Irgendwann in der Nacht schreckte er hoch; schaute sich um. Wo war er? Auf jeden Fall nicht zu Hause. Er lag komplett angezogen immer noch im Hotelbett und hatte geträumt. Geträumt, dass Juliane noch in Berlin war. Er hatte sie gesehen. Im KADEWE. Sie stand eng umschlungen in den Armen von Phillip Mauser an einer Schmuckauslage. Sie schauten sich Ringe an. Juliane lächelte. Er wollte gerade gehen, als sie sich umdrehte. Sie winkte ihm zu.
»Hallo Paul, das ist aber schön. Wollte dich gerade anrufen. Pia geht es gut. Hat nur eine leichte Gehirnerschütterung. Ich bin doch nicht geflogen. Sehen uns morgen.«
Dann drehte sie sich wieder um und probierte einen Ring, den die Verkäuferin bereitgelegt hatte. Phillip Mauser schaute ihn über ihre Schulter an und küsste sie auf den Kopf.
Sein Herz pochte wie ein Dampfhammer, Kunkel fühlte sich wie dreimal durch die Mangel gedreht. Er zog sich aus, ging ins Bad und stellte sich unter die Dusche. Erst heiß und dann kalt. Eiskalt. Es war 6.00 Uhr, als er den Frühstücksraum betrat. Andere Gäste waren wohl auch aus dem Bett gefallen, saßen schon an einigen Tischen. Vertreter in ihren Maßanzügen. Ein älteres Ehepaar. Seinen Trolley hatte er gepackt und an der Rezeption geparkt. Nach zwei Tassen Kaffee ging es ihm besser. Essen wollte er nichts. Er rief Tobi an.
»Hallo?«
»Bist du wach?«
»Ja, seit einer Stunde.«
»Warum schon so früh?«
»Konnte nicht mehr schlafen, die Katze hat an meiner Tür gekratzt.«
»Alles o.k.?«
»Ja, wann kommst du?«
»Heute Nachmittag.«
»Denkst du an die Schuhe?«
»Ja, ich schaue danach. Viele Grüße von Lea.«
»Danke, also ich mach mich jetzt fertig.«
»O.K., bis heute Nachmittag, pass auf dich auf.«
An der Rezeption stand der Kellner vom Abend und musterte ihn kritisch, als er die Rechnung beglich. Demonstrativ schlug Kunkel die Jackenseite zurück, sein Pistolenhalfter kam zum Vorschein. Noch während der Kellner ihn mit offenem Mund anstarrte, zückte er seinen Ausweis. »Kripo, Sie müssen keine Angst haben.« Er drehte sich um und ging grinsend nach draußen. Es war immer noch eiskalt und er beeilte sich, in ein bereitstehendes Taxi zu kommen.
»Wo soll et denn hinjehn?«
»Dahlem, an der Pacielliallee können sie mich irgendwo rauslassen.«
»Is jebongt.«
Haben die alle den gleichen Sprachkurs belegt?, dachte sich Kunkel, aber da erkannte er den Fahrer vom gestrigen Abend.
»Waret jut im Vapiano?«
»Ja, es war gut, sehr gutes Essen, kann man nur empfehlen«, antwortete er kurz und hoffte, das Gespräch sei nun zu Ende. Doch weit gefehlt.
»Jestern hatten wa wieder nen schrecklichen Unfall, janz in der Nähe vom Vapiano. Hamse jedenfalls in der BZ jeschrieben. Eener is aus nem Rohbau jestürzt, abends um neune. Wat der da um die Uhrzeit wollte wes ooch keener. Na jedenfalls is er nich tot. Nur schwer verletzt; hamse jeschrieben.«
»Mmmh«, antwortete Kunkel und hoffte das Gespräch so im Keim zu ersticken. Einige Kilometer hatte er auch Erfolg, doch dann kam der zweite Anlauf.
»Wo wollen se denn raus, am Anfang oder am Ende?«
»Wie meinen Sie das jetzt?«
»Ick mehne, ob ick sie am Anfang, oder am Ende der Pacielliallee rauslassen soll?«
»In der Mitte wäre gut.«
»Hamse Termin dort?«
Jetzt reichte es Kunkel: »Ich denke, dass Sie das nichts angeht, fahren Sie mich einfach dorthin.«
In der Mitte der Pacielliallee angekommen gab es nur noch ein »elffuffzich« und nachdem er Kunkel den Trolley selbst aus dem Kofferraum hatte nehmen lassen, brauste er mir durchdrehenden Reifen davon.
Kunkel hatte einen Plan. Er wollte ins Haus, in dem von Hainburg residiert hatte; vielleicht konnte er auch ein Gespräch mit seiner Frau führen, sozusagen als Kollege der Berliner Beamten. Er war nach wie vor davon überzeugt, dass es einen Zusammenhang zwischen den beiden Morden gab. Warum hatte sich von Hainburg mit Weishaupt in dem Hotel getroffen und nicht auf der Baustelle in der Luisenstraße? Irgendetwas mussten Sie besprochen haben, dass andere nicht hören sollten. Den Journalisten wollte er noch nicht anrufen, es war gerade mal halb acht und Winter schlief bestimmt noch. Ein Piepsen auf seinem Handy kündigte eine SMS an. Sie war von Juliane.
»Guten Morgen Paul, bin jetzt zuhause, war die ganze Nacht bei Pia, aber es geht ihr gut. Hat nur eine leichte Gehirnerschütterung. Habe sie jetzt mit nach Hause genommen. Hoffe Du kommst in unserem Fall weiter. Melde Dich mal, wenn Du wieder da bist. Liebe Grüße Juliane.«
Die Sonne blinzelte am Horizont und Kunkel zündete sich eine Zigarette an, blies den Rauch in den kalten Morgenhimmel und schlenderte mit einem Lächeln durch die Straße.
Als er in den Weg, in der von Hainburgs Villa liegen musste, einbog, sah er einen Pulk von Kameraleuten vor einem Haus stehen. »So ein Mis«, fluchte er leise. »Dann kann ich meine Ermittlung in der Pfeife rauchen.« Mausers gestriges Interview in der Abendschau hatte die Pressemeute auf den Plan gerufen. Sie umlagerten das Haus, es gab keine Chance unbehelligt dort vorbei-, geschweige denn hineinzukommen. Vielleicht war Winter auch dort. Er wählte seine Nummer und schaute zu den Wartenden, ob jemand sein Handy ans Ohr hielt. Es meldete sich nur die Mailbox. Vielleicht kann Karsupke mir etwas erzählen, dachte er und wählte seine Nummer, während er auf dem Absatz kehrt machte und wieder Richtung Pacielliallee lief. Karsupke meldete sich.
»Karsupke, Kunkel hier, ich bin gerade in Berlin und wollte mich mit Herrn Winter treffen. Aber er geht nicht ans Telefon. Können Sie mir sagen, wo ich ihn jetzt erreiche?«
»Dann müssen sie in die Charité, er liegt dort auf der Intensivstation. Ich bin mit dem ersten Flieger gekommen und gerade auf dem Weg zu ihm.«
»Was?«
Karsupke erzählte ihm in kurzen Sätzen von dem Ereignis in dem Rohbau an der Leipziger Straße. Dann war Winter der Schwerverletzte, von dem der Taxifahrer erzählt hatte, ging es Kunkel durch den Kopf. Und die Polizei- und Krankenwagensirenen am vorherigen Abend in der Leipziger Straße hatten ebenfalls dem Unfall gegolten. Oder war es am Ende gar kein Unfall?
»Wo treffen wir uns?«
»Ich habe dort angerufen und mich als Halbbruder ausgegeben. Seine Eltern leben nicht mehr und sonst hat er keine nahen Verwandten. Meine Tarnung könnte auffliegen, wenn wir gemeinsam dort reinplatzen. Ich werde schon einmal vorgehen. Sie kommen sicher mit ihrem Dienstausweis rein. Sie müssen in die Luisenstraße 65 zur dortigen Rettungsleitstelle.«
»O.K., ich versuch‘s. Bis später.«
An der Pacielliallee winkte er ein Taxi heran und hoffte, dass es nicht sein »jebongter« Freund war; doch der hätte wahrscheinlich sowieso nicht angehalten und das Besetztzeichen eingeschaltet.
Sein Fahrer war indischer Herkunft, allerdings berlinerte auch er, wenn auch nicht so extrem wie sein Vorgänger. Als Kunkel ihm aber die Adresse sagte, bemerkte er den Ernst in Kunkels Stimme und verfiel in eine konzentrierte Anspannung. In zwanzig Minuten fuhr er ihn auf dem kürzesten Weg zum Klinikum. Kunkel kam sich vor, als wenn er zur Entbindung seines Kindes gebracht wurde.
Am Eingang der Rettungsleitstelle zeigte er seinen Ausweis und fragte nach Thomas Winter. Er wurde gebeten Platz zu nehmen und nach 5 Minuten erschien ein Gott in Weiß.
»Dr. Milanovic, leitender Oberarzt, worum geht’s, Herr?«
»Paul Kunkel, Kriminalhauptkommissar; wir ermitteln im Zusammenhang mit dem Unfall von Herrn Winter in einem Mordfall, zu dem Herr Winter mir gestern Informationen geben wollte. Leider ist es nicht dazu gekommen und wir vermuten, dass der Unfall in diesem Kontext zu sehen sein könnte.«
Was für ein gequirlter Mist kommt mir da von der Lippe, dachte er.
»Das mag ja sein, aber er ist im Moment nicht vernehmungsfähig. Wir haben ihm starke Schmerzmittel gegeben. Das habe ich ihren uniformierten Kollegen vor einer Stunde auch schon gesagt.«
Uniformiert, dachte Kunkel, dann kann es nicht der Kollege Mauser gewesen sein. Wahrscheinlich eine Routineuntersuchung. Ich muss unbedingt zu ihm, bevor der davon Wind bekommt. Sonst komme ich gar nicht an ihn ran.
»Hören Sie, ich habe heute Morgen mit seinem Halbbruder Henning gesprochen, er müsste schon auf dem Weg sein. Könnte ich ihn wenigstens kurz sehen?«
»Herr Karsupke ist schon bei ihm.« Milanovic überlegte kurz. »Warten Sie einen Moment.« Er verschwand und kam nach zwei Minuten wieder zurück. »Also gut, fünf Minuten, Herr Karsupke ist einverstanden, aber keine Sekunde länger.«
Kunkel öffnete die Zimmertür. Winter lag in einem Einzelzimmer, zahlreiche Infusionsschläuche an Armen und Beinen, aber keine Wunden oder Verbände im Gesicht oder Brustbereich. Augenscheinlich schlief er. Kunkel nickte Karsupke zu und setzte sich mit einem Stuhl ans Bett.
Winter hatte den Absturz überlebt, weil seine Michelin-Daunenjacke den Aufprall gedämpft hatte. Er war mit den Beinen in die Eisenstangen gefallen, die restlichen Körperteile waren weitgehend heil geblieben. Karsupke hatte die Feuerwehr und die Polizei alarmiert, nachdem er den Schrei gehört hatte und dann das Handy tot war.
Schweigend saßen sie da, in der Hoffnung Winter würde aufwachen und ihnen etwas erzählen. Doch nichts passierte. Zunächst. Dann klingelte Kunkels Handy. Es war Wolf Gärtner »Jetzt nicht«, dachte er und drückte das Gespräch weg. Winter schlug die Augen auf; schaute sich ungläubig im Zimmer um.
»Wo bin ich?, Henning?«
»Ja, Thomas, du bist im Krankenhaus; hast ordentlich Glück gehabt. Das ist Kunkel, der Kommissar aus Frankfurt.«
»Jemand hat mich heruntergestoßen. Wo ist meine Jacke?«
»Du brauchst jetzt keine Jacke, Thomas.«
»Meine Jacke Henning, ein Datenstick, linke Innentasche.«
Kunkel stand auf und ging zum Kleiderschrank. Dort hing seine blaue zerfetzte Daunenjacke. Kunkel griff in die Innentasche, fand jedoch keinen Stick. In der Innentasche befand sich ein Reißverschluss zu einer weiteren Tasche. Er öffnete den Reißverschluss und fand den Stick. Zeigte ihn Winter.
»Hab ihn.«
»Ihr müsst weitermachen Henning. Es war ein Anschlag.«
In diesem Moment öffnete sich die Tür. Dr. Milanovic und eine Krankenschwester betraten das Zimmer. Sie schauten sich an, Dr. Milanovic zeigte auf seine Armbanduhr.
»Nimm meinen Hausschlüssel Henning, ist in der Jacke«, stöhnte Winter.
Karsupke ging zum Schrank, fand den Schlüssel und zeigte ihn Winter, der nickte und winkte ihn zu sich heran. »Das Passwort ist »Betongold«, flüsterte er Karsupke ins Ohr.
»Gute Besserung Thomas, ich komme morgen wieder«, sagte Karsupke, als sie sich verabschiedeten und zur Tür gingen.
»Rufen Sie lieber vorher an«, antwortete die Schwester, während sie die Tür hinter den beiden schloss.
»Wir müssen den Stick auswerten«, sagte Karsupke, während sie draußen auf der Straße standen. Kunkels Handy zeigte 10.30 Uhr. Er steckte sich eine Zigarette an.
»Ja, das müssen wir, ich müsste allerdings spätestens heute Abend wieder zurück nach Frankfurt«, sagte Kunkel. »Hier kann ich sowieso nicht viel ausrichten. Meine Berliner Kollegen mauern und an die Witwe von Hainburg komme ich auch nicht ran. Aber es könnte sein, dass ein Zusammenhang zwischen Weishaupts Tod und dem Mord an von Hainburg besteht. «
»Ich übernehme das, ich fahre jetzt zur Wohnung von Thomas, werte den Stick aus und halte Sie auf dem Laufenden.«
Kunkel winkte ein Taxi heran: »Nein, das machen wir nicht. Ich begleite Sie.«
»Warum meldest du dich nicht, bist du schon auf dem Weg zurück?« Wolf Gärtner war ungehalten, das merkte Kunkel, als er ihn zurückrief. Kunkel erläuterte ihm in kurzen Sätzen die Situation. Von dem Stick erzählte er noch nichts. Er wusste ja auch nicht, was sie erwartete.
»Kommt er durch? Und Frau Freund ist gestern schon zurück? Wie geht es ihrer Tochter?«
»Ja, er kommt durch, ob er noch mal laufen kann, ist eine andere Frage. Und Julianes Tochter hat nur eine Gehirnerschütterung. Was gibt’s bei euch?«
»Lakmann hat mit dem Phantombild die Besucherin von Weishaupt ausfindig gemacht, eine polnische Prostituierte. Wir hatten sie gerade zur Vernehmung hier. Sie bestätigt auch, bei Weishaupt gewesen zu sein, allerdings behauptet sie, dass er bei ihrem Weggang noch putzmunter gewesen sei.
Ihre Aussage deckt sich mit dem vermutlichen Todeszeitpunkt und der Taxifahrer, der sie abgeholt hat. Er sagte aus, dass sie einen normalen Eindruck gemacht hat. Sie war übrigens nicht das erste Mal bei ihm. Ihre Besuche waren immer an dem Tag, als Weishaupt Geld von seinem Konto abgehoben hat. Wann kommst du zurück?« fragte er. Kunkel hörte eine Mischung aus Vorwurf und einen Anflug von Heimweh aus seinen Worten.
»Ich muss hier noch etwas recherchieren«, sagte Kunkel, »Ich werde den letzten Flieger heute Abend nehmen. Wir sehen uns morgen.«
Eine halbe Stunde später erreichten sie Winters Wohnung in der Hähnelstraße. Die Wohnungstür war verschlossen; trotzdem zog Kunkel seine Pistole aus dem Halfter, während Karsupke die Tür aufschloss. Vorsichtig gingen sie durch die zwei Zimmer, schauten in der Wohnung nach ungebetenen Gästen.
»Sicher«, rief Karsupke, nachdem er einen Blick ins Bad geworfen hatte.
»Das ist nicht witzig«, antwortete Kunkel. »Wenn es ein Anschlag auf Winter war, sind sie bestimmt auf der Suche nach Informationen, die er hatte.«
Das Wohnzimmer war unaufgeräumt, überall lagen Kleidungsstücke und Pizzaschachteln, leere Cola- und Limoflaschen standen auf dem Boden; nur auf dem blitzblanken Schreibtisch lag ein zugeklapptes Notebook. Karsupke öffnete es und drückte auf den Einschaltknopf. Nach wenigen Minuten war es hochgefahren, verlangte ein Passwort. Karsupke gab »Betongold« ein. Es war falsch.
»Scheiße.«
»Warum Scheiße?«
»Thomas hat mir ein Passwort gegeben, aber es stimmt nicht.«
»Versuchen Sie es mal mit nur großgeschrieben, oder nur kleingeschrieben.«
Karsupke probierte beides aus.
»Bingo«, rief er, als sich beim zweiten Versuch die Programme öffneten.
Er steckte den USB-Stick in den Anschluss. Auf dem Stick waren eine Unmenge an Dateien und Bildern.
»Das dauert Tage es zu sichten«, sagte er zu Kunkel, »aber vielleicht hat er eine Zusammenfassung geschrieben.«
Während Karsupke die Dateien checkte, untersuchte Kunkel die Regale nach Unterlagen, die ihnen weiterhelfen könnten. In einem abgeschlossenen Schrank fand er einen ganzen Stapel an Zeitungen, die alle über den neuen Großflughafen berichteten. Er musste sie über Jahre zusammengetragen haben. Die untersten Ausschnitte stammten aus dem Jahr 2000. Kunkel überflog einige Artikel.
Die Zeitungen berichteten damals über verschiedene Szenarien, wo und wie der neue Flughafen gebaut werden könnte, über Bürgerbegehren, über die alternativen Nutzungsmöglichkeiten der bisherigen Flughäfen Tegel und Tempelhof, über mögliche Investoren. Winter hatte sich von Anfang an mit dem Thema »Großflughafen« beschäftigt.
Kunkel versuchte sich zu erinnern, ob er damals in seiner Zeit in Berlin auch etwas davon mitbekommen hatte, aber ihm fiel nichts ein.
Karsupke war in die Unterlagen vertieft. »Ich hab was«, juchzte er, »Hier, es ist eine Zusammenfassung seiner Recherchen. Thomas ist anscheinend dem groß angelegten Betrug beim Bau des neuen Flughafens viel näher auf der Spur, als ich dachte. Er vermutet, dass Ingenieure in die Planungsgesellschaft eingeschleust wurden, um den Bau des Flughafens zu verzögern. Er schreibt, dass ursprünglich einmal geplant war, an dem Bau des Flughafens private Investoren zu beteiligen und nach seinen Recherchen tauchen jetzt einige Personen der geschassten Investoren beim Bau des Flughafens wieder auf. Und welche Gesellschaft taucht hier ebenfalls immer wieder auf?«
» Lassen Sie mich raten? Die KFI?«
»Bingo.«
»Hören Sie auf mit dem dämlichen Bingo. Aber warum sollte die KFI den Bau des Flughafens verzögern? Aus gekränkter Eitelkeit?«
»Wäre durchaus eine Möglichkeit. Aber er schreibt, man muss dem Geld nachgehen. Nach seinen Recherchen sind damals Millionen in Planungsgesellschaften investiert worden in der Hoffnung, bei der Vergabe des großen Kuchens mitzumischen. Seit 1992 haben unzählige Architekten und Planungsbüros Zeit und Geld in die Hand genommen, als man versuchte das Projekt privaten Investoren zu übertragen. Als das dann 2003 scheiterte, hatten diese und viele potenzielle Projektentwickler in den märkischen Sand gegriffen. Durch die neue Konstellation mit den drei Gesellschaftern Land Berlin, Land Brandenburg und dem Bund waren sie außen vor. Und so konnten sie sich nicht auf Kosten eines unversiegbaren Geldtopfes die Taschen so richtig vollmachen!«
»Aber sie mischen doch mit. Winter hat mir erzählt, dass die KFI den Auftrag für eine der Start- und Landebahnen bekommen hat.«
»Ja, aber nur als Auftragnehmer, nicht als Gesellschafter. Und das sind doch kleine Fische. Hier geht es um Milliarden, Milliarden, Herr Kommissar. Das ist eine Zahl mit 9 Nullen. Hier steht es.
»Es gab damals zwei große konkurrierende Privatgesellschaften, die den Flughafen bauen wollten. Man nannte sie Konsortium, was für ein Begriff. Hört sich an wie Apfelkompott.
Irgendwann, als schon ganz viel Geld die Havel hinuntergeflossen war, hatte sich die für die Vergabe zuständige Projektgesellschaft für das Konsortium 1 entschieden. Konsortium 2 war sauer und hat geklagt, dass Konsortium 1 ihnen die Zahlen geklaut habe. Daraufhin wurde Konsortium 1 ausgeschlossen und hat dagegen wieder geklagt. Irgendwann haben sie sich dann geeinigt und aus zwei wurde eins. Und da dachten sie, alles wird gut; da waren wirklich professionelle Firmen dabei, auch der Gutachter, der jetzt im Fernsehen alles kritisiert. Aber da kamen die jetzigen Gesellschafter auf eine Idee. Das können wir auch alleine, und zwar viel billiger. Und was daraus wurde, sehen wir jetzt. Aus ursprünglich 3 Milliarden wurden jetzt 4,3 Milliarden und das Ende der Fahnenstange ist noch nicht erreicht.
Kunkel schwirrten nur Nullen im Kopf herum. »Das mag ja sein Karsupke, aber warum mussten dann Weishaupt und von Hainburg sterben?«
»Vielleicht wollten sie auspacken. Es wuchs ihnen alles über den Kopf, der öffentliche Druck, es gibt einen Untersuchungsausschuss? Wird übrigens von einem Piraten geleitet. Passt irgendwie. Das ist ein ganz großes Ding, wenn Sie mich fragen.«
»Das Problem ist, dass ich darauf keine Beweisführung für den Mord aufbauen kann. Es mag ja sein, dass hier ein Motiv liegt, aber sollen wir beide jetzt den gesamten Flughafen auf den Kopf stellen. Außerdem ist der Mord an von Hainburg die Angelegenheit der Berliner Kollegen. Die werden uns etwas husten, wenn wir uns da einmischen. Es könnte ja auch sein, dass einer der verarschten Mieter ausgerastet ist und von Hainburg erschossen hat. Habe ich kürzlich im Fernsehen gesehen. Immerhin finanzieren sie seit Monaten Ihre Ladeneinrichtungen; die Ware können sie wahrscheinlich wegwerfen. Da gehen ganze Existenzen den Bach runter.«
»Vielleicht können Sie sich da nicht einmischen. Thomas und ich sind freie Journalisten und können tun und lassen, was wir wollen.«
»Ja, solange Sie sich an die Gesetze halten. Hören Sie zu, ich schlage vor, Sie sichten die gesamten Unterlagen, und wenn Sie eine Spur zu dem Mord an Weishaupt finden, geben Sie mir Bescheid. Wir haben noch eine andere Spur, und mir wurde auferlegt, dieser jetzt nachzugehen.«
Kunkel zog seine Lederjacke an und schnappte sich seinen Trolley.
»Ich werde mir jetzt ein Taxi nehmen und zum Flughafen Tegel fahren, vielleicht bekomme ich ja noch einen Flug heute Nachmittag. Und nehmen Sie sich ein Hotelzimmer. Ich denke, hier ist es zu unsicher.«
Kunkel hatte das Gefühl, dass ihm die ganze Angelegenheit über den Kopf wuchs. Während er im Taxi saß und sich diesmal von einem osteuropäischen Chauffeur zum Nike Store am Tauentzien fahren ließ. Einerseits könnten die Journalisten natürlich recht haben und die beiden Morde standen im Zusammenhang mit dem Bau des Flughafens. Andererseits hatten sie immer noch keine Spur zu Patrick Langer, dessen Fingerabdrücke sie im Haus von Weishaupt sichergestellt hatten. Er überlegte, Juliane auf dem Handy anzurufen, entschied sich aber dann für eine SMS.
»Hallo Juliane, schön, dass es Deiner Tochter besser geht. Bin noch in Berlin und komme heute Abend zurück. Wäre gut, wenn wir uns morgen im Präsidium treffen könnten. Gibt’s schon ein Phantombild von Patrick? Viele Grüße Paul.«
Im Nike Store am Tauentzien erstand er für 140 € ein Paar Nike Air Pegasus in Größe 43 und wunderte sich zum einen über den Preis und zum anderen über die Schuhgröße, die Tobi mittlerweile erreicht hatte.
Kurz vor drei Uhr war er am Flughafen. Von Tegel ging jede Stunde ein Flieger nach Frankfurt und er bekam noch einen Platz in der 16Uhr-Maschine. Nachdem er den Trolley aufgegeben hatte- ging er nach draußen und steckte sich eine Zigarette an. Eiskalter Wind pfiff durch das Rondell, doch der Himmel war blau, die Sonne schien und er genoss die frische Atmosphäre. Da man bei den innerdeutschen Flügen die Snacks im Flugzeug gestrichen hatte, besorgte er sich bei einem der zahlreichen Verkaufsstände eine Brezel, setzte sich auf eine der provisorisch aufgestellten Sitzbänke und kam etwas zur Ruhe, während er die Brezel aß. Als die Maschine startete und in einem Bogen über Berlin kreiste, starrte er wehmütig auf die immer kleiner werdenden Menschen und Häuser. »Bald komme ich wieder, meine kleine, große Tochter.«
Pünktlich um 17.00 Uhr landete er in Frankfurt und eine halbe Stunde später schloss er die Wohnungstür auf, hinter der ihn schon Lady Jeremy maunzend erwartete. Kein Rap aus Tobi’s Zimmer. Doch dann riss er die Tür auf, grinste und sagte: »Na, auch mal wieder da, hast du mir die Schuhe mitgebracht?«
»Ich freu mich auch dich wiederzusehen Sohn«, antwortete er, drückte ihn, was er nicht mochte und klopfte ihm zweimal auf die Schulter.« Die Schuhe gab es nicht in deiner Größe; nein war nur ein Scherz, sie sind im Trolley.«
Die Wohnung war blitzeblank, die Küche glänzte, besser hätte ich es auch nicht machen können, dachte er. Hat er sich doch gefreut, dass ich wieder da in.
» Komm, lass uns was essen gehen. Ich habe Lust auf Spaghetti aglio e olio von Pino.«
»Viele Grüße?
»Warum nicht liebe Grüße?«
Vielleicht mag er mich doch nicht, dachte Juliane, als sie die SMS von Paul gelesen hatte.
Und so förmlich. »Schön, dass es Deiner Tochter besser geht.«
Er wusste doch, wie sie heißt, das hatte sie ihm gesagt. Und warum hatte er nicht angerufen? Wäre doch schön gewesen, seine Stimme zu hören. Dabei hatte sie den Eindruck, dass er sie bei ihrem ersten Zusammentreffen durchaus attraktiv gefunden hatte. Oder hatte sie ihn verärgert, weil sie Hals über Kopf abgereist war, ihre Kinder ihr wichtiger waren, als der Job? Na dann kann er mich mal.
Pia lag oben in ihrem Zimmer und schlief. Dr. Schwarz hatte sie für zwei Wochen krankgeschrieben und Juliane überlegte verzweifelt, wie sie Pia pflegen und gleichzeitig ihren Verpflichtungen, sprich ihrer Arbeit nachkommen sollte.
Etwas widerwillig setzte sie sich an ihr Laptop, schaute ihre Mails durch. Von den Kollegen aus dem LKA noch keine Nachricht. Kein Phantombild von Patrick Langer. Die waren auch schon mal schneller, dachte sie. Hab halt nicht mehr den Zugriff wie früher. Sie schickte dem betreffenden Kollegen eine nette Erinnerungsmail.
Dann schrieb sie eine SMS an Paul: »
Hallo Paul, danke für Deine Nachricht. Habe leider noch keine Info von den Kollegen wg. des Phantombildes. Pia ist zwei Wochen krankgeschrieben und ich kann hier nicht so gut weg. Melde Dich doch mal, dann können wir alles besprechen. Viele Grüße Juliane.«
Dann ging sie doch laufen, warm eingepackt in mehrere Fleecepullis und eine rote Wollmütze, bewaffnet mit ihrer Lieblingsmusik. Sie lief nur eine kleine Runde, der kalte Wind blies ihr kräftig ins Gesicht. Nach zwanzig Minuten kam sie wieder zuhause an, legte sich in die heiße Badewanne und ließ alle Sorgen untertauchen. Heute würde sie nichts mehr machen, nur noch gemütlich auf der Couch rumlümmeln. Eingemümmelt in Ihre Lieblingsdecke, dazu ein gutes Buch und Glas von dem leckeren Weißwein, den ihre Freundin von dem benachbarten Weingut mitgebracht hatte und alle Männer der Welt konnten sie mal gerne haben.
Sie war schon wieder weg. Hatte angeblich einen Termin zur Wohnungsbesichtigung. Und das am Sonntag. Warum sagte sie nicht, in welcher Straße? Dann könnte er zumindest dorthin fahren und es kontrollieren. Irgendwo in Charlottenburg sollte es sein. In Ihrem Terminkalender hatte sie auch nichts vermerkt. Das hatte er schon gecheckt, als sie im Bad war. Und warum nahm sie immer ihr Handy mit ins Bad. Das war nicht normal. Bestimmt schrieb sie ihm von da eine SMS, wo sie sich treffen sollten? Irgendein Hotel, oder vielleicht bei ihm? Er musste es rausfinden. Rausfinden, wer er war, dieses Schwein, der seine Freundin bumste. Und sie tat, als ob nichts gewesen wäre, wenn sie nach Hause kam. Dabei spürte er die Entspannung, die von ihr ausging, wenn sie wieder zurückkam. Wie letzten Samstag. Ihr Haar war noch zerzaust und das konnte nicht am Wind gelegen haben. Das waren eindeutig seine Dreckshände. Angeblich war sie mit einer Freundin verabredet. Lachhaft. Warum sagte sie ihm nicht den Namen. »Du kennst sie nicht«, hatte sie nur gesagt. »Eine alte Schulfreundin.« Warum musste sie sich mit einem anderen verabreden, wenn sie doch ihn hatte. Reichte er ihr nicht mehr. War er ihr nicht mehr gut genug. Das würde sie ihm heimzahlen. Wenn er sie doch nur erwischen könnte. In flagranti. Ich müsste abwarten, sie in Sicherheit wiegen, sonst würde sie noch vorsichtiger, machte keine Fehler. Vielleicht sollte er ihren Chip austauschen. Dann bekäme er es raus. Ja vielleicht. Ich könnte ja schon mal ein Prepaidhandy kaufen.