was ich verloren hatte.
»Ich sollte dir an der Stelle wohl erklären, dass das Aufspüren der Person, die sie getötet hat, sie nicht zurückbringen wird.« Judd wechselte die Spur und schien mehr auf die Straße als auf mich zu achten. Ich ließ mich nicht täuschen. Judd war ein ehemaliger Scharfschütze der Navy, der immer auf seine Umgebung achtete. »Und ich sollte dir wahrscheinlich erklären«, fuhr er fort, »dass es nicht weniger wehtut, wenn du von diesem Fall besessen bist.«
»Aber das werden Sie nicht tun«, sagte ich.
Du weißt, wie es ist, wenn deine Welt in Fetzen zerrissen wird. Du weißt, wie es ist, jeden Tag aufzuwachen und zu wissen, dass das Monster, das sie zerstört hat, immer noch da draußen ist und es wieder tun kann.
Judd wollte mir nicht sagen, dass ich das loslassen sollte. Er konnte es nicht.
»Was würden Sie tun«, sagte ich leise, »wenn es Scarlett wäre? Wenn es in ihrem Fall eine Spur gäbe, und sei sie noch so klein?«
Ich hatte den Namen von Judds Tochter noch nie in seiner Gegenwart ausgesprochen. Bis vor Kurzem hatte ich nicht einmal gewusst, dass sie existierte. Ich wusste nicht viel über sie, außer dass sie das Opfer eines Serienmörders namens Nightshade gewesen war.
Ich ahnte, wie Judd sich gefühlt hätte, wenn es Fortschritte in diesem Fall gegeben hätte.
»Bei mir war es anders«, sagte Judd schließlich, den Blick auf die Straße gerichtet. »Es gab eine Leiche. Ich weiß nicht, ob das besser oder schlechter ist. Besser vielleicht, weil es mir das Rätselraten erspart hat.« Für einen Moment biss er die Zähne zusammen. »Schlimmer«, fuhr er fort, »weil kein Vater so etwas je sehen sollte.«
Ich versuchte mir vorzustellen, was Judd hatte durchmachen müssen, als er die Leiche seiner Tochter gesehen hatte, und wünschte mir sofort, ich könnte damit aufhören. Judd war ein Mann mit einer hohen Schmerztoleranz und einem Gesicht, das einen Großteil dessen verbarg, was er fühlte. Aber als er den leblosen Körper seiner Tochter betrachtet hatte, hatte es kein Verstecken mehr gegeben, kein Zusammenbeißen der Zähne – nur noch das Klingeln in seinen Ohren und eine Verzweiflung, die ich nur zu gut kannte.
Wenn es Scarlett gewesen wäre, deren Leiche gerade gefunden worden wäre, Scarlett, deren Halskette gerade aufgetaucht wäre, könntest du auch nicht tatenlos abwarten. Das könntest du nicht – unter keinen Umständen.
»Werden Sie Briggs und Mullins bitten, mir die Akten zu besorgen?«, fragte ich. Judd war kein FBI-Agent. Seine oberste und einzige Aufgabe war das Wohlergehen der jungen FBI-Agenten. Er hatte das letzte Wort, wenn es um unsere Beteiligung an einem Fall ging.
Auch im Fall meiner Mutter.
Du verstehst mich , dachte ich, während ich ihn anstarrte. Ob du willst oder nicht, du verstehst mich.
»Du kannst die Akten einsehen«, sagte Judd zu mir. Er lenkte den Wagen auf eine private Landebahn und warf mir einen Blick zu. »Aber du machst das nicht allein.«