Kapitel 31 

A ls wir in unsere Suite zurückkehrten, warteten zwei Pakete auf uns. Das erste enthielt die Mitschnitte von Mullins’ und Briggs’ letztem Interview mit Tory Howard. Das zweite war von Aaron Shaw.

Sloane öffnete wortlos das zweite Päckchen. Es enthielt sechs Karten für die heutige Aufführung von Tory Howard’s Imagine . Die beiliegende Werbung versprach einen »bezaubernden Abend mit verblüffender Unterhaltung«. Auf der Rückseite hatte Aaron in schräger Kursivschrift geschrieben: Auf Kosten des Hauses . Unterzeichnet hatte er mit seinem Namen.

»Ich muss jetzt etwas machen, das kein Weinen ist«, sagte Sloane. »Und ich möchte es allein tun.« Sie verschwand, bevor einer von uns etwas sagen konnte.

Lia und ich tauschten Blicke aus. Als Michael und Dean zu uns stießen, brachten wir sie auf den neuesten Stand. Lia warf sich das Haar über die Schulter und tat so, als mache sie sich keine Sorgen um Sloane – und als kümmere sie sich nur um sich selbst.

»Also«, sagte sie »wer möchte Mullins und Briggs beim Kreuzverhör von Aaron Shaws Freundin zuschauen?«

Auf dem Bildschirm waren Agent Briggs, Agent Mullins und Tory in einer Art Verhörraum zu sehen, zusammen mit einem Mann, der vermutlich Torys Anwalt war.

»Danke, dass Sie sich noch einmal mit uns treffen.« Briggs setzte sich Tory gegenüber. Mullins nahm links von ihm Platz. Torys Anwalt ließ sich neben ihr nieder.

»Meine Mandantin ist gerne hierhergekommen, um alle Unklarheiten in ihren bisherigen Aussagen auszuräumen.« Die Stimme des Anwalts war weich und tief. Selbst aus der Ferne wirkte seine Uhr teuer.

Tory hat ihn nicht engagiert . Ich zweifelte nicht an meiner Eingebung. Tory war zäh, sie redete Klartext, sie war eine Überlebenskünstlerin. Irgendwann war sie in einer Pflegefamilie untergebracht gewesen. Sie hatte um alles kämpfen müssen, was sie hatte. Zweifellos hätte sie den besten Anwalt engagiert, den sie sich leisten konnte, um das FBI davon abzuhalten, sie unter Druck zu setzen, aber sie würde eindeutig jemanden vorziehen, der aggressiver war und keine Vorliebe für Designeranzüge hatte.

»Ms Howard, bei unserem letzten Gespräch haben Sie angedeutet, dass Camille Holt diejenige gewesen ist, die an jenem Abend das Restaurant des Majesty als Ziel ausgewählt hatte.«

»Habe ich das?« Tory zuckte nicht mit der Wimper. »Das ist nicht richtig. Ich war diejenige, die vorgeschlagen hat, dorthin zu gehen.«

Ich erinnerte mich daran, wie ich Tory mit Aaron in der Passage gesehen hatte. Hatten sie über das Interview gesprochen? Hatte er ihr geraten, was sie sagen sollte?

»Wussten Sie, dass der Ort, an dem Camille ermordet wurde, im Vorhinein festgelegt war?«, fragte Agent Briggs.

»Nein«, antwortete Michael an ihrer Stelle. »Sie wusste es nicht. Schaut euch das an.« Er deutete auf den Monitor, wobei mir unklar war, was an Torys Gesichtsausdruck ihm den Hinweis gegeben hatte. »Das ist wie ein Schlag in die Magengrube für sie.«

Agent Mullins nutzte die Gelegenheit. »Wie ist Ihre Beziehung zu Aaron Shaw?«

Tory war noch mit dieser Enthüllung über den Mord an Camille beschäftigt, als ihr Anwalt sich vorbeugte. »Meine Mandantin wird keine Fragen zu Aaron Shaw beantworten.«

»Seht euch an, wie die Nasenflügel des Anwalts beben«, sagte Michael. »Das ist das Äußerste, was er bisher an Emotionen gezeigt hat.«

Mit anderen Worten: »Er ist mehr damit beschäftigt, Aaron zu beschützen als Tory«, sagte ich. Sie hat ihn nicht angeheuert , dachte ich erneut. Das waren die Shaws.

Mullins und Briggs tauschten einen bedeutungsvollen Blick aus. Offensichtlich hatten sie das auch mitbekommen.

»Verstanden«, sagte Agent Briggs zu dem Anwalt. »Nun, Ms Howard, wir hatten gehofft, dass Sie uns mit Ihrem Fachwissen über Hypnose weiterhelfen könnten.«

Tory sah zu dem Anwalt. Keine Einwände.

»Was möchten Sie wissen?«

»Können Sie das Verfahren beschreiben, mit dem Sie jemanden hypnotisieren?«, fragte Briggs. Er hielt die Fragen allgemein.

Er behandelt sie wie eine Expertin, nicht wie eine Verdächtige , dachte ich. Sehr geschickt.

»Normalerweise beginne ich damit, dass ich die Freiwilligen von hundert rückwärtszählen lasse. Wenn ich eine breitere Wirkung erzielen will, wende ich vielleicht eine Technik an, die schneller zu einem Ergebnis führt.«

»Zum Beispiel?«

»Es ist möglich, jemanden durch einen Schock in einen hypnotischen Zustand zu versetzen«, sagte Tory. »Oder man kann eine Art Routinevorgang einleiten – wie einen Händedruck – und ihn dann unterbrechen.«

»Und wenn jemand unter Hypnose steht«, fragte Briggs, »kann man ihm dann bestimmte Ideen suggerieren und ihn dazu bringen, auf bestimmte Weise zu handeln?«

Tory war vieles, aber naiv war sie nicht.

»Wenn Sie etwas Bestimmtes im Sinn haben, Agent Briggs«, sagte sie, »fragen Sie einfach direkt.«

Mullins beugte sich vor. »Könnten Sie jemanden unter Hypnose dazu bringen, sich tätowieren zu lassen?«

»Das hängt davon ab«, antwortete Tory sachlich, »ob die betreffende Person prinzipiell bereit ist, sich tätowieren zu lassen.« Ich dachte schon, sie würde es dabei belassen, aber das tat sie nicht. »Hypnose ist keine Gedankenkontrolle, Agent Mullins. Es ist eine Art Suggestion. Man kann die Persönlichkeit eines Menschen nicht verändern. Man kann niemanden dazu bringen, etwas zu tun, was er wirklich nicht tun will. Die hypnotisierte Person ist kein unbeschriebenes Blatt. Sie ist nur … offen.«

»Aber wenn jemand bereit wäre, sich tätowieren zu lassen …«

»Dann ja«, sagte Tory. »Ich könnte die Idee vielleicht suggerieren. Aber da mir mein Job wichtig ist und ich nicht von verärgerten Zuschauern verklagt werden möchte, versuche ich, mich an Dinge zu halten, die nicht so dauerhaft sind.«

Alexandra Ruiz’ Tätowierung war mit Henna gemacht, dachte ich. Das ist weniger verbreitet als ein normales Tattoo – und nicht dauerhaft.

»Kann jeder hypnotisiert werden?« Nun stellte wieder Agent Briggs die Fragen.

»Man kann niemanden gegen seinen Willen zu etwas zwingen.« Tory lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Und manche Menschen sind leichter zu hypnotisieren als andere. Tagträumer. Menschen, die als Kinder imaginäre Freunde hatten.«

Neben Tory sah der Anwalt auf seine Armbanduhr.

»Wie schnell könnte jemand Ihre Fähigkeiten erlernen?«, fragte Briggs.

»Um es so gut zu machen wie ich?«, fragte Tory. »Das würde Jahre dauern. Um jemanden einfach so zu hypnotisieren? Es gibt Leute, die behaupten, sie könnten es einem in weniger als zehn Minuten beibringen.«

Ich sah die nächste Frage kommen.

»Haben Sie es jemandem beigebracht?«

Torys Blick drehte sich zu ihrem Anwalt. »Ich glaube«, sagte er, stand auf und bedeutete Tory, es ihm gleichzutun, »meine Mandantin hat sich lange genug Ihren Interessen gewidmet.«

Aaron , dachte ich. Sie hat es Aaron beigebracht.

Die Aufnahme endete und wich einem weißen Flimmern. Nach einem Moment der Stille ergriff Lia das Wort. »Jedes Wort aus ihrem Mund war wahr.«

Die eigentliche Frage ist nur , dachte ich, was sie nicht gesagt hat.

»Ich möchte gehen.«

Ich blickte auf und sah Sloane in der Tür stehen.

»Wohin?«, fragte Michael.

»Zu Tory Howard’s Imagine«, erwiderte Sloane. »Aaron hat uns Freikarten geschickt. Ich möchte hingehen.«

Ich dachte daran, wie Aaron Sloane vor dem Sicherheitschef gerettet hatte, wie er den Ladendiebstahl ignoriert hatte, wie er geschworen hatte, dass die Dinge anders gelaufen wären, wenn er von ihr gewusst hätte.

Ich dachte an Sloanes Vater, der ihr eingeschärft hatte, sich von seinem Sohn fernzuhalten.

Es klopfte an der Tür. »Lieferung«, rief jemand. »Für Miss Tavish.«

Dean öffnete die Tür. Wachsam nahm er die Kiste entgegen. Ich fragte mich, ob er an die Geschenke dachte, die man mir geschickt hatte – Schachteln mit menschlichem Haar darin, Schachteln, die mich als Objekt der Besessenheit eines Mörders ausgewiesen hatten.

Wir warteten ab, bis Judd die Schachtel geöffnet hatte. Darin lag, eingewickelt in dezent gestreiftes Seidenpapier, das Oberteil, das Sloane zu stehlen versucht hatte.

In der Schachtel war eine Karte. Ich erkannte Aarons Handschrift. Die Botschaft lautete schlicht: Ich bin nicht wie mein Vater.

Sloane strich mit der Hand über die Seidenbluse und ein Ausdruck zwischen Herzschmerz und Erstaunen huschte über ihr Gesicht.

»Es ist mir egal, was sie sagen«, sagte sie leise. »Briggs. Oder Mullins. Oder Grayson Shaw.« Behutsam hob sie das Shirt aus dem Karton. »Ich werde gehen.«