Freitag

Von Hainburg saß bereits um 6.30 Uhr am Frühstückstisch in seiner Villa im Berliner Nobelviertel Dahlem. Es gab Rührei mit Speck und Würstchen, dazu eine Kanne starken Kaffee. Rührei mit Speck und Würstchen gönnte er sich immer, wenn er ohne seine Frau frühstückte, da sie ihn immer mit vorwurfsvollem Blick an seine Cholesterinwerte erinnerte, wenn er sie bei ihrer Hausdame bestellte. Seine Frau war für ein paar Tage zu ihrer Tochter nach Münster gefahren, die dort studierte.

Während der zweiten Tasse Kaffee überflog er kurz die Wirtschaftsteile der Tageszeitungen und freute sich, dass die gestrige Pressekonferenz im Berliner Rathaus zu seinem neuen Großprojekt überwiegend eine positive Resonanz erhalten hatte.

Bis auf einige nervige Reporter, die ihre Informationen wohl von der Bürgerinitiative »Pro Naturschutz e.V.« bekommen hatten, wiederholten alle anderen in ihren Beiträgen nur die von seinem Kommunikationsvorstand vorbereiteten Pressemeldungen, mit kleinen Veränderungen natürlich. Das Presseessen für geladene Gäste am letzten Wochenende mit anschließendem nettem Beisammensein im Nobelclub hatte also seine Wirkung nicht verfehlt.

Es sollte sein bisher größtes Entwicklungsprojekt werden. Auf einem ehemaligen militärisch genutzten Gelände der Nationalen Volksarmee unmittelbar an der B96a am südlichen Berliner Stadtrand in direktem Umfeld des neuen Großflughafens Berlin, würde seine Gesellschaft einen Logistikpark mit über 100 000 m2 Gesamtnutzfläche errichten; dazu mehrere exklusive Bürogebäude nahe dem angrenzenden Naturschutzgebiet. Dazu mussten einzelne Gebäude, die zum Teil unter Denkmalschutz standen, abgerissen werden. Andere Gebäude, wie die Flugzeughallen und der Tower sollten erhalten bleiben.

Bislang waren die Gespräche mit den Verantwortlichen der Stadt erfolgversprechend; lediglich die Bürgerinitative hatte wieder einmal ihre schärfste Hündin, die Dipl. Ökologin Petra Grüneburg auf ihn angesetzt, um ihm in die Suppe zu spucken. Nicht nur, dass sie das Bebauungsplanverfahren mit zahlreichen Umweltverträglichkeitsgutachten torpedierte, sie schien auch über interne, geheime Informationen zu dem Projekt zu verfügen, die ihn immer wieder in Erklärungsnöte bei den öffentlichen Terminen brachten. Bisher hatte er jedoch noch nicht die undichte Stelle in seinem Unternehmen ausgemacht; darum wollte er sich als Nächstes kümmern.

Jetzt würde er sich erst einmal mit Dr. Weingart, einem der zukünftigen Hauptinvestoren, auf dem Gelände treffen, um mit ihm die Pläne für dessen neues Bürogebäude zu besprechen.

Seine Armbanduhr zeigte schon 7.00 Uhr und um 8.00 Uhr waren sie verabredet. »Der frühe Vogel fängt den Wurm«, pflegte er immer zu sagen. Er nahm seine Aktentasche aus dem Arbeitszimmer, ließ sich von seinem Fahrer in der abgedunkelten schwarzen Limousine nach Bohnsdorf fahren und stieg am Hauptzugangstor des Baugeländes aus. Es war kalt, er klappte den Kragen seines dunklen Lodenmantels nach oben.

Das Gelände war mit Zäunen rundherum gesichert, ein örtlicher Sicherheitsdienst hatte in seinem Auftrag die Überwachung übernommen und ein schwarzer Schrank in Uniform erwartete ihn bereits. »Heute sind Sie aber wieder früh, Chef«, sagte der Schrank und öffnete für ihn das Haupttor.

»Guten Morgen«, erwiderte von Hainburg. Er beachtete ihn kaum und ging an ihm vorbei in Richtung Flugzeughallen; am Himmel vernahm er ein Rotorengeräusch. Weingart war im Anflug.

Von Hainburg öffnete die Tür zu einer der Hallen und ging hinein. Hier konnte er warten, geschützt vor der Kälte und dem Wind, den die Rotorenblätter verursachten. Es war stockdunkel, er tastete nach dem Lichtschalter. Er drückte den Schalter, aber das Licht funktionierte nicht. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Die Halle war leer, nur ein olivgrüner Armeejeep stand in der Mitte des Hangars und einige zurückgelassene, verrostete Gerätschaften, lehnten an den Wänden.

Das Rotorengeräusch wurde ohrenbetäubend laut; der Bell Jet Ranger von Weingart setzte zur Landung an. Die Tür krachte vom Wind gegen die Wand und flog dann zurück ins Schloss. Hinter dem Jeep bewegte sich etwas. Ein Schatten trat hervor und ging auf ihn zu. »Hallo? Wer sind Sie? Was machen Sie hier?«, schrie er.

Urplötzlich spürte er einen dumpfen Schmerz im Bauch. Von Hainburg sackte zusammen. Er fiel nach vorne auf die Knie, krümmte sich, schaute nach oben, als ein zweiter Schuss ihn in die Brust traf. Er schleuderte zurück, sein Kopf schlug hart auf den staubigen Betonboden. Den dritten und vierten Schuss spürte Karl Friedrich von Hainburg nicht mehr.

Kunkel saß seit 8.00 Uhr in seinem Büro und ging in Gedanken seine bisherigen Ermittlungsergebnisse durch. Ich muss die Dinge ordnen, dachte er. Wir müssen unbedingt herausfinden, wer die Frau ist, die am Abend im Wilhelm-Beer-Weg abgestiegen ist, und ob sie mit Weishaupt verabredet war. Und wir haben den unbekannten Geschäftsmann, mit dem sich Weishaupt in dem Hotel getroffen hat. Vielleicht konnte der Projektmanager Martin dazu etwas sagen. Gab es weitere Zeugen, die etwas beobachtet hatten? Es klopfte an seiner Tür und Nicolic steckte seinen Kopf rein. Er zeigte auf seine Uhr und verschwand wieder. Es war kurz vor zehn. Kunkel packte seine Unterlagen zusammen und ging ins Besprechungszimmer, in dem Wolf Gärtner, Lakmann und Nicolic schon auf ihn warteten.

Juliane zog mechanisch ihre zerschlissenen Laufschuhe vor der Terrassentür aus und betrat das Wohnzimmer. Es war kurz nach neun und die Mädchen waren alle ausgeflogen. Um elf Uhr hatte sie den Termin. Sie ging hinauf ins Badezimmer, zog ihre durchschwitzten Laufklamotten aus und pfefferte sie auf den riesigen Wäscheberg, der sich in der Ecke des Badezimmers türmte.

Schnell stieg sie unter die Dusche und drehte das warme Wasser auf. Sie spürte, wie sich ihre Muskeln entspannten, und genoss das wohlige Gefühl, das sich bei ihr immer nach dem Laufen einstellte. Manchmal dachte sie, dass sie eigentlich nur lief, weil sie sich danach so wunderbar schön, stark und unverletzlich fühlte. Zumindest für die nächsten zwei Stunden.

Sie dachte an den Termin im Frankfurter Kommissariat. Gott sei Dank nahmen nur dieser Herr Wolf und ein Kollege an dem Gespräch teil und es war keine große Gesprächsrunde. Viele Menschen in einem Raum hatten ihr schon immer sehr zu schaffen gemacht. Auch noch vor ihnen zu reden, war fast die Höchststrafe. Juliane hatte sich des Öfteren verzweifelt gefragt, warum sie bloß einen Beruf gewählt hatte, der sie mit schöner Regelmäßigkeit dazu zwang, vor fremden Menschen zu sprechen.

Sobald sie reden musste, alle Blicke auf sich gerichtet fühlte, geschah es: Zunächst spürte sie, wie ihr warm wurde, dann begann ihr Gesicht zu glühen und Ihre Wangen färbten sich mit Sicherheit von Pastellrosa bis hin zu dem kräftigen Rot einer ausgereiften Tomate, zumindest, wenn die Hitze in ihrem Kopf ein Gradmesser für die Färbung in ihrem Gesicht war.

Das Schlimme daran war, obwohl sie gar keinen Grund hatte, so rot zu werden – sie beherrschte ihr Fachgebiet und wusste, was sie sagen wollte – passierte es dennoch. Allein das Gefühl, dass alle Gesichter sich ihr zuwandten, reichte dafür aus.

Wie würde es diesmal sein? Was sollte sie anziehen? Sie entschied sich für ihre dunkelblaue Lieblingsjeans und eine weiße Bluse sowie den türkisfarbenen Kaschmirpullover, den sie sich zum letzten Geburtstag geschenkt hatte.

Kurz nach zehn machte sie sich auf den Weg nach Frankfurt, nachdem sie den Mädchen noch einen Zettel geschrieben hatte, dass sie nicht wüsste, wann sie zurückkommen würde, und sie sich von den zwanzig Euro, die sie auf dem Tisch deponiert hatte, etwas zum Mittagessen kaufen sollten.

Wolf Gärtner und Paul Kunkel saßen im Besprechungsraum. Nicolic und Lakmann waren, bereits mit neuen Aufgaben betraut, gegangen. Das Obduktionsergebnis von Dr. Schenkelberg bestätigte, dass Weishaupt am Abend seines Todes noch Geschlechtsverkehr gehabt hatte. Ein Vergleich der DNA-Proben im Zentralcomputer hatte kein Ergebnis gebracht. Nicolic hatte im Computer und in den Unterlagen von Weishaupts Büro, die Kunkel ihm überlassen hatte, nichts Außergewöhnliches gefunden. Lakmann hatte den Taxifahrer für ein Phantombild ins Präsidium bestellt und versuchte nach wie vor einen Kontakt zu dem Projektleiter der CIP herzustellen. Die Konten von Weishaupt hatten keine besonderen Unregelmäßigkeiten gezeigt, außer dass er regelmäßig alle zwei Monate einen größeren Geldbetrag abgehoben hatte, zuletzt am Dienstag. Die Anfrage beim Finanzamt lief noch.

Paul studierte gerade seine Notizen in dem kleinen schwarzen Buch, als es klopfte und Juliane Freund den Raum betrat. Ihre Blicke trafen sich. Er spürte, dass er unsicher wurde, und senkte den Kopf, als ob er etwas in seinem kleinen schwarzen Buch suchen würde. Er bemerkte, dass Gärtner neben ihm aufstand, und hörte so etwas wie eine Begrüßung und seinen Namen. »Paul, möchtest du die Kollegin nicht begrüßen?, Paul?«

Er brachte keinen Ton heraus, als sie sich die Hand gaben. Wie zugeschnürt dachte er. Gärtner musterte ihn und bat Frau Freund einen Stuhl an. Jetzt reiß dich zusammen, dachte Paul. »Ich komme gleich wieder«, entschuldigte er sich und verließ fluchtartig den Raum. Juliane Freund und Wolf Gärtner schauten ihm verdutzt nach.

Er lief über den Flur ins gegenüberliegende WC. Was war mit ihm? Sein Herz klopfte, seine Hände zitterten. Das kann nicht sein, dachte er, drehte den Wasserhahn auf, spülte sich mehrmals Wasser ins Gesicht. Langsam beruhigte er sich. »Wenn du aufgeregt bist, musst du tief Luft holen und langsam ausatmen«, hatte seine Mutter ihm früher gesagt, wenn er ihr von seinen Ängsten erzählte. Da war er aber 14 Jahre alt und meistens ging es dann um Schulprüfungen.

Er holte noch einmal tief Luft, trocknete sein Gesicht und schaute in den Spiegel. Mach deinen Job Kunkel, das kannst du doch. Er ging zurück, hielt einen Moment vor der Tür des Besprechungsraums inne, atmete tief ein und aus, drückte dann entschlossen die Türklinke herunter. »Es tut mir leid«, sagte er, während er die Tür schloss und den direkten Blickkontakt mit beiden vermied. »Ich musste mal kurz raus.«

Wolf beäugte ihn kritisch. »Alles O.K.?«»Ja, es geht wieder, der Magen, hab gestern wohl etwas Falsches gegessen.«

»Gut, dann können wir ja jetzt das Gespräch beginnen. Frau Freund hat uns die Unterlagen zum Fall Patrick Langer mitgebracht, sie werden gerade kopiert. Paul, gib uns doch einen kurzen Überblick über den Stand der Ermittlungen.«

Paul fasste in kurzen Sätzen die Erkenntnisse vom Tatort und die bisherigen Ermittlungen zusammen. Nach einigen Minuten hatte er seine Sicherheit wieder gewonnen und schaute Juliane das erste Mal direkt an. Sie hörte interessiert zu und lächelte.

Gärtner befand die Ausführungen von Paul zunächst als ausreichend und unterbrach mit einem Fingerzeig: »Frau Freund, wenn Sie so freundlich wären und uns nun Ihre Einschätzung zu dem Fall geben könnten?«

Gerade, als sie beginnen wollte, klopfte es, und Lakmann steckte seinen Kopf durch die Tür. »Was ist denn jetzt schon wieder?«, raunzte Gärtner ihn an, der sichtlich genervt war durch die Unterbrechung.

»Sie wollten doch die Unterlagen kopiert haben«, entschuldigte sich Lakmann, während er Gärtner die Kopien überreichte und wieder verschwand.

Gärtner setzte wieder an »Also nun zu Patrick Langer. Was könnte er mit dem Fall zu tun haben? Vielleicht ein Verwandter?«

»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Juliane, »Wir haben damals in alle Richtungen ermittelt. Auch ein Sexualverbrechen wäre möglich gewesen, bis gestern. Der Name Weishaupt ist bei den Ermittlungen nie aufgetaucht.«

Gemeinsam gingen sie die Ermittlungsakten durch, die Juliane mitgebracht hatte.

»Wir müssen wissen, wie Patrick heute aussehen könnte«, sagte Paul.

Juliane antwortete schnell: »Wir haben beim LKA ein neues Computerprogramm, das könnte ich übernehmen.«

»Sehr gut«, antwortete Gärtner, »Sie übernehmen das; dann müssen wir nur noch die Aussagen bei der Pressekonferenz festlegen, bevor wir an die Arbeit gehen. Ich denke, wir sollten noch nichts Konkretes über Patrick Langer berichten. Ich bereite da etwas vor.«

»Leben eigentlich noch Angehörige von Patrick?«, fiel es Paul ein und schaute Juliane an.

»Seine Mutter ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als Patrick vier Jahre alt war«, antwortete sie, »und sein Vater ist vor 10 Jahren an einem Gehirntumor gestorben. Geschwister hat er keine. Es gab noch einen Bruder seines Vaters in Hamburg. Der müsste jetzt um die 70 Jahre alt sein.«

Es war halb eins, als Juliane das Polizeipräsidium verließ. Sie fühlte sich stark und befreit. Das Gespräch mit Wolf Gärtner und Paul Kunkel war vorüber und sie war nicht vor Aufregung rot geworden. Vielleicht lag es daran, dass sie so überrascht war, als sie die Unsicherheit von Paul Kunkel bei der Begrüßung gespürt hatte, vielleicht aber auch, weil das Gespräch ganz anders verlaufen war, als die gedacht hatte. Sie hatte sich als Teil eines Teams gefühlt, erinnert an ihre früheren Zeiten als Chefin der Personenfahndung beim LKA.

Gärtner hatte ihr beim Hinausgehen zugesagt mit ihrem Chef zu sprechen und sie als Unterstützung anzufordern, bis sie Klarheit über die Verbindung von Patrick Langer zu dem Mordfall hatten.

Sie startete den Wagen, der Boxermotor ihres Käfers knatterte los. Im Radio spielten sie Katie Melua, »Better than a dream«. Das passte.

Auf dem Weg nach Hause hielt sie im Supermarkt und kaufte alles für Spinatlasagne ein, das Lieblingsgericht der Mädchen. Dazu eine Flasche spanischen Rosé. Heute würde sie etwas feiern.

Paul hatte nach der Besprechung noch lange in seinem Büro gesessen, die Füße auf dem Schreibtisch und sich gefragt, was mit ihm passiert war. Sein Handy klingelte. Tobi weckte ihn aus seinen Gedanken.

»Hallo Papa?«

»Wer sonst?!«

»Wann kommst du heute und was gibt es zu essen?«

»Ist von gestern schon alles weg?«

Er hatte keine Lust zu kochen. Er hatte überhaupt keinen Hunger, obwohl er schon seit Stunden nichts gegessen hatte.

»Ja, haben Taylor und ich heute Mittag aufgegessen.«

»Prima, dann bringe ich etwas von Pino mit, ich komme so um fünf.«

Die Uhr auf seinem Computer zeigte halb zwei. »Ach du Scheiße, ich wollte den Journalisten anrufen.« Er wählte die Nummer, aber wieder nur die Mailbox. Die Pressekonferenz fiel ihm ein. Und, dass er Karsupke versprochen hatte, ihm bis 10.00 Uhr den Pressetext zu schicken. Er wählte seine Nummer. Wieder nur die Mailbox.

Es klopfte und Wolf Gärtner trat ein. »Was war denn eben los mit dir?«, fragte er mit einem süffisanten Unterton. »Warst wohl etwas geblendet?«

»Quatsch, mir geht es wirklich nicht so gut. Wolf, kannst du die Pressekonferenz nicht alleine machen, ich glaube, ich muss mal zur Apotheke«, log er.

Gärtner schaute ihn lange an und nickte dann. »O.K., dann hau mal ab, ich schaffe das schon alleine.« sagte er und wandte sich zur Tür.

»Du kannst mir ja dann den Pressetext schicken«, rief Paul ihm nach. Gärtner hob den Daumen und schloss die Tür hinter sich.

Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Immer wieder ging ihm das Gespräch am Vormittag durch den Kopf. Ich muss noch mal ins Haus, dachte er. Vielleicht hat Nicolic etwas übersehen, was uns weiterbringt. Kurzerhand packte er seine Sachen zusammen, ließ sich von Lakmann den Schlüssel geben und verließ kurz vor zwei das Präsidium. Die sibirische Kälte zeigte ihr Gesicht.. Er klappte den Kragen seiner Lederjacke nach oben und lief zu seinem Auto. Auf dem Weg in den Wilhelm-Beer-Weg hielt er an der Apotheke und kaufte eine Packung Naproxen, das Allheilmittel gegen jede Form von Gelenkschmerzen. Er hatte vor, am Samstag mit dem Rad eine große Mainrunde zu fahren und dafür musste er vorbereitet sein. Davor und danach.

Meistens nahm er vorher eine Tablette, damit er die Schmerzen beim Fahren nicht so spürte und anschließend nochmals eine, damit die Schmerzen nicht wiederkamen. Kurz nach drei parkte er den Volvo am Anfang der Straße und lief die 200 Meter zum Haus. Fenster wurden geschlossen und Gardinen zugezogen. Man war immer noch geschockt von dem Vorfall in der noblen Gegend. Während er das Siegelband an der Haustür öffnete, fragte er sich, wo das Auto von Weishaupt stand, und fand es nach kurzer Suche in der Garage, die durch eine eiserne Brandschutztür mit dem Haus verbunden war. Er rief Nicolic an.

»Habt ihr den Wagen auch untersucht?«, fragte er unvermittelt als Nicolic sich meldete

»Ja, haben wir«, antwortete der Leiter der Spurensicherung genervt, offensichtlich fühlte er sich in seiner Berufsehre etwas gekränkt. »Wir haben nur seine Fingerabdrücke am und im Auto gefunden, es scheint, als ob er den Wagen nur alleine benutzt hat. Keine Besonderheiten; lediglich im Kofferraum einiges Handwerkszeug und diese gelben Gummistiefel, waren noch nass mit einigen Betonresten.«

»Betonreste?!«, Kunkel bemühte sich um Höflichkeit. »Sag mal Jakob, meinst du, es ist möglich herauszufinden, ob es sich dabei um WU-Beton handelt?«

»WU-Beton, hast wohl einen Kurs in Bauphysik belegt«, lachte der, »Theoretisch schon, ich kann es versuchen, weiß aber nicht, ob die Menge ausreicht.«

»Gut«, antwortete Paul, »Ich bringe dir die Stiefel mit, bin gerade im Haus und versuche den Tathergang noch einmal zu recherchieren.«

»Dann viel Erfolg«, sagte Nicolic und legte auf.

Kunkel fand einen von den gelben Säcken auf der Rolle, packte die Stiefel hinein und stellte den Sack an den Hauseingang. Vom Flur aus ging er nochmals alle Zimmer ab und verweilte in jedem Raum einige Minuten. Was für ein Mensch mochte Weishaupt gewesen sein. Offensichtlich sehr einsam. Er fand keinerlei Fotos an den Wänden, keine persönlichen Gegenstände, nichts was ihn an frühere Zeiten oder Angehörige erinnern konnte.

Ein alternder Mann, der mit seiner Arbeit verheiratet war. Er ging ins Obergeschoss und setzte sich an den leeren Schreibtisch. Das gibt es doch nicht, dachte er, es muss doch irgendetwas geben, jeder hat irgendwo sein Geheimnis. Sein Blick wanderte durch das Fenster nach draußen und fiel auf den kleinen Gartenschuppen.

Er ging hinaus, die Tür des Schuppens war nicht verschlossen. Auch hier peinliche Sauberkeit, die Gartengeräte ordnungsgemäß an der Wand verstaut, kaum benutzt. Ein Elektrorasenmäher mit Fangkorb stand in der Ecke. Auch nichts. Er schloss die Tür, zündete sich eine Zigarette an und rauchte auf der Terrasse. Den Stummel drückte er mit den Schuhen auf dem Boden aus.

Er verschloss die Terrassentür, packte die Tüte mit den Stiefeln und klebte ein neues Siegel über die Haustür. Es war halb vier, als er losfuhr.

Bei Pino angekommen, hielt er kurz und schaute durch die Scheibe. Karsupke war nicht da, wahrscheinlich war er stinksauer, aber er konnte ja nichts dafür, schließlich hatte er den Pressetext selbst noch nicht vorliegen. Paul hatte Glück, er fand auf Anhieb einen Parkplatz in der Nähe der Wohnung. Es war erst vier Uhr und einige Nachbarn kamen wohl erst später nach Hause. Pino hatte Lasagne auf der Speisekarte und Paul bestellte zwei Portionen zum Mitnehmen. Während Pino das Essen zubereitete, setzte er sich mit einem Espresso an den Tisch und beobachtete die vorbeilaufenden Passanten. Es war Wochenende und sie hasteten durch die Kälte nach Hause, eingemummelt, viele mit dem Handy am Ohr.

»Auf die Kälte einen Grappa?«, hörte er Pino sagen, der sich mit zwei Gläsern neben ihn gestellt hatte.

»O.K., aber nur einen«, antwortete Paul in Erinnerung an den letzten Grappa Abend, der auch so angefangen hatte und mit einem betrunkenen Kunkel nachts um halb zwölf seinen Abschluss gefunden hatte. »Tobi wartet auf sein Essen!« Es blieb bei einem Grappa. Er fand zwei Briefe im Briefkasten.

Tobi war noch nicht da, nur Lady Jeremy machte mit einem lauten Maunzen auf ihren unbändigen Hunger aufmerksam. Er zerkleinerte Ihr die letzte Packung Pastete vom Huhn, während sie um seine Beine strich. Der obligatorische Dank für die Mahlzeit war ein energisches Köpfchengeben, während er die Schüssel auf den Boden stellte. Nach einer ausgiebigen Dusche ging es ihm besser.

Er schaltete das Radio ein. In den Lokalnachrichten um 17.00 Uhr kam eine kurze Meldung zu dem Fall, jedoch kein Bericht aus der Pressekonferenz. Nachdem er den Rechner hochgefahren hatte, bestätigte ihm der Pressetext, dass Wolf Gärtner nur das Notwendigste mitgeteilt hatte. Er leitete den Pressetext an Karsupke weiter, obwohl der ihn sicherlich schon längst vorliegen hatte.

Seine Tochter Lea hatte ihm geschrieben. Sie war inmitten ihrer Vorbereitungen für die Abgabe ihrer Bewerbungsmappe bei der Hochschule der Künste und der Umzug in die erste eigene Wohnung mit einer Freundin stand bald bevor. Sie fragte, ob er ihr beim Umzug helfen könnte, sie wüsste zwar noch nicht genau wann, wollte aber schon mal nachfragen. Und ob er die Kaution vorstrecken könne, sie würde es ihm abbezahlen, sie habe einen Job in einem Café. Paul hatte Tränen in den Augen, als er ihr zurückschrieb. Obwohl er noch nicht wusste, wie er es anstellen sollte, an das Geld zu kommen, schrieb er ihr, dass er selbstverständlich die Kaution übernehmen würde, und dass er sich freue, wenn sie sich meldete und das er hoffte, dass es ihr gut ging und er ihr viel Glück für die Bewerbung wünsche.

Er nahm ein Bier aus dem Kühlschrank, setzte sich in seiner Jacke auf den Balkon und steckte sich eine Zigarette an. In den Nachrichten hatten sie über die Kältewelle berichtet und an einigen Stellen im Main war bereits der Schifffahrtsverkehr eingestellt worden. Das wird ja lustig morgen, dachte er sich und überlegte, wo er die Fleece-Pullover verstaut hatte.

Tobi kam um sechs und sie aßen die aufgewärmte Lasagne.

»Wie war’s in der Schule?«

»Gut.«

»Und was habt ihr so gemacht?«

»Was sollen wir schon gemacht haben?«

»Eventuell habt ihr ja eine Arbeit geschrieben oder zurückbekommen?«

»Willst du mich jetzt kontrollieren?«

»Vielleicht interessiere ich mich für das, was du machst?«

»Ich gehe heute Abend noch weg!«

»Wohin?«

»Auf eine Party?!«

»Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen. Ich möchte wissen, wohin, wie lange und mit wem? Wenn du mir diese Fragen nicht vernünftig beantworten kannst, bleibst du zu Hause, so einfach ist das!«

»Dann gehe ich eben nicht!«

Tobi stand auf und verschwand die Tür knallend in seinem Zimmer. »Dann eben nicht«, dachte Paul »Dann scheint es auch nicht so wichtig gewesen zu sein.« Wohl wissend, dass dieses Thema noch nicht zu Ende war.

Und so war es auch. Paul hatte es sich gerade auf der Couch gemütlich gemacht, als Tobi ausgehfertig im Wohnzimmer erschien.

»Ich gehe mit Taylor auf eine KS Party und bin um zwölf wieder da.«

»Um halb zwölf und du lässt Dein Handy an, damit ich dich erreichen kann.«

»Warum um halb zwölf, Taylor darf auch bis zwölf.«

»Weil ich es sage, bis später.«

Geht doch, dachte Paul. Im Fernsehen zeigten sie einen Krimi. Er amüsierte sich immer, wie es die Regisseure schafften innerhalb von eineinhalb Stunden einen komplizierten Mordfall oder mehrere Tötungsdelikte mehr oder weniger spannungsaufbauend zu inszenieren.

Oft schon hatte er schon nach einer halben Stunde den Täter anhand einer nebenbei gefallenen Äußerung ermittelt. Die Amerikanischen mochte er nicht und die Schwedischen waren ihm oft zu brutal und abgehoben. Die Tatorte aus Münster mochte er, allerdings nicht nur wegen der Story, sondern aufgrund der Gegensätzlichkeit der ermittelnden Beamten. Insbesondere der Rechtsmediziner hatte etwas Ähnlichkeit mit Dr. Schenkelberg, wenn der auch keinen Sportwagen fuhr, sondern einen alten grünen Mercedes . Nachdem er den Täter nach 20 Minuten ausfindig hatte, machte er sich zur Belohnung eine Flasche Rosé auf und trank einen tiefen Schluck. Am Ende des Films hatte die ganze Flasche geleert, den falschen Täter ermittelt und war ziemlich betrunken.

»So ein Mist, das hätte auch der andere sein können«, hörte er sich selbst reden und ging leicht schwankend in die Küche. Lady Jeremy verlangte nach Futter und er stülpte eine ganze Packung unzerkleinert in den Fressnapf. Die Hälfte fiel daneben und Lady Jeremy schaute ihn verwundert an. »Der Boden ist sauber, kannst auch davon fressen«, sagte er und ging ins Schlafzimmer. Auf dem Bett lag noch sein Pistolenhalfter mit seiner Dienstwaffe. »Ach du Scheiße«, ärgerte er sich über seine Disziplinlosigkeit, packte die Pistole in den Tresor und legte sich aufs Bett.

Mittlerweile hatten sie in einer der Talkshows wieder die Diskussionsrunde um die Vor- und Nachteile von Leihstimmen entfacht.

»Das kotzt mich alles an«, dachte er. »Entweder man entscheidet sich für die eine oder die andere Partei.«

Am nächsten Morgen wachte er mit einem Brummschädel auf. Es war acht Uhr und auf dem Weg ins Bad erkannte er an den abgestellten Schuhen und der schwarzen Carhartt-Jacke, dass Tobias wohl sicher nach Hause gekommen war.

Der Blick in den Spiegel war grauenhaft. Er wusch sich kurz das Gesicht und begab sich auf die Suche nach seinen Radklamotten. Nach zehn Minuten war er angezogen.

In der langen schwarzen Radfahrhose, dem dicken blauen Fleecepulli und der brasilianischen Fußballmütze, kam er sich lächerlich vor, aber mit der dunklen Sonnenbrille sah er schon wieder gefährlich aus. Auf dem Weg in den Keller hörte er, wie die Haustür bei Familie Probst geschlossen wurde. Wahrscheinlich war einer der Briefe von gestern das Schreiben der Hausverwaltung und Herr Probst hatte gelauscht, ob er sich schon darüber aufgeregt hatte. Paul bugsierte das blaue 28er-Crossrad die Treppe hoch und fuhr langsam Richtung Main.

Er fror schon bei den ersten Metern und zog sich das grünfarbene Halstuch mit dem Che Guevara Konterfei über die Nase. Die Kälte und der frühe Samstag hatten noch nicht viele Menschen auf die Straße gelockt, doch die wenigen, denen er begegnete, schienen ihn nach ihrem verwunderten Blick eher für einen Außerirdischen zu halten.

Nach 15 Minuten erreichte er seine Radfahrstrecke am Main. Dort, wo sonst Schiffe fuhren, schwammen Eisschollen. Der Schiffsverkehr war komplett eingestellt worden. Er musste höllisch aufpassen, der Radweg war an einigen Stellen spiegelglatt. Die Kälte wurde unerträglich. Der Fahrtwind ließ den Atem hinter dem Tuch gefrieren. Lange halte ich das nicht aus, dachte er. In einer Bucht hatte ein blau-weißer Frachter mit dem Namen Katharos festgemacht; es schien so, als ob er sich vor der Kälte duckend in Sicherheit gebracht hatte.

Es war nur ein Moment der Unachtsamkeit. In einer leichten Kurve rutschte er mit dem Vorderreifen weg. Bei dem Versuch sich noch abzustützen, verhakte sich sein Fuß zwischen den Pedalen. Er überschlug sich, knallte auf den gefrorenen Teerboden, schrie laut auf, rutschte weiter gefährlich in Richtung Mainböschung. Ein Strauch an der Böschung stoppte ihn. Sekunden, die ihm jedoch wie Minuten vorkamen, lag er unbeweglich am Ufer. Mühsam raffte er sich auf und sondierte seinen Körper. Die Radlerhose war aufgerissen, eine Schürfwunde leuchtete rot am Knöchel. Die rechte Schulter tat ihm weh, aber offensichtlich hatte er sich nichts gebrochen.

Ein anderer Radfahrer hielt an und fragte, ob er helfen könne. Paul verneinte. Das Rad war noch intakt, wenn auch völlig verdreckt und am Sattel aufgerissen. Er schob das Rad die Böschung hinauf und machte sich auf den langen und kalten Weg nach Hause. In seiner Verkleidung und derartig zugerichtet bot er ein noch skurrileres Bild für die Passanten. Als er zuhause ankam, bemerkte er, dass er seinen Schlüssel verloren hatte, den er in seiner rechten Socke verstaut hatte. Der Vorhang in der Probst Wohnung bewegte sich, als er klingelte und nach einigen Sekunden meldete sich Tobi:

»Ja bitte?«

»Ich bin es, mach bitte auf.«

»Hast du keinen Schlüssel?«

»Würde ich sonst klingeln?«

Der Türöffner summte, Paul stellte das Rad vor dem Keller ab und schleppte sich nach oben. »Was hast du denn gemacht?«, wunderte sich Tobi, doch Paul antwortete nicht, schlug die Haustür hinter sich zu und verschwand wortlos im Bad.

Nach einer Stunde in der Badewanne fühlte er sich etwas besser. Er hatte seine Wunden gepflegt und sah wieder halbwegs wie ein normaler Mensch aus. Sein Knie schmerzte, er nahm eine Tablette und legte sich auf die Couch.

Er berichtete Tobi von seinem Sturz und gab ihm den Auftrag nach dem Schlüssel zu suchen. Tobi rief Taylor an und machte sich nach einer genauen Erklärung des Unfallortes auf den Weg. Kurze Zeit später schlief er auf der Couch ein. Als er aufwachte, war es drei Uhr nachmittags.

Den Rest des Tages lümmelte er sich auf der Couch, aß zwischendurch etwas und schlief immer wieder ein. Tobi kam um sieben vom Fußballspiel, sie hatten 2:0 gewonnen im Lokalderby gegen den FSV. Und er hatte den Schlüssel gefunden. Na wenigstens ein positives Ereignis an diesem Tag, dachte Paul und raffte sich auf, um etwas fürs Wochenende einzukaufen.

Er humpelte zum Supermarkt und kaufte Kartoffeln und Hackfleisch, eine Tüte Tiefkühlgemüse und einige Sachen fürs Frühstück. Sonntags nahm er sich die Zeit, ausgiebig mit Tobi zu frühstücken. Vor dem Weinregal überlegte er kurz, ob er noch eine Flasche mitnehmen sollte, entschied sich aber in Erinnerung an den vorherigen Abend dagegen. In der Apotheke an der Bockenheimer Landstraße kaufte er eine Flasche Nasenspray, das war schon zur Gewohnheit geworden, damit er nachts überhaupt Luft bekam. Endlich hatte auch die Apothekerin eingesehen, dass der ständige Hinweis auf die Möglichkeit davon abhängig zu werden bei ihm nicht auf Verständnis traf; er schaute sie nur wissend an und sie machte seit einigen Wochen auch keine Anstalten mehr, ihn zu belehren.

Er machte Buletten und Bratkartoffeln, dazu das Tiefkühlgemüse. Sie aßen auf der Couch und schauten einen Western. Noch vor dem aktuellen Sportstudio ging er ins Bett und schlief wie ein Murmeltier.