SIEBZEHN

Es heißt doch, jeder Tag ist ein neues Kapitel deines Lebens, das erst noch geschrieben werden muss, und du selbst bist der Autor. Ich wünschte, die vergangenen 115 Tage wären Kapitel in einem Buch, denn dann könnte ich die Seiten einfach rausreißen, zerknüllen und wegwerfen – und sie hoffentlich für immer vergessen.

Ich wache schweißnass auf. Henry hat sich mal wieder in meine Träume geschlichen. »Natty, Natty, sieh mal, Sterne!« Und das Nächste, was ich sehe, ist sein kleiner Körper auf dem Asphalt.

Ich schreie.

Am nächsten Morgen fühle ich mich völlig benommen, weil die Nachtschwester mir ein Beruhigungsmittel geben musste. Trotzdem stehe ich auf und schleppe mich runter zum Frühstück. Heute kann ich nichts essen. Lucas sitzt diesmal nicht neben mir, denn er muss sich um seinen Freund kümmern. Der immer witzige Darrin sieht heute ganz traurig aus. Irgendwas muss passiert sein. Sowieso herrscht heute eine merkwürdige Stimmung. So, als hätten alle letzte Nacht Albträume gehabt. Es sieht so aus, als hätte Penis-Brenda sich ein dickes Haarbüschel herausgerissen, denn sie hat gleich über der Stirn eine ganz zerrupfte Stelle. Die taffe Carly hat gerötete Augen, so, als habe sie geweint. Bethany hat keinen Appetit, was nun wirklich ungewöhnlich ist. Und Amber erzählt weder von Präsident Kennedy, noch singt sie einen Sechzigerjahre-Hit. Alle sind deprimiert, alle außer Summer, die als Einzige am Erzählen ist, und dabei sieht sie so unglaublich glücklich aus, dass man denken könnte, sie hätte alles Glück im Raum in sich aufgesaugt und uns anderen nichts übrig gelassen.

»Meine Schwester hat mir bei ihrem Besuch gestern ein Foto gezeigt. Von dem Kleid, das ich tragen werde. Sie hat es schon bestellt, es ist rosé mit süßen kleinen altrosa und gelben Blümchen«, schwärmt sie. Das Kleid ist für die Hochzeit ihrer Schwester Danielle gedacht, die am kommenden Samstag heiraten wird. Das erzählt Summer uns schon seit Tagen, jeden Tag aufs Neue. Und auch, dass sie das ganze Wochenende nach Hause darf. Ihre Eltern müssen darum gebeten haben. Wäre ja auch schön peinlich, wenn sie allen Verwandten sagen müssten, ihre jüngere Tochter könne nicht bei der Hochzeit dabei sein, weil sie in der Psycho-Klinik ist. Ich frage mich, wieso die Schwester die Hochzeit nicht verschoben hat. Vor allem, weil Summers Zeit hier bald um ist, wie ich von Bethany erfahren habe.

Ich frage mich noch immer, wieso Summer eigentlich hier ist. Sie ist so ganz anders als wir anderen. So normal. Ich bin überfragt, ehrlich. Vielleicht hat Lucas was gehört. Oder Bethany, die hat ihre Ohren überall. Vielleicht werde ich sie demnächst mal fragen. Wenn ich neues Papier habe. Ich warte schon ganz ungeduldig, besonders auf mein neues Buch. Das elfte in meiner Klinik-Sammlung. Ich sehe mich an meinem Tisch um und frage mich, ob die anderen wohl auch eine haben. Heute sind wir wieder zu viert.

Vier.

Vier Menschen.

So wie meine Familie. Wir waren einmal vier glückliche Menschen, die ein glückliches Leben lebten. Jetzt sind wir nur noch drei. Drei Schattengestalten in einer Geschichte, deren Kapitel sicher niemals wieder einen besonders rosigen Inhalt haben werden.

Rosig. Rosafarbene Blumen wie auf Summers Kleid. Rosige Wangen, wie die von Schwester Agnes, die Pfleger Gregory verliebte Blicke zuwirft. Oder bilde ich mir das nur ein?

Ich sehe zu Lucas. Er hat seine Hand auf Darrins Schulter gelegt und redet ihm gut zu. Armer Darrin. Ob er jemals wieder dumme Witze machen wird?

»Und die Torte wird ebenfalls mit rosa Blumen verziert sein. Die sind aus Fondant gemacht. Habt ihr schon mal Fondant gegessen? Das ist Zucker pur! Ich kann es kaum erwarten, sie mir auf der Zunge zergehen zu lassen«, sagt Summer, die am Nachbartisch sitzt und so laut erzählt, dass alle es hören können.

Ich sehe zu Amber, die auf ihren Teller starrt. Sie hat ihre Pancakes genauso wenig angerührt wie ich meine. Heute haben wir niemanden, der sie uns abnimmt. Summer brabbelt weiter von Rosa hier und Rosa da. Eine rosarote Welt für Summer. Wir sollten uns für sie freuen, doch wir beneiden sie stattdessen alle zutiefst, das weiß ich. Ich tue es. Was würde ich dafür geben, für ein Wochenende hier rauszukommen. Zusammen mit Lucas. Wir könnten durch Milwaukee spazieren oder uns einen Sonnenaufgang ansehen. Oder Spatzen beobachten, nicht durch ein verschlossenes Fenster, sondern im Park, während sie um unsere Füße herumhüpfen und die Brotkrumen aufpicken, die wir ihnen hinwerfen. Wir alle wären frei, die Spatzen und wir, nur für einen Tag. Was für ein wunderschöner Gedanke. Das wäre mal ein wirklich gutes Kapitel.

Ich sehe traurig zu Lucas hinüber und bin froh, als wir zusammengerufen werden, um nach oben zu gehen.

Ich sitze neben Amber auf dem Sofa im Fernsehzimmer und sehe mir eine nervtötende Dokumentation über irgendwelche Kartoffelfarmer in Iowa an. Plötzlich steht Schwester Claudia hinter mir und hält mir Post hin. Einen dicken Umschlag und eine Karte mit der Freiheitsstatue drauf. Ich muss lächeln. Post von Dad! Ich stehe auf und nehme alles mit in mein Zimmer. Wenn ich Dads Worte lese, will ich für mich sein.

Es ist die dritte Karte, die ich bekomme, seit ich hier bin. Wie zuvor schreibt er keine dämlichen Sätze wie: »Es wird bestimmt alles wieder gut«, oder: »Du darfst dir keine Vorwürfe machen«, sondern lediglich dies:

Hey, Sweetie,

ich finde, es ist mal wieder Zeit

für eine Postkarte. Ich denke an dich.

Hab dich lieb,

Dad

Ich betrachte das Motiv und halte die Karte dann an die Wand. Da würde sie bestimmt hübsch aussehen. Aber wie sollte ich sie befestigen? Da mir nichts einfällt, lege ich sie zu den anderen beiden New-York-Karten in die Schublade.

Dann mache ich mich endlich daran, den dicken Umschlag zu öffnen, den Mom mir geschickt hat. Natürlich ist er bereits geöffnet und wieder zugeklebt worden. Es hätte sich ja eine Knarre darin befinden können, mit der ich mir das Gehirn wegpuste. Oder ein Panzer, in dem ich mich verschanze und alle überrolle, die von mir erwarten, dass ich je wieder spreche.

Ich hole drei neue DIN-A5-Hefte heraus, die ich als Tagebücher oder dafür nutzen kann, um mich mit Lucas zu unterhalten. Und dann halte ich das Buch in Händen, über jenes Mädchen, das über vier Jahre lang verstummt war. Ich kann nicht in Worte fassen, wie gespannt ich auf diese Geschichte bin. Einerseits will ich wissen, wie genau sie es geschafft hat, wieder zu sprechen. Wieder ins Leben zu finden. Andererseits habe ich Angst davor, endlich Antworten zu erhalten. Denn dann müsste ich ihrem Beispiel folgen, oder?

Ich setze mich im Schneidersitz hin und schlage das Buch auf. Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt. Ich kann mich an keinen Titel erinnern, der aussagekräftiger ist.

Der Roman hat mich in seinen Bann gezogen, noch bevor ich die erste Seite beendet habe.