ZEHN
Verrückte Menschen, verrückter Ort, verrückte Gedanken. Wenn eine Blume kein Wasser mehr bekommt, geht sie dann ein oder wird sie erst richtig aufblühen? Und wenn ich keine Medikamente mehr bekomme? Werden meine Nächte dann noch ruheloser oder werde ich endlich schlafen können? Ich kenne kein Leben ohne Müdigkeit mehr, ohne Lethargie. Lethargie – ein merkwürdiges Wort. Lethargie. Let it be. Let me be me.
Zum Frühstück trägt Lucas ein weißes T-Shirt, auf das er mit großen blauen Buchstaben SORRY, NATHALIE geschrieben hat. Ich muss schmunzeln und bin ihm plötzlich gar nicht mehr so böse. Ist es total verrückt, dass er so herumläuft und sein T-Shirt für immer versaut hat? Ja, klar!! Aber deshalb sind wir ja schließlich alle hier, weil wir verrückt sind. Vielleicht war Lucas’ Reaktion auf mein Geständnis gestern genauso ein Zeichen seiner Verrücktheit. Vielleicht kann er sich nicht richtig ausdrücken? Sagt unangemessene Dinge? Ich kenne seine Diagnose nicht. Vielleicht ist er schizophren?
Meine eigene Diagnose lautet: Posttraumatische Belastungsstörung mit erhöhter Suizidalität.
Trauma. So kann man es wohl auch ausdrücken. Ich würde das, was ich habe, eher Depression in absoluter Dunkelheit nennen.
Lucas kommt jetzt geradewegs auf meinen Tisch zu und quetscht sich neben mich.
»Falls du es noch nicht mitbekommen hast: Es tut mir leid.«
Ich starre ihn einfach nur an.
»Ich lauf schon seit gestern Abend mit dem T-Shirt rum«, sagt er. »Und ich hätte es auch noch ein paar Tage länger getragen – bis du es auf jeden Fall gesehen hast.« Er zieht das Shirt glatt, damit ich sein Kunstwerk noch mal ganz genau betrachten kann. Als ob man das übersehen könnte.
Ich frage mich unwillkürlich, ob er auch damit geschlafen hat.
»Nimmst du meine Entschuldigung an?«, will er wissen.
Ich bin mir noch nicht sicher.
»Du warst gestern Abend gar nicht beim Essen. Ich hab mir schon Sorgen um dich gemacht. Schön, dass du jetzt wieder zurück bist.«
Mann, ist der gesprächig. Und das am frühen Morgen, während die meisten von uns noch total lethargisch sind.
»Sagst du mir, wo du warst?«, fragt er.
Ich starre ihn weiter an, ein bisschen überwältigt von seiner Energie.
»Tut mir leid, dass ich so viel quassle, die haben mir irgendeinen Muntermacher gegeben, weil ich wieder mal ’ne depressive Phase hatte.«
Ich habe noch nie irgendwelche Muntermacher bekommen. Warum geben sie mir keine? Ich könnte weiß Gott welche gebrauchen.
Zum ersten Mal überlege ich, ob ich nur so träge bin, weil ich täglich mein Fluoxetin bekomme. Andererseits war ich ja auch vorher schon eine wandelnde Leiche. Am Anfang, als Mom mich hier noch besucht hat, bekam ich es regelmäßig, jetzt nur noch in kleiner Dosis. Im Grunde brauche ich meine Medikamente bald gar nicht mehr, oder?
Oder geht es mir dann gleich wieder schlechter, wenn ich die Medikamente gar nicht mehr bekomme?
Das ist echt verwirrend und viel zu kompliziert für mich am frühen Morgen.
»Hallo? Erde an Nathalie! Du hast jetzt gut zwei Minuten auf meine Nase gestarrt. Hab ich da einen Pickel oder so?« Lucas befühlt unsicher seine ziemlich große Nase. Je länger ich sie ansehe, desto komischer kommt sie mir vor.
»Nathalie, ich würde wirklich gerne mit dir reden. Ich weiß nicht, was ich machen soll.«
»Frag sie, ob sie ihren Stift dabeihat«, schlägt Amber vor, die wieder mit am Tisch sitzt.
»Hast du deinen Stift dabei?«, fragt Lucas.
Ich löse meinen Blick endlich von seiner Nase und schüttle den Kopf.
»Kannst du dann nicht einfach mit mir reden? Gestern konntest du es doch auch.« Er grinst frech. »Auch wenn es nicht gerade nett war, was du gesagt hast.«
»Es tut mir leid«, rutscht es mir heraus und ich erstarre.
Was macht dieser Junge nur mit mir? Wie schafft er es, mich dazu zu bewegen, wieder zu sprechen?
Auch Bethany mir gegenüber sieht ziemlich verblüfft aus. Doch keine Sekunde später zeigt sie schon wieder mit dem Finger auf meinen Teller und fragt: »Isst du das noch?«
Ich schiebe ihr meinen Teller samt Pfannkuchen hin.
»Danke«, sagt Lucas jetzt und lächelt mich an.
Fragend sehe ich ihn an.
»Na, wie es aussieht, redest du nicht mit jedem. Ich fühle mich geehrt, dass du es also mit mir tust.«
»Sie spricht überhaupt mit niemandem«, sagt Bethany mit vollem Mund. »Sie ist seit fünf oder sechs Wochen hier und hat mit mir noch kein einziges Wort gesprochen. Mit dir, Amber?«
Amber reagiert gar nicht, stattdessen fängt sie an, Moon River zu singen. Den Song kenne ich, er stammt aus dem Film Frühstück bei Tiffany, einem von Moms Lieblingsfilmen. Ich sehe Audrey Hepburn vor mir, wie sie mit der Ukulele auf der Feuertreppe sitzt und singt. Der Film ist steinalt, aus den Sechzigern anscheinend.
Schwester Claudia ruft uns zusammen, wir sollen wieder auf unsere Station.
Lucas hält mich am Arm fest. »Komm nachher ins Gelbe Zimmer. Ich warte da auf dich.«
Ich starre auf meinen Arm, auch noch, nachdem er mich längst losgelassen hat. Seit Monaten habe ich keine Berührungen zugelassen, es fühlt sich seltsam an.
Schwester Claudia strahlt mich an. Oh Mann, wahrscheinlich muss ich mir später wieder irgendwelche gutgemeinten Sachen bezüglich Lucas von ihr anhören. Ich verschwinde auf mein Zimmer, sobald wir oben angekommen sind. Ich will allein sein.
Ich denke über Lucas nach. Über das Gelbe Zimmer. Nachzudenken macht mich hungrig, und ich bereue, mein Frühstück nicht selbst gegessen zu haben. Irgendwann fühlt sich das Loch in meinem Magen so groß an, dass ich an mein Fresspaket gehe und eine Tüte Fritos heraushole. Diese Maischips mochte ich zwar nie wirklich gerne – ich weiß nicht, warum Mom sie mir überhaupt geschickt hat –, aber Henry mochte sie auch nicht und deswegen sind sie okay für mich. Ich esse die halbe Tüte und setze mich dann mit meinem Buch aufs Bett. Aber ich kann mich nicht aufs Lesen konzentrieren, und bevor ich mich’s versehe, werden wir schon wieder zusammengerufen. Es ist Zeit fürs Mittagessen. Ich glaube, heute werde ich sogar mal was essen.
Diesmal hab ich wieder Stift und Papier dabei. Ich mache mir ein bisschen Sorgen um mein Tagebuch, das immer mehr Seiten verliert.
Als ich mich in die Essensschlange stelle, halte ich nach ihm Ausschau. Doch statt Lucas entdecke ich, was es heute Mittag zu essen gibt. Hotdogs. Ich mache mich auf das Schlimmste gefasst. Und keine zehn Sekunden später höre ich Brenda auch schon schreien.
Sind die denn alle dumm? Wissen sie nicht, dass sie Brenda nicht in die Cafeteria runterbringen dürfen, wenn es Hotdogs gibt? Eine riesige metallene Schüssel voller penisförmiger Dinger. Arme Brenda.
Ohne dass sie etwas essen konnte, wird sie abgeführt. Wenigstens ein Hotdog-Brötchen hätten sie ihr mitgeben können, aber vielleicht hätte sie darin auch nur einen Penis gesehen.
Brenda tut mir echt leid. Was für ein Leben das sein muss, in allem immer nur den Schwanz deines pädophilen Stiefvaters zu sehen. In einer Wurst, einem gemalten Kaktus, einer Banane, einem Eis am Stiel.
Wieder einmal muss ich an meinen eigenen tollen Stiefdad denken, der mich immer nur beschützen will. Ich glaube, irgendwann muss ich ihn zurück in mein Leben lassen. Irgendwann, vorausgesetzt, ich kann ihm verzeihen, dass er mich gerettet hat.
Lucas kommt zwar nicht an meinen Tisch, doch er sieht von seinem Platz aus immer wieder zu mir rüber und schiebt mir beim Rausgehen einen zusammengefalteten Zettel zu. Als ich ihn öffne, lese ich: GELBES ZIMMER. HEUTE NACHMITTAG.
Oh Mann, wie denkt der sich das? Wie soll ich es schaffen, ins gottverdammte Gelbe Zimmer zu kommen? Und wieso zum Teufel glaubt er, ich würde mich dort mit ihm treffen wollen? Was bildet der sich eigentlich ein?
Aber er hat recht. Ich will ihn ja sehen, will ins Gelbe Zimmer. Und ich habe einen Plan, wie ich es eventuell schaffen könnte.
Als ich Dr. Fynn eine Stunde später gegenübersitze, sieht sie mich zufrieden und breit lächelnd an. Das Lächeln geht ihr bis zu den Ohren.
»Wir machen Fortschritte«, sagt sie.
Hm. Wir? Wir machen Fortschritte? Was meint sie damit? Ich habe geredet, das könnte man wahrscheinlich als ziemlichen Fortschritt bezeichnen. Aber was hat sie so Weltbewegendes geleistet? Sich, statt immer nur Champignoncremesuppe zu essen, mal an eine Tomatencremesuppe rangetraut?
Ich betrachte sie genauer. Mir fällt auf, dass sie sich alle Nägel kurz geschnitten hat. Sie sieht jetzt aus wie wir, hat nichts mehr, mit dem sie sich das Gesicht blutig kratzen könnte. Das ist wirklich ein Fortschritt.
Sie betrachtet mich ebenfalls. Erwartet jetzt wohl, dass ich auch mit ihr rede, so wie mit Lucas. Aber zwischen ihr und Lucas liegen Welten. Lucas ist wie ich. Sie steht auf der anderen Seite der Mauer, die die Normalen von den Verrückten trennt.
»Wie ich höre, hast du gesprochen, Nathalie.«
Ich antworte nicht. Natürlich nicht.
»Das finde ich großartig. Ich bin wirklich sehr stolz auf dich.«
Sie ist stolz? Ehrlich? Hat sie denn auch gehört, was ich gesagt habe?