Kapitel 17 

S pät in der Nacht schlief ich ein. Ich träumte von den großen Augen meiner Mutter, die mit Kajal umrandet waren, was sie fast unwirklich groß erscheinen ließ. Ich träumte davon, wie sie mich an jenem Tag aus der Garderobe gescheucht hatte. Ich träumte von all dem Blut und wachte am nächsten Morgen auf, weil etwas Klebriges auf meine Stirn tropfte. Ich riss die Augen auf.

Lia stand über mir, in der einen Hand einen Strohhalm, in der anderen eine Dose Limonade. Sie löste ihren Finger von der Spitze des Strohhalms und träufelte mir noch einen Tropfen Limonade auf die Stirn.

Ich wischte ihn weg und setzte mich auf, wobei ich darauf achtete, Dean nicht zu wecken, der neben mir auf der Couch lag und noch seine Kleidung vom Vorabend trug.

Lia steckte sich den Strohhalm in den Mund und saugte die restliche Flüssigkeit heraus, bevor sie ihn wieder in ihre Limonade tauchte.

Grinsend betrachtete sie den schlafenden Dean und zog eine Augenbraue hoch. Als das keine Reaktion bei mir hervorrief, schnalzte sie leise mit der Zunge. Ich stand auf, woraufhin sie einen Schritt zurücktrat.

»Es ist nicht so, wie du denkst«, sagte ich leise.

Lia drehte den Strohhalm nachdenklich zwischen Mittelfinger und Daumen. »Ihr zwei wart also nicht bis in die frühen Morgenstunden auf, um euch die Informationen auf dem Stick anzusehen, den Agent Mullins dir gegeben hat?«

»Woher weißt du ...«

Lia unterbrach mich und drehte meinen immer noch aufgeklappten Laptop zu mir herum. »Faszinierende Lektüre.«

Ich spürte ein flaues Gefühl in der Magengegend. Lia weiß es. Sie hat die Akte gelesen.

Ich wartete darauf, dass Lia noch etwas zu den Dateien auf dem Computer sagen würde. Aber sie schwieg. Stattdessen schlenderte sie in Richtung des Zimmers, das sie für sich beansprucht hatte. Nach einer Weile folgte ich ihr, so wie sie es wohl beabsichtigt hatte. Wir traten auf den Balkon.

Lia schloss die Tür hinter uns und hüpfte auf die Brüstung. Wir waren im vierzigsten Stockwerk, und sie saß seelenruhig da, perfekt ausbalanciert, und starrte mich an.

»Was ist?«, sagte ich.

»Wenn du Dean auch nur ein Wort von dem erzählst, was ich dir jetzt sage, werde ich jede Kenntnis von diesem Gespräch leugnen.« Lias Tonfall war beiläufig, aber ich glaubte ihr jedes Wort.

Ich bereitete mich auf einen Angriff vor.

»Du machst ihn glücklich.« Lia kniff die Augen leicht zusammen. »So glücklich, wie Dean nur sein kann«, präzisierte sie. »Wir müssten Sloane nach den genauen Zahlen fragen, aber ich schätze, sein Grübeln ist um zweihundert Prozent zurückgegangen, seit ihr beide euch auf diese Sache eingelassen habt …«

Dean war Lias Familie. Wenn sie vor der Wahl stünde, jeden anderen Menschen auf diesem Planeten oder Dean zu retten, würde sie sich für Dean entscheiden.

Sie sprang von der Brüstung und griff sanft nach meinem Arm. »Ich mag dich.« Ihr Griff wurde fester, als wäre es ihr ein wenig unangenehm, das zu sagen.

»Ich mag dich auch«, hätte ich beinahe gesagt, aber ich wollte nicht riskieren, dass sie diese Worte auch nur für einen Hauch unwahr hielt.

»Ich habe dich vermisst«, sagte ich stattdessen – dieselben Worte, die ich zu Sloane gesagt hatte. »Du, Michael, Sloane, Dean. Ihr seid mein Zuhause.«

Lia sah mich einen Moment an. »Wie auch immer«, sagte sie und verdrängte mit einem lässigen Schulterzucken jede Regung, die meine Worte hervorgerufen hatten. »Der Punkt ist, dass ich dich nicht hasse«, fuhr sie großmütig fort, »also führ dich nicht so auf und steh deine Frau, und das meine ich jetzt nett, okay.«

»Wie bitte?«, sagte ich und zog meinen Arm aus ihrem Griff.

»Du hast ein Mama-Thema. Das verstehe ich, Cassie. Natürlich ist das nicht einfach, und du hast jedes Recht, die Sache mit der Leiche auf deine Weise zu verarbeiten. Aber ob fair oder nicht, niemand hier hat die emotionalen Kapazitäten, sich um Cassies ständige Probleme mit ihrer ermordeten Mutter zu kümmern.«

Es fühlte sich an, als hätte sie mir mit der Handkante gegen die Kehle geschlagen. Aber noch während ich den Schlag verdaute, wusste ich, dass Lia diese Worte aus einem bestimmten Grund gesagt hatte. Du bist nicht grausam. Nicht auf diese Weise.

»Sloane hat sich gestern nach dem Essen zwei Stäbchen in den Ärmel gesteckt.« Lias Aussage bestätigte mein Bauchgefühl. »Keine Wegwerfstäbchen. Die schönen, die auf dem Tisch lagen.«

Sloane war nicht nur unsere hauseigene Statistikerin, sondern auch unsere hauseigene Kleptomanin. Als sie das letzte Mal etwas mitgehen hatte lassen, war sie wegen einer Auseinandersetzung mit dem FBI gestresst gewesen. Bei Sloane waren die langen Finger ein Zeichen dafür, dass ihr Gehirn aufgrund unkontrollierbarer Emotionen einen Kurzschluss erlitten hatte.

»Nennen wir es Beweisstück A«, schlug Lia vor. »Beweisstück B wäre Michael. Hast du eine Ahnung, was für ein Horrortrip es für ihn ist, nach Hause zu gehen?«

Ich dachte an das Gespräch, das ich am Tag zuvor zwischen Lia und Michael belauscht hatte. »Ja«, sagte ich und wandte mich wieder Lia zu. »Ich weiß.«

Es herrschte eine kurze Stille, in der sie den Wahrheitsgehalt dieser Aussage überprüfte.

»Du denkst, du weißt es«, sagte Lia leise. »Aber du weißt es nicht.«

»Ich habe euch gestern miteinander reden hören«, gab ich zu.

Ich hatte erwartet, dass Lia auf diese Worte hin reflexartig zurückschlagen würde, aber das tat sie nicht. »Früher einmal«, sagte sie mit ruhiger Stimme und drehte sich um, um hinunter auf den Strip zu schauen, »hat mir jemand Geschenke gemacht, wenn ich ein braves Mädchen war, so wie Michael ›Geschenke‹ von seinem Vater bekommt. Du denkst vielleicht, du verstehst, was in Michaels Kopf vorgeht, aber das tust du nicht. Du kannst kein Profil von ihm machen, Cassie. Du kannst es nicht entschlüsseln.«

Als sie sich wieder zu mir umdrehte, hatte sie ironisch eine Augenbraue hochgezogen. »Was ich damit sagen will, ist, dass Michael kurz davor ist, mit einem Showgirl durchzubrennen, und Sloane benimmt sich selbst für ihre Verhältnisse seltsam, seit wir hier sind. Wir sind offiziell am Limit, Cassie. Es tut mir also leid, aber du kannst dich jetzt nicht so gehen lassen.« Sie tippte mir mit dem Finger auf die Nasenspitze. »Du bist nicht dran.«