VIERUNDZWANZIG

Lucas’ Augen sind Traurigkeit sind Verlassenwerden sind Einsamkeit sind Hoffnungslosigkeit sind ein Schrei nach Liebe. Ich höre dich, Lucas, ich kann dich so laut hören. Und ich verspreche dir, dass ich meine Ohren, meine Augen und mein Herz nicht verschließen werde.

Ich sehe in seine wunderschönen grünen Augen und frage mich, wie ein Vater seinen Sohn nur so behandeln kann. Wir kann er ihm die Schuld an einem Autounfall geben, bei dem er nicht mal dabei war? Wie kann er ihn ignorieren? Wie kann er ihn aus seinem Leben ausschließen?

Lucas hat mir erzählt, dass es drei Jahre her ist, dass er mit seinem Dad im Kino war, drei Jahre, seit sie zusammen bei einem Footballspiel waren. Seit dem Unfall haben sie nicht einmal mehr an einem Tisch gesessen und zusammen gegessen. Sich nicht mehr unterhalten. Sein Dad ist auf keiner seiner Schulveranstaltungen erschienen, nicht mal bei seiner Junior-High-Abschlussfeier. Ich kann das gar nicht glauben, mag mir nicht mal ansatzweise vorstellen, wie schlimm das für Lucas sein muss. Es ist, als würde er für seinen Dad gar nicht mehr existieren. Als wäre er an jenem Tag mit seiner Mutter zusammen gestorben.

Ich muss viel an meine Eltern denken. Ich fange an zu begreifen, wie dumm es von mir ist, dass ich sie nicht sehen will. Lucas würde alles dafür geben, dass sein Dad ihn besuchen kommt. Das hat er bei all den Klinikaufenthalten kein einziges Mal getan. Könnte eine Vater-Sohn-Beziehung trauriger sein?

Ich will für Lucas da sein. Will ihn halten, ihn einfach nur in den Arm nehmen und ihn wissen lassen, dass wenigstens ich für ihn da bin. Ich weiß, das ist nicht dasselbe, aber vielleicht fühlt er sich dann nicht mehr ganz so allein. Doch das geht nicht.

Ich könnte explodieren vor Wut darüber, dass wir uns nicht umarmen dürfen, ohne gleich wieder Ärger zu bekommen.

Stattdessen ist das Einzige, was ich tun kann, mit ihm zu reden. Ihm mit Worten zu zeigen, dass ich ihn mag, dass ich da bin und ich ihn immer sehen werde.

»Glaubst du, wenn dein Nachname nicht Small wäre, würdest du dich nicht mehr ganz so unbedeutend fühlen?«, frage ich ihn eines Nachmittags im Gelben Zimmer. Es ist Mitte Februar. Wir haben es noch immer nicht geschafft, mal allein zu sein, doch so langsam finden wir uns damit ab. Es wird ja auch ein Leben außerhalb dieser Mauern geben, irgendwann, auch wenn wir es uns jetzt noch nicht vorstellen können. Solange geben wir uns mit dem zufrieden, was wir hier haben. Das gemeinsame Frühstück, das Mittagessen, das Dinner und eine Stunde täglich im Gelben Zimmer.

»Ich glaube, selbst wenn mein Name King wäre, würde ich mich nicht bedeutender fühlen«, gibt Lucas zu.

Ich berühre seinen kleinen Finger mit meinem.

»Oh, sieh mal, wer da kommt«, sagt er und deutet zur Tür hin.

Penis-Brenda betritt den Raum. Sie hat sich inzwischen so viele Haarbüschel ausgerissen, dass sie aussieht wie einer dieser armen streunenden Straßenhunde. Ich bin froh, dass sie ihr deswegen nicht das Privileg nehmen herzukommen.

»Arme Brenda«, sage ich.

»Was ist eigentlich mit ihr passiert?«, will Lucas wissen.

Ich sehe ihn stirnrunzelnd an. »Du kannst mir nicht erzählen, dass du noch nichts darüber gehört hast.« Ich meine, man nennt sie ja nicht umsonst Penis-Brenda, auch wenn wir das natürlich nie in ihrer Gegenwart oder vor den Schwestern tun.

»Na ja, ich hab gehört, dass sie sexuell missbraucht wurde«, flüstert Lucas mir zu.

Ich nicke und sehe zu Brenda hin, um sicherzugehen, dass sie nichts mitbekommt. Gerade wünschte ich, ich hätte Zettel und Stift dabei, aber die brauche ich schon seit einer ganzen Weile nicht mehr. Nicht, wenn ich mit Lucas zusammen bin.

»Das stimmt. Ihr Stiefvater hat sich jahrelang nachts in ihr Zimmer geschlichen«, flüstere ich also zurück.

Lucas’ Augen weiten sich. »So ein Arsch.«

»Allerdings.«

»Ich hoffe, er hat seine gerechte Strafe bekommen?«

»Ich habe ehrlich keine Ahnung. Darüber spricht sie nicht.«

Lucas schüttelt seinen Kopf. »Dann wohl doch besser ignoriert werden als so was.«

Ich nicke, da kann ich nicht widersprechen.

»Ich muss die ganze Zeit an diesen Song denken«, sage ich.

»An welchen?«

»Er heißt Green Eyes und ist von Coldplay

»Diese britische Band?«

»Genau.«

»Ich kenn den Song nicht. Worum geht es darin?«, will er wissen.

»Na, um grüne Augen«, sage ich. »So wie deine.« Ich sehe ihm tief in die Augen und habe Schmetterlinge im Bauch.

Lucas lacht. »Der ganze Song handelt nur von grünen Augen?«

Ich grinse. »Nein, natürlich nicht.« Dann werde ich aber ernster. »Es geht darin darum, dass jemand mit grünen Augen stark ist und einem Halt gibt. Und dass …« Ich kann es nicht richtig ausdrücken, deshalb fange ich tatsächlich an zu singen. Davon, dass meine schwere Last sich so viel leichter anfühlt, seit ich Lucas kenne.

Als ich fertig bin, hat Lucas auf einmal ganz schimmernde Augen. Ich wollte ihn nicht traurig machen, und das sage ich ihm.

»Du hast mich nicht traurig gemacht. Ganz im Gegenteil. Ich hab mich schon lange nicht mehr so geliebt gefühlt.« Er wird total verlegen, rutscht auf seinem Sitzsack herum. Sieht aus, als wenn er gleich weglaufen will.

Ich möchte ihm sagen, dass es ihm nicht unangenehm sein muss. Dass er recht hat, weil er wirklich geliebt wird. Von mir geliebt wird, mit jedem Tag ein bisschen mehr. Aber ich kann es nicht, die Worte wollen nicht herauskommen. Vor wenigen Wochen habe ich noch überhaupt nicht gesprochen, wie könnte ich jetzt so etwas sagen?

In diesem Moment fängt Brenda an zu schreien.

Lucas ist froh über die Ablenkung, das sieht man ihm deutlich an. Wir sehen dabei zu, wie Brenda von einer Schwester weggeführt wird, die der Kreuzworträtsel-Typ schnell gerufen hat. Der Glatzkopf ist nur noch selten hier. Vielleicht hat er andere Aufgaben bekommen, vielleicht hat er darum gebeten. Vielleicht arbeitet er jetzt aber auch bei KFC oder Carl’s Jr. oder Dunkin’ Donuts, vielleicht hatte er genug von uns Verrückten. Vielleicht dachte er, wenn er das noch länger hauptberuflich macht, holt ihn der Irrsinn irgendwann selbst ein.

Lucas wirkt noch immer ein wenig verlegen. Ich frage ihn, ob wir Musik hören wollen.

»Ich hab meinen Player leider oben im Zimmer«, sagt er, und ich nehme mir wieder vor, darum zu bitten, dass Mom mir meinen schickt. Dann erinnere ich mich daran, dass ich ihn Annie ausgeliehen habe. Sie war in den Sommerferien zwei Wochen bei ihren Großeltern in Georgia und hatte mich darum gebeten. Denn auf der Farm ihrer Großeltern sei es schrecklich langweilig, meinte sie. Dann waren die Ferien zu Ende, der September begann und die Dinge nahmen ihren Lauf. Annie jetzt nach einem halben Jahr und nach allem, was gewesen ist, danach zu fragen, wäre wirklich blöd. Vielleicht kann Mom einfach einen neuen kaufen.

»Lass uns ein Spiel spielen«, schlägt Lucas vor. Wir haben noch zwanzig Minuten.

»Okay. Was für eins denn?«

»Es gibt doch auf YouTube immer diese Playlists mit den traurigsten Songs aller Zeiten und so.«

»Ja …« Die kenne ich natürlich auch. Da habe ich selbst schon oft nach Songs gesucht, die zu meiner deprimierten Stimmung passten und die mich am Ende nur noch trauriger gemacht haben.

»Lass uns das doch auch machen. Ich nenne dir ein trauriges Lied, und du versuchst es zu überbieten.«

»Okay«, sage ich. »Ich fang aber an.«

»Klar. Versuch dein Glück.«

Ich sage: »When I Was Your Man von Bruno Mars«, und grinse in mich hinein. Denn ich weiß, dass ich bereits gewonnen habe.

Lucas sieht mich an, überlegt, ruft sich den Text ins Gedächtnis, schüttelt dann den Kopf und sagt: »Okay, den kann man gar nicht überbieten.«

»Ha!«, mache ich. »Gewonnen!«

»Aber so was von! Ich hatte ja geschätzt, du würdest jetzt mit einem von deinen britischen Depri-Songs ankommen. Dass du den größten Lovesong aller Zeiten nennst, hätte ich nicht gedacht.«

Damit hat er tatsächlich recht. Der Song ist wirklich genial. Denn Bruno Mars singt von seiner verflossenen Liebe, die nun einen anderen hat. Er begreift endlich, wie dumm er war und dass er ihr hätte Blumen kaufen und mit ihr hätte tanzen sollen, solange er die Chance dazu hatte. Und das Traurigste von allem ist, dass er ihr wünscht, dass der Mann, durch den sie ihn ersetzt hat, all das für sie tut.

»Tja, du weißt wohl noch nicht, wie romantisch ich eigentlich bin.« Ich zwinkere Lucas zu.

Romantisch. Das war ich wirklich mal. Ich habe mir so oft vorgestellt, mit Chuck bei Sonnenuntergang zusammen zu sein und von ihm geküsst zu werden. Ich habe mir mein erstes Mal in einem Meer voller Rosenblätter vorgestellt. Ich habe an die ewige Liebe geglaubt. Und dann ist mein Leben auseinandergebrochen und all das war nicht mehr von Bedeutung.

Plötzlich fängt Lucas an, das Lied zu singen.

»Du kennst ja sogar den Text auswendig!«, lache ich.

»Wahrscheinlich weißt du auch noch nicht, wie romantisch ich bin.« Er grinst mich an. »Und deshalb weiß ich auch, welcher Tag morgen ist.«

Ich muss überlegen und komme trotzdem nicht drauf. »Was denn für einer?«

»Na, Valentinstag!«

»Ehrlich?« Das war mir nun echt nicht bewusst. Die meiste Zeit weiß ich hier nicht mal, welchen Wochentag wir haben. Hmmm … Bedeutet das, ich bekomme morgen ein Geschenk von Lucas?

»Ja, ehrlich. Und ich bin froh, ihn mit dir zusammen verbringen zu können.«

»Ich auch«, sage ich, weil ich es so meine.

»Wollen wir noch eine andere Variante dieses Spiels spielen? Mit Filmen? Die traurigsten Liebesfilme aller Zeiten?«

»Okay.«

»Okay. Diesmal fange aber ich an.«

»Alles klar. Dann viel Glück, Lucky Luke«, rutscht es mir heraus.

Lucas’ Miene verändert sich schlagartig. Alle Fröhlichkeit ist verschwunden.

»Bitte nenn mich nicht so«, sagt er ernst.

»Okay, sorry. Tut mir wirklich leid.«

Er atmet einmal tief durch, sagt aber nichts mehr.

»Verzeih mir bitte, Lucas. Ich wollte dich ehrlich nicht verletzen. Das würde ich nie absichtlich tun.«

Er sieht mich an und nickt. »Titanic«, sagt er dann.

Ich bin erleichtert. Dass er mir verzeiht, unser Spiel wiederaufnimmt und mir meine dumme Bemerkung nicht nachträgt. Ich lächle. Titanic kennt jeder, und ja, der Film ist supertraurig, aber da muss doch noch was gehen.

Ich überlege kurz und sage: »Das Schicksal ist ein mieser Verräter.« Natürlich sage ich das, denn es ist wie gesagt mein liebstes Buch und auch einer meiner liebsten Filme. Außerdem sind wir jetzt gleichauf. Bei beiden Filmen stirbt am Ende der Junge. Und doch weiß ich, dass es noch weit traurigere Filme gibt. Geben muss. Wir müssen nur gut überlegen.

»War ja klar«, sagt Lucas. »Na gut, warte, da fällt mir bestimmt noch was Besseres ein … Oh, ich hab’s! Kennst du True Romance

»Noch nie davon gehört.«

»Der ist wirklich krass. Mit Christian Slater und Patricia Arquette in den Hauptrollen.«

Ich muss lachen. »Oh Gott, von wann ist denn der? Von neunzehnhundertfünfundzwanzig?«

Lucas schmunzelt. »Nicht ganz. Der ist aus den Neunzigern und einer der besten Filme, die ich kenne. So eine Lovestory hast du noch nie gesehen. Den müssen wir uns unbedingt mal zusammen anschauen.«

Ich lächle Lucas an. Der Gedanke, mich auch nach all dem hier noch mit ihm zu treffen, in einem hoffentlich wieder normalen Leben, ist schön. »Das werden wir.«

»Ist das abgemacht?«, fragt er und hält mir seine Hand hin, in die ich einschlage. »Du bist wieder dran.«

Ich weiß schon, was ich als Nächstes sagen werde. Es ist ein Film, den ich vor zwei oder drei Jahren mit Mom im Kino geguckt habe. Wir haben mehrere Packungen Taschentücher verbraucht. »Ein ganzes halbes Jahr.«

»Den habe ich sogar gesehen, und ja, der ist echt heftig«, sagt Lucas, »aber ich weiß noch was Traurigeres: Remember me mit Robert Pattinson.«

»Oh Gott, den kenne ich. Der ist soooo traurig!« Und das vor allem, weil der arme hübsche Robert am Ende im World Trade Center steht, als es am 11. September in sich zusammenfällt.

»Den kennst du echt?«, fragt Lucas beeindruckt.

»Natürlich. Ich kenne alle Filme, die in New York spielen.«

»Wirklich alle?«

»Ich denke schon. Ich liebe New York nämlich total. Ich verbringe jeden Sommer dort. Bei meinem Dad.«

Auch diesen?, liegt in der Luft, doch Lucas spricht es nicht aus, wahrscheinlich weil er weiß, dass ich die Antwort nicht kenne.

»Du kennst den Film also. Und? Glaubst du, dir fällt noch was Traurigeres ein?« Etwas Melancholischeres, hätte Grandma Amelia jetzt gesagt.

»Ich bin mir nicht sicher, lass mich überlegen …«

Lucas deutet auf die Uhr an der Wand. »Du hast noch genau drei Minuten Zeit.«

Ich grüble und grüble, und als sich schon die Tür öffnet und Schwester Claudia und Pfleger Robin da sind, um uns abzuholen, sage ich: Nur mit dir

»Verdammt!«

Ich hab ihn wieder! Und ich bin mehr als überrascht, dass er all diese Schnulzenfilme kennt, von denen ich dachte, dass nur Frauen sie sich ansehen.

»Wir können gerne morgen weitermachen«, schlage ich vor.

»Nein, nein. Wenn wir den traurigsten Film danach definieren, bei welchem man am meisten weinen muss, dann hast du es wirklich auf den Punkt getroffen. Den Film kann man nicht überbieten.«

»Lucas Small! Sag bloß, du weinst bei Liebesfilmen?« Ich muss schrecklich lachen.

»Ich heule wie ein Baby«, erwidert er. »Davon kannst du dich dann ja bald selbst überzeugen.«

Ich nicke strahlend und verabschiede mich von ihm. »Bis morgen.«

»Wir sehen uns morgen, Valentine

Ich strahle noch immer, als ich mit Tamara, Amber, Aylin und Schwester Claudia zurück auf meine Station gehe. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Lucas das mit dem Weinen nicht ernst gemeint hat, sondern mich nur auf den Arm nehmen wollte. Aber ich will es gerne herausfinden.

»Ei, ei, ei, was seh ich da?«, singt Tamara vor sich hin.

»Ein verliebtes Ehepaar«, stimmen Aylin und Amber mit ein, und sogar Schwester Claudia muss schmunzeln.

Ich laufe rot an und fühle mich zurück in die Grundschule versetzt. In ein Leben, das so weit zurückliegt und so wunderbar normal war.

Ein Leben, das ich vielleicht wieder zurückhaben könnte.