DREIUNDZWANZIG
Selbstmörder sind auch Menschen.
Sie haben nur vergessen, wie man lebt.
Heute ist der 01. Februar, mein siebenundsechzigster Tag hier. Ich fange an zu vergessen, wie das Leben da draußen ist.
Seit Tagen sitze ich da und versuche Mom einen Brief zu schreiben, doch weiter als bis zum zweiten oder dritten Satz bin ich nicht gekommen, und am Ende hab ich das Blatt Papier jedes Mal zerknüllt und in den Papierkorb geworfen. Inzwischen bin ich fast ein Basketball-Profi. Wenn ich hier rauskomme, sollte ich im Schulteam mitmachen. An meiner Schule gibt es eine Mädchenmannschaft, die ziemlich erfolgreich ist. Bisher habe ich mich aber für nichts anderes als Lesen interessiert, und ich glaube auch nicht, dass Sport zukünftig wirklich etwas für mich sein wird.
Ich hoffe so, dass ich die Schule wechseln kann. Ich habe wirklich keine Motivation, dorthin zurückzugehen. Wenn ich ehrlich sein soll, flößt mir allein der Gedanke daran eine Scheißangst ein. Wer will schon an den Ort zurückkehren, an dem man erst monatelang als Schlampe angesehen wurde und dann als Mörderin?
Ich starre auf die grünen Blätter, die meinen Bettbezug zieren, und meine Gedanken wandern zurück zum letzten Sommer …
»Natty, können wir ein Eis essen gehen?«, fragt Henry. Er liebt Eis, besonders wenn bunte Streusel drauf sind.
»Hast du denn noch Platz in deinem Bäuchlein?«, frage ich. Wir waren gerade Cheese Fries essen, mit geschmolzenem Käse überladene Pommes.
»Für Eis ist da immer Platz«, sagt Henry und grinst. Er greift nach meiner Hand und hält sie fest, während wir die Straße überqueren.
Henry ist ein richtig lieber Junge. Ich muss ihm nie sagen, dass er meine Hand halten oder bei mir bleiben soll. Er läuft nie voraus oder versteckt sich im Kaufhaus in diesen runden Kleiderständern, in denen man Kinder nie wiederfindet. Neulich hab ich eine junge Mutter dabei beobachtet, wie sie ihren kleinen Sohn eine Ewigkeit lang gesucht und sogar die Kaufhaus-Security eingeschaltet hat. Irgendwann haben sie den Kleinen dann in solch einem Ständer voller Pyjamas entdeckt und die Mutter ist in Tränen ausgebrochen vor Erleichterung. Henry würde mir niemals so einen Schreck einjagen. Henry ist ein Engel.
Wir haben die Eisdiele fast erreicht, als uns ein paar Kids aus meiner Schule entgegenkommen. Zwei Jungs machen dumme Stöhngeräusche, und ein Mädchen ruft mir »Schlampe« zu.
Mir wird innerlich ganz heiß, mein Kopf ist kurz vorm Explodieren.
Dieses Wort …
Nach der Sache mit Chuck, nachdem die ganze Schule sich das Maul über mich zerrissen hatte, nachdem ich als Schlampe abgestempelt wurde, war ich so fertig, dass ich nicht wusste, wie ich klarkommen sollte. Wie ich weiter zur Schule gehen sollte. Ich fing an zu schwänzen. Mom erzählte ich, wenn das Schulbüro bei ihr anrief, ich hätte Bauchschmerzen gehabt. In Wahrheit habe ich mich zu Hause verkrochen, während Mom und Daniel noch arbeiteten und Henry im Kindergarten mit seinen kleinen Freunden bastelte oder Zählen lernte oder niedliche Lieder sang. Ich habe mich in meinen Lesesessel gekauert und dabei was aus Daniels Alkoholvorrat getrunken. Er steht total auf diese wertvollen alten Whiskyflaschen und Weine aus aller Welt und so. Er ist ein richtiger Kenner. Im Kühlschrank war immer eine offene Flasche Wein. Keiner merkte, wenn ein Glas fehlte …
Ich muss mich zwingen, ruhig zu bleiben, so zu tun, als ob gar nichts wäre – für Henry.
»Was ist eine Schlampe?«, fragt Henry im nächsten Moment.
Die Kids lachen sich schlapp. Ich ziehe Henry weiter, schneller, immer schneller, bis Henry: »Aua, du reißt mir meinen Arm ab!«, ruft.
»Tut mir leid, Spatz«, sage ich. Wir haben den Eisladen erreicht und stellen uns in die Schlange. Ich bebe immer noch. Wie können Menschen so gemein sein?
Am nächsten Tag gehe ich zu Chuck nach Hause. Ich will mit ihm reden, ihm sagen, was er angerichtet hat, ihn bitten, irgendwas dagegen zu tun, die Dinge richtigzustellen. Niemand öffnet die Tür, und der Nachbarsjunge, Caleb, der auch auf meiner Schule ist, erzählt mir, dass Chuck und seine Familie gerade in Italien Urlaub machen.
Ich will schon wieder gehen, als Caleb mir sagt, dass ich warten soll. Ich drehe mich um. »Was ist denn?«, frage ich.
»Was wolltest du von Chuck?«
»Ihn etwas fragen.«
»Willst du wissen, warum er diese Lügen über dich verbreitet hat?«
Ich nicke. Caleb hab ich nie sonderlich gemocht, er ist auch im Baseballteam, doch auf einmal mag ich ihn. Denn er glaubt Chuck nicht, was er erzählt hat. Er weiß, dass es Lügen sind.
»Es ging um eine Wette.«
Ja, davon habe ich gehört.
»Er war neu an der Schule. Wollte in die Clique aufgenommen werden. Da gibt es dieses blöde Aufnahmeritual. Sie nennen dir ein Mädchen aus der Schule, das du um jeden Preis rumkriegen musst, oder du bist unten durch.«
»Warum haben sie sich ausgerechnet mich ausgesucht?«, frage ich, denn ich verstehe es wirklich nicht.
»Sie wollten es ihm wohl besonders schwer machen.«
So war das also. Niemand hat damit gerechnet, dass es Chuck wirklich gelingt, die nerdige Leseratte flachzulegen. Nun, sie hatten recht. Chuck hat das allerdings nicht interessiert. Er konnte mich nicht haben, also hat er die Wahrheit verdreht. Jetzt weiß ich wenigstens, warum. Das macht es nicht besser, und doch fällt irgendwas von mir ab. Wahrscheinlich dieses große Fragezeichen, das mich seit Wochen begleitet.
»Danke, Caleb«, sage ich.
»Gern geschehen. Natty?«
»Ja?«
»Hast du vielleicht Lust, mal mit mir auszugehen?«
»Das sollten wir besser nicht«, erwidere ich, denn ich halte das für keine gute Idee.
Caleb nickt verständnisvoll, und ich gehe.
»Warst du jemals in einer Sportmannschaft an deiner Schule?«, frage ich Lucas an diesem Nachmittag im Gelben Zimmer.
»Nein, für so was bin ich nicht zu haben.«
»Wenn du keinen Sport machst, was treibst du denn sonst so in deiner Freizeit?«, will ich wissen.
Er zuckt die Schultern. »Musik hören. Lesen. Filme gucken. Fortnite spielen.«
Fortnite. Was haben die Jungs nur alle mit diesem Videospiel?
»Meine Mom sagt, durch diese gewalttätigen Spiele werden Amokläufer geboren«, erzähle ich. Ich spreche von Tag zu Tag mehr, zumindest mit Lucas. Doch Mom habe ich bisher noch nie erwähnt.
»Gewalttätig? Man schießt doch nur ein paar Gegner ab und tanzt herum.« Lucas lacht.
»Man tanzt herum?«
Er steht auf und macht den Tanz nach. Ich muss auch lachen. Vorbei ist es mit der Staatstrauer. Hier wird wieder getanzt. Wirklich lustig getanzt. Und das kommt echt bei Fortnite vor? Ich bin mir nicht sicher, ob Lucas mich nur auf den Arm nehmen will.
»Sicher, dass die so tanzen?«, frage ich und lache ihn aus.
Er kommt zu mir, sieht sich kurz nach dem älteren Betreuer um, der sein Kreuzworträtsel beiseitegelegt hat und damit beschäftigt ist, zwischen zwei sich anzickenden Bewohnern Ruhe zu stiften, und küsst mich schnell.
»Kommt das auch in dem Spiel vor?«, frage ich.
»Nein, das nicht. Wenn man das jeden Tag online haben könnte, wäre es im wahren Leben doch gar nicht mehr so schön.«
»Ich frage mich nur, warum es dann Pornos gibt«, sage ich.
Lucas läuft rot an.
»Sag bloß, du siehst dir welche an!«, frage ich, ein wenig schockiert.
»Nathalie, es tut mir leid, deine Illusionen zu zerstören, aber alle Jungs sehen sich Pornos an!«
Ich starre ihn mit offenem Mund an. Alle? Na, eigentlich sollte mich das gar nicht überraschen, ich weiß doch, wie die Typen in meinem Alter sind. Nichts als Sex im Kopf. Aber Lucas? Wenn ich an ihn denke, sind da immer nur Musik … und diese sanften Küsse. Ich will ihn mir nicht vorstellen, wie er auf seinem Schreibtischstuhl sitzt und sich bei einem Internet-Porno einen runterholt.
Ich weiß nicht, warum, aber irgendwie bin ich enttäuscht.
»Alles okay?«, fragt er.
»Ja. Wahrscheinlich hast du recht. Ich mache mir wohl ziemlich oft Illusionen.« Das tue ich wirklich. Sonst hätte ich sicher nicht geglaubt, dass mein Leben für immer so sorglos und schön sein könnte, wie es mal war. Mit Henry an meiner Seite. Man sollte sich auf überhaupt nichts verlassen in dieser Welt, es könnte schon morgen vorbei sein.
Deshalb sollte ich jeden Moment mit Lucas voll auskosten.
»Hattest du schon viele Freundinnen?«, frage ich ihn.
»Ich hatte noch überhaupt keine feste Beziehung«, sagt er.
»Warum nicht?«
»Wer will schon mit einem Selbstmörder zusammen sein? Mit einem Freak?«
»Hm«, mache ich.
»Und du? Wie viele Freunde hattest du schon? Passen die eher in einen Bus, in ein Auto oder auf ein Fahrrad?«
Ich muss lachen. »Einen hatte ich. Also auch nicht viel mehr als du.«
»Hast du ihn geliebt?«
Ich muss an Rashad denken. »Ein bisschen vielleicht.« Meine Gefühle für Chuck waren weit stärker. Deshalb hat das Ganze ja so wehgetan.
Lucas’ Gesicht verzieht sich ein klein wenig, als würde es ihm etwas ausmachen, dass ich vor ihm schon einen anderen Jungen geliebt habe.
Ich nehme seine Hand in meine und sage: »Ich will mit dir zusammen sein, auch wenn du ein Selbstmörder bist.«
Lucas sieht mich wahnsinnig berührt an.
Wir hören ein lautes Räuspern. »Keine Berührungen!«, erinnert der Kreuzworträtsel-Typ uns. Doch er schmunzelt ein wenig, und ich bin mir sicher, dass er uns nicht verpfeifen wird, nur weil Lucas’ Hand in meiner liegt.
»Sorry!«, rufen wir beide gleichzeitig.
»Ich wünschte, wir könnten endlich mal allein sein«, sagt Lucas.
»Ich auch«, stimme ich ihm zu.
»Ja? Ehrlich?«
Ich nicke. Plötzlich ist mir heiß und kalt zugleich. Denn Lucas sieht mich an, als wenn er irgendwas vorhätte.
Ich hoffe, was immer es ist, es gelingt ihm.