A gent Mullins und Agent Briggs saßen im Verhörraum Beau Donovan gegenüber. Er trug einen orangefarbenen Overall. Seine Handgelenke waren mit Handschellen gefesselt.
Neben Beau hatte ein Pflichtverteidiger Platz genommen, der seinen Mandanten immer wieder zum Schweigen ermahnte.
Im Safehouse verfolgten Lia, Michael, Dean und ich das Geschehen. Sloane hatte anfangs auch versucht zuzusehen, aber es überstieg ihre Kräfte.
Sie trug seit drei Tagen das Oberteil, das Aaron ihr geschenkt hatte.
Wir brauchten ein Geständnis. Wir hatten genug Beweise vorgelegt, um den Staatsanwalt zu überzeugen, Anklage zu erheben, aber um einen langwierigen Prozess zu vermeiden und um sicher zu sein, dass Beau zur Rechenschaft gezogen würde, brauchten wir ein Geständnis.
»Mein Mandant«, sagte der Anwalt eindringlich, »beruft sich auf den Fünften Verfassungszusatz.«
»Sie haben nichts in der Hand«, sagte Beau zu Briggs und Mullins, seine Augen waren gleichzeitig emotionslos und seltsam leuchtend.
»Das ist das zweite Mal, dass Sie versuchen, mich einzusperren. Es wird nicht funktionieren. Wie sollte es auch?«
»Mein Mandant«, wiederholte der Anwalt, »plädiert auf den Fünften.«
»Neun Leichen.« Agent Briggs beugte sich vor. »Alle drei Jahre. Jeweils zu Daten, die sich aus der Fibonacci-Folge ergeben.«
Das war die letzte Karte, die wir ausspielen konnten.
»Weiter«, sagte Michael zu den Agenten über die Headsets, die die beiden trugen. »Er ist überrascht, dass Sie von den anderen wissen. Und wie seine Augen gerade zu seinem Anwalt gewandert sind? Erregung. Zorn. Angst.«
Beaus Anwalt hatte keine Ahnung. Er wusste nicht, warum sein Mandant diese Taten begangen hatte und was ihn zum Töten getrieben hatte. Wir vermuteten, dass Beau verhindern wollte, dass der Mann es erfuhr.
Briggs zog ein Foto nach dem anderen aus seiner Akte. Mordopfer – aber nicht die von Beau. »Ertränken. Verbrennen. Durchbohren. Erwürgen.«
Beau wurde sichtlich unruhig.
»Messer.« Briggs hielt inne. Weiter war Beau nicht gekommen. »Ihr sechstes Opfer hätten Sie erschlagen.« Noch ein Bild.
Das kommt überraschend. Du hättest niemals damit gerechnet, dass das FBI davon wusste. Beau wurde blass. Das war unmöglich.
Du wolltest nur auf alte Geheimnisse anspielen. Um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Damit sie dich wahrnehmen.
Du wolltest nie, dass es so weit kommt.
»Nummer sieben wäre Gift gewesen«, fuhr Briggs fort. Er legte das letzte Bild auf den Tisch. Es zeigte eine Frau mit blonden Haaren, grünen Augen und einem Gesicht, das eher komisch als niedlich war. Ihr Mund war blutverschmiert. Ihr Körper war verkrümmt. Sie hatte sich die Fingernägel abgerissen.
Ich schluckte, als ich mich daran erinnerte, was Judd über Nightshades Gift gesagt hatte. Nicht nachweisbar. Es gibt kein Gegengift. Extrem schmerzhaft.
»Sie war meine beste Freundin.« Agent Mullins strich mit den Fingern über den Rand von Scarletts Foto. »Haben die Ihnen auch jemanden genommen?«
»Die?«, fragte der Anwalt. »Wer sind ›die‹?« Er gestikulierte ärgerlich in Richtung der Bilder. »Was hat das zu bedeuten?«
Briggs fixierte Beau mit den Augen. »Soll ich darauf antworten?«, fragte er. »Soll ich ihm sagen, warum wir Ihnen diese Bilder zeigen?«
»Nein!« Beau stieß das Wort knurrend aus.
Mit Außenstehenden redet man nicht. Lias Erkenntnisse über die Mentalität von Sekten gingen mir durch den Kopf. Man verrät ihnen nicht, was Uneingeweihte nicht wissen dürfen.
»Lassen Sie uns allein«, sagte Beau zu seinem Anwalt.
»Ich kann nicht einfach gehen …«
»Ich bin der Klient«, sagte Beau. »Und ich habe gesagt: raus. Und zwar sofort.«
Der Anwalt verließ den Raum.
»Sie sind nicht verpflichtet, mit uns zu sprechen, wenn Ihr Anwalt nicht hier ist«, sagte Briggs. »Andererseits bezweifle ich, dass Sie wollen, dass er davon erfährt. Ich bezweifle, dass irgendjemand davon erfahren soll.« Briggs hielt inne. »Sie haben recht damit, dass wir vielleicht nicht genug für eine Verurteilung haben.«
Mullins machte da weiter, wo Briggs aufgehört hatte. »Aber wir haben genug für einen Prozess.«
»Zwölf Leute in der Jury«, sagte Mullins. Ich erkannte ihre Strategie, die Zahlen hochzuspielen und sich damit in sein Denkmuster einzufügen. »Dutzende von Reportern. Die Familien der Opfer werden dabei sein wollen.«
»Die werden Sie ausschalten«, sagte Beau.
»Werden sie das?«, fragte Mullins. »Oder werden die Sie ausschalten?«
Die Worte trafen ins Schwarze. Ich konnte sehen, wie Beau sich gegen die Handschellen stemmte, um sich nicht umzudrehen und über die Schulter zu schauen.
»Erzählen Sie ihm eine Geschichte«, wies Dean die Agenten an. »Beginnen Sie mit dem Tag, an dem er in der Wüste gefunden wurde.«
Dean und ich waren es gewohnt, unsere Fähigkeiten einzusetzen, um Mörder zu fassen. Aber das Erstellen von Profilen half ebenso dabei, sie zu knacken.
»Ich erzähle Ihnen eine Geschichte«, sagte Briggs auf dem Bildschirm. »Sie handelt von einem kleinen Jungen, der im Alter von sechs Jahren halb tot in der Wüste gefunden wurde.«
Beaus Atem ging merklich schneller.
»Niemand wusste, woher er kam«, fuhr Briggs fort.
»Niemand wusste, wer er war«, sagte ich. Briggs wiederholte meine Worte.
Wir wussten nicht genau, wie Beau seine ersten sechs Jahre verbracht hatte, aber Dean hatte eine Theorie. Ich hatte mich schon seit Tagen gefragt, ob Dean in Beau einen Teil von sich selbst wiedererkannt hatte. Ich war davon ausgegangen, dass das Profil des UNSUBs, sofern es jung war, dem eines Lehrlings von Daniel Redding nicht unähnlich sein dürfte.
Du bist nicht einfach über das Muster gestolpert. Du wusstest, wonach du Ausschau halten musstest. Du hast dein ganzes Leben danach gesucht. Und der Grund dafür liegt in diesen ersten sechs Jahren.
»Sie wissen nicht, wovon Sie reden.« Beaus Stimme war nicht lauter als ein Flüstern, aber sie war schneidend. »Sie können es nicht wissen.«
»Wir wissen, dass die Sie nicht wollten.« Mullins ging zum Angriff über. Die Morde Beaus hatten das Muster der Sekte auf die nächste Stufe gehoben. Er hatte sie herausgefordert, angegriffen und ihnen gezeigt, wie würdig er war. »Sie haben Sie zum Sterben zurückgelassen. Sie waren nicht gut genug für die.« Mullins hielt inne. »Und die hatten recht. Sehen Sie sich doch an. Sie haben sich erwischen lassen.« Ihr Blick wanderte über seinen orangefarbenen Overall und die Handschellen. »Die hatten recht.«
»Sie haben keine Ahnung, was ich bin«, sagte Beau, und seine Stimme zitterte vor Aufregung. »Sie haben keine Ahnung, wozu ich fähig bin. Die anderen auch nicht. Niemand weiß es.« Mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter. »Ich bin für diese Aufgabe geboren. Die anderen werden als Erwachsene rekrutiert, aber Nummer Neun wird immer innerhalb ihrer Mauern geboren. Das Kind der Bruderschaft und der Pythia – Blut von ihrem Blut. Neun.«
» Neun ist für ihn ein Name«, erklärte Dean. »Ein Titel. Sagen Sie ihm, er hat ihn nicht verdient. Er ist seiner nicht würdig.«
»Sie sind nicht Neun«, sagte Mullins. »Sie werden nie Neun sein.«
Beau hob die gefesselten Hände an seinen Kragen. Er krallte die Finger in sein Hemd und riss es sich grob von der Schulter. Auf seiner nackten Brust war eine Reihe von gezackten Schnitten zu sehen, die halb verheilt und auf dem Weg der Narbenbildung waren.
Sieben kleine Kreise, die ein Siebeneck um ein Kreuz bildeten.
Ich hielt den Atem an. Dieses Symbol – ich kannte es.
»Sieben Meister.« Beaus Gesicht war angespannt, seine Stimme voller Zorn. Er fuhr mit den Fingern an der Außenkante des Siebenecks entlang. Sieben Kreise . »Die Pythia.« Er drückte den Finger in die Wunde und fuhr die senkrechte Linie des Kreuzes entlang. Seine Hand zitterte, als er dasselbe mit der Horizontalen tat. »Und Neun.«
Das Symbol. Ich kenne das Symbol. Sieben Kreise um ein Kreuz.
Es war in den Deckel eines einfachen Holzsarges geritzt, der an einer Wegkreuzung eines Feldwegs ausgegraben worden war.
»Sie wünschen sich, die Neun zu sein«, drängte Agent Mullins weiter. Ich spürte, wie meine Glieder taub wurden. Mir wurde schwarz vor Augen.
»Dean«, keuchte ich.
Im Nu war er bei mir. »Ich sehe es«, sagte er. »Du musst weiteratmen, tu es für mich, Cassie. Ich sehe es.«
Das Symbol, das Beau in sein eigenes Fleisch geritzt hatte, war auch in den Sarg meiner Mutter geritzt worden. Unmöglich. Der 21. Juni. Kein Fibonacci-Datum. Meine Mutter war im Juni gestorben.
Auf dem Bildschirm zitterten Beaus Hände immer noch. Seine Finger verkrampften sich. Sie krallten sich in seinen Hals. Sein Rücken krümmte sich. Dann fiel er zu Boden und wälzte sich in Krämpfen.
Schreie. Ich nahm das Geräusch wahr, als käme es von weit her. Er schrie.
Dann röchelte er und verschluckte sich an dem Blut, das ihm über die Lippen lief. Seine Fingernägel kratzten heftig an seinem Körper und am Boden.
Gift.
»Atme«, wiederholte Dean.
»Wir brauchen Hilfe«, schrie Mullins. Beau schreit, Mullins schreit – und endlich, endlich hörten die Krämpfe auf. Endlich war Beau still.
Sieben kleine Kreise bildeten ein Siebeneck um ein Kreuz.
Ich zwang mich, Luft zu holen. Noch einen Atemzug und noch einen.
Beaus aufgeplatzte Lippen bewegten sich. In einem letzten Moment der Klarheit sah er Briggs an. »Ich will nicht«, sagte er mühsam. »Ich wünsche mir nicht, Neun zu sein.« Er klang wie ein Kind.
»Sie sind vergiftet worden«, sagte Briggs zu ihm. »Sagen Sie uns bitte …«
»Ich glaube nicht an Wünsche«, murmelte Beau. Dann verdrehten sich seine Augen nach oben und er war tot.