9.

Kugel ging hinauf ins Schlafzimmer, setzte sich auf den kleinen Holzstuhl neben dem kleinen Holzschreibtisch, holte tief Luft und rief in seinem Büro an. Er bat um ein Gespräch mit seinem Vorgesetzten und kam sogleich in die Warteschleife.

Post-it-Zettel, sagte die aufgezeichnete Bandansage. Tierhaare. Teebeutel.

Beim Verkaufen, hatte Kugels allererster Verkaufsleiter gesagt, geht es nicht darum, andere zu überzeugen sondern sich selbst. Als Verkäufer erwies sich diese unabdingbar erforderliche moralische Geschmeidigkeit als Kugels größte Herausforderung; er konnte sich einfach nicht davon überzeugen, dass ein Honda besser als ein Chevy war, Prozac besser als ein Placebo (oder bloß ein langer, ruhiger Waldspaziergang). Und als er und Bree dann anfingen, darüber nachzudenken, ein Kind in diese Welt zu setzen, nahm Kugel eine Stelle als Verkäufer bei der örtlichen Filiale von EnviroSolutions an, dem führenden Unternehmen für Eigenkompostierung in der Region, da er hoffte, indem er etwas Positives verkaufte, etwas, woran er auch wirklich glauben konnte, bei seinem eigenen Schicksal und der Zukunft der Welt etwas entscheidend verändern zu können.

Eierschalen, fuhr die Warteansage fort, Käse. Latexkondome.

Sein Plan war aufgegangen. Kugel schaffte es, den schlichten Vorgang des Kompostierens wie die kühnste Tat des selbstlosesten Superhelden klingen zu lassen, und er schloss Dutzende von Verträgen ab. Und bedenken Sie, sagte er immer am Schluss seiner Verkaufstelefonate, Müll entsorgen ist wunderbar. Das wurde bald auch zum Slogan der Firma, und seine Idee war es auch gewesen, die übliche Musik auf der Warteschleife der Telefonanlage durch eine Endlosschleife mit den vielen kompostierbaren Materialien zu ersetzen, die ihre besorgten Kunden in nährstoffreiche Erde verwandeln konnten.

In letzter Zeit jedoch war die grüne Industrie, als die sie bekannt wurde, explodiert; jeder Tag brachte neue Technologien und neue Firmen, und der Konkurrenzkampf um Abschlüsse war heftig geworden. EnviroSolutions erweiterte seine Angebotspalette um Recycling-Pick-ups, und Kugel erwies sich dabei als ebenso versierter Verkäufer, wie er es beim Kompost war. Die Firma berechnete ihre Lieferungen pro Gallone; je mehr Leute recycelten, desto mehr Geld verdiente EnviroSolutions.

Wie sehr lieben Sie die Erde?, fragte Kugel seine Kunden bei einer bestimmten Verkaufstaktik, die sein Kollege schon bald übernahm. Fünfundsiebzig Gallonen oder fünfundneunzig?

Aber ich brauche doch nur fünfundsiebzig, sagten die Kunden.

Wenn Sie die Erde wirklich liebten, entgegnete Kugel, dann würden Sie auch mehr verwerten.

Bald wurde es zu einer Frage der Ehre, so viele Recyclingbeutel wie nur möglich vor dem Haus stehen zu haben, ein Trend, den Kugel praktisch im Alleingang initiiert hatte.

Zehennagelschnipsel, fuhr die Stimme im Telefon fort. Verbrannter Toast. Ziegendung.

Wäre er doch nur mit der Wahrheit ebenso gut, dachte er, wie mit dem Schwachsinn.

Endlich meldete sich sein Vorgesetzter.

Ja, sagte Kugel zu seinem Vorgesetzten, ja, ich weiß Selbstverständlich, ja nein, ich also, es hat mich irgendwie erst gestern spätabends erwischt, Sir eine Erkältung, glaube ich, bloß ein kleiner Virus Ja Das verstehe ich, ja, doch Heiserkeit, Husten Ja, ich wollte nicht riskieren, die anderen im Büro anzustecken Ja, natürlich.

Jetzt ging das Tappen wieder los.

In der Klappe.

Tapp. Tapp-tapp.

Erst leise, wurde es im Lauf des Gesprächs immer lauter. Kugel stand auf und ging zur Klappe.

Sehe ich auch so, ja, ja, sagte er und stampfte wütend auf das metallene Gitter. Ja, ja, viel Flüssigkeit, hust, hust, ja, ich weiß Es tut mir wirklich sehr leid, Sir, sicher ist sicher Ja, Sir, glaube ich auch, nur einen Tag, mehr nicht

Tapp-tapp.

Vielleicht auch zwei Tage, falls es doch was Schlimmeres ist, zwei, drei Tage, höchstens Selbstverständlich Ich ja ja. Danke, Sir. Ja, Sir, das mache ich. Danke.

Tapp-tapp.

Kugel beendete das Gespräch, knallte den Hörer auf die Gabel und ging neben der Klappe auf alle viere.

Ruhe jetzt, ja?, flüsterte er wütend hinein. Was habe ich Ihnen gerade gesagt? Was habe ich Ihnen erst vor zwei Scheißminuten gesagt, verflucht? Nicht auf die Klappen tappen! Werden Sie fertig mit Ihrem Buch! Essen Sie Ihren Scheißapfel! Geben Sie Ruhe! Ruhe, verdammt!

Er stand auf, lief im Zimmer herum, schaute aus dem Fenster, ging zur Klappe zurück und kniete sich hin.

Geben Sie bloß Ruhe, knurrte er.

Er stand auf, ging zum Fenster, fuhr sich mit der Hand durch die Haare und fragte sich, was Bree wohl täte.

Sie würde ruhig bleiben, das wusste er. Sie wäre rational. Als Erstes würde sie sagen, finden wir mal heraus, wer dieser Mensch überhaupt ist.

Ja, dachte Kugel. Ja, natürlich.

Er setzte sich an den Schreibtisch, ging online, fand die Nummer, die er suchte, und nahm das Telefon.

Wir werden ja sehen, sagte er und blickte höhnisch an die Decke, wer hier lebt und wer tot ist.

Kugel durchschritt das Zimmer, schob die Schranktür auf, stieg hinein, schloss die Tür und genoss einen Augenblick die klappenfreie Einsamkeit darin. Er hockte sich auf den Boden unter seine hängenden Hemden, Mäntel und Hosen, schaltete das Telefon an und wählte die Nummer.

Wie Kugel so im Dunkeln saß, beneidete er die Kleider um ihre Einsamkeit, ihre Sicherheit, aber er fürchtete auch, sie könnten den Schrank womöglich hassen, sich im Dunkeln fürchten vielleicht wollten sie ja nichts lieber, als wie Bett und Kommode unter den beruhigenden Strahlen der Sonne zu leben, neben offenen Fenstern und nie mehr hinter Türen. Diese beunruhigenden Gedanken hatte er häufig; manchmal trug er sogar ein Hemd, das er gar nicht mochte, weil er befürchtete, es könne ihm schlecht gehen, wenn es Tag um Tag wegen eines neueren, schickeren, saubereren übergangen wurde. Den ganzen Tag war ihm dann unbehaglich zumute, er fand sich hässlich, und abends ärgerte er sich über dieses Hemd, das er am Morgen noch so bedauert hatte, hängte es wieder in den Schrank und schwor sich, es nie wieder anzuziehen.

Einen schönen Nachmittag wünsche ich, sagte die Frau am anderen Ende munter. Simon Wiesenthal Center, was kann ich für Sie tun?

War denn schon Nachmittag? Sollte die Rezeptionistin des Simon Wiesenthal Center denn so fröhlich sein?

Ja, sagte Kugel leise, hallo. Ich dachte, ob Sie mir vielleicht

Entschuldigen Sie, Sir, Sie müssten schon etwas lauter sprechen, ich kann Sie ja kaum hören.

Hallo, ja, sagte Kugel lauter. Ich wollte gern herausfinden, ob jemand im Holocaust gestorben ist, und da dachte ich, ob Sie mir da helfen könnten.

Selbstverständlich, sagte die Frau. Ihr Ton war sogleich düsterer geworden. Wir haben, fuhr sie fort, eine umfangreiche suchfähige Datenbank all der Millionen Opfer des Nazi-Terrors. Natürlich sind auch viele außerhalb der Lager gestorben oder auf dem Weg dahin, Sie werden daher verstehen, dass nicht jede ermordete Person aufgeführt ist.

Das verstehe ich, sagte Kugel.

Viele sind auf der Straße gestorben.

Bestimmt, sagte er.

Wie die Hunde.

Natürlich.

Im Angesicht ihrer Frauen.

Ich weiß.

Und Kinder.

Schrecklich.

Nachname?, fragte sie.

Frank.

Vorname?

Kugel schluckte.

Anne, sagte er.

Klick.

Verdammt, dachte Kugel.

Er stieg aus dem Schrank und lief im Zimmer auf und ab. Was nun? Sollte er im Museum of Tolerance anrufen? Sollte er das Anne-Frank-Haus kontaktieren? Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Anfragen dort erfolgreicher sein würden. Und wenn diese Wiesenthal-Frau nun die Anti-Defamation League anrief?, überlegte er. Und wenn sie denen sagte, ein Holocaust-Leugner habe angerufen, und wenn sie seinen Anruf rückverfolgt hatte? Kugel stellte sich vor, wie die ADL an die Haustür hämmerte, ihn um sich schlagend und schreiend aus dem Haus zerrte. Schon sah er den untröstlichen Blick auf Mutters Gesicht, die Enttäuschung. Sie ist auf dem Dachboden, das schwöre ich!, würde er schreien, wenn sie ihn hinten in den ADL-Transporter stießen und die Tür verschlossen. Sie ist auf dem Dachboden!

Sag’s allen, na los!, würde Mutter sagen.

Wieder begann das Tappen.

Verdammt, dachte Kugel.

Kugel rief Professor Jove an.

Jove war nicht da.

Kugel hinterließ eine Nachricht.