Kapitel 63 

D ie Stunden nach Nightshades Verhör verschwammen in einer Art undurchdringlichem Nebel. Mullins rief an, um uns mitzuteilen, dass Briggs das Gegengift bekommen hatte. Vermutlich würde er wieder vollständig genesen, wenn auch langsam. Und sie hatten die Frau gefunden.

Das kleine Mädchen war bei ihr gewesen.

Keine zwanzig Stunden, nachdem Nightshade die Mörderin meiner Mutter benannt hatte, betrat ich Zimmer 2117 im Dark Angel Hotel Casino. Auf fünfzig Meter Entfernung konnte man das Blut riechen. An den Wänden. Auf dem Boden. Die Szene war mir vertraut.

Blut. An den Wänden. Auf meiner Hand. Ich fühle es. Ich rieche es …

Aber diesmal gab es eine Leiche. Die Frau – erdbeerblondes Haar, jünger, als ich sie in Erinnerung hatte – lag in ihrem eigenen Blut, ihr weißes Kleid war durchtränkt. Sie war mit einem Messer getötet worden.

Hatte Nightshade das getan, bevor er gefangen genommen worden war? Einer der anderen Meister? Eine neue Pythia? Ich wusste es nicht. Und zum ersten Mal, seit ich dem Naturtalente-Programm beigetreten war, war ich mir nicht sicher, ob ich es überhaupt wissen wollte . Diese Frau hatte meine Mutter auf dem Gewissen. Ob sie eine Wahl hatte, ob es für sie Töten oder Getötetwerden hieß, ob sie es genossen hatte …

Jedenfalls empfand ich kein Bedauern über ihren Tod.

Das kleine Mädchen saß auf einem Stuhl, ihre Beinchen baumelten über dem Boden. Sie starrte ausdruckslos vor sich hin.

Ihretwegen war ich hier.

Das Kind hatte kein Wort gesagt, es schien die Agenten nicht einmal zu bemerken, die den Raum betreten hatten. Die Beamten hatten Angst, sie zu berühren, Angst, sie von hier wegzubringen.

Ich erinnere mich, wie ich die Garderobe meiner Mutter betrete. Erinnere mich an das viele Blut.

Ich ging durch das Zimmer. Ich kniete mich neben den Stuhl.

»Hallo«, sagte ich.

Das kleine Mädchen blinzelte. Ihr Blick begegnete meinem. Ich sah einen Hauch, nur einen Hauch, von Wiedererkennen.

Beau Donovan war sechs Jahre alt gewesen, als ihn die Leute, die ihn aufgezogen hatten, in der Wüste ausgesetzt hatten, weil sie ihn für ihre Zwecke für ungeeignet hielten.

Was auch immer diese Zwecke sein mochten.

Du bist drei , dachte ich und nahm die Perspektive des Mädchens ein. Vielleicht auch vier.

Zu jung, um zu verstehen, was geschehen ist. Zu jung, um so viel durchmachen zu müssen.

Du weißt Dinge , dachte ich. Vielleicht weißt du gar nicht, dass du sie weißt.

Beau hatte mit sechs Jahren schon genug erfahren, um später das Muster zu erkennen.

Vielleicht kannst du uns zu ihnen führen.

»Ich bin Cassie«, sagte ich.

Das Kind schwieg.

»Wie heißt du?«, fragte ich.

Sie sah nach unten. Neben ihr auf dem Boden lag eine blutgetränkte weiße Origami-Blume.

»Neun«, flüsterte sie. »Mein Name ist Neun.«

Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken und in seinem Gefolge kroch kalte Wut in mir hoch. Du gehörst nicht zu ihnen , dachte ich und hatte den Wunsch, sie zu beschützen. Sie war fast noch ein Baby, nur ein kleines Mädchen.

»Deine Mama hat dich anders genannt«, sagte ich und versuchte mich an den Namen zu erinnern, den die Frau an jenem Tag am Brunnen benutzt hatte.

»Laurel. Mami nennt mich Laurel.« Sie drehte sich um und sah zu der Frau am Boden. Keine Regung war auf ihrem Gesicht zu sehen. Nicht einmal vor dem Blut schreckte sie zurück.

»Sieh Mami nicht an, Laurel.« Ich bewegte mich, um ihr die Sicht zu versperren. »Sieh mich an.«

»Das ist nicht meine Mami.« Der Tonfall des kleinen Mädchens war leidenschaftslos.

Mein Herz klopfte in meiner Brust. »Nein?«

»Der Meister hat sie eingestellt, als wir hierherkamen. Um auf mich aufzupassen.«

Laurels pummelige Babyhände wanderten zu einem altmodischen Medaillon, das sie um den Hals trug. Sie ließ es mich öffnen. Darin war ein Bild.

»Das ist meine Mami«, sagte Laurel.

Unmöglich. Die Kette. Die Knochen. Das Blut – es war ihr Blut. Die Tests hatten ergeben, dass es ihr Blut war.

Ich fühlte, wie die Welt um mich herum zusammenbrach. Es waren zwei Menschen auf dem Foto und Laurel sah darauf genauso aus wie heute.

Es war also erst vor Kurzem aufgenommen worden.

» Das ist meine Mami«, hatte Laurel gesagt. Aber die Frau auf dem Foto war auch meine Mutter.

Ich war mir immer sicher gewesen, wenn sie überlebt hätte, wäre sie zu mir zurückgekommen. Irgendwie hätte sie einen Weg gefunden.

»Für immer und ewig«, flüsterte Laurel und jedes Wort war ein Messerstich in meinen Bauch. »Egal, was passiert.«

»Laurel«, flüsterte ich heiser. »Wo ist Mami?«

»In dem Raum.« Laurel starrte mich an und durch mich hindurch. »Meister kommen und gehen, aber Pythia lebt in dem Raum.«