D ie Visitenkarte des UNSUBs hatte gerade eine ganz neue Bedeutung bekommen. Ich hatte bereits vermutet, dass die Zahlen eine persönliche Bedeutung für den Mörder haben könnten. Aber wenn sie wirklich Teil einer berühmten mathematischen Sequenz waren, bestand die Möglichkeit, dass die Zahlen weniger dazu dienten, die emotionalen Bedürfnisse unseres Mörders zu befriedigen, als vielmehr dazu, eine Botschaft zu senden.
Welche Botschaft? Ich strich mit einer Hand über mein Kleid, als wir den langen Weg zurück zum Hauptteil des Hotels und des Casinos antraten. Dass deine Handlungen nicht emotional gesteuert sind? Dass sie vorherbestimmt sind wie Zahlen, die in eine Gleichung eingesetzt werden?
Ich nahm die Lichter und Geräusche kaum wahr, die uns bombardierten, als wir das Casino erreichten.
Dass du ein Teil der natürlichen Ordnung bist? Wie Tannenzapfen, Muscheln und Bienen?
Judd, Dean und Sloane bogen nach links in die Lobby ab.
Michael wandte sich nach rechts. »Shopping?«, fragte er Lia.
Irgendwie bezweifelte ich, dass Michael und Lia, wenn sie in Las Vegas auf sich allein gestellt waren, ihre Zeit damit verbringen würden, durch die Geschäfte zu schlendern. Judd musste das Gleiche gedacht haben, denn er warf ihnen einen fragenden Blick zu.
»Sie müssen wissen, dass ich sehr modebewusst bin«, sagte Michael zu Judd.
Du hast etwas gesehen, als der Sicherheitsdienst bei Sloanes Vater war, Michael. Einen Augenblick später hast du nach der Rechnung gefragt. Du gehst nicht einkaufen.
Dean kannte mich gut genug, um wahrzunehmen, wenn ich dabei war, ein Profil von jemandem zu erstellen. »Ich gehe mit Sloane und rufe Mullins und Briggs an«, sagte er. Ich hörte, was er nicht sagte: Geh mit ihnen .
Was auch immer Michael und Lia vorhatten, ich wollte dabei sein – und ein weiterer Grund war, dass oben dieser Stick auf mich wartete, und Dean verstand das.
Wenn ich bereit war, würde er da sein.
»Eine kleine Vorwarnung.« Lia schaute zu Dean und mir, bevor sie sich wieder Judd zuwandte. »Wenn Sie mich jetzt zwingen, in die Suite zu gehen, stehen die Chancen sehr gut, dass ich Die Ballade von Cassie und Dean in voller Länge zum Besten gebe. Komplett mit Musiknummern.«
»Und es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit«, fügte Michael hinzu, »dass ich mich gezwungen sehe, diese Musiknummern mit einer atemberaubenden Tanzdarbietung zu begleiten.«
Judd hatte wohl entschieden, dass es im Interesse der Harmonie im Team war, diesen Auftritt um jeden Preis zu vermeiden. »Eine Stunde«, sagte er zu Michael und Lia. »Verlasst das Gebäude nicht. Trennt euch nicht. Nähert euch niemandem, der mit diesem Fall zu tun hat.«
»Ich begleite sie«, bot ich an.
Judd musterte mich einen Augenblick. Dann nickte er entschlossen. »Pass auf, dass sie den Laden nicht abfackeln.«
Genau dreißig Sekunden, nachdem wir uns von den anderen getrennt hatten, bestätigte Michael meine Vermutung, dass er keine Lust auf einen Einkaufsbummel hatte. Als wir das Ende des Casinos erreichten, hielt er inne. Mehrere Sekunden lang stand er einfach da und ließ seinen Blick methodisch von einer Personengruppe zur nächsten wandern.
»Was suchst du?«, fragte ich ihn.
»Neugier. Irritation.« Er fixierte eine Gruppe von Frauen, die auf uns zukamen. »Dieser besänftigte Blick, den Leute bekommen, wenn man ihnen für Unannehmlichkeiten einen Gratisdrink anbietet.« Er deutete nach rechts. »Hier entlang.«
Lia und ich folgten ihm, Michael musterte weiter die Gesichter. Während wir uns von den Spielautomaten zu den Pokertischen vorarbeiteten, spürte ich eine Veränderung in der Atmosphäre, auch wenn ich sie nicht so genau benennen konnte wie Michael.
»Etwas kommt auf uns zu«, murmelte Michael.
Sekunden später starrte uns ein Rausschmeißer an. »Ausweise bitte«, sagte der Mann. »Man muss mindestens einundzwanzig sein, um sich in diesem Bereich aufzuhalten.«
»Wie es der Zufall will«, sagte Lia, »ist heute mein einundzwanzigster Geburtstag.« Sie lächelte kokett mit genau der richtigen Portion unterschwelliger Leichtfertigkeit.
»Und deine Freunde?«, fragte der Türsteher Lia.
Lia hakte sich bei Michael unter. »Wir«, sagte sie, »haben uns gerade erst kennengelernt. Und was Miss Süß-und-Unschuldig da drüben betrifft, so weiß ich mit Sicherheit, dass im Internet einige ziemlich anstößige Bilder von ihrem einundzwanzigsten Geburtstag kursieren, weshalb ich heute Abend meine Kleider anbehalten werde.«
Hatte sie gerade … Ich spürte, wie sich meine Wangen scharlachrot färbten, als mir klar wurde, dass Lia tatsächlich gerade angedeutet hatte, dass mein fiktiver einundzwanzigster Geburtstag eine Girls-Gone-Wild-Wendung genommen hatte.
Der Türsteher beugte sich zur Seite, um mich genauer unter die Lupe zu nehmen. Mein peinlich berührter Gesichtsausdruck schien Lias Geschichte zu bestätigen.
»Ich werde dir wehtun«, zischte ich in Lias Richtung.
»Du darfst mir nicht wehtun«, konterte sie strahlend. »Ich habe heute Geburtstag.«
Der Rausschmeißer grinste. »Herzlichen Glückwunsch«, gratulierte er Lia.
Ein Pluspunkt für die professionelle Lügnerin.
»Aber einen Ausweis muss ich trotzdem sehen.« Der Türsteher wandte sich wieder Michael zu. »Firmenpolitik.«
Michael zuckte die Schultern. Er griff in seine Gesäßtasche und zog eine Brieftasche heraus. Er zeigte dem Türsteher einen Ausweis, der ihn aufmerksam musterte. Er musste bestanden haben, denn dann wandte er sich an Lia und mich. »Meine Damen?«
Lia öffnete ihre Handtasche und reichte ihm nicht einen, sondern zwei Ausweise. Er warf einen Blick darauf und hob eine Augenbraue. »Sie haben heute nicht Geburtstag«, sagte er.
Lia zuckte leicht mit den Achseln. »Warum sollte man sich nicht den Spaß gönnen, mehr als einmal einundzwanzig zu werden?«
Mit einem Schnauben gab der Türsteher ihr die Ausweise zurück. »Dieser Bereich ist geschlossen«, sagte er. »Wegen Wartungsarbeiten. Wenn Sie pokern wollen, gehen Sie zu den Tischen auf der Südseite.«
Als wir etwa zehn Schritte entfernt waren, wandte sich Michael an Lia. »Und?«
»Warum auch immer dieser Bereich abgesperrt ist«, antwortete sie, »es handelt sich nicht um Wartungsarbeiten.«
Ich verarbeitete gerade die Tatsache, dass Lia für uns beide gefälschte Ausweise dabeihatte, als mir in einiger Entfernung etwas auffiel.
»Dort«, sagte ich zu Michael. »Bei dem Schild, auf dem Toiletten steht.«
Ein halbes Dutzend Sicherheitsleute wiesen die Besucher ab.
»Kommt mit«, sagte Michael und drehte sich um, um sich dem abgesperrten Bereich von hinten zu nähern.
»Vorhin im Restaurant kam ein Mann, um den Hotelbesitzer abzuholen«, sagte ich, während wir weitergingen. »Ich wette tausend Dollar, dass er vom privaten Sicherheitsdienst war.«
Für einen Moment herrschte Stille, und ich dachte, Michael würde mir nicht antworten. »Der Wachmann wirkte grimmig, aber ruhig«, sagte er schließlich. »Shaw senior dagegen wirkte aufgewühlt, nachdenklich und als hätte ihm gerade jemand einen Teller mit verfaultem Fleisch hingehalten. In dieser Reihenfolge.«
Wir kamen auf der anderen Seite der Spielautomaten heraus. Aus dieser Perspektive war es offensichtlich, dass sie die Fußgänger umleiteten, lange bevor die Leute den Toilettenbereich erreichten.
Erster Januar, dachte ich auf einmal. Zweiter Januar. Dritter Januar.
»Drei Leichen in drei verschiedenen Casinos in drei Tagen.« Ich merkte nicht, dass ich die Worte laut ausgesprochen hatte, bis ich spürte, dass Michael und Lia mich anstarrten. »Heute ist Tag vier.«
Als hätte ich das Stichwort gegeben, teilten sich die Sicherheitsleute und ließen Mr Shaw passieren. Er war nicht allein. Schon von Weitem erkannte ich die beiden Anzugträger, die ihn begleiteten.
Mullins und Briggs.