19.
An jenem Abend glaubte Kugel, wie er so im Bett lag und an die Decke starrte, zu hören, wie sachte auf die Klappe getappt wurde, fand dann aber, er habe sich verhört.
Vielleicht aber doch.
Oder nicht.
Die Geräusche aus den Röhren waren nachts am lautesten und beklemmendsten. Unten stöhnte, ächzte und rülpste Mutter; oben tappte, schlurfte, keuchte, tippte, druckte, moserte Anne Frank, und Kugel steckte mittendrin in diesem elenden Leidenssandwich, mit alldem kläglichen Getöse ihrer schwindenden irdischen Verstrickungen – dem Furzen, dem Grunzen, dem Japsen, dem Husten, den Nachtkonzerten des jüdischen Elendsorchesters, eine verstörende Kakofonie von oi-weis, gwalts und Gott im Himmels, aufgeführt gegen die endlose Lachkonserve, die aus dem Fernseher des Mieters strömte und die in dem großen Finale kulminierte, wenn Mutter das ganze Haus mit den allmorgendlichen Schreien ihrer nicht genügend traumatischen Belastungsstörung weckte.
Rülps.
Ächz.
Stöhn.
Hahaha!
Oi-wei.
Halt, stehen bleiben, Polizei!
Gottenju.
Hier ist Sixty Minutes.
Uff.
Gott im Himmel.
Heute bei Jay Leno.
Uhh.
Furz.
Grunz.
Applaus.
Und zu alledem noch das Knarren, das Knacken, das Ploppen, wovon jedes Einzelne wie ein Brandstifter klang, so wie ein Brandstifter eben klang, direkt vorm Fenster, direkt vor der Tür, der Vorkehrungen traf, sie alle bei lebendigem Leib zu verbrennen.
Sag ihnen, ich habe … etwas gesagt.
Aber was, verdammt? Was?
Kugel hatte schon den idealen Grabstein für Mutter. Er hatte ihn schon, seit er Teenager war, hatte ihn sich in einem Sommer bei einer Reise zu einem deutschen Konzentrationslager ausgedacht. Mutter war mit ihm zu seiner Bar-Mizwa nach Jerusalem gefahren (Sie sollten unsere Geschichte kennen, sagte sie zu dem israelischen Soldaten, der sie misstrauisch beäugte und ihre Koffer durchwühlte), und als sie merkte, dass der Rückflug eine Zwischenlandung in Berlin erforderte, beschloss sie, dies sei die ideale Gelegenheit für sie beide, ein Vernichtungslager zu besuchen.
Du mit deinem bequemen amerikanischen Leben, sagte sie. In Auschwitz hättest du keine fünf Minuten überlebt.
Der junge Kugel fragte sich, wie wohl Kulmhof war. Über Kulmhof redete niemand.
Auch in Kulmhof hätte er keine fünf Minuten überlebt.
Sie beschlossen, die Nacht in Berlin zu verbringen, am Vormittag ein Vernichtungslager zu besichtigen und am Nachmittag dann nach Hause zu fliegen. Bedauerlicherweise fand Mutter schnell heraus, dass die ganzen wirklich berühmten Vernichtungslager weit weg waren, viel zu weit für einen Tagesausflug, also musste sie sich mit dem Konzentrationslager Sachsenhausen begnügen.
Sachsen was?, hatte sie den Empfangschef gefragt.
Sachsenhausen, sagte er. Es liegt eine halbstündige Bahnfahrt von Berlin entfernt.
Nie gehört, sagte sie. Und dann sagte sie, die Hand vor dem Mund, zu Kugel: Die wollen nicht, dass wir die echten Vernichtungslager sehen.
Der Empfangschef versicherte ihr, dass viele Tausend dort gestorben seien.
Wie viele?
Viele, Miss. Sehr viele.
Gab es dort eine Gaskammer?
Nach einer langen Pause: Natürlich, ja.
Sind Sie sicher?
O ja.
Ich möchte nicht da hinkommen und ein gesäubertes Parkgelände vorfinden.
Nein, nein, überhaupt nicht. Es ist sehr verstörend.
Am nächsten Morgen machten sie sich mit dem Zug auf den Weg, aber da damals weder Mutter noch Kugel von dessen Gluten-Unverträglichkeit wussten, packte sie nur ein paar Flaschen Wasser und einen Laib Brot ein, da mehr als das, wie sie erklärte, das Andenken an die Verstorbenen beleidigen würde. Für so einen Laib Brot, sagte sie, hätten sie getötet.
Als sie dann ankamen, krümmte sich Kugel schon vor Schmerzen, und kaum hatte sie ihm seine Eintrittskarte gegeben, raste er auch schon auf die Toilette.
Und dort, auf dem Klo, blieb er auch den Großteil ihres Aufenthalts.
Er machte ein paar Versuche, die Toilette zu verlassen und zum Lager zu gehen, aber er kam immer nur bis zum Tor – Arbeit macht frei, stand dort geschrieben –, von wo er gleich wieder zurückrennen musste in der Hoffnung, dass seine Kabine noch nicht besetzt war. Als kaum mehr als vierzig Minuten blieben, bis der Zug zum Flughafen abfuhr, schaffte Kugel es, seine bebenden Gedärme einigermaßen in den Griff zu bekommen, dann eilten er und seine Mutter ins Lager. Kugel tat sein Bestes, mit Mutters zornigem, entschlossenem Gang durchs Lagertor Schritt zu halten.
Na, das werde ich mir jetzt nicht alles ansehen können, sagte Mutter mit einem Blick auf den Lagerplan in ihrer Hand, vielen Dank. Die jüdischen Baracken kann ich vergessen, die sind ganz da drüben auf der anderen Seite. Und zum Krankenrevier allein sind es schon zwanzig Minuten Fußweg. Geh schneller, Solomon, Himmelherrgott.
Sie beschloss angesichts der begrenzten Zeit, die sie hatten, sich nur die Gaskammer anzusehen, die auf dem Lagerplan mit einem Z markiert war. Sie folgten exakt dem Plan, doch zu Mutters wachsender Frustration fanden sie nirgends »das verdammte Ding«. Ihnen blieben noch zwanzig Minuten, und so sprach sie den Führer einer kleinen Gruppe an, die mitten im Lager stand.
Verzeihung, sagte sie, können Sie mir sagen, wo es zu den Gaskammern geht?
Ah, sagte er, kein Problem, da gehen wir auch gerade hin.
Er klatschte in die Hände, um sich bei der Gruppe bemerkbar zu machen.
Hier lang zum Gas, meine Damen und Herren, sagte er.
Er führte sie zu einer kleinen Rasenfläche am Ende des Lagers, wo sie sich mit ernsten Gesichtern in einem kleinen Kreis um ihn scharten. Eine Weile herrschte Stille, in der die Besucher die Wirklichkeit des Grauens dessen, was da geschehen war, an genau dieser Stelle, nur wenige kurze Jahrzehnte zuvor, in ihre Gedanken sinken und am Herzen zerren lassen konnten.
Das, sagte der Führer der Touristengruppe, ist der Ort, wo tausende von Männern, Frauen und Kindern systematisch ermordet wurden.
Eine Frau fing an zu weinen. Ihr Mann legte den Arm um sie.
Wo?, fragte Mutter.
Genau hier, sagte der Fremdenführer.
Wo?
Hier. Wo Sie stehen.
Wo sind sie denn hin?, fragte sie.
Sie sind gestorben, sagte er irritiert.
Nicht die Menschen, sagte Mutter, die Gaskammern.
Die wurden abgerissen.
Von wem?
Von der SS, sagte er.
Diese Hundesöhne, sagte sie. Sie quälen uns noch immer.
Der Fremdenführer nickte.
Einer der Besucher legte sich eine Hand auf den Kopf und sprach auf Hebräisch einen Segen. Alle schlossen die Augen, nickten, als sie fertig waren, und sagten amen.
Nach einem Augenblick sagte Mutter: Gibt’s hier wenigstens noch Öfen? Die Fahrt sollte doch nicht völlig sinnlos gewesen sein.
Der Führer wies sie zum Krankenrevier, in dessen Keller ein halbes Dutzend stählerne Krematorien in die Grundmauer eingelassen waren. Mutter sagte, Kugel solle sich zum Fotografieren vor einem Ofen aufstellen.
Mach ihn auf, sagte sie zu ihm. Damit wir es sehen können.
Kugel zog die schwere Tür auf und blickte wieder zur Kamera.
Was machst du denn da?, fragte sie.
Was?
Hör auf zu lächeln.
Oh.
Schau in den Ofen. Nicht ganz rein, Solomon, nur mit den Augen.
So?
Trauriger. Gut. Jetzt mach eins von mir.
Sie eilten zurück zum Zug. Wieder musste Kugel schnell laufen, um mit den wütenden Schritten seiner Mutter mitzuhalten.
Ich hoffe, du bist jetzt zufrieden, sagte sie, als sie ihre Plätze eingenommen hatten. Du hast mir das ganze Konzentrationslager versaut, weißt du das? Das ganze verdammte Lager hast du mir versaut.
Kugel hatte ein schlechtes Gewissen. Sie hatte sich so darauf gefreut.
Immerhin haben wir die Öfen gesehen, meinte er. Die waren doch ziemlich cool.
Sie machte eine angewiderte Handbewegung und sah aus dem Fenster.
Ach, sagte sie, ist auch egal. Es dauert bestimmt nicht mehr lange, dann sehe ich eine Gaskammer von innen. Bestimmt bauen sie sie schon und bereiten alles vor.
Wer?, fragte er.
Ist doch egal.
Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen und schlief ein. Und da schaute er sie dann an und dachte sogleich an ihren Grabstein:
MUTTER
Hier ruht sie.
Gut so.
Jetzt, dachte er, als er im Bett lag, brauche ich nur noch einen für mich. Und dass Mutter tot umfällt.
Das hätte ich nicht denken sollen, dachte er.
Immerhin habe ich es nicht gesagt.
Aber du hast es gedacht.
Das ist nicht so schlimm.
Es ist aber schlimm.
Da war es wieder. Das Geräusch.
Vielleicht war es ja nur der Wind.
Wahrscheinlich war es nur der Wind.
Kugel glitt leise aus dem Bett, kniete sich auf den Boden und drückte ein Ohr auf die kalte Metallklappe.
Anne?, flüsterte er.
Ich habe Hunger.
Mutter?, flüsterte er.
Ich habe Hunger, wiederholte Mutter.
Mutter, geh schlafen.
Ich habe Hunger. Kannst du mir eine Kleinigkeit bringen?
Kugel schaute über die Schulter nach Bree, die sich im Schlaf regte, sich auf die Seite drehte und die Decke über den Kopf zog.
Ich habe Hunger, rief Mutter.
Dann hol dir was.
Ich habe Angst.
Als er herausgefunden hatte, dass Mutter die Heizröhren verschmutzte, hatte sie behauptet, sie habe es getan, weil sie vor dem Mieter Angst habe, weil es ihr unangenehm sei, nachts das Zimmer zu verlassen, und dass sie oft die Tür mit einem Stuhl verbarrikadiere.
Das ist aber gefährlich, Mutter, hatte er gesagt.
Nicht so gefährlich, wie nicht zu verbarrikadieren, hatte sie entgegnet.
Bree drehte sich wieder herum und murmelte im Schlaf.
Bringst du mir denn etwas?, fragte Mutter.
Na gut.
Bring mir was zu essen.
Na gut!
Für eine Nacht der Stille, eine Nacht ohne Stöhnen, Ächzen und Ojen tat er alles.
Kugel ging hinab in die dunkle Küche, leuchtete mit der Taschenlampe zur Hintertür hinaus, um zu sehen, ob der Brandstifter da war, zeigte ihm den Finger, falls er da war, bestückte Mutter einen Teller mit Keksen und machte eine Tasse Tee, brachte es ihr aufs Zimmer, fragte sie zweimal, ob sie auf die Toilette müsse, solange er da sei, erfreute sich an der Stille, die darauf folgte, und ging wieder nach oben.
Sol, hörte er Mutter durch die Heizungsklappe im Flur rufen. Solly, ich habe was verschüttet.
Er zog die Dachbodentreppe herunter und stieg hinauf, um nach Anne zu sehen. Er hoffte, sie wählte gerade einen Umschlagentwurf aus und packte ihre Sachen zusammen.
Oben war es dunkel, das einzige sichtbare Licht war der blau-grüne Schein eines Computerbildschirms, der hinter den Kartons der Westmauer hervordrang. Ein positives Zeichen.
Hallo?, sagte er leise. Hallo?
Ein frustrierter Seufzer kam hinter der Mauer hervor.
Der Sohn tritt auf, sagte sie.
Kugel fiel auf, dass die Fenster mit einem schweren schwarzen Stoff verhängt waren. Er ging zum nächsten Fenster und zog daran.
Ihre Mutter, sagte Anne Frank, hat nicht nur überdurchschnittlich viel Zeit zur Verfügung, sie hat auch einen ziemlich düsteren Einrichtungsgeschmack.
Während des Tages, als Anne schlief und Kugel arbeitete, hatte Mutter die Dachfenster mit schwerem schwarzem Tuch verhängt, so wie es, hatte sie gelesen, auch auf dem echten Frank’schen Dachboden gewesen war, wodurch der Kugel’sche Dachboden noch dunkler und bedrückender wirkte als zuvor. Kugel fürchtete, Mutter könnte Anne Frank verärgern, sie stören, sie aufhalten und in ihrer Arbeit unterbrechen.
Ich rede mit ihr, sagte Kugel.
Er linste über die Kartonmauer; der Papierstapel neben dem Computer schien nicht sehr gewachsen zu sein, wenn überhaupt.
Vielleicht war er sogar kleiner geworden.
Er ging zu dem Fenster, das auf die Einfahrt blickte, und betrachtete das dunkle Tuch, das Mutter auf den Rahmen getackert hatte.
Ich bin nur neugierig, sagte Anne Frank. Was meinen Sie? Will sie nicht, dass andere hereinsehen, oder soll ich nicht hinaussehen?
Beides, sagte Kugel. Eigentlich ihre ganze Erziehungsphilosophie.
Komisch, sagte Anne Frank. Meine Mutter und ich sind nie gut miteinander ausgekommen. Wir haben uns über alles Mögliche gestritten. Aber letztlich hat uns dann der Völkermord einander nähergebracht.
Das ist wirklich komisch, sagte Kugel.
Wir weinten in dem Lager, sagte Anne Frank, und hielten einander fest, zitternd, sterbend, und sie sagte mir, dass ich etwas ganz Besonderes sei, und ich sagte ihr, wie sehr ich sie liebte, und wir beide entschuldigten uns immer wieder, dass wir all die Jahre so mit Zank verschwendet hatten.
Zum Schießen.
Was, glauben Sie, wäre passiert, fuhr Anne Frank fort, wenn sie überlebt hätte? Wenn wir nach dem Krieg irgendwo in Europa wieder zusammengefunden hätten, wenn wir uns eine kleine Wohnung in Paris, Mailand, Berlin, irgendwo genommen hätten? Wir hätten einander umgebracht, das wäre passiert, Mr Kugel. Wir hätten einander mehr gehasst als je zuvor.
Was hat das mit meiner Mutter zu tun?, fragte Kugel.
Lassen Sie sich vom Tod nicht täuschen, Mr Kugel. Der Tod hält keinen Rotstift über die Jahrzehnte von Leben, die ihm vorausgingen. Er ändert nichts. Ein freier Mann, sagte Spinoza, denkt zuallerletzt an den Tod. Das sollte für den Tod anderer ebenso wie für den eigenen gelten.
Kugel zog an dem schwarzen Tuch, das das Fenster bedeckte, doch es blieb fest.
Nun, fuhr Anne Frank beim Tippen fort, unsere Eltern lassen uns im Stich, meistens jedenfalls. Sie sollen uns lehren, wie man lebt, schon richtig, aber wichtiger wäre, dass sie uns lehren, wie man stirbt, uns lehren, dass es feige ist, sich mit dem Tod zu quälen, und dass man, wenn man vor dem Tod wegläuft, vor dem Leben wegläuft.
Sagte sie auf ihrem Dachboden, sagte Kugel.
Man beschämt eine Schildkröte nicht wegen ihres Panzers, sagte Anne Frank.
Schweigen. Tippen.
Eigentlich ist es ganz nett hier oben, sagte Kugel. Es hat einen gewissen fatalistischen Charme, ein gewisses je ne sais kack.
Wieder zerrte er an dem Stoff, riss ihn ein Stück vom Fenster los und spähte hinaus. Nicht genug Dachböden auf der Welt, dachte er. Nicht genug Dachböden auf der ganzen verfluchten Welt.
Wie läuft’s mit dem Buch?, fragte er.
Erst kam keine Antwort, dann sagte Anne Frank: Es tut mir leid, dass ich die Ursache solcher Reibereien in Ihrer Ehe bin. Ich vermute jedoch, dass die Ursachen tiefer liegende Probleme sind, die gar nichts mit mir zu tun haben.
Kugel riss den schwarzen Stoff ganz ab und schaute aus dem Fenster in das Dunkel darunter.
Er sollte sich wirklich einen Hund zulegen.
Ja, sagte er, Sie haben recht. Vermutlich hätten wir schon vor unserer Hochzeit ausdiskutieren sollen, wie wir damit umgehen würden, wenn wir Anne Frank auf unserem Dachboden entdecken. Das tun die meisten Paare, aber wir hatten es eilig. Wir hatten zwar einen Plan für den Fall, dass wir Simon Wiesenthal in unserer Speisekammer entdecken, aber das jetzt ist eine ganz andere –
Simon Wiesenthal, fauchte Anne Frank, war ein Arschloch.
Schweigen.
Und wie läuft’s jetzt mit dem Buch?, fragte Kugel.
Ich habe jede Menge Figuren im Kopf.
M-hm.
Ein Roman braucht Raum zum Atmen, Mr Kugel.
Klar.
Zweiunddreißig Millionen Auflage, sagte Anne Frank. Das ist nicht zu verachten.
Habe ich auch gehört.
Alles weniger als das, setzte sie hinzu, bedeutet Scheitern.
Kugel ging zum Fenster auf der anderen Seite des Dachbodens und riss auch da an der Verhüllung, wobei er allerdings merkte, dass er dafür hinter die östliche Kartonmauer treten musste. Dort war es dunkel, und dort zu sein spendete ihm einen merkwürdigen Trost, ein unvertrautes, aber willkommenes Gefühl der Sicherheit. Er war sich nicht ganz sicher, ob er wieder gehen wollte. Er fasste den schwarzen Stoff an der Ecke und zog, doch die Heftklammern hielten.
Legen Sie die Latte da nicht ein wenig hoch?, fragte er.
So viele habe ich schon einmal verkauft, sagte sie.
Ja, aber das war …
Das war was?
Das war was anderes.
Er zog erneut, doch seine Hand rutschte ab. Er musste wohl nach unten und einen Schraubenzieher holen.
Warum war das was anderes?, fragte Anne Frank.
Sie waren tot.
Die Leute haben mein Buch nicht gekauft, weil ich tot war.
Nein, natürlich nicht, ich habe nicht gemeint …
Sie haben es wegen der Qualität meines Werks gekauft.
Natürlich. Ich dachte nur … Ich glaube, die Leute lesen heute nicht mehr so viel, weiter nichts.
Beim Zurücktreten trat er auf etwas Kleines, Hartes, wie die Schale einer Walnuss, nur größer.
Was soll das denn heißen?, fragte sie.
Er hob den Fuß und tastete mit der Schuhspitze nach dem Gegenstand herum. Er fühlte mehrere dieser schalenartigen Dinger, worauf er fest an dem Stoff zog, damit Licht hereinfiel. Endlich gab die Ecke ein wenig nach, und ein kleiner Lichtkreis fiel auf den Fußboden.
Vielleicht sollten Sie ein Drehbuch daraus machen, sagte er.
Ein Drehbuch?, sagte sie. Ich bin Schriftstellerin, Mr Kugel. Prosakünstlerin. Ich erschaffe Welten mit Sprache, mit Bildern, mit Figuren. Ich schaue in den Abgrund und begrüße den Abgrund, wenn er in mich zurückschaut.
M-hm, sagte Kugel und bückte sich; mit einem Holzsplitter, der neben ihm auf dem Boden lag, stupste er die Dinger unter seinen Füßen ins nahe Mondlicht, bis er sehen konnte, was es war: hier ein Häufchen kleiner weißer Knochen, da der abgetrennte Kopf eines Eichhörnchens, dort der ausgenommene Kadaver einer Krähe, dessen verbranntes Fleisch von den Knochen abgezogen war.
Pulitzer, fuhr Anne Frank fort, nicht Oscar. Die Kunst ist nicht bequem, Mr Kugel, die Kunst ist nicht sicher.
Kugel erhob sich, die Hand auf dem Mund; der Gestank war unerträglich. Erneut zog er an der schwarzen Fensterabdeckung, und nun erhellte das Mondlicht eine Anzahl kleiner Nagerkadaver – Mäuse, Eichhörnchen und, dessen war er sich sicher, der gekochte Leib der vermissten Amberson’schen Katze, Sunshine. Neben den Kadavern war ein kleiner Haufen ihrer Köpfe, abgerissen oder -geschnitten, sowie ein Haufen Innereien in unterschiedlichen Stadien der Verwesung.
Jeder will einen van Gogh im Wohnzimmer, Mr Kugel, fuhr Anne Frank fort, aber keiner will van Gogh im Wohnzimmer. Das ist der Preis des Genies …
Kugel würgte. Natürlich leuchtete das ein; jeder, der so lange auf einem Dachboden lebte – doch die Galle stieg in seiner Kehle hoch, und alles drehte sich um ihn.
… und den bezahle ich gern, erklärte Anne Frank.
Kugel hörte gar nicht mehr zu, er musste nur noch weg, an die Luft, und er taumelte von der Wand weg, schnell, weg, weg – war das sein Haus?, war das er?, war das sie?, war das Überleben? – er geriet ins Stolpern, und plötzlich strauchelte er, fiel, und der Dachboden schien ins Dunkel zurückzuweichen, als er rückwärts die Dachbodentreppe hinunterstürzte.
Solomon!, rief Bree aus dem Schlafzimmer.
Jonah fing an zu weinen.