Mittwoch

Mit einem Ruck saß er im Bett und hielt sich den Kopf. Ein Scheißtraum dachte Paul Kunkel und rieb sich das Gesicht mit beiden Händen. Er spürte die kalte Luft an seinem verschwitzten T-Shirt. Paul Kunkel wusste nur allzu gut, dass die Nacht für ihn gelaufen war. Er schaute auf die rot leuchtenden Zahlen an der Wand. Der Projektionswecker, den er von Tobias zum 46. Geburtstag bekommen hatte, zeigte 5 Uhr 21, wenigstens konnte er das endlich erkennen. Er dachte an seinen Geburtstag im April.

Tobias hatte an dem Geburtstagsmorgen auf dem Esstisch vier große und sechs kleine Kerzen aufgestellt und im Halbdunkel leuchtete an der Wand die Zahl 6.15 in großen roten Lettern.

»Herzlichen Glückwunsch Papa, alter Mann«, hatte er gesagt und über beide Backen gegrinst. »Hab dich lieb und der Wecker ist, damit du morgens nicht immer die Brille suchen musst, um zu wissen, was die Stunde geschlagen hat.

»Danke mein Sohn, hab dich auch lieb, bis zum Mond und wieder zurück«, hatte er erwidert. Ich könnte dich aber auch manchmal dorthin schießen und erst abholen, wenn die Pubertät vorbei ist. Aber das hatte er für sich behalten.

Er nahm einen Schluck aus der Wasserflasche, die neben seinem Bett stand, und versuchte sich an den Traum zu erinnern.

Er hatte ganz alleine in einem Eiscafé gesessen und einen Bananensplit bestellt. Den hatte er als Kind schon so gemocht; die Banane als Schiff geformt mit den Vanilleeiskugeln in der Mitte und der linienförmigen Schokoladenglasur als krönenden Abschluss.

Er war in sein Lieblingsbuch vertieft und hatte hochgeschaut, als das Mädchen ihm das Eis brachte. Es war seine Tochter Lea und er freute sich so sehr, sie zu sehen. »Erkennst du mich nicht?«, sagte er, nachdem sie ihn erstaunt ansah, doch sie hatte nur erwidert: »Nicht, dass ich wüsste«, sich umgedreht und war durch eine Tür verschwunden.

Er lief ihr nach, öffnete die Tür und befand sich mitten in einem tief verschneiten Tannenwald.

Seine Tochter stand neben einem riesengroßen Schneemann. Der Schneemann hatte Augen aus braunen Kastanien, einen Tannenzapfen als Nase und einen schiefen Mund aus einem gebogenen Zweig.

»Das ist mein Papa, er ist immer da, wenn es um mich kalt wird«, sagte sie und versteckte sich hinter dem Schneemann. Paul lief um den Schneemann herum, doch sie war nicht da, stattdessen sah er in ein tiefschwarzes Loch, und noch bevor er reagieren konnte, stürzte er hinein.

Er vermisste seine Tochter Lea sehr, seit er mit seinem Sohn Tobias vor drei Jahren aus Berlin ins Frankfurter Westend gezogen war. Er hatte es nicht geschafft, dachte er. Er hatte es nicht geschafft, seine Familie zusammenzuhalten.

Lea war damals 15. Am Tag des Umzugs hielt er sie ganz fest im Arm und sie spürte seine Tränen auf ihren Wangen. »Kopf hoch, Papa«, hörte er sie sagen. »Wir schaffen das, und ich hab dich lieb, bis zum Mond und wieder zurück.« Sie war schon so groß im Herzen.

Mühsam wand er sich aus dem Bett; sein Meniskus im rechten Knie machte sich bemerkbar; er ging in die kleine Einbauküche und drückte auf den Knopf der halbautomatischen Kaffeeaufbereitungsmaschine. Nach einigen endlosen Sekunden vollzog sie ihre typisch grunzenden Aufwärmgeräusche.

Paul Kunkel schloss die Zwischentür zum Flur und dem Zimmer von Tobias, es war halb sechs und der junge Herr wollte ja erst um 6.30 geweckt werden. Mit Frühstück natürlich. Toast Stufe 4, Erdbeermarmelade, aber die Gute; Goudakäse, den mittelalten und einen Cappuccino mit selbst aufgeschäumter Milch. »Sehr wohl junger Herr, ruhen Sie noch etwas, bevor Ihnen Ihr Diener nach dem Morgengruß das Frühstück kredenzt«, brummelte er vor sich hin.

Er hatte eigentlich noch eine halbe Stunde, bevor er normalerweise aufstand. Nun setzte er sich mit seinem Café Crème den Esstisch, den er in einer Kauflaune kurz nach dem Einzug auf dem Flohmarkt am Museumsufer gekauft hatte. Es war ein alter Biertisch, so richtig hoch und breit, wie man ihn früher in vielen Dorfkneipen kannte, mit zahlreichen Kanten und Macken. »Wer weiß, wer hier wen über den Tisch gezogen hat«, hatte der Trödler gesagt. Er mochte den Tisch, denn er passte überhaupt nicht zu dem leicht orange-ockerfarbenen Berberteppich, den ihm seine Schwester zum Einzug in die Wohnung geschenkt hatte.

Gerade als er den ersten Schluck aus seiner Kaffeetasse nahm, kratzte es an der Zwischentür und ein herzerweichendes Maunzen gesellte sich dazu. Lady Jeremy, Tobias schwarze Katze, verschaffte sich Gehör, um Einlass zu Ihrem Fressnapf in der Küche zu bekommen.

Während er den Fressnapf mit Trockenfutter auffüllte, vibrierte sein Handy auf dem Biertisch. »Wenn jemand schon so früh anruft, kann es nur ein Wolf sein«, erklärte er Lady Jeremy und die Nummer auf dem Handy bestätigte seinen Verdacht.

»Ja, HALLO?«

»Morgen Paul, du scheinst ja schon länger wach zu sein«, brummte es am anderen Ende der Leitung.

Wolfgang Gärtner, Spitzname »Wolf« war sein Vorgesetzter im Polizeipräsidium Frankfurt und ein ausgesprochener Morgenmuffel. »Ich hatte gerade einen Anruf aus dem Präsidium; in Sachsenhausen ist ein Mann tot in seinem Haus aufgefunden worden. Kannst du in mich in 15 Minuten zuhause abholen?«

»Gib mir zwanzig«, erwiderte Kunkel, »ich muss noch duschen und Tobis Frühstück machen.«

»In Ordnung, aber lass mich nicht warten«, sagte der Wolf und legte auf.

Die Wohnung in der Feldbergstraße hatte ihm sein Chef besorgt. Unter normalen Umständen hätte er sie nie bekommen; zu begehrt waren die Wohnungen in dieser Lage und wurden »unter der Hand vermietet«, wie ihm Gärtner beim Einzug stolz erläuterte. Dass diese Hilfe nicht ganz uneigennützig war, dämmerte ihm im Laufe der Zeit, denn Gärtner hatte keinen Führerschein und ließ sich gerne von zuhause in der nicht weit entfernten Mendelssohnstraße abholen.

»Wie ich diese Morgen hasse«, beklagte er sich bei Lady Jeremy, die auch nicht sehr glücklich über den Trockenfraß war, aber eine saftige Alternative stand nicht zur Verfügung.

Er duschte in der halben Zeit und rasierte sich. Während er sich die Zähne putzte, stellte er Marmelade und Käse auf den Tisch, steckte die Toastscheiben in den Toaster, öffnete die Tür zu Tobis Zimmer und machte eine halbe Drehung an dem Dimmschalter. Erster Weckversuch.

»Tobi, aufstehen.«

Die Bewegungen unter der Bettdecke zeigten ihm, dass Tobi ihn zumindest gehört hatte. Er ging zurück ins Bad und spülte sich im Waschbecken den Schaum aus dem Mund; die Hälfte hatte er ohnehin bei seiner ersten Weckaktion verschluckt. Dann ging ins Schlafzimmer, zog seine Jeans und ein schwarzes T-Shirt an, dazu die bequemen schwarzen Turnschuhe, steckte seine Dienstpistole aus dem Tresor in das Schulterhalfter und startete den zweiten Weckversuch, indem er den Lichtschalter auf volle Helligkeit drehte.

»Ich muss schon früher los, dein Frühstück steht auf dem Tisch, ich lege dir Geld fürs Mittagessen hin. Wenn du noch duschen willst, musst du jetzt aufstehen, außerdem wird der Toast sonst kalt.«

Tobi schlug die Decke zurück; strafende Blitze aus seinen verschlafenen blauen Augen trafen ihn, bevor er aufstand und im Bad verschwand.

»Den Cappuccino musst du dir selbst machen; und vergiss nicht dein Handy aufzuladen, ich melde mich dann heute Nachmittag«, rief er, zog seine derbe Lederjacke an und schloss die Wohnungstür hinter sich.

Er stieg in seinen dunkelblauen Volvo und startete den Motor, dem man merklich die in zehn langen Jahren gefahrenen Kilometer anhörte.

Bis zur Wohnung seines Chefs war es nicht weit. Er bog von der Feldbergstraße in die Liebigstraße ein, am Vapiano rechts in die Bockenheimer Landstraße und dann links in die Mendelssohnstraße.

Polizeirat Wolfgang Gärtner wartete schon vor dem Haus. In seinem hellen Trenchcoat und mit dem original Panamahut, den er von seiner letzten Südamerikareise mitgebracht hatte, erinnerte er Paul immer wieder an den hageren Hamburger Tatortkommissar, jedoch nur äußerlich, denn Gärtner war mit seinen 64 Jahren durch und durch ein Polizist der alten Schule. Er führte das Kommissariat mit eiserner Hand und private Probleme hatte er nicht, bzw. erfuhr niemand etwas davon. »Das gehört nicht hierher«, pflegte er zu sagen, wenn mal ein Kollege ihn etwas in dieser Hinsicht fragte. Der Spitzname »Wolf« allerdings gefiel ihm. Er genoss die Rolle des einsamen Rudelführers, immer bereit dieses gegen Angriffe von außen zu verteidigen, jedoch ebenso streng und unerbittlich zu sein, sollte jemand an seiner Autorität zweifeln.

Wolf stieg ein und übernahm sofort das Kommando. »Wir müssen in den Wilhelm-Beer-Weg, am besten du fährst über …«

»Ich kenne den Wilhelm-Beer-Weg«, fiel ihm Paul bestimmt ins Wort, »Dort beginnt der Stadtwald und ich fahre dort immer mit Tobi Mountainbike.« Wenn Paul Kunkel etwas nicht mochte, war es, wenn jemand ihm vorschreiben wollte, wie er Auto zu fahren hatte und da spielte es auch keine Rolle, ob es sich um seinen Chef handelte.

»Ist ja gut«, brummte Gärtner, »aber frag mich dann auch nicht, wenn du dich verfahren hast.« Von da an herrschte männliches Schweigen.

Sie mussten quer durch die Stadt und Paul steuerte den Volvo mit zielführender Genauigkeit nach Sachsenhausen. Vor dem Haus im Wilhelm-Beer-Weg hatten die uniformierten Kollegen bereits alles abgesperrt und die Spezialisten von der Spurensicherung packten gerade ihre Koffer aus dem Bus.

Wolfs junger Assistent, Kommissar Peter Lakmann, kam ihnen entgegen.

»Guten Morgen«, grüßte er. »Na so gut ist der Morgen ja nicht«, erwiderte Gärtner und in strengem Ton fragte er: »Und, was haben Sie bisher herausgefunden, wer hat den Toten gefunden?«

»Die Haushälterin, eine gewisse Vera Bonnes«, rapportierte Lakmann, während er seinen Notizblock aus der Hosentasche zog. »Sie steht unter Schock und ist auf dem Weg ins Sankt-Katharinen-Krankenhaus. Einiges habe ich jedoch schon ermittelt. Bei dem Toten handelt es sich um Konrad Weishaupt, 61 Jahre alt, Beruf Dipl. Ingenieur, er lebte alleine und Frau Bonnes machte seinen Haushalt; immer dreimal die Woche montags, mittwochs und freitags. Sie hat einen eigenen Schlüssel. Sie kam heute Morgen um halb sechs und hat ihn im Schlafzimmer gefunden.«

»Gibt es Nachbarn oder andere Zeugen, die etwas gesehen haben?«, fragte Kunkel. »Die Kollegen befragen zurzeit die Nachbarn« bemerkte Lakmann mit einem gewissen Stolz in der Stimme.

»Gut, dann lass uns mal reingehen«, sagte Gärtner, hob das Absperrband über seinen Kopf; gerade so, dass es vor Kunkel und Lakmann wieder nach unten schnellte. Kunkel setzte kurz entschlossen an, über das Band zu springen, ließ es aber dann, nachdem er sich seines lädierten Knies besonnen hatte. Er hob das Band unter dem verdutzten Blick von Lakmann hoch und ging auf das Haus zu. Es lag am Ende einer Sackgasse und rechts vorbei führte ein kleiner Weg in den Stadtwald. Der Vorgarten war gepflegt, nicht allzu sehr, die meisten Sträucher immergrün und pflegeleicht, keine blühenden Pflanzen, ein Kiesweg führte zum Haus. Der neu verlegte Rollrasen war schon etwas vertrocknet. Die zweigeschossige Stadtvilla war im Bauhausstil mit klaren, symmetrischen Formen wohl erst vor kurzer Zeit errichtet worden. Die graue Fassade war neu; ein kleiner Container mit Bauresten stand neben der Garage.

Er ging den Kiesweg entlang zur Haustür, das Messingschild rechts unter der Klingel gab Aufschluss über die berufliche Tätigkeit des Opfers.

- Dipl. Ing. Konrad Weishaupt - Ingenieurbüro für Tragwerksplanung und Bauphysik -

Bevor er Gärtner in das Haus folgte, zog er sich Latexhandschuhe und Schuhschutz über und drehte sich noch einmal um. Sein Blick schweifte über einige Schaulustige, die hinter der Absperrung neugierig warteten und angeregt tuschelten; offensichtlich hatten sie den Fall schon gelöst.

Im Haus erwartete ihn eine geradezu karge Wohnungseinrichtung. Auf einem, im kompletten Erdgeschoß verlegten, grauen Granitboden waren einige Designermöbelstücke platziert. Der Wohnungsmittelpunkt schien der überdimensionale schwarzlederne Liegesessel mit dem noch überdimensionaleren Plasmabildschirm zu sein.

Die Küche diente wohl eher zu Showzwecken: Der Kühlschrank war bis auf ein Glas mit Essiggurken und einer Flasche Mineralwasser komplett leer, nur der große Weinkühlschrank war voll gefüllt. Auf dem Küchentresen standen ein Rotweinglas und zwei leere Flaschen Châteauneuf-du-Pape. In dem hölzernen Messerblock neben der Spüle fehlte in der oberen Reihe ein Messer.

Kunkel ging die Granittreppe hinauf in Richtung Schlafzimmer. Der Flur im Obergeschoss war mit einem dunkelgrauen Teppichboden ausgelegt. Auf halbem Weg zum Schlafzimmer spürte er Nässe unter seinen Schuhen und im Schlafzimmer angekommen, fand er die Erklärung.

Konrad Weishaupt lag nackt in einem Wasserbett, er schwamm sozusagen in seinem eigenen Blutbad. Das blutige Wasser schwappte wieder und wieder über den Bettrand; nur die innere Plastikschutzumrandung verhinderte, dass das gesamte Wasser auslief.

Gärtner unterhielt sich gerade mit den Kollegen von der Spurensicherung. Einer der Männer in Weiß brachte ihnen ein Messer in einer Plastiktüte »Das lag im Bad«, erklärte er.

Kunkel ergänzte: »Könnte aus der Küche sein, dort fehlt eins.«

»Überprüfen Sie das bitte«, sagte Gärtner und gab dem Kollegen das Messer zurück. »Und wann kommt endlich die Feuerwehr, um das Wasser abzupumpen?«, fragte er und richtete seinen Blick auf Lakmann, der mit seinem Block in der einen und einem Stift in der anderen Hand am Fenster stand und interessiert den Untersuchungen von Dr. Martin Schenkelberg, dem diensthabenden Leiter des Instituts für Rechtsmedizin am Körper des Toten zu folgen versuchte.

»Feuerwehr?« Lakmann schaute Gärtner ungläubig an.

Gärtners Blick zu Dr. Schenkelberg verriet seine Gedanken in diesem Moment, aber er beherrschte sich mit einer Äußerung. »Kümmern sie sich bitte darum«, zischte er nur, »Die sollen nur nicht mit einem Mannschaftswagen, Blaulicht und Martinshorn anrücken. Zwei Mann und eine kleine Pumpe reichen völlig aus.«

Während Lakmann mit der Einsatzzentrale der Feuerwehr telefonierte, ließen sich Gärtner und Kunkel von Dr. Schenkelberg die ersten Ergebnisse seiner Untersuchung erläutern. »Todeszeitpunkt wahrscheinlich zwischen 23.00 und 1.00 Uhr«, begann Schenkelberg seine Ausführungen. »Insgesamt hat er vier Messerstiche, drei im Brustbereich, hier direkt unterhalb des Herzens, jeder davon war tödlich, und ...«, während er den Körper im Bett etwas zur Seite drehte und dabei blutiges Wasser auf den Teppich schwappen ließ, ergänzte er: »... einen Einstich im Rücken.«

»Wie hat ihn denn die Haushälterin gefunden?«, fragte Kunkel. Lakmanns Worte kamen wie aus der Pistole geschossen: »Sie sagte, er habe mit offenen Augen auf dem Rücken gelegen. Sie sagte, er habe sie angestarrt.«

Kunkel hatte erst einmal genug gesehen. Bevor die Feuerwehr nicht das Wasser im Bett abgepumpt hatte, konnte der Tote nicht geborgen werden, ohne eine Riesenüberschwemmung auszulösen.

Er ging vom Schlafzimmer in das benachbarte Arbeitszimmer. Das Zimmer war größer; es war aufgeräumt und ebenso karg möbliert wie das gesamte Haus. Auf dem Schreibtisch, neben einem 19-Zoll-Flachbildschirm, lagen einige Baupläne, diverse Akten, ein Taschenrechner, Stifte und eine Tageszeitung.

Zunächst übersah er den brieftaschengroßen Terminkalender. Erst als er die Tageszeitung hochhob, fiel er ihm ins Auge. Er blätterte und fand schnell die Eintragungen des vorherigen Tages. - 15.00 Uhr Gravenbruch, Travel Hotel, 17.00 Uhr Bauabnahme Luisenstraße 13 - ansonsten waren keine Termine vermerkt.

Er packte den Kalender in eine Tüte, ging zurück ins Schlafzimmer und übergab sie einem Kollegen von der Spurensicherung. »Überprüfen Sie das bitte auf Fingerabdrücke und lassen Sie mir die Unterlagen vom Schreibtisch ins Büro bringen, nachdem sie untersucht wurden, und besorgen Sie mir bitte ein aktuelles Foto des Toten.«

Gärtner verabschiedete sich gerade von Dr. Schenkelberg. »Ich habe jetzt erst einmal fertig; Lakmann, kommen sie bitte, Kollege Kunkel übernimmt jetzt die weiteren Ermittlungen« und zu Paul sagte er im Vorbeigehen »Um zwei machen wir eine Lagebesprechung, muss jetzt ins Büro; ich fahre mit Lakmann.« Weg war er.

Da die Feuerwehr noch nicht eingetroffen war, ging Kunkel nach unten und durch die Doppelflügeltür im Wohnzimmer nach draußen auf die Terrasse. Es war jetzt halb acht. Er zog seine Handschuhe aus, nahm die Zigarettenschachtel und das blaue Einwegfeuerzeug aus seiner Lederjacke und steckte sich eine Zigarette an. Es war die Erste an diesem Tag. Normalerweise rauchte er die Erste um Viertel vor sieben mit seinem zweiten Kaffee auf dem Balkon der Wohnung, während Tobias sich schulfertig machte. Diesmal hatte er keine Zeit gehabt. Man durfte nur nicht die Zeit haben. Während er den Rauch in den kalten Morgen blies, schweifte sein Blick durch den Garten, er versuchte sich ein erstes Bild der Tat zu machen.

War es ein Raubmord? Möglich, aber das Haus war nicht durchwühlt worden, es fehlte auf den ersten Anblick nichts. War es eine Beziehungstat? Schon eher möglich, die vier Einstiche könnten darauf schließen lassen. Aber angeblich lebte er alleine, was natürlich nichts zu bedeuten hatte; Aufschluss gab sicherlich eine Befragung der Haushälterin. Hatte es etwas mit seinem Beruf zu tun? Konnte man möglicherweise hier das Motiv finden?

Kunkel entschloss sich, zunächst dem gestrigen 15.00 Uhr Termin von Weishaupt im Travel Hotel nachzugehen und dann der Haushälterin im Krankenhaus einen Besuch abzustatten. Er drückte die Zigarette auf dem Boden der Terrasse aus, steckte den Stummel in seine Tasche und zog seine Handschuhe wieder an. Dann ging er zurück ins Haus.

Die Feuerwehr war zwischenzeitlich eingetroffen und hatte das Wasser aus dem Bett gepumpt. Der Leichnam von Weishaupt wurde gerade in den Zinksarg gelegt, ein Kollege überreichte ihm ein Foto des Toten.

Es war ein Schnappschuss aus einem Urlaub. Weishaupt saß an einer Strandbar mit einem Cocktail in der Hand und lachte in die Kamera. Südamerika, vielleicht Brasilien dachte Kunkel, als er sich die Reklame im Hintergrund des Bildes anschaute.

»Was Besseres habt ihr nicht gefunden?«, fragte er den Kollegen, doch der schüttelte den Kopf: »Dieses war das Einzige, welches annähernd aktuell ist.«

Kunkel verabschiedete sich von Dr. Schenkelberg und ging die Treppe hinunter nach draußen. Wieder schweifte sein Blick über die Menge der Schaulustigen und er nahm im Vordergrund ein bekanntes Gesicht wahr. Er ging auf ihn zu. »Karsupke, was machen Sie hier?«, begrüßte er den Reporter und zog ihn von den Schaulustigen weg.

Henning Karsupke war Redakteur und Fotograf einer kleinen Wochenzeitung, die sich hauptsächlich von Anzeigen und Werbeprospekten der einschlägigen Verbrauchermärkte finanzierte. Der redaktionelle Teil dieser Zeitungen umfasste in der Regel gerade mal zehn Seiten, die restliche Dicke der Zeitung von 5 Zentimetern wurde durch mindestens 15 Einlegeprospekte erreicht. Kunkel hatte Karsupke vor drei Monaten im Rahmen einer Pressekonferenz kennengelernt, als sie die Erpressung einer Supermarktkette aufgedeckt hatten. Der Erpresser wurde bei seinem Versuch, vergiftete Milchtüten in die Regale zu schmuggeln, gefasst.

Karsupke war Anfang dreißig und sah mit seiner Nickelbrille ein wenig aus wie Harry Potter in seinem zehnten Film. Auf eine gewisse Art war er Kunkel sympathisch. Seine Fragen in der damaligen Pressekonferenz waren fundiert und zeugten von einer guten Recherche. Sein Artikel in der Wochenzeitung hätte sicherlich das Format für eine der großen Tageszeitungen gehabt, doch soweit hatte er es noch nicht geschafft.

»Wie ist er denn ermordet worden?«, begrüßte Karsupke den Hauptkommissar.

»Wer?«

»Na Weishaupt. Er ist doch ermordet worden richtig?«

»Hören Sie Karsupke, ich habe im Moment wenig Zeit und es ist zu früh etwas zu sagen«, erwiderte Kunkel, »Warten Sie die Pressekonferenz ab, oder wissen Sie etwas, was ich nicht – oder noch nicht – weiß?«

»Könnte möglich sein«, grinste Karsupke und sah aus, wie ein Student, der seinem Professor gerade die noch unbekannte 2. Formel zur Quantentheorie erklären könnte.

»OK, aber nicht hier und nicht jetzt«, sagte Kunkel, »Wir treffen uns heute Nachmittag um fünf bei Pino. Das kennen Sie doch.« Karsupke nickte, Kunkel ging zu seinem Volvo, als sein Handy klingelte.

»Hallo«?

»Und?«, ertönte die Stimme seines Chefs.

Kunkel hasste dieses »UND«. Es konnte alles sein und nichts.

»Was gibt’s Neues?«, bohrte Gärtner weiter.

»Im Moment noch nicht allzu viel, ich denke, wir müssen die Ergebnisse der Spurensicherung und die Befragungen in der Nachbarschaft abwarten«, antwortete Kunkel spürbar genervt. »Ich bin gerade auf dem Weg ins Hotel, in dem sich Weishaupt gestern laut seinem Terminkalender mit jemandem getroffen hat und danach fahre ich ins Krankenhaus und befrage die Haushälterin. Ich bin dann um zwei im Büro.«

»In Ordnung, dann bis um 14.00 Uhr«, sagte Gärtner und legte auf.

Hat wohl was gemerkt, dachte Kunkel, stieg ein und startete den Motor. Er fuhr über die Darmstädter Landstraße zum Travel Hotel nach Gravenbruch. Während der Fahrt entspannte er sich etwas. Wenn man ihn früher gefragt hatte, was er werden wollte, hatte Paul immer nur gesagt: »Ich werde ein einfacher Mann, der durch die Stadt fährt.« In gewisser Weise war es ja auch so gekommen.

Er parkte den Volvo direkt vor dem Haupteingang, an dem ihn schon ein grün livrierter Page mit einem kritischen Blick auf sein Gefährt erwartete. Souveränität ist auch eine Tugend, dachte sich Kunkel und zeigte ihm seinen Ausweis, während er die Tür verschloss. »Es dauert nicht lange«, gab er dem Pagen mit auf den Weg und betrat die Hotellobby.

Am Empfang musterte ihn dezent kritisch der Empfangschef und auch er bekam den Ausweis zu sehen. »Waren Sie gestern Nachmittag um 15.00 Uhr im Dienst?«, fragte Kunkel; nicht gerade allzu freundlich.

»Nein«, antwortete sein Gegenüber in leicht süffisantem Ton, »Ich habe die Frühschicht bis um 14.00 Uhr, dann kommt mein Kollege.«

»Gibt es sonst jemand vom Personal, der gestern um 15.00 Uhr hier gewesen sein könnte?«

»Da müssten Sie schon den Chef fragen, aber der kommt auch erst um 11.00 Uhr.«

Kunkel zeigte ihm das Bild von Weishaupt. »Kennen Sie diesen Mann?«

Der Empfangschef nahm das Foto in die Hand, schaute es lange an und sagte: »Nie gesehen.«Bevor der Portier seinen Sieg auskosten konnte, überreichte ihm Kunkel seine Visitenkarte. »Dann soll mich Ihr Chef bitte anrufen, wenn er kommt.« Er drehte sich um und ging durch die Drehtür zurück zu seinem Wagen, wo der Livrierte gerade dabei war, zwei krokodillederne Reisetaschen auf einen Kofferwagen zu laden.

Dass er den Kofferwagen für seine Verhältnisse extrem weit schieben musste, da der Volvo den Platz vor dem Haupteingang belegt hatte, entlockte Kunkel eine gewisse Schadenfreude, die er auch nicht verbergen mochte. Er stieg genüsslich ein und machte sich auf den Weg ins Krankenhaus.

Er musste zurück in die Innenstadt, es war jetzt 10.00 Uhr und der Berufsverkehr war schon durch. Er hatte relativ freie Fahrt und erreichte schnell die Kennedyallee. Dann quer durch die Stadt bis zur Seckbacher Landstraße. Um 11.00 stellte er den Volvo auf dem neu angelegten Besucherparkplatz des Sankt-Katharinen-Krankenhauses ab.

An der Rezeption fragte er nach Vera Bonnes und wurde gebeten, auf einem der roten Besucherstühle im Empfangsbereich Platz zu nehmen.

Eigentlich mochte er Krankenhäuser. Schon einige Male war er im Krankenhaus gewesen. Mit 12 Jahren hatte ihn sein Bruder vom Hochbett geworfen und er kam mit einem Schlüsselbeinbruch ins Krankenhaus, als 15-Jähriger hatte er sich das Knie bei einem Fußballspiel verdreht und man hatte ihm noch auf die damals übliche Art den Meniskus entfernt. Eine 12cm lange Narbe markierte seitdem sein rechtes Knie. Später kamen dann noch der zweite Meniskus und ein Kreuzbandriss dazu, alles Resultate seiner damaligen sportlichen Ambitionen Handballprofi zu werden. Doch spätestens seit einem Schulterbruch, bei dem ihm ein gegnerischer Spieler in der Luft den Arm herumgerissen hatte, war klar, dass daraus nichts werden würde.

Seine »Besuche« im Krankenhaus waren also meist von Erfolg gekrönt; es ging ihm danach besser als vorher. Nach seinem letzten längeren Aufenthalt war er sich dessen allerdings nicht mehr so sicher.

Es war vor 15 Jahren und er hatte sich nach einem Schwächeanfall selbst ins Krankenhaus eingeliefert. Barbara war seinerzeit mit den Kindern verreist und er war morgens in der Dusche ohnmächtig zusammengebrochen. Als er aufwachte, lag er mit einer Beule am Kopf auf dem Fliesenboden und konnte sich nicht mehr erinnern, wie lange er dort gelegen hatte. Er rappelte sich mühsam auf und fuhr in das nächstgelegene Krankenhaus. »Ich glaube, mir geht es nicht so gut«, sagte er noch zu dem Pfleger und brach wieder zusammen. Dann begann ein zweiwöchiges Programm zur Diagnose dieses Vorfalls.

Als er nach acht Wochen entlassen wurde, hatte er eine schwere Bronchitis mit einer leichten Herzmuskelentzündung überstanden, und der Chefarzt hatte ihm mit auf den Weg gegeben, dringend in Zukunft mehr auf sich zu achten.

»Herr Kunkel?« Ein großer weißer Mann mit Brille schreckte ihn aus seinen Gedanken.

»Ja klar, entschuldigen Sie bitte.«

»Sie kommen wegen Frau Bonnes?«

»Ja«, erwiderte Kunkel; und zeigte ihm seinen Ausweis. Nachdem er ihm kurz den Sachverhalt erläutert hatte, gab der Arzt grünes Licht für ein kurzes Gespräch.

»Zehn Minuten, aber bitte regen Sie sie nicht auf, wir haben ihr ein Beruhigungsmittel gegeben«, sagte er, während sie den Flur zum Zimmer hinunterliefen.

Vera Bonnes war alleine in dem Zweibettzimmer. Sie lag auf dem Bett und schaute aus dem Fenster in den Garten des Krankenhauses. Langsam drehte sie sich um, als Kunkel die Zimmertür hinter sich schloss. Sie mochte Ende fünfzig sein, bei ihrem derzeitigen Zustand schwer zu schätzen. Sie war klein und zierlich, erinnerte ihn an eine berühmte Hamburger Schauspielerin, die immer diese resolute, aber warmherzige alte Dame gespielt hatte.

Ihr Gesicht war verweint, sie hatte tiefe Augenränder und wirkte abwesend. Er bemühte sich, so behutsam wie möglich vorzugehen.

»Guten Morgen Frau Bonnes, mein Name ist Paul Kunkel und ich bin der ermittelnde Kommissar in dem Fall. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen? Es dauert nicht lange.« Frau Bonnes nickte und zeigte mit ihrer Hand auf den Stuhl, der neben dem Bett stand. Paul setzte sich, während sie sich ein Taschentuch aus der Packung nahm.

»Warum sind Sie eigentlich ins Katharinenkrankenhaus eingeliefert worden, das Schifferkrankenhaus ist doch viel näher?«

»Ich wohne hier in der Nähe und war schon einige Male hier«, antwortete sie unter Tränen. »Der Oberarzt hat auch meinen Mann, Gott hab ihn selig, lange behandelt.«

»Sie haben Herrn Weishaupt heute Morgen gefunden, ist ihnen etwas Besonderes aufgefallen, als sie gekommen sind, war die Haustür verschlossen?«

»Es war wie immer«, antwortete sie leise, »die Tür war geschlossen, aber nicht abgeschlossen, das machte Herr Weishaupt nie.«

»Ist Ihnen sonst etwas Ungewöhnliches aufgefallen im Haus, etwas was anders war als sonst?«

»Ja, er lag tot in seinem Bett«, schluchzte sie.

»Ja, natürlich, aber fehlte etwas oder wurde etwas verändert?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, ich wusste nur, dass etwas nicht stimmt, denn normalerweise saß er morgens in der Küche und las Zeitung, wenn ich kam. Ich habe ihn dann gerufen, und als er nicht antwortete, bin ich nach oben gegangen. Ich weiß nicht, ob etwas anders war.«

»Können Sie mir etwas zu den persönlichen Verhältnissen von Herrn Weishaupt sagen, hatte er Kinder oder gibt es einen Menschen, der ihm nahestand?«

»Ich stand ihm nahe«, schluchzte sie, »War ja schließlich seit über 3 Jahren bei ihm; aber nicht so, wie Sie vielleicht denken mögen. Er war ja so unbeholfen im Haushalt. Es war eine sehr gute Stelle und ich war froh sie zu bekommen nach dem Tod meines Mannes.« Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und setzte sich auf. »Nein, Kinder hat er nicht, jedenfalls hat er mir nie etwas davon erzählt. Er hat sowieso nicht viel erzählt. War immer in seine Arbeit vertieft.«

»An was hat er denn gearbeitet, gab es wegen seiner Arbeit einmal Schwierigkeiten?«

»Von seiner Arbeit hat er eigentlich nie erzählt, davon verstehe ich ja auch nichts. Letzte Woche, da hat er telefoniert und da wurde es auch laut, aber nichts Schlimmes, denke ich. Nach dem Telefonat hat er zu mir gesagt: »Vera, als Statiker steht man immer mit einem Bein im Gefängnis«, und hat dabei gelacht. Dann haben wir ein Glas Wein getrunken. Er trank gerne Wein«, und fügte nach einer kurzen Pause hinzu, »Aber er war immer sehr zuvorkommend zu mir. Hat mich gut bezahlt und nie ein böses Wort.«

Irgendwie komme ich nicht richtig weiter, dachte Kunkel, entweder stelle ich die falschen Fragen, oder sie will einfach nichts sagen.

»Wie lange waren sie denn bei ihm im Haus, Haben sie auch für ihn gekocht?«

»Nein, gekocht habe ich nicht, das wollte er nicht. Morgens hat er nur Kaffee getrunken und mittags ist er immer zu dem Imbiss an der Offenbacher Straße gegangen. Currywurst mit Pommes waren seine Leibspeise. Ich war ja auch nur an drei Tagen da und immer von halb sechs bis zwei. Abends hat er sich meistens etwas zu essen bestellt oder ist in eins der benachbarten Restaurants gegangen.«

»Und was war mit Damenbesuch?«

»Manchmal hatte ich den Eindruck, als ob er Besuch hatte«, sagte sie, »aber das ging mich ja nichts an.«

»Woran haben Sie das bemerkt?«

»Wie man es halt so merkt, Schminkspuren im Bad und so.« Sie drehte sich wieder zum Fenster und schaute hinaus.

Sie wollte nichts erzählen.

»Frau Bonnes, ich denke, es war jetzt schon anstrengend für Sie«, sagte er, »aber Sie haben mir schon einmal sehr geholfen; ich melde dann noch einmal bei Ihnen.«

Er stand auf, drückte ihre Hand und ging zur Tür.

»Er war ein guter Mann, Herr Kommissar«, rief sie ihm nach.

Er verließ das Krankenhaus und fuhr zum Präsidium. Bevor er um 14.00 Uhr in die Besprechung ging, wollte er für sich die bisherigen Erkenntnisse zusammenfassen und das konnte er am besten in seinem Büro. Als er den Parkplatz auf dem Innenhof des Polizeipräsidiums in der Adickesallee erreichte, traf er auf Jakob Nicolic, den Teamleiter der Spurensicherung. »Jakob, wann können wir mit den ersten Ergebnissen rechnen?«, fragte er.

»Nicht vor heute Abend«, bekam er von Nicolic als Antwort, »Ich melde mich dann bei dir.« Kunkel ging durch die Sicherheitsschleuse und fuhr mit dem Aufzug in den zweiten Stock.

Sein Büro lag am Ende des Flures auf der linken Seite, direkt hinter Gärtners. Zwei Schreibtische standen sich gegenüber, von denen aber nur Kunkels Tisch belegt war. Die Büroräume waren so ausgelegt, dass sie auch den Veränderungen der Zukunft personell Rechnung tragen würden, hatte Gärtner zu ihm gesagt, als er damals den Raum bezog.

Kunkel setzte sich an seinen Schreibtisch, schaltete seinen Rechner an und legte das Bild, das er von Weishaupt erhalten hatte, unter den Flachbettscanner. Während der Rechner hochfuhr, schrieb er einige Stichworte auf seinen Notizblock.

Das Telefon klingelte. »Kunkel«, meldete er sich.

Am anderen Ende antwortete eine sonore Stimme: »Thorsten Reiling, Travel Hotel Gravenbruch; Sie hatten um einen Rückruf gebeten?«

»Herr Reiling, danke für Ihren Anruf, ich war heute Morgen schon bei Ihnen«, sagte Kunkel, »Wir ermitteln in einer Straftat, bei der ein Termin gestern um 15.00 Uhr in ihrem Haus eine Rolle gespielt haben könnte.«

»Könnten Sie etwas konkreter werden?« Reiling klang etwas genervt.

»Sagt Ihnen der Name Konrad Weishaupt etwas?«

»Da müsste ich nachschauen, Moment.«

Kunkel hörte, wie Reiling etwas mit einem Mitarbeiter besprach. Kurz darauf war er wieder am Telefon: »Ein Gast mit diesem Namen ist bei uns noch nicht abgestiegen.«

»Er muss auch nicht übernachtet haben, er hatte gestern um 15.00 Uhr einen Termin bei Ihnen, das könnte auch in der Lobby oder im Restaurant oder an der Hotelbar gewesen sein«, sagte Kunkel.

»Der Kollege, der gestern um 15.00 Uhr an der Rezeption Dienst hatte, kommt erst um 14.00 Uhr.«

»Ich weiß, das hatte mir ihr Mitarbeiter schon gesagt«, antwortete Kunkel, nun ebenfalls genervt.

»Herr Reiling, ich schicke Ihnen jetzt per E-Mail ein Foto von diesem Herrn und es wäre gut, wenn Sie mir kurzfristig mitteilen könnten, ob und mit wem er sich gestern dort getroffen haben könnte. Geben Sie mir bitte Ihre E-Mail-Adresse?«

Reiling gab ihm die Adresse und sicherte zu, sich darum zu kümmern.

Kunkel startete das Scanprogramm, machte einen Ausschnitt des Bildes und speicherte es. Dann tippte er die E-Mail-Adresse von Reiling in sein Outlookprogramm und schickte ihm das Bild mit dem Vermerk »wie besprochen, bitte um schnellstmögliche Info, danke.«

Die Uhr auf dem Rechner zeigte 13.30 Uhr. Viel Zeit hatte er nicht mehr, bevor er sich mit Gärtner traf. Er schaute auf seine Aufzeichnungen und stellte für sich fest, dass es für eine große Teambesprechung noch zu viele Fragezeichen gab.

Er beschloss Gärtner um eine Verschiebung des Termins zu bitten, zumindest bis die ersten Erkenntnisse der Spurensicherung, die Befragungsergebnisse der Nachbarn und das Obduktionsergebnis von Dr. Schenkelberg vorlagen. Er rief ihn an und erklärte ihm die Situation. Gärtner akzeptierte, wenn auch nur etwas widerwillig seine Bitte und sie verschoben die Besprechung auf den folgenden Tag, morgens um 8.00 Uhr. »Aber halte mich auf dem Laufenden, Paul.«

Kunkels Magen meldete sich zu Wort, er ging in die Kantine, warf einen Blick auf die Menütafel und bestellte sich dann Wiener Würstchen mit Kartoffelsalat. Er setzte sich an einen freien Tisch, aß und bemerkte erst zu spät, dass er viel zu schnell gegessen hatte. Sein Magen rumorte und er hatte das Gefühl sich übergeben zu müssen. Er stellte das Tablett in den Geschirrwagen und ging nach draußen.

Er lief am Polizeigebäude entlang bis zur Bertramstraße und hoffte, sein Magen würde sich etwas beruhigen. Tobi müsste eigentlich von der Schule zurück sein, er wählte die Handynummer seines Sohnes.

»Ja, was ist?«

»Bist du schon zuhause?«

»Ja!«

»Hast du schon was gegessen?«

»Ja!«

»Was?«

»Wir haben uns einen Döner geholt?«

»Wer, wir?«

»Taylor und ich, wieso?«

»Ach so, und was machst du heute noch?«

»Erst Hausaufgaben und dann gehen wir noch raus!«

»Wohin?«

»Na raus, Fußballspielen oder so!«

»O.K., ich komme so um sechs, dann koche ich was!«

»O.K., dann bis sechs!«

Taylor, 15-jähriger Sohn eines US-Soldaten und einer Deutschen, war zum gleichen Zeitpunkt wie Tobi vor drei Jahren nach dem Umzug von Berlin nach Frankfurt in die Schulklasse der Realschule gekommen und die beiden unternahmen viel miteinander.

Sie hatten am Anfang einen schweren Stand in der Klasse, mittlerweile wurden sie jedoch akzeptiert, Taylor war sogar im letzten Jahr Klassensprecher geworden und damit waren sie in der Klasse angekommen. Beide hatten sich in den Kopf gesetzt Abitur zu machen, danach Rechtsanwalt zu werden und dann eine gemeinsame Kanzlei zu gründen.

Den Namen und den passenden Slogan hatten sie sich auch schon ausgesucht: »Black and White – Wir bringen Sie auf jeden Fall ins Gefängnis«, scherzten sie dann und schmiedeten die abenteuerlichsten Verteidigungsstrategien.

Seinem Magen ging es mittlerweile etwas besser und er entschied sich für einen Espresso aus dem Kaffeeautomaten, der im Flur vor seinem Büro stand.

Er hatte noch Zeit, bevor er sich um 17.00 Uhr mit Karsupke in dem kleinen italienischen Bistro schräg gegenüber von seiner Wohnung traf.

Eventuell hat Dr. Schenkelberg ja schon erste Ergebnisse, ging es ihm durch den Kopf. Er entschloss sich, in der Gerichtsmedizin vorbeizuschauen. Nach zwanzig Minuten parkte er auf dem Innenhof des Instituts für Rechtsmedizin in der Kennedyallee. Es war eine Stadtvilla aus der Gründerzeit und man würde beim Anblick des mondänen Gebäudes nie erahnen, was hier alles untersucht wurde.

Im 1. Untergeschoss war das Reich von Dr. Schenkelberg und seinen Kollegen; hochmodern und steril eingerichtet mit mehreren großen Untersuchungstischen, den neuesten Computern und diversen anderen, für ihn nicht definierbaren Apparaturen. Schenkelberg war gerade dabei, die Untersuchung bei Konrad Weishaupt abzuschließen, als Kunkel eintrat. Er stellte sich in einiger Entfernung neben Schenkelberg und schaute ihn abwartend an. »Das hätte ich mir ja denken können, dass Sie hier vorbeischauen, Herr Hauptkommissar, ich habe auch einige Neuigkeiten für Sie.«

»Deswegen bin ich ja hier«, entgegnete Kunkel, »Was haben Sie denn für mich? Sie wissen ja dass Wolf nicht gerne wartet.«

»Das Messer aus der Küche ist mit Sicherheit die Tatwaffe«, begann Schenkelberg seine Ausführungen. »Sämtliche Einstiche am Körper stimmen mit dem Schnittmuster auf dem Messer überein. Der erste Stich traf ihn in den Rücken, dann hat er sich gedreht, oder wurde umgeworfen, die anderen drei Stiche wurden in die Brust ausgeführt. Bis auf ein Hämatom im linken Brustbereich sind keine weiteren Kampfspuren festzustellen. Möglicherweise hat sich der Täter mit der Hand dort abgestützt.«

»Könnte es auch eine Frau gewesen sein?«

»Durchaus, die Stiche wurden zwar fest ausgeführt, aber das Messer war sehr scharf und die Stiche auch von einer Frau ausführbar. Wahrscheinlich war der Täter Linkshänder.«

»Hinsichtlich des Todeszeitpunktes hat mir das Wasserbett gute Dienste geleistet. Anhand der Hautveränderungen am Körper durch das Wasser konnte ich den Zeitpunkt seines Ablebens relativ genau feststellen, vorausgesetzt der Täter oder die Täterin hat zum gleichen Zeitpunkt das Wasserbett zerstört. Er starb demnach zwischen 0.00 Uhr und 0.30 Uhr. Und, er hatte wahrscheinlich Geschlechtsverkehr vor seinem Tod, oder so etwas Ähnliches.«

»Wie, so etwas Ähnliches ? Hatte er, oder hatte er nicht?«

»Ich habe frische Spermaspuren gefunden, aber ob er auch tatsächlich Geschlechtsverkehr hatte, kann ich noch nicht sagen. Ich muss dazu weitere Laboruntersuchungen machen, das dauert.«

Die Uhr im Untersuchungsraum zeigte 16.30 Uhr und Kunkel musste los.

»Vielen Dank Doktor, das sind schon sehr gute Ergebnisse, sagen Sie mir dann noch Bescheid, ob er, oder ob er nicht?«

»Sicherlich, das mache ich, und grüßen Sie mir den Wolf.«

Von der Kennedyallee bis zu Pino musste er durch die halbe Stadt und das bei einsetzendem Berufsverkehr. Das Blaulicht wollte er nicht benutzen, wie hätte er es auch begründen sollen. Karsupke musste warten.

Kurz nach fünf erreichte er das kleine italienische Bistro. Der Name »PINO« glänzte in roten handgeschriebenen Leuchtbuchstaben über dem Eingang vor einer weißen Wand. Das Bistro lag im Erdgeschoss eines roten Backsteingebäudes aus der Jahrhundertwende.

Neben der Eingangstür stand eine schwarze Schiefertafel, auf der das heutige Tagesgericht angepriesen wurde: »Penne con polpette all‘arrabiata« – Nudeln mit scharfem Hackfleischbraten übersetzte er in Gedanken und stellte für sich fest, dass es besser gewesen wäre, auf die Würstchen mit Kartoffelsalat zu verzichten und stattdessen bei Pino etwas zu essen.

Von außen sah man durch die etwas zu kleinen Fenster auf die karg wirkende Einrichtung mit 6 Tischen, von denen zwei zum Fenster ausgerichtet waren. Pino war Besitzer und Koch in Personalunion des wohl einzigen italienischen Restaurants in Frankfurt, das keine Pizza auf der Speisekarte hatte. Stattdessen verwöhnte er seine Kundschaft, die in aller Regel Stammgäste waren, mit perfekt zubereiteten Pastavariationen.

Karsupke saß an dem hintersten Tisch an der Wand und blickte kurz auf, als Kunkel eintrat. »Wie waren die Nudeln?«, fragte Kunkel, während er sich auf den Stuhl setzte und auf den leeren Teller vor Karsupke schaute »Sehr lecker«, erwiderte Karsupke, »müssen Sie auch probieren, etwas scharf, aber lecker.« Kunkel winkte ab.

Pino trat an den Tisch und gab Kunkel die Hand. »Ciao Paolo, alles klar bei dir, was kann ich dir bringen?« Pino stammte aus Kalabrien und hatte nach Kunkels Meinung sehr viel Ähnlichkeit mit Alessandro Del Piero, dem Fußballstar von Juventus Turin.

Man konnte nicht behaupten, dass Kunkel den italienischen Fußball überaus mochte, es lag viel mehr daran, dass Pino sich nach jedem verlorenen Spiel der italienischen Nationalmannschaft bei dem Del Piero nicht eingesetzt wurde, lautstark darüber beschwerte und ihm wieder und wieder die Geschichte von der Fußballweltmeisterschaft 2006 auftischte, bei der Del Piero im Halbfinalspiel Italien gegen Deutschland nach seiner Einwechslung in der Verlängerung das 2:0 erzielt und damit Italien endgültig ins Finale gegen Frankreich geschossen hatte.

Für Kunkel waren die Geschichten auch nach Jahren immer noch schmerzhaft, hatte er doch auch bei dem Sommermärchen 2006 bis zu diesem Tor mitgefiebert und sich immer wieder gefragt, was passiert wäre, hätte Del Piero nicht getroffen.

»Bring mir bitte einen Kaffee.« Karsupke bestellte einen Espresso und Kunkel nahm sein kleines schwarzes Notizbuch und einen Kugelschreiber aus der Innentasche seiner Lederjacke.

»Dann erzählen sie mal«, sagte er und hoffte innerlich, dass Karsupke etwas Licht in sein bisheriges Ermittlungsdunkel bringen würde.

»Versprechen Sie mir, dass Sie mir auch helfen, wenn ich Ihnen helfe?«

»Wenn es im Rahmen meiner Möglichkeiten liegt, dann kann ich es mir vorstellen«, gab Kunkel den Ball zurück. »Kommen Sie, Karsupke, lassen Sie sich nicht so lange bitten.«

»Ich beobachte Konrad Weishaupt schon seit zwei Tagen«, begann Karsupke, »Ich bekam vorgestern einen Anruf von einem Kollegen, der mich bat, etwas für ihn herauszufinden.«

»Was war das für ein Kollege und um was sollten Sie für ihn herausfinden?« Kunkel wurde ungeduldig. Das fängt ja an wie bei Vera Bonnes, dachte er, während Pino ihnen Kaffee und Espresso brachte.

»Er arbeitet an einer Reportage über den neuen Flughafen in Berlin«, fuhr Karsupke fort, nachdem Pino gegangen war.

»In Berlin?! Sie meinen den BBI, den Großflughafen Berlin Brandenburg International?«

»So hieß er früher«, korrigierte ihn Karsupke, »Jetzt heißt er BER, da die Abkürzung BBI bereits für einen indischen Flughafen vergeben ist.« Seine Augen grinsten durch die Nickelbrille. »Er sagte mir, dass er einer großen Sache auf der Spur sei, und dass Weishaupt dabei eine nicht unwesentliche Rolle spielen könnte bzw. jetzt ja nur noch gespielt hat. Wie ist er denn jetzt getötet worden? Es war doch Mord, oder?«

Kunkel spürte, dass er ihn etwas füttern musste, wenn er mehr erfahren wollte.

»Ja es war Mord«, sagte er leise, »Er ist erstochen worden mit einem Messer, vier Stichverletzungen in Brust und Rücken. Die Tatwaffe haben wir schon sichergestellt. Aber erzählen Sie weiter. Was sollten Sie herausfinden?«

»Ich sollte herausfinden, mit wem er sich trifft, mit wem er Kontakt hat, seinen Tagesablauf recherchieren.«

»Warum?«

»Viel hat er mir nicht erzählt, aber ich weiß, dass es um Ungereimtheiten bei einem Bauabschnitt des neuen Flughafens ging. Weishaupt hat wohl ein Gutachten für eine der Landebahnen des Flughafens erstellt.«

»Was sollen das für Ungereimtheiten sein?«

»Das hat er mir nicht gesagt, ist ja noch alles nicht sicher, auf jeden Fall sollte ich ihn beobachten, mit wem er sich trifft.«

»Das sagten Sie bereits; und was haben Sie herausgefunden in den letzten Tagen, mit wem hatte er sich getroffen, gestern zum Beispiel?«

»Gestern war er bis 14.00 Uhr zuhause, was danach war, kann ich nicht sagen, um 15.00 Uhr hatten wir Redaktionssitzung und ich bin abends um 19.00 Uhr noch einmal vorbeigefahren und da brannte Licht in seinem Arbeitszimmer; ich bin dann nach Hause und habe heute Morgen erfahren, dass etwas im Wilhelm-Beer-Weg passiert ist, da bin ich natürlich gleich hingefahren.«

»Polizeifunk abgehört?«

Karsupke nickte.

»Wissen Sie etwas von Damenbesuch?«

»Außer seiner Haushälterin Frau Bonnes? Nein, ich habe nichts mitbekommen.«

Kunkel schaute auf sein Handy. Es war halb sechs.

»Karsupke ich muss jetzt weg, aber ich muss unbedingt mit Ihrem Kollegen aus Berlin sprechen, können Sie das arrangieren?«

»Und was ist mit mir?! Am Freitag um 11.00 Uhr ist Redaktionsschluss.« Karsupke merkte, dass das Gespräch etwas einseitig verlaufen war.

»Kommen Sie mit nach draußen«, sagte Kunkel und legte einen 5-Euro-Schein auf den Tresen. Er verabschiedete sich von Pino und sie traten vor die Tür. Kunkel steckte sich eine Zigarette an.

»Hören Sie Karsupke,« sagte er, während er den Qualm in den kalten Abendhimmel blies, »bisher habe ich noch keine Ergebnisse von der Spurensicherung und die Pressekonferenz findet voraussichtlich erst am Freitag Nachmittag statt. Sie bekommen die Presseinformationen noch vor Redaktionsschluss. Und wegen Ihres Kollegen, ich brauche die Telefonnummer so schnell wie möglich.«

»Ich spreche mit ihm und melde mich.« Karsupke verschwand wieder im Bistro.

Kunkel lief die Myliusstraße runter bis zur Bockenheimer Landstraße und betrat den kleinen Supermarkt an der Ecke. Er suchte sich einen leeren Karton statt des Einkaufswagens – das ging schneller – und er brauchte ja nur ein paar Sachen für das Abendessen – Penne all‘arrabiata mit Hackfleischbällchen. Er lief durch die Gänge und nach kurzer Zeit hatte er eine Packung Nudeln, 500 Gramm Gehacktes, Tomatenmark, eine Dose Champignons, eine Packung Sahne und eine Flasche Rotwein im Karton und ging zur Kasse.

Er hatte Glück, es war nur ein Kunde vor ihm und die Kassiererin grüßte ihn freundlich, als er seine Einkäufe auf das Band legte. Da er oft dort einkaufte, hatte er bemerkt, dass sie die Angewohnheit hatte, den Betrag, den der Kunde zurückbekam schon auszurechnen, bevor ihn das Display in der Kasse anzeigte.

»Das macht 26 Euro und 49 Cent«, sagte sie und der Kunde vor Kunkel kannte das Spiel wohl auch.

»50«, sagte er laut, bevor er den Schein aus der Geldbörse zog.

»23 Euro und 51 Cent zurück«, kam es wie aus der Pistole geschossen. Sie lachte.

Vor dem Haus hörte er schon die Bässe aus Tobis Musikanlage. Prince P. der intellektuellste Rapper unter der Sonne Berlins und deutsche Eminem, wie Tobi ihm erklärt hatte, rappte bei offenem Fenster über Frankfurt.

Er ahnte schon Böses, und als er in den Hausflur trat und den Briefkasten aufschloss, hörte er, wie sich der Nachbar aus der Wohnung unter ihnen hinter verschlossener Tür lauthals bei seiner Frau über den »Krach« beschwerte. Dann komm doch raus und sprich mit mir, dachte Kunkel, nahm einen Brief und einige Werbeprospekte aus dem Kasten und ging die Treppe hinauf in den ersten Stock.

Als er die Tür öffnete, kam ihm Lady Jeremy maunzend entgegen. »Kannst du das etwas leiser machen«, machte er Tobi mit seinen Händen deutlich, und als die Musik leiser war, setzte er hinzu: »Der Probst hat schon wieder gemeckert. Kannst du wenigstens das Fenster zumachen, du weißt doch, wie die sind.«

Tobi lag auf seiner roten Schlafcouch, die sie letzte Woche kaufen mussten, weil Taylor auch eine Schlafcouch bekommen hatte. Er starrte auf den Fernseher und spielte wieder dieses Ballerspiel, bei dem man innerhalb von einer Minute eine ganze Armee auslöschen konnte. Vorausgesetzt man würde die drei Leben, die man zur Verfügung hatte, nicht sinnlos vergeuden. Aber zur Not fing man halt wieder von vorne an.

»Soll er doch kommen, ick bin der Klotz«, Tobi sprang auf und baute sich vor Paul auf. »Wat willste, bin schon genauso groß wie du.« Sprachs und grinste ihn an.

Wir haben schon ganz schön viel miteinander erlebt, dachte Paul, als er den 15-jährigen Halbstarken, der jetzt schon sein Deo und sein Rasierwasser benutzte, vor sich stehen sah.

»Stimmt, dann kannst du ja auch Lady Jeremy etwas zu fressen geben«, antwortete er. »du bist ja schon groß. Ich gehe jetzt erst mal duschen.« Er drehte sich um, stellte die Einkäufe auf dem Biertisch ab und ging in sein Schlafzimmer. Dann packte er die Pistole in den Tresor, zog sich aus und ging ins Bad.

Die Dusche tat ihm gut. Egal wie lange es dauerte oder wie viel Wasser er verbrauchte; das brachte ihn wieder runter, alles perlte ab. Es war wie ein Ritual. Er ging den vergangenen Tag gedanklich durch und packte die Erlebnisse in imaginäre Schubladen, gut verstaut und jederzeit wieder abrufbar. Eigentlich könnte er jetzt schlafen gehen, dachte er, doch der Tag war noch nicht zu Ende. Die eiskalte Dusche machte ihn wieder wach, wenigstens für eine oder zwei Stunden. Er musste ja noch kochen und alles andere machte sich ja auch nicht von alleine.

»Wenigstens die Wäsche hat er übernommen, einer der wenigen guten Schachzüge von mir«, lobte sich Paul innerlich, jedes Mal, wenn er daran dachte. Und das, obwohl er eigentlich nicht konsequent sein konnte. Doch als Tobi ihn in den letzten Monaten maßregelte, wenn seine Wäsche nicht gewaschen war, hatte er nur gesagt: »Dann mach sie doch selbst, wenn du jeden Tag frische Klamotten anziehen willst.«

Als Tobi ihm geantwortet hatte: »Wenn du es mir zeigst«, hatte er die Gelegenheit beim Schopf gepackt, war mit ihm in den Waschraum im Keller gegangen und hatte ihn in die Wunderwelt der Waschtechnik eingewiesen. Von diesem Zeitpunkt an wusch und trocknete er seine Wäsche selbst; natürlich nur SEINE Wäsche.

Er hörte, dass Tobi der Katze etwas zu fressen gegeben haben musste, als er aus der Dusche kam; das Schmatzen in der Küche war unüberhörbar. Der junge Herr lag wieder auf seiner Schlafcouch und ballerte irgendwo im Nirwana auf Top-Terroristen. »Ich esse nicht mit«, tönte es aus seinem Zimmer, »Gehe gleich noch zum Fußball, kommst du heute mit?«

Stimmt ja, dachte Paul, heute ist ja Mittwoch, Soccerhalle. »Nein, mein Knie tut noch weh, das nächste Mal vielleicht«, antwortete er, »Kannst ja dann später essen.«

Paul zog sich an, nahm die Einkäufe vom Tisch und ging in die Küche, die sich direkt an das Wohnzimmer anschloss. Ein kaltes Bier wäre jetzt nicht schlecht, dachte er, doch er hatte vergessen welches kaltzustellen und warmes Bier war das Letzte, was er trinken würde. Er packte eine Flasche ins Eisfach und fing an zu kochen.

Hackfleischbällchen kann ich ein anderes Mal machen, dachte er und entschied sich für Bolognesesoße. Er setzte einen Topf Wasser für die Nudeln auf und zusammen mit einer klein geschnittenen Zwiebel und etwas Tomatenmark briet er das Gehackte in einer Pfanne, löschte es mit Rotwein ab, würzte mit Salz, Pfeffer und getrockneten italienischen Kräutern und gab die Champignons aus der Dose und etwas gekörnte Brühe dazu. Das Nudelwasser dampfte und er schüttete die ganze Packung hinein. Die beiden Töpfe köchelten vor sich hin. Paul nahm das Bier aus dem Eisfach, befand es als kalt genug, nahm ein Glas aus dem Schrank und setzte sich nach draußen auf den Balkon an den Campingtisch. Es war kalt. Der Winter zeigte nach Wochen endlich sein Gesicht. Eine sibirische Kaltfront war im Anmarsch.

Der Balkon lag zum Innenhof, die Abendsonne blinzelte zwischen den Hochhäusern hindurch. In der Ferne schwebten einige Flugzeuge wie an einer Perlenkette aufgereiht in Richtung der neuen Landebahn am Frankfurter Flughafen.

»Ich bin dann mal weg«, hörte er Tobi rufen.

»O.K., bis später, und zieh was Warmes an, kann sein, dass ich schon schlafen gehe«, antwortete er, goss sich das Bier ins Glas und nahm einen tiefen Schluck. Sein Handy auf dem Biertisch klingelte. »Ja, Paul Kunkel, wer spricht?« Es war Nicolic, der Teamleiter der Spurensicherung. »Hallo Paul, ich wollte dich nur darüber informieren, dass wir erste Ergebnisse beim Fall Weishaupt haben. Habe dir eben eine Mail geschickt.«

»Gibt es was Besonderes, was du mir jetzt schon sagen kannst? Ich war noch nicht am Rechner.« Kunkel steckte sich eine Zigarette an und blies den blauen Dunst genüsslich in den Abendhimmel.

»An sich nichts Außergewöhnliches, nichts, was den ersten Eindruck vom Hergang der Tat widerlegen würde. Er ist definitiv in seinem Bett getötet worden. Das Bett wurde vermutlich zerstört, um Spuren zu verwischen. Wir haben mehrere Fingerabdrücke gefunden, die wir noch nicht zuordnen können, jedoch keine auf dem Messer.«

Paul sprang auf und stürzte in die Küche. Der ganze Raum war voller Rauch und in dem Bolognesetopf qualmte ihm eine schwarze, angebrannte Masse entgegen. Er hatte es wieder nicht gerochen, verdammt.

»Was ist los? Hörst du noch zu?«

»Moment, Scheiße, mein Essen brennt gerade«, rief Kunkel, »Ich rufe dich zurück«, und legte auf. Er bugsierte den Topf in die Spüle, spritzte eine Ladung Spülmittel in den Topf und drehte den Wasserhahn auf.

Dann öffnete er das Fenster, nahm die mittlerweile verkochten Nudeln von der Herdplatte und schüttete sie in den Topf mit der Bolognese-Spüli-Soße. »Lecker« und »So ein Mist«, wetterte er, während er das Wasser abdrehte und die Herdplatten abschaltete. Er schloss die Küchentür, damit sich der Rauch nicht in der ganzen Wohnung verteilte.

Lady Jeremy war aus der Küche geflüchtet und saß draußen auf dem Balkon und schaute ihn verwirrt an. Er ging zurück in die Küche, nahm den Fressnapf und stellte ihn auf den Balkon. Er trank einen Schluck Bier und wählte die Nummer von Nicolic.

»Also«, begann Nicolic, »bei den Fingerabdrücken gibt es etwas Merkwürdiges. Wir haben alle gefundenen Abdrücke durch den Zentralcomputer laufen lassen und haben eine Person identifiziert.«

»Na sag schon Jakob, welcher Schwerverbrecher ist es?«

»Das ist es ja«, antwortete Nicolic, »Es ist kein Verbrecher; es sind die Fingerabdrücke eines 16-jährigen Jungen, oder besser gesagt er war 16, als die Fingerabdrücke gespeichert wurden. Das ist mittlerweile jedoch 17 Jahre her. Der junge Mann hieß Patrick Langer und gilt seit 17 Jahren als vermisst. Den Ermittlungsbericht müsstet ihr beim LKA anfordern.«

»In Ordnung Jakob, ich werde heute Abend noch Deinen Bericht lesen und wir sehen uns dann morgen um acht bei Gärtner, hat er dir schon Bescheid gesagt?«

»Klar, also bis morgen.«

Während Kunkel den Rechner startete, schrieb er Tobi eine SMS: »Bring bitte zwei Döner mit, Essen schmeckt nicht!« In seinem Postfach waren zwei Nachrichten, einmal der Newsletter von Borussia Dortmund und die Mail von Nicolic. Keine Nachricht vom Hotel. Kunkel lud die Pdf-Datei aus der Mail von Nicolic herunter und druckte sie aus.

Lady Jeremy hatte mittlerweile ihren Napf leer gefressen und räkelte sich auf der Couch. Die Luft in der Küche war wieder einigermaßen erträglich. Er schenkte sich ein Glas kalten spanischen Rosé ein, setzte sich mit den Papieren in seinem Zimmer aufs Bett und begann zu lesen.

Nach einer Seite aus dem Bericht von Nicolic zum Tathergang war er eingeschlafen.