Kapitel 16 

D as Skelett ist in ein königsblaues Tuch gehüllt.

Ich saß mit Dean vor dem Computer, scrollte von einem Bild zum nächsten und meine Finger fühlten sich mit jedem Klick schwerer an.

In den Knochen ihrer linken Hand steckt eine längst verwelkte Blume.

Die Halskette liegt um ihren Hals, die Kette hat sich in ihrem Brustkorb verfangen.

Leere Augenhöhlen starrten mich aus einem kahlen Schädel an. Ich starrte auf seine Umrisse, wartete auf einen Funken des Wiedererkennens, aber ich spürte nur, wie mir die Galle in die Kehle stieg.

Du hast das Fleisch von den Knochen entfernt. Die gerichtsmedizinische Untersuchung legte nahe, dass die Entfernung post mortem erfolgt war, aber das war ein schwacher Trost. Du hast sie zerstört. Du hast sie ausgelöscht.

Dean legte seine Hand in meinen Nacken. Ich bin bei dir.

Ich schluckte die Welle der Übelkeit hinunter, die in mir aufstieg. Einmal. Zweimal. Dreimal – und dann scrollte ich weiter zum nächsten Bild. Es waren Dutzende: Fotos des Feldwegs, an dem sie begraben worden war. Fotos der Baumaschinen, die einen einfachen Holzsarg freigelegt hatten.

Du hast ihre Knochen in eine Decke gewickelt. Du hast sie mit Blumen zu Grabe getragen. Du hast sie in einen Sarg gelegt …

Ich zwang mich zu atmen, riss mich von den Bildern los und wandte mich dem offiziellen Bericht zu.

Nach Angaben des Gerichtsmediziners befand sich an der Außenseite eines ihrer Armknochen eine Kerbe, eine Abwehrwunde, wo ein Messer sie buchstäblich bis auf den Knochen verletzt hatte. Die Laborergebnisse deuteten darauf hin, dass die Knochen vor dem Begräbnis mit einer Art Chemikalie behandelt worden waren. Das machte es schwierig, die Überreste zu datieren, aber die Analyse des Tatorts ergab, dass das Begräbnis nur wenige Tage nach dem Verschwinden meiner Mutter stattgefunden hatte.

Du hast sie getötet und dann ausgelöscht. Keine Haut auf ihren Knochen. Kein Haar auf ihrem Kopf. Nichts.

Deans Finger kneteten sanft meine Nackenmuskeln. Ich drehte mich vom Computerbildschirm weg zu ihm. »Was siehst du?«

»Sorgfalt.« Dean zögerte. »Respekt. Reue.«

Es lag mir auf der Zunge, dass es mir egal war, ob der Mörder Reue empfand. Es war mir gleichgültig, ob sie ihm so viel bedeutet hatte, dass er ihre Leiche nicht einfach in irgendeinem Loch verscharrt hatte.

Du hast nicht das Recht, sie zu begraben. Du hast kein Recht, sie zu ehren, du kranker Bastard.

»Glaubst du, sie hat ihn gekannt?« Meine Stimme klang weit entfernt in meinen eigenen Ohren. »Das wäre eine mögliche Erklärung für das, was wir hier sehen, nicht wahr? Er hat sie in einem Rausch umgebracht und es hinterher bereut.«

Die blutbespritzte Garderobe in meiner Erinnerung erzählte von Dominanz und Wut, die Begräbnisstätte dagegen, wie Dean gesagt hatte, von Respekt und Sorgfalt. Zwei Seiten derselben Medaille – und beides zusammen deutete darauf hin, dass es sich nicht um einen zufälligen Gewaltakt handelte.

Du hast sie mitgenommen . Mir war immer klar, dass der Mörder meine Mutter aus dem Raum geschleppt hatte. Ob sie zu diesem Zeitpunkt noch gelebt hatte oder schon tot war, konnte die Polizei nicht sagen, obwohl vom ersten Tag an klar gewesen war, dass sie so viel Blut verloren hatte, dass ihre Überlebenschancen gegen null gingen. Du hast sie mitgenommen, weil du sie bei dir haben wolltest. Du konntest sie nicht jemand anderem zum Begraben überlassen.

»Möglicherweise hat er sie gekannt.« Deans Stimme holte mich in die Gegenwart zurück. Mir fiel auf, dass er ausnahmsweise nicht das Wort ich benutzte. »Oder er hat sie aus der Ferne beobachtet und sich eingeredet, dass sein Interesse auf Gegenseitigkeit beruhte. Dass sie um seine Aufmerksamkeit wusste. Dass er sie so gut kannte, wie kein anderer es je könnte.«

Meine Mutter hatte ihren Lebensunterhalt als »Hellseherin« verdient. Wie ich konnte sie gut Menschen lesen – gut genug, um sie davon zu überzeugen, dass sie eine Verbindung zur »anderen Seite« hatte.

Hattest du eine Séance bei ihr? Warst du bei einer ihrer Shows?

Ich kramte in meinem Gedächtnis, aber die Gesichter in der Menge waren verschwommen. Meine Mutter hatte viele Séancen gegeben. Sie hatte unzählige Auftritte. Wir waren so oft umgezogen, dass es sinnlos gewesen war, Beziehungen zu knüpfen. Keine Freunde. Keine Familie.

Keine Männer in ihrem Leben.

»Cassie, sieh dir das an.« Dean lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf den Bildschirm. Er zoomte auf eines der Bilder des Sarges. In die Oberfläche des Holzes war ein Muster eingeritzt: Sieben kleine Kreise, die ein Siebeneck bildeten, das sich um etwas wie ein Pluszeichen gruppierte.

Oder , und wieder musste ich an Reue und Bestattungsrituale denken, dieses Monster hatte tatsächlich ein Kreuz geschnitzt.