D as statische Rauschen war unerträglich. Ich riss den Hörer heraus. Die anderen taten es mir gleich.
»Was zum …?« Wenn es ums Fluchen ging, war Lia sowohl kreativ als auch verbal präzise. Sie drückte ein paar Tasten auf dem Tablet.
Nichts.
Dean sprang auf. »Entweder sind sie außer Reichweite oder etwas blockiert das Signal.«
Da Thomas Wesleys neuestes Start-up auf Sicherheits technologie spezialisiert war, tippte ich auf Letzteres. Ich versuchte, Mullins eine SMS zu schicken, aber die Nachricht kam als unzustellbar zurück.
»Das Handysignal ist auch blockiert«, sagte ich.
»Wisst ihr was«, sagte Michael mit einem Funkeln in den Augen, »ich habe Lust auf einen kleinen Spaziergang. Vielleicht in Richtung Desert Rose?«
»Nein«, sagte Dean bestimmt. »Mullins und Briggs werden mit Thomas Wesley auch allein fertig.«
Lia wickelte ihren Pferdeschwanz nachdenklich um den Zeigefinger. »Judd ist Essen holen gegangen«, bemerkte sie. »Und ich habe gehört, das Desert Rose hat den größten Innenpool der Welt.«
»Lia«, zischte Dean. »Wir bleiben hier.«
»Natürlich«, sagte Lia und klopfte ihm auf die Schulter. »Und ich gehe auf keinen Fall, egal, was du sagst, denn ich tue immer, was man mir sagt. Schließlich habe ich weiß Gott keine Lust, meine eigenen Entscheidungen zu treffen«, flötete sie. »Schon gar nicht, wenn du derjenige bist, der die Befehle gibt!«
Wir gingen zum Pool.
Sloane hatte es vorgezogen, in der Suite zu bleiben. Da sie es hasste, ausgeschlossen zu werden, nahm ich an, dass sie es noch mehr hasste, nicht die von Briggs gewünschte Antwort zu liefern.
»Nicht schlecht«, kommentierte Lia, lehnte sich in einem Liegestuhl zurück und blickte in den künstlichen Himmel. In der riesigen Schwimmhalle des Desert Rose herrschte reges Treiben, Familien tummelten sich hier ebenso wie jene, die sich in den Erwachsenenbereich zurückgezogen hatten – und das, obwohl es noch nicht einmal Mittag war.
Dean warf Lia einen missmutigen Blick zu, während er schweigend die Gegend nach Bedrohungen absuchte. Ich besetzte den Liegestuhl neben Lia. Thomas Wesley hatte gesagt, dass seine Suite einen ausgezeichneten Blick auf den Pool hatte. Ich spähte hinauf zu den Balkonen, die auf den Pool hinausgingen, und meine Hand wanderte zu dem unter meinem Haar verborgenen In-Ear-Kopfhörer. Ich hatte die Lautstärke heruntergedreht, damit das weiße Rauschen erträglich war.
»Du bist gefrustet.«
Ich sah auf und bemerkte, dass Michael mich anstarrte.
Er hatte sich auf den Stuhl gegenüber von Lia gesetzt. Seine Hände wanderten zum unteren Rand seines Hemdes, als wolle er es ausziehen. Dann hielt er inne, fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und ließ die andere über die Stuhlkante herunterhängen. Er wirkte völlig ruhig, total relaxt.
Es kostete mich viel Kraft, mir nicht die blauen Flecken auf seinem Bauch und seiner Brust vorzustellen.
»Schau mich nicht so an«, sagte Michael leise. »Nicht du, Cassie.«
Ich fragte mich, was genau er in meinem Gesicht gesehen hatte. Waren es meine Augen oder meine Lippen oder die Spannung in meinem Nacken, die mich verrieten?
Er weiß, dass ich weiß, warum er sein Hemd nicht auszieht.
»Wie schaue ich denn?«, fragte ich und zwang mich, mich zurückzulehnen und die Augen zu schließen. Michael war ein Experte darin, so zu tun, als würden ihn Dinge – und Menschen – nichts angehen. Ich war nicht ganz so geschickt darin, aber ich wollte ihn nicht zwingen, mit mir darüber zu reden.
Wir reden kaum noch miteinander.
Michael räusperte sich. »Na, das könnte interessant werden.«
Ich riss die Augen auf. Michael nickte in Richtung des Erwachsenenbereichs. Daniel de la Cruz. Der Professor. Person von Interesse Nummer zwei. Eine Sekunde vor Lia erkannte ich den Mann. Nach kurzem Überlegen rollte sie sich aus ihrem Liegestuhl und warf sich ihren langen Pferdeschwanz über die Schulter. Während Lia hinüberschlenderte und sich unter dem Seil duckte und Dean etwas murmelte, das verdächtig nach keine gute Idee klang, ging ich noch einmal durch, was ich über Daniel de la Cruz wusste. Intensiv. Perfektionistisch. Und doch stand er da, kurz vor Mittag, mit einem Drink in der Hand.
Du trinkst ihn nicht , wurde mir klar, nachdem ich de la Cruz einen Moment beobachtet hatte. Er war ein Mann, der genau wusste, wie er wahrgenommen wurde – und wie er diese Wahrnehmung manipulieren konnte. Er nahm Blickkontakt mit einer Frau auf, die in der Nähe stand.
Sie lächelte.
Für dich ist alles ein Algorithmus. Alles ist vorausberechenbar. Ich konnte nicht genau sagen, was mir diesen Eindruck vermittelte – die Passform seiner Badehose? Die Wachsamkeit seines Blicks? Du hast in Mathematik promoviert. Was für ein Professor spielt nebenbei professionell Poker?
Bevor ich zu Antworten gelangen konnte, stieß Lia mit de la Cruz zusammen. Er konnte sein Glas gerade noch halten, kurz bevor er den Inhalt über sie verschüttet hätte. Gute Reflexe.
Neben mir konnte ich fast hören , wie Dean mit den Zähnen knirschte.
»Sie wird’s überleben«, murmelte ich, obwohl ich an unser UNSUB dachte, an die Fibonacci-Folge, an die Sorgfalt, mit der die ersten beiden Morde geplant worden waren.
»Sie wird’s überleben«, murmelte Dean. »Während ich einen Herzinfarkt kriege.«
»Was habe ich dir gesagt, Jonathan?« Eine scharfe Stimme unterbrach meine Gedanken. Zu meiner Linken schlenderte ein Mann mit perfekt frisiertem Haar und einer verärgerten Miene auf einen kleinen Jungen von vielleicht sieben oder acht Jahren zu. Was auch immer der Junge erwiderte, es gefiel dem Mann nicht. Er machte einen weiteren Schritt auf das Kind zu.
Neben mir spannte sich Michaels ganzer Körper an. Einen Moment später war er wieder so locker, dass ich mich fragte, ob ich mir das nur eingebildet hatte. Träge erhob er sich und wischte ein unsichtbares Staubkorn von seinem Hemd, während er auf den Mann und den Jungen zusteuerte.
»Dean«, sagte ich mit Nachdruck.
Dean war schon auf den Beinen.
»Ich behalte Lia im Auge«, sagte ich zu ihm. »Folge ihm.«
Michael setzte sich an einen Tisch neben den Jungen und seinen Vater. Er lächelte freundlich und starrte auf den Pool, aber ich wusste, dass seine Position nicht zufällig gewählt war. Michael hatte gelernt, Gefühle zu lesen, um sich vor den Launen seines scheinbar perfekten Vaters zu schützen. Wut war die Emotion, die ihn am meisten aus der Fassung brachte. Aber was war mit der Art von Wut, die sich hinter Masken inmitten scheinbar perfekter Kleinfamilien verbarg?
Diese Wut war nicht nur ein Auslöser. Sie war eine tickende Zeitbombe.
Dean setzte sich zu Michael an den Tisch. Michael legte seine Füße auf einen freien Stuhl, als würde er sich um nichts in der Welt kümmern.
Wie ich es Dean versprochen hatte, richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Lia und den Professor.
»Sie scheinen ziemlich gut über den Stand unserer Ermittlungen informiert zu sein.«
Es dauerte einen Moment, bis ich merkte, dass sich der Ton in meinem In-Ear-Kopfhörer wieder eingeschaltet hatte. Briggs’ Stimme war klar, aber die Antwort klang gedämpft. Ich legte den Kopf schräg und ließ mir die Haare ins Gesicht fallen, um die Lautstärke zu regulieren.
»Es ist wichtig für mich, Bescheid zu wissen. Das erste Mädchen ist auf meiner Party gestorben und Camille war so etwas wie eine Freundin. Für einen Mann in meiner Position zahlt es sich aus, über seine Freunde Bescheid zu wissen.«
Ich ließ meinen Blick über die Balkone schweifen. Dort, ganz oben unter der Kuppel, konnte ich drei Gestalten ausmachen. Zwei von ihnen trugen Anzüge. Mullins und Briggs.
Nicht nur ich hatte sie bemerkt. Auf der anderen Seite des Pools hatte der Professor ebenfalls Wesley und die Agenten ins Visier genommen. Sie sind äußerst aufmerksam, Professor. Und Sie sind sehr stolz darauf.
Ich suchte Lias Aufmerksamkeit und hielt ihren Blick für eine Sekunde fest. Sie sagte etwas zu de la Cruz und kam dann wieder auf mich zu. Mit einer fließenden, perfekt einstudierten Bewegung zog sie das Haargummi aus ihrem Haar und ließ die tiefschwarzen Strähnen über ihren Rücken fallen. Als sie neben mir Platz genommen hatte, setzte sie ihren In-Ear-Kopfhörer wieder ein.
»Ich nehme nicht an, dass Sie sich dazu überreden lassen, uns die Quelle Ihres Wissens über den Camille-Holt-Fall mitzuteilen?«, fragte Agent Mullins. Es war seltsam, ihre Stimme zu hören, während ich nur ihre Silhouette auf dem Balkon sehen konnte.
»Ziemlich sicher nicht«, antwortete Wesley sanft. »Aber James wird Ihnen nur zu gerne meine Alibis für jeden der letzten vier Abende geben.«
Lias Gesichtsausdruck verriet deutlich ihre Skepsis, dass Assistent James dem FBI in irgendeiner Weise gerne behilflich sein würde. Ich drehte mich um und versuchte, die Aufmerksamkeit der Jungs auf mich zu lenken, aber Michael und Dean waren beide verschwunden.
Genau wie der Junge und sein Vater.
Während ich die Menge absuchte, lieferte die Stimme von Agent Mullins den Soundtrack. »Sie sind ein intelligenter Mann«, sagte sie zu Wesley und schmeichelte seinem Ego. »Was, glauben Sie, ist Camille Holt zugestoßen?«
Schließlich entdeckte ich Michael, der an einem Imbissstand mit Kamelmotiven lehnte. Ein paar Meter weiter standen der Junge und sein Vater am Anfang der Schlange. Als ich Dean suchte, erblickte ich ihn hinter einer dichten Traube von Frauen um die vierzig, durch die er sich einen Weg zu Michael bahnte.
»Was ich glaube?«, sagte Wesley über Funk. »Ich glaube, an Ihrer Stelle würde ich mich besonders für Tory Howards einzigartige Fähigkeiten interessieren.«
Ein paar Meter von Michael entfernt griff der kleine Junge nach einer Eiswaffel. Er lächelte seinen Vater an. Sein Vater lächelte zurück.
Ich atmete innerlich erleichtert auf. Dean schob sich weiter durch die Menge und näherte sich Michael. In diesem Moment geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Auf der Tonspur bat Agent Briggs Thomas Wesley, seine Bemerkung über Torys Fähigkeiten genauer auszuführen, und in der Nähe des Imbissstandes stolperte der kleine Junge und das Eis fiel aus seiner Waffel auf den Boden.
Die Welt bewegte sich in Zeitlupe, während der kleine Junge erstarrte. Der Vater griff nach seinem Sohn, seine Hand schloss sich um dessen Arm, während er ihn grob zur Seite zerrte.
Michael stürzte nach vorne. Gerade war er noch einen oder zwei Meter von Dean entfernt gewesen, im nächsten Moment riss er die Hand des Vaters von seinem Sohn weg und holte aus, um dem Mann mit voller Wucht ins Gesicht zu schlagen.
»Ich bin überrascht, dass Sie das nicht wissen.« Wesleys Stimme durchdrang meine Bestürzung. »Tory Howard ist eine akzeptable Magierin, aber ihr wahres Talent ist die Hypnose.«