H ätte Lia das mit Michael gemacht, was sie gerade mit mir gemacht hatte, hätte er zurückgeschlagen. Wenn sie es Sloane angetan hätte, wäre Sloane am Boden zerstört gewesen – aber ich war es nicht. Früher oder später würde mich meine Trauer einholen. Aber Lia hatte mir einen Grund gegeben, sie noch länger zu verdrängen. Sie hatte sich nicht in Michael getäuscht. Sie hatte sich nicht in Sloane getäuscht. Jemand musste sie zusammenhalten. Jemand musste uns zusammenhalten.
Und dieser Jemand musste ich sein.
Mein Bauchgefühl sagte mir, dass Lia das wusste. Du hättest es mir freundlicher sagen können , dachte ich, aber dann wäre sie nicht Lia.
Ich stand noch zehn Minuten auf dem Balkon, nachdem Lia gegangen war. Als ich endlich wieder reinkam, waren Michael, Lia und Dean um den Küchentisch versammelt – ebenso wie Agent Briggs. Er trug Zivil, vermutlich versuchte das FBI also, diese Besuche geheim zu halten. Die Tatsache, dass Briggs selbst in Zivilkleidung immer noch wie ein Polizist aussah, spiegelte seine Persönlichkeit perfekt wider: hyperfokussiert, ehrgeizig.
Briggs spielte, um zu gewinnen.
»Es gab einen weiteren Mord.« Briggs hatte mit dieser Ankündigung offenbar bis zu meinem Eintreffen gewartet. Keiner von uns vieren gab sich Mühe, überrascht auszusehen. »Apex, Wonderland, Desert Rose und Majesty, alle innerhalb von vier Tagen. Möglicherweise haben wir es mit jemandem zu tun, der einen Groll gegen die Casinos oder die Leute hegt, die von ihnen profitieren.«
Dean blickte auf die Akte, die Briggs in der Hand hielt. »Das letzte Opfer?«
Briggs warf die Akte auf den Küchentisch. Ich öffnete sie. Glasige blaue Augen starrten mich an, imposant groß in einem herzförmigen Gesicht.
»Das ist …«, begann Michael.
»Camille Holt«, beendete ich den Satz und konnte meinen Blick nicht von ihr abwenden.
Du magst es, unterschätzt zu werden, Camille , dachte ich düster und berührte mit der Hand den Rand des Bildes. Es fasziniert dich, wie der Verstand funktioniert, wie er zerbricht, wie Menschen Situationen überleben, die eigentlich niemand überleben kann.
Ihre Haut war gespenstisch grau, das Weiß ihrer weit auseinanderstehenden Augen rot geädert – Kapillaren, die geplatzt waren, als sie sich gegen ihren Angreifer gewehrt hatte.
Du hast dich gewehrt. Du hast gekämpft. Sie lag mit dem Rücken auf dem weißen Marmorboden, ihr erdbeerblondes Haar war wie ein Heiligenschein um ihren Kopf drapiert – aber ich wusste aus dem Bauch heraus, dass sie gekämpft hatte, erbittert, mit einer wilden Kraft, mit der ihr Angreifer nicht gerechnet hatte.
»Tod durch Ersticken«, kommentierte Dean. »Sie wurde stranguliert.«
»Mordwaffe?«, fragte ich. Es gab einen Unterschied zwischen dem Erdrosseln mit einem Draht und dem mit einem Seil.
Briggs holte das Foto eines Beweismittelbeutels hervor. Darin befand sich eine Halskette – die dicke Metallkette, die Camille in der Nacht zuvor zweimal um den Hals geschlungen hatte.
In meiner Vorstellung sah ich sie an der Bar sitzen, ein Bein baumelte vom Hocker. Ich sah, wie sie sich umdrehte und zum Ausgang ging.
Ich sah, wie ihr Aaron Shaw mit dem Blick folgte.
»Sie sollten mit dem Sohn des Casinobesitzers reden.« Michaels Gedanken deckten sich genau mit meinen. »Aaron Shaw. Sein Interesse an Miss Holt war nicht professionell.«
»Was hast du gesehen?«, fragte Briggs.
Michael zuckte die Schultern. »Anziehung. Zuneigung. Eine starke Spannung.«
Was für eine Art von Spannung? Ich kam nicht dazu nachzufragen, denn Sloane betrat die Küche und schenkte sich Kaffee ein. Briggs musterte sie kritisch. Sloanes Neigung, auf Koffein hektisch zu plappern, war legendär.
»Ich habe Sie gestern Abend angerufen«, sagte Sloane vorwurfsvoll zu ihm. »Ich habe geklingelt und geklingelt und Sie sind nicht rangegangen. Also bekomme ich den Kaffee und Sie können sich nicht beschweren.«
Ich dachte an die Essstäbchen, die Sloane am Abend zuvor hatte mitgehen lassen. Es war dir wichtig, dass Briggs deinen Anruf entgegennahm. Du wolltest wahrgenommen werden. Du wolltest gehört werden.
»Es hat einen weiteren Mord gegeben«, sagte Briggs zu Sloane.
»Ich weiß.« Sloane starrte auf den Kaffee in ihren Händen. »Zwei. Drei. Drei. Drei.«
»Was hast du gesagt?«, fragte Briggs scharf.
»Die Zahl auf der Leiche. Sie lautet 2333.« Endlich setzte sich Sloane zu uns anderen an den Tisch. »Nicht wahr?«
Briggs zog ein weiteres Foto aus der Akte: Camilles Handgelenk. 2333 war darauf eingeritzt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Die blutigen Zahlen waren leicht gezackt. Von einem Henna-Tattoo zu dem hier. Zahlen waren schon immer eine Botschaft gewesen – aber das? Das war gewalttätig. Persönlich.
»War sie noch am Leben, als das UNSUB das getan hat?«, fragte ich.
Briggs schüttelte den Kopf. »Post mortem. In der Handtasche des Opfers war eine Puderdose. Wir glauben, dass das UNSUB sie zerbrochen und einen der Splitter benutzt hat, um die Zahlen in ihr Handgelenk zu ritzen.«
Ich wechselte von Camilles Perspektive zu der des Täters. Du bist ein Meister der Planung. Wenn du das von Anfang an gewollt hättest, hättest du etwas mitgebracht, um den Job zu erledigen.
Das warf zwei Fragen auf: Erstens, was war der Plan gewesen, und zweitens, warum war das UNSUB davon abgewichen?
Was ist schiefgelaufen?, fragte ich den Killer im Stillen. Hat sie irgendwie deinen Plan durchkreuzt? War sie schwerer zu manipulieren als die anderen? Ich dachte daran, dass Camille bei zwei der Opfer am Tatort gewesen war. Kanntest du sie?
»Das ist etwas Persönliches.« Deans Gedanken entsprachen genau den meinen. »Die anderen Opfer mögen aus Bequemlichkeit gewählt worden sein. Aber dieses nicht.«
»Das ist auch die Meinung von Agent Mullins«, sagte Briggs. Er wandte sich wieder Sloane zu. »Hast du die Zahlen entschlüsselt?«
Sloane zog einen Stift aus Agent Briggs’ Tasche, klappte die Mappe zu und begann, während sie sprach, Zahlen auf den Deckel zu kritzeln. »Die Fibonacci-Folge ist eine Reihe ganzer Zahlen, bei der sich jede Zahl aus der Addition der beiden vorhergehenden ergibt. Die meisten Menschen glauben, dass Fibonacci sie entdeckt hat, aber die frühesten Erwähnungen der Folge finden sich in Sanskrit-Schriften, die Hunderte von Jahren vor Fibonacci entstanden sind.«
Sloane setzte den Stift ab. Auf dem Blatt standen fünfzehn Zahlen:
0 1 1 2 3 5 8 13 21 34 55 89 144 233 377
»Ich habe es zuerst nicht gesehen«, fuhr sie fort. »Das Muster beginnt in der Mitte der ersten Dezimalzahl.«
»Stell dir für einen Moment vor«, sagte Lia, »dass wir alle sehr, sehr langsam sind.«
»Ich bin nicht sehr gut darin, so zu tun, als ob«, erklärte Sloane ernst. »Aber ich glaube, ich kann es.«
Michael unterdrückte ein Prusten.
Sloane nahm den Stift wieder in die Hand und setzte ihn unter die Zahl 13.
»Es beginnt hier«, sagte sie und unterstrich vier Ziffern, dann setzte sie einen Schrägstrich und wiederholte den Vorgang.
0 1 1 2 3 5 8 13 21 3 /4 55 8 /9 144 / 233 3 77
2333. Das Bild von Camilles Handgelenk ploppte in meinem Kopf auf, wie ein Ertrunkener, der an die Oberfläche eines Sees treibt. Du zerbrichst das Glas. Du drückst den scharfen Rand auf ihr Fleisch und ritzt die Zahlen ein.
»Warum diese Zahlenfolge?«, fragte ich. »Und warum sollte sie so schwer zu erkennen sein? Warum nicht am Anfang, mit 0112, beginnen?«
»Weil«, sagte Dean langsam, »man sich dieses Wissen verdienen muss.«
Briggs sah uns an, einen nach dem anderen. »Agent Mullins und ich werden den Nachmittag damit verbringen, mit möglichen Zeugen zu sprechen. Wenn ihr abgesehen von Aaron Shaw noch weitere Namen auf die Liste setzen wollt, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt.«
Bei der Erwähnung Aarons schlossen sich Sloanes Hände fest um ihre Kaffeetasse. Michael neigte den Kopf zur Seite und starrte sie an. Einen Augenblick später bemerkte er, dass ich ihn beobachtete, und zog herausfordernd eine Augenbraue hoch.
Du weißt, dass mit Sloane etwas nicht stimmt , dachte ich, und du weißt, dass ich weiß, was es ist.
»Ich nehme an, Sie wissen, dass Camille gestern Abend mit Tory Howard aus war?«, fragte Dean Briggs.
Briggs nickte kurz. »Wir haben gestern kurz mit Tory gesprochen. Wir werden heute noch einmal nachhaken und dann den Rest unserer Liste abarbeiten.«
»Ich nehme nicht an, dass Sie mich mitnehmen wollen, wenn Sie mit dieser schönen Ansammlung potenzieller Mörder sprechen?« Lia schenkte Agent Briggs einen koketten Augenaufschlag.
Briggs holte vier In-Ear-Kopfhörer aus seiner Tasche und legte sie auf den Tisch. Dann zog er ein Tablet aus seiner Aktenmappe. »Video- und Audioübertragung«, erklärte er. »Agent Mullins und ich sind verkabelt. Im Umkreis von vier Meilen seht ihr, was wir sehen. Ihr hört, was wir hören. Wenn ihr etwas mitbekommt, von dem ihr glaubt, dass wir es übersehen haben, könnt ihr uns eine SMS schicken oder uns anrufen. Ansonsten möchte ich, dass ihr etwas über unsere Verhörtechniken lernt.«
Lia, Michael, Dean und ich griffen gleichzeitig nach den Headsets.
Sloane drehte sich zu Briggs. »Was ist mit mir?«, fragte sie leise.
Es gab vier Kopfhörer und wir waren zu fünft.
»Vier Casinos in vier Tagen«, sagte Briggs. »Ich brauche dich« – er betonte diese Worte nachdrücklich, also war ihm die Verletzlichkeit in Sloanes Tonfall offenbar nicht entgangen –, »um herauszufinden, wo dieser Killer als Nächstes zuschlagen wird.«