DREI
Ich werde dich lieben, bis kein einziger Stern am Himmel mehr leuchtet.
Doc Fynn sagt, ich soll mich mitteilen, und wenn nicht ihr, dann meinem Tagebuch oder irgendeiner Person meiner Wahl. Sie will, dass ich »nicht mehr alles in mich hineinfresse«, und deshalb gibt sie mir ständig irgendwelche Aufgaben. Ich soll nach und nach aufschreiben, wer ich bin, was mich ausmacht, wer ich sein will. Was ich mir von der Zukunft erhoffe oder wo ich mich in einem Jahr sehe. Heute soll ich erzählen, woher ich komme.
Ich hole an diesem Freitagvormittag also mein Tagebuch heraus, setze mich auf mein Bett und beschließe spontan, statt immer nur dumm vor mich hin zu schreiben, meine Worte wirklich mal an jemanden zu richten. Ich entscheide mich für den Sänger meiner Lieblingsband Coldplay, weil mir sonst gerade niemand einfällt.
Woher komme ich?
(Therapie-Übung 9)
Lieber Chris Martin,
ich soll mich dir mitteilen und dir erzählen, woher ich komme. Und das tue ich hiermit, ich hoffe, du langweilst dich nicht zu sehr.
Okay … womit fange ich an? Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich sechs war. Damals lebten wir in einer Kleinstadt in Montana namens Helena und mich traf es nicht wirklich überraschend, dass Mom und Dad künftig getrennte Wege gehen wollten, denn sie stritten, seit ich denken konnte, und wahrscheinlich war es das Beste so. Dad zog dann keine zwei Monate später nach New York, wo er noch heute lebt und in einer Anwaltskanzlei arbeitet. Mom musste nach der Trennung wieder anfangen zu arbeiten. Das schöne Hausfrauendasein hatte also ein Ende und sie fand eine Stelle in der Versandabteilung einer Papierfabrik. Eigentlich waren wir von da an immer pleite, aßen billige Burger aus dem Drive-In, wenn sie mich nachmittags von der Schule abholte, und kauften unsere Kleidung nur noch bei Walmart oder Target, was ich nicht sonderlich schlimm fand. Ganz im Gegenteil, ich liebte die Supermarktbesuche mit ihr, bei denen ich aussuchen durfte, was wir in der kommenden Woche essen würden. Meistens entschied ich mich für Ravioli oder SpaghettiOs aus der Dose. Mikrowellen-Mac & Cheese waren damals eine weitere meiner Lieblingsmahlzeiten. Zur Schule bekam ich Erdnussbutter-Marmeladensandwiches und kleine Apfelsaftkartons mit, und abends beim Fernsehen gönnten wir uns oft eine Tüte der supermarkteigenen Chipsmarke, die unter einem Dollar zu haben war.
Ich liebte unser Leben. Nur Mom und ich, wir beide gegen den Rest der Welt. Als Mom irgendwann die Hypothek für unser Haus nicht mehr aufbringen konnte, beschlossen wir, in eine kleinere Wohnung zu ziehen. Auch dort gefiel es mir, und in den folgenden zwei Jahren gab es nur uns beide und meinen liebsten TV-Helden: SpongeBob Schwammkopf.
Und dann eines Tages passierte es. Mom verkündete mir, sie hätte eine Stelle als Vertriebsleiterin bei einem Bleistifthersteller angeboten bekommen und wir müssten nie wieder Billigchips essen. Weder verstand ich damals, was überhaupt so schlimm daran sein sollte, Billigchips zu essen, noch was dieser neue Job bedeutete. Das wurde mir erst so richtig klar, als wir einen Monat später unsere gesamten Sachen packten, sie in unser Auto stopften und durchs halbe Land bis nach Milwaukee, Wisconsin fuhren, wo wir von nun an leben sollten.
Der Roadtrip war cool, wir überquerten drei Staatsgrenzen, hielten einmal, um in einem Motel zu übernachten, aßen Burger und Pommes in einem Fast-Food-Restaurant am Highway und sangen im Auto unsere liebsten Songs laut mit.
Die neue Wohnung in Milwaukee war toll, sie befand sich in der fünften Etage eines achtstöckigen Hochhauses und hatte ganze vier Zimmer – ein Luxus nach der mickrigen Zweizimmerwohnung in Helena, in der wir die letzten drei Jahre gehaust hatten. Wir richteten uns ein, Mom fing ihre neue Arbeit an, und ich besuchte eine neue Schule, wo ich zwar nicht gleich Freunde fand, es aber eine supernette Englischlehrerin gab, die uns die besten Bücher zu lesen gab, wie zum Beispiel Tom Sawyer’s Abenteuer und In 80 Tagen um die Welt. Schon damals war Lesen meine große Leidenschaft. Ich hatte beim Umzug einen riesigen Koffer nur mit Büchern vollgepackt, lieber hätte ich meine Kleider zurückgelassen als meine literarischen Schätze.
Weil ich nun noch ein wenig einsamer war, wurden Betty und ihre Schwestern, Huckleberry Finn und Anne von Green Gables meine besten Freunde.
Ein paar Monate vor meinem zwölften Geburtstag war es dann aber vorbei mit der Einsamkeit, das war nämlich der Moment, in dem Mom mir von Daniels Heiratsantrag erzählte und dem Geschwisterchen, das in ihrem Bauch heranwuchs.
Daniel war Buchhalter in ihrer Firma und sie trafen sich bereits seit gut einem Jahr. Mom hatte ihn mir schon vorgestellt, und ich fand den Mann mit dem Schnurrbart und den gestreiften T-Shirts, die er unter seinen Sakkos trug, lustig. Dass er nun aber mein neuer Vater werden und es aus und vorbei mit der Zweisamkeit sein sollte, fand ich weniger witzig. Und dann nahm Daniel auch noch unseren Nachnamen an, damit wir alle gleich hießen und eine richtige Familie sein konnten.
Ich hätte kotzen können. Ich wollte keinen neuen Dad, immerhin habe ich schon einen, auch wenn ich ihn nur selten sehe. Ein- oder zweimal im Jahr kommt er mich besuchen, und in den Sommerferien verbringe ich immer vier Wochen bei ihm in New York, wo seine Freundin Isabelle, eine Künstlerin, mich mit in den Central Park nimmt, während er in der Kanzlei ist, und wo ich mir jedes Jahr ein neues New-York-T-Shirt aussuchen darf.
Für Mom aber stand damals schon fest: Daniel war der Richtige und mit ihm wollte sie alt werden. Zwei Monate später fand die Hochzeit statt. Weitere drei Monate später wurde mein kleines Brüderchen geboren, das die beiden unwitzigerweise Henry nannten. Auf meine Vorschläge, ihn Justin (nach Justin Bieber) oder Pharrell (nach Pharrell Williams, Happy war zu der Zeit mein Lieblingssong) zu nennen, gingen sie gar nicht erst ein.
Zuerst war ich unglaublich eifersüchtig auf Baby Henry, denn ich befürchtete, Mom würde von nun an nur noch ihm ihre Zeit und Liebe schenken. Womit ich nicht gerechnet hatte, war, wie unglaublich Henry sein würde – das süßeste Baby auf der ganzen Welt. Er war so lieb, weinte so gut wie nie, quengelte nicht rum, sondern strahlte einen einfach nur mit seinen wunderschönen großen Augen an.
Ich war hoffnungslos verliebt.
Je älter Henry wurde, desto unzertrennlicher wurden wir. Ich war die perfekte Babysitterin. Wenn Mom mal einkaufen gehen oder zur Bank musste, war ich sofort zur Stelle und übernahm. Ich zeigte Henry, wer SpongeBob Schwammkopf war und gab ihm mehr Kekse, als gut war. Wir tanzten zusammen zu meinen Lieblingssongs und lachten manchmal so lange, bis unsere Bäuche wehtaten. Henrys Lieblingsessen war Spaghetti mit Tomatensauce und Würstchenscheiben, und sein Lieblingscharakter aus SpongeBob war Patrick. Außerdem entwickelte Henry eine Liebe zu den Sternen, die von nirgendwo zu kommen schien. Auf einmal war sie da. Henry wollte beim Weihnachtsplätzchenbacken nur noch Sterne ausstechen, er wollte sich im Dunkeln leuchtende Sterne über sein Bett kleben, wie sie auch im Mittagsschlafraum seines Kindergartens hingen, und er liebte alle Lieder, in denen von Sternen gesungen wurde. Sterne faszinierten ihn.
Wer hätte ahnen können, dass sie ihm eines Tages so zum Verhängnis werden würden?
Ich packe das Tagebuch beiseite, ziehe meine Beine an und lege meine Stirn auf die Knie. Wenn ich jetzt daran denke, dass Happy einmal mein Lieblingssong war, scheint es so irreal wie die Tatsache, dass ich einmal eine heile Familie hatte. Es scheint Lichtjahre her, ja, sogar aus einem anderen Universum, einem anderen Leben. Ich kann nicht glauben, dass ich wirklich einmal glücklich war. Denn ich habe vergessen, wie das geht, glücklich sein.
Ich habe vergessen, was es heißt, zu leben.