S erienkiller hören nicht einfach auf.
Das hatte Agent Mullins mir erklärt. Mir war damals klar gewesen, dass sie den Mörder meinte, der Scarlett Hawkins getötet hatte.
Ich hatte jedoch keine Ahnung, dass Scarlett Nightshades neuntes Opfer war.
Während Judd dastand und mich anstarrte, spuckte mein Gehirn alles aus, was ich je über den Tod seiner Tochter gehört hatte. Briggs und Mullins waren dem Fall Nightshade zugeteilt worden, kurz nachdem sie Deans Vater verhaftet hatten. Sie hatten den Killer mit aller Härte gejagt. Und er hatte grausam zurückgeschlagen.
Er hatte ihre Freundin getötet, ein Mitglied ihres Teams, das nie in der Schusslinie hätte sein dürfen, in ihrem eigenen Labor.
Sie haben ihn nie gefasst . Ich konnte nicht verhindern, dass mir diese Worte wieder und wieder durch den Kopf gingen. Und Serienkiller hören nicht einfach auf.
New York vor elf Jahren.
D. C. vor fünfeinhalb Jahren.
Und jetzt Vegas.
Dean trat neben Judd. Keiner von beiden war ein Freund vieler Worte. An ihrer Haltung erkannte ich immer noch den Mann, der seine Tochter verloren hatte, und den zwölfjährigen Jungen, dessen Rettung ihn seinen eigenen Kummer ein wenig vergessen hatte lassen.
»Wir müssen die Daten der anderen Nightshade-Morde ermitteln.« Dean versuchte nicht, ihn damit zu trösten. Judd war nicht der Typ, den man tröstete.
Du willst keinen Trost. Das wolltest du nie. Du willst den Mann, der deine Tochter getötet hat, und du willst ihn tot sehen.
Ich verstand das, besser als die meisten.
»Wir brauchen nicht zu ermitteln.« Judds Stimme klang hart. »Ich kenne die Daten.« Sein Kinn zitterte leicht, seine Lippen zogen sich nach innen. »Vierter März. Fünfter März. Einundzwanzigster März.« Ich konnte den Tonfall des Elitesoldaten heraushören, während er sprach, als würde er eine Liste gefallener Kameraden verlesen. »Zweiter April. Vierter April.«
»Halt.« Sloane kam näher und nahm seine Hand. »Judd«, sagte sie mit einem Blick voller Herzenswärme, »du kannst jetzt aufhören.«
Aber er konnte nicht. »Fünfter April. Dreiundzwanzigster April. Fünfter Mai.« Er schluckte, und obwohl sich sein Gesicht straffte, konnte ich den Glanz der Tränen in seinen Augen sehen. »Achter Mai.«
Die Muskeln in Judds Armen spannten sich. Für einen Moment dachte ich, er würde Sloane wegschubsen, aber stattdessen verschränkten sich seine Finger mit ihren. »Stimmen die Daten?«, fragte er.
Sloane nickte, und wo sie einmal angefangen hatte, konnte sie nicht mehr aufhören zu nicken. »Ich wünschte, sie würden nicht übereinstimmen«, sagte sie heftig. »Ich wünschte, ich hätte es nie gesehen. Ich wünschte …«
»Lass das«, sagte Judd scharf. »Entschuldige dich niemals für das, was du bist.«
Behutsam ließ er ihre Hand los. Dann sah er uns alle an, einen nach dem anderen. »Ich sollte derjenige sein, der es Ronnie und Briggs sagt«, sagte er. »Und ich sollte es persönlich tun.«
»Nur zu.« Lia kam mir mit ihrer Antwort zuvor. »Wir kommen schon klar.« Lia sprach selten in so kurzen Sätzen. Ihr Gesichtsausdruck erinnerte mich daran, dass Judd sich um Lia gekümmert hatte, seit sie dreizehn war.
»Ich will nicht, dass du in der Nightshade-Akte herumschnüffelst.« Judd starrte Lia an, als er diesen Befehl gab, aber es war klar, dass er mit uns allen sprach. »Ich weiß, wie ihr alle arbeitet. Ich weiß, dass ihr, sobald ich aus der Tür gehe, von Sloane die Details haben wollt, damit ihr euch kopfüber in den Fall stürzen könnt, aber ich meine es ernst.« Judd sah uns alle mit strengem Blick an. »Wenn ihr ohne meine Erlaubnis auch nur in die Nähe dieser Akte kommt, setze ich euch in den nächsten Flieger zurück nach Quantico, ohne Rücksicht auf diesen Fall.«
Niemand im Raum glaubte, dass Judd leere Drohungen aussprach.
Fünfzehn Minuten, nachdem Judd gegangen war, kam der Zimmerservice. Keiner von uns rührte das Essen an.
»Judd hatte recht«, sagte Michael und durchbrach damit die Stille, die sich nach Judds Abgang ausgebreitet hatte. »Es ist noch zu früh am Tag für Champagner.« Er ging zur Bar und holte eine Flasche Whiskey heraus. Dann stellte er fünf Gläser auf den Tisch.
»Glaubst du wirklich, dass dies der richtige Zeitpunkt für einen Drink ist?«, fragte Dean.
Michael starrte ihn an. »Redding, ich glaube, das ist die Quintessenz von ›der richtige Zeitpunkt für einen Drink‹.« Er wandte sich an den Rest von uns. Ich schüttelte den Kopf. Lia hielt zwei Finger hoch.
»Sloane?«, fragte Michael. Es war bezeichnend für ihn, dass er ihren Koffeinkonsum rationierte, ihr aber, ohne mit der Wimper zu zucken, Hochprozentiges anbot.
»In Alaska macht man sich strafbar, wenn man einem Elch Alkohol gibt.«
»Das heißt dann wohl Nein«, sagte Michael.
»In Amerika«, betonte Dean, »können Minderjährige wegen Alkoholkonsums strafrechtlich verfolgt werden.« Lia und Michael ignorierten ihn. Ich kannte Dean gut genug, um zu wissen, dass seine Gedanken nicht wirklich bei der Flasche Whiskey waren. Sie waren bei Judd.
Genau wie meine.
Ohne Details konnte ich nur ein grobes Profil des Mörders von Judds Tochter zeichnen. Das FBI war dir hart auf den Fersen. Du hast sie persönlich attackiert. Das sagte mir, dass wir es mit jemandem zu tun hatten, der keine Angst hatte, der dafür lebte, andere in Angst und Schrecken zu versetzen. Jemand, für den Töten ein Spiel war. Jemand, der es liebte zu gewinnen. Wahrscheinlich war es eher ein Mann als eine Frau, obwohl der Name Nightshade stark darauf hindeutete, dass die Waffe der Wahl des Mörders Gift war, was normalerweise eher mit Frauen in Verbindung gebracht wurde.
Da ich nicht weiterkam, ging ich einen Schritt zurück und betrachtete die Sache von der anderen Seite. Ich wusste sehr wenig über Nightshade, aber einiges über Judds Tochter. Vor Monaten hatte mir Agent Mullins eine Geschichte erzählt. Wir waren damals gefangen gehalten worden, und sie hatte mir erzählt, dass sich ihre beste Freundin Scarlett als Kind immer schreckliche Szenarien ausgemalt und überlegt hatte, wie man ihnen entkommen konnte. » Du bist lebendig in einem gläsernen Sarg begraben, mit einer schlafenden Kobra auf deiner Brust«, sagte sie einmal. » Was tust du?«
Bei einer anderen Gelegenheit hatte Judd angedeutet, dass Scarlett im Schulalter einmal die junge Veronica Mullins überredet hatte, sie auf eine »wissenschaftliche Expedition« zu begleiten, die eine kleine (oder vielleicht auch nicht so kleine) Klettertour an einer Klippe beinhaltete.
Du warst furchtlos und witzig und zu stur, um dir etwas ausreden zu lassen, wenn du dich einmal entschieden hattest , dachte ich. Scarlett war erwachsen geworden und arbeitete in den Labors des FBI. Hast du am Nightshade-Fall gearbeitet?, fragte ich sie leise. Warst du deshalb in dieser Nacht im Labor? Ich dachte an Sloane, die vor einem Rätsel stand und nicht aufgeben wollte, bis die Zahlen einen Sinn ergaben. Warst du auch so?
Ohne die Akte zu lesen, konnte ich es nicht wissen. Hast du deinen Mörder gesehen? Hat er dir beim Sterben zugesehen? In meinem Kopf führte eine Frage zur nächsten. Ging es schnell oder langsam? Hast du um Hilfe gerufen? Hast du an Kobras gedacht und an Glassärge? An Mullins und Briggs und Judd?
Ein Klopfen an der Tür riss mich aus meinen Gedanken. Ich schüttelte mich. Ein Teil von mir fühlte sich, als hätte ich etwas Dunkles angezogen, nur weil ich an seinen Namen gedacht hatte.
Dean stand auf und ging zur Tür, Michael und Lia folgten ihm. Dean starrte durch den Spion. »Was willst du?« Wer auch immer auf der anderen Seite war, Dean war nicht gerade freundlich gestimmt.
»Ich habe etwas für euch.«
Die Stimme war durch die Tür etwas gedämpft, aber ich erkannte sie trotzdem.
»Aaron?« Sloane trat neben Dean. Für den Bruchteil einer Sekunde erhellte sich ihr Gesicht. Aber ich sah genau den Moment, in dem sie sich daran erinnerte, dass ihr Halbbruder vielleicht gar nicht so anders war als ihr gemeinsamer Vater.
»Sloane.« Aaron sprach jetzt mit ihr, nicht mehr mit Dean. »Ich weiß, was du für das FBI tust. Mein Vater hat es mir erzählt.«
Ich traute Sloanes Vater nicht – und das machte es mir sehr schwer, Aaron zu vertrauen.
»Es gefällt mir nicht«, fuhr Aaron fort. »Das ist nicht das Leben, das ich mir für dich wünsche. Und das ist jetzt auch nicht die Art von Unterhaltung, die ich mir für uns wünsche. Aber ich muss dem FBI etwas mitteilen.«
Deans Blick wanderte zu Lia. Sie nickte. Aaron hatte die Wahrheit gesagt.
»Dann erzähl es der Polizei«, blaffte Dean zurück, immer noch nicht gewillt, die Tür zu öffnen.
»Mein Vater kontrolliert die Polizei.« Aaron senkte die Stimme. Ich konnte ihn kaum verstehen. »Und er will Beau Donovan im Gefängnis sehen.«
Bei der Erwähnung von Beaus Namen trat ich einen Schritt vor.
Was Aaron sagte, passte zu dem, was Agent Briggs über die Mächtigen gesagt hatte, die eine saubere Lösung für ihr kleines Serienmörderproblem wollten.
»Bitte«, sagte Aaron. »Je länger ich im Flur stehe, desto größer ist die Chance, dass mich jemand auf einem Überwachungsvideo erwischt, und dann haben wir größere Probleme als die Tatsache, dass du mir nicht vertraust.«
Dean ging in die Küche. Er zog eine Schublade auf, dann eine andere. Einen Moment später kehrte er zur Eingangstür zurück.
Er trug ein Fleischermesser bei sich.