ZWEI
Wir alle denken, wir leben unendlich, obwohl wir im Grunde doch wissen, dass dieses Leben morgen schon vorbei sein kann. Für mich war es das gestern schon.
Das Leben ist trotz allem lebenswert. Das hat mir schon die Therapeutin erzählt, zu der mich Mom auf Anraten unseres Hausarztes zweimal die Woche geschleppt hat, als ich noch zu Hause gewohnt habe. Und auch Dr. Fynn, die Psychiaterin hier in der Klinik, will mir andauernd weismachen, dass es doch keinen Sinn hat aufzugeben. Dass es doch trotz allem so viel Schönes gibt, die Erinnerungen, die wundervollen Momente, die ich erlebt habe und die auch die Zukunft sicher wieder hervorbringen wird.
Wem wollen sie etwas vormachen?
Glauben sie denn wirklich, die schönen Momente, von denen sie sprechen, könnten mich überzeugen weiterzumachen? Wissen sie denn nicht, dass es ganz genau diese Erinnerungen sind, die mich von innen heraus umbringen, jeden Tag, mit jeder Sekunde ein bisschen mehr?
Ich bin eine Mörderin.
Wie soll so jemand an eine glückliche Zukunft glauben? Denkt Dr. Fynn denn ehrlich, dass ich eines Tages aus diesem Gebäude spazieren werde, vollständig genesen, und fröhlich über Blumenwiesen tanzen werde? Wenn dem wirklich so sein sollte, sorry, aber dann hat die Gute echt ihren Job verfehlt.
Doc Fynn ist mir egal. So, wie mir alle anderen egal sind: die netten Schwestern, die sich solche Mühe geben, die immer freundliche ältere Dame an der Essensausgabe, die Therapeuten in der Beschäftigungstherapie, die anderen Mädchen und Jungen, die auch alle entweder selbstmordgefährdet sind oder mindestens einen Suizidversuch hinter sich haben. Wie genau sie es angestellt haben, ist mir ebenfalls egal. Es hat immerhin nicht funktioniert und kann mir in keiner Weise weiterhelfen.
Niemand kann mir weiterhelfen. Niemand, außer mir selbst, sagt Dr. Fynn. Sie sagt sowieso sehr viel während der täglichen Therapiestunde, in der ich kein einziges Wort von mir gebe. Manchmal frage ich mich, ob sie nicht irgendwann die Lust verliert. Sie könnte genauso gut mit der Grünpflanze reden, die auf ihrem Schreibtisch steht oder mit ihrem Kaffeebecher, der immer voll ist. Wie die Frau überhaupt noch schlafen kann, falls sie es denn tut, ist mir ein Rätsel. Allerdings könnte ich mir bei Doc Fynn auch gut vorstellen, dass sie so eine ist, die überhaupt nie schläft, eine, die immer für ihre Patienten da ist, Tag und Nacht. All der Einsatz ist wirklich bemerkenswert, und doch bewirkt er bei mir gar nichts. Ich will nicht reden, weder mit ihr noch mit meiner Mutter oder irgendwem sonst. Ich habe seit fünfundneunzig Tagen kein Wort gesprochen und werde nie wieder sprechen. Ich kann nicht. Wenn ich redete, würde ich mich vielleicht wie ein lebendiges Wesen fühlen, und das will ich nicht. Innerlich tot, das will ich sein. Ich habe nichts anderes verdient. Ich bin tot seit dem Abend, an dem mein kleiner Bruder Henry starb.
An dem ich ihn sterben sah.