30.
Wie sich zeigte, hatte Solomon Kugel in der Nacht, in der er einen flüchtigen Brandstifter im Wald hinter seinem Haus entdeckt hatte, so gut wie seit Wochen nicht geschlafen.
Endlich waren Annes Geräusche, das Husten und das Tippen in der Nacht beruhigend, denn er wusste, solange sie lebte, war er sicher. Dann würde sein Haus nicht abbrennen, sein Leben ihm nicht genommen. Er schaffte es sogar, lange auszuschlafen, da Mutter zur Abwechslung einmal nicht schreiend aufwachte. Vielleicht hatte der Umstand, dass sie Anne Frank geholfen hatte, ihre Schuldgefühle, keine Holocaust-Überlebende zu sein, gemindert. Vielleicht war sie ja auch tot.
Nur nicht so vorschnell, mein lieber Kugel.
Kugel stand auf und streckte sich im schönen Licht der Morgensonne, und dabei fiel ihm beim Blick aus dem Schlafzimmerfenster auf, dass das Gemüse und Obst, das er am Vortag für Mutter hinausgelegt hatte, verschwunden war. Am Abend hatte er vergessen, es hereinzuholen, dessen war er sich sicher; hatte Mutter es tatsächlich eingesammelt? Das hatte sie doch seit Wochen nicht mehr gemacht.
War das also ein gutes Zeichen?
Beschleunigte sich ihre Demenz?
Zum ersten Mal seit ewigen Zeiten war Kugel, nun ja, glücklich. Der Neuanfänger fing neu an.
Er überlegte, ob er Bree anrufen und ihr die gute Nachricht mitteilen sollte. Nein, Mutter war ja noch nicht auf und Anne Frank auch nicht, aber die Familie war vor dem Feuer sicher, wenn man Anne nur noch ein wenig am Leben hielt – Bree würde zugeben müssen, dass er recht gehabt hatte, sie auf dem Dachboden bleiben zu lassen! –, und dann, wenn Will gefasst und weggesperrt wäre, würde sie sterben, da sie ja schon schrecklich krank war.
Von Fin erzählte er Bree aber erst – vielleicht bei einem ruhigen Diner bei Kerzenschein und einer Flasche Champagner –, wenn sie zurück war, und danach würden sie ins Bett fallen, endlich wieder vereint.
Er überlegte kurz, ob er Professor Jove anrufen sollte, um ihm die gute Nachricht zu erzählen. Bah!, dachte er. Zum Teufel mit Professor Jove! Der würde doch nur Wege finden, Kugels gute Stimmung zu ruinieren, den Wolkenstreif an seinem silbernen Sonstwas zu finden, und ihm dann eine happige Rechnung schicken. Und überhaupt, was wusste Professor Jove denn schon so richtig von Fleisch und Blut und Leben und Tod? Philosophie? Der Geist? Die Psyche? Alles Luxus. Als würde man, dachte Kugel, die Fenster eines Hauses putzen, das schon verfällt und bald abgerissen wird. Er stellte sich vor, wie Professor Jove neben einer sterbenden Anne Frank irgendwo in Bergen-Belsen saß:
Mir ist kalt, würde Anne Frank sagen.
Natürlich, würde Professor Jove antworten. Sie liegen ja im Sterben.
Aber ich will leben, würde Anne Frank sagen, ich bin doch noch ein Kind.
Klopf-klopf, würde Professor Jove antworten.
Was?
Klopf-klopf.
Wer ist da, würde sie matt murmeln.
Der Tod.
Welcher Tod?
Der Tod, Anne. Der Tod. Du liegst im Sterben.
Das kapier ich nicht.
Da gibt’s nichts zu kapieren. Es ist vorbei. Du bist erledigt.
Nein, Professor Jove brauchte er nicht, nicht heute, vielleicht nie mehr. Vielleicht stimmte es ja, dass es geradezu lächerlich optimistisch war zu glauben, dies sei die beste aller möglichen Welten. Aber war es dann nicht auch ebenso lächerlich optimistisch zu glauben, dies sei die schlechteste aller möglichen Welten? Zu glauben, es gebe nirgendwo eine schlechtere? Bestimmt konnte, musste es sie geben – selbst wenn es genau dieselbe war wie diese, wo aber nur, sagen wir, Schokoladeneis fehlte. Eine Welt, die genau wie unsere war, in der es eben nur kein Schokoladeneis gab, wäre doch viel schlechter als diese, und irgendwo musste es doch noch schlechter sein, noch viel schlechter als hier. Da, wo es keinen Jonah gab und auch keine Bree.
Vielleicht würde er ja endlich das Große Gespräch mit Jonah führen. Vielleicht würde er ihm Anne Frank vorstellen. Es ist nicht die beste Welt, Kleiner, aber auch nicht die schlechteste. Vielleicht erscheint Godot ja im dritten Akt, mein Sohn, vielleicht geht das Publikum einfach nur zu früh.
ESTRAGON: Wo sind sie denn alle hin?
VLADIMIR: Gerade waren sie noch da.
GODOT: Kommen sie wieder?
Sie warten.
Vorhang.
Das Letzte, was Lou Costello aß, bevor seine Seele diese Welt verließ, war ein Erdbeereisbecher. Mit zwei Kugeln. Seine letzten Worte:
Das war der beste Eisbecher, den ich je gegessen habe.
Lou gewinnt, dachte Kugel.
Der lächelnde Mann gewinnt.
Tritt man lächelnd ab, gewinnt man.
Gogols Grabstein: Und ich werde bitter lachen.
Mel Blancs Grabstein: Das war’s, Leute.
SpongeBob Schwammkopf: Ich bin ein taubes Nüsschen, yeah, du bist ein taubes Nüsschen, yeah, wir alle sind taube Nüsschen.
Nicht weiter stören.
Kugel zog sich an und ging hinunter in die Küche, wo Mutter am Tisch saß und eine Tasse Tee trank.
Ich rufe jetzt einen Arzt an, sagte er. Ich weiß, du bist dagegen, Mutter, aber wir sind verantwortlich für sie, und ich habe mich nun dazu entschlossen. Wir können nicht zulassen, dass Anne Frank unter unserer Aufsicht stirbt.
Mutter schwieg einen Moment und sagte dann leise, wütend: Schmeiß diese verfluchte Hure aus dem Haus.
Kugel drehte sich zu ihr um.
Was?
Ich sagte, wiederholte Mutter mit anschwellender Stimme, schmeiß diese verfluchte HURE aus dem Haus.
Sie stand auf, Anne Franks Manuskript in der Hand.
Mutter, sagte Kugel, jetzt beruhige dich erst mal.
Mutter warf ihm das Manuskript hin, die Seiten flatterten wild auf den Fußboden. Dann zeigte sie zur Decke.
Ich weiß nicht, wer diese Schlampe ist, sagte sie, aber ich weiß, sie ist nicht Anne Frank. Anne Frank würde solche Sachen niemals schreiben. Anne Frank würde solche Sachen nicht mal denken.
Sie schlug sich die Hände vors Gesicht und lief, zitternd vor Wut, auf und ab.
Wenn ich nur daran denke, sagte sie. Den Namen eines armen, ermordeten Kindes zu missbrauchen, um sich Gefälligkeiten zu erschleichen, kostenlos Essen zu bekommen, Bücher zu verkaufen. Es widert mich einfach nur an.
Sie trat gegen die Manuskriptseiten auf dem Fußboden.
Schmeiß sie raus, Solomon. Schmeiß diese verlogene alte Hure raus hier, oder ich schwöre bei Gott, ich zerre sie an den Haaren die Treppe herunter und setze sie eigenhändig vor die Tür.
Mutter, sagte Kugel. Beruhige dich. Wer sie auch sein mag, sie ist eine Überlebende.
Eine Lügnerin ist sie, Solomon, wahrscheinlich hat sie sich diese Zahlen selber auf den Arm gemacht.
Das ist doch lächerlich, sagte Kugel. Wir können sie nicht rausschmeißen.
Mein Gott, fuhr Mutter fort, was ich nicht alles für sie getan habe, was ich ihr nicht erzählt habe, über mich, meine persönlichsten … und du! Du willst ein Vater sein? Du willst ein Ehemann sein? Du lässt diese Frau zwischen dich und deine Frau kommen, dich und dein Kind – und noch immer verteidigst du sie? Diese Gaunerin, diese Schlawinerin, diese, diese … Nazi!
Mit Hass in den Augen wandte sie sich zu Kugel um.
Schmeiß sie raus, sagte Mutter. Schmeiß sie auf der Stelle aus dem Haus.
Hannah kam in die Küche und versuchte, Mutter zu beruhigen.
Was ist denn passiert?, fragte sie Kugel, während sie Mutter auf einen Stuhl half. Mutter setzte sich schwerfällig hin; nachdem ihr Ausbruch nun vorüber war, schien sie jede Energie verloren zu haben, jeden Willen. Mit leerem Blick starrte sie auf den Boden, zusammenhanglos vor sich hin murmelnd.
Das letzte Hurra, sagte Kugel. Der Arzt hat gesagt, es werde so kommen.
Komm, wir bringen dich ins Bett, Mutter, sagte Hannah. Sollen wir an dem Album arbeiten? Mutter? Mutter, hättest du das gern, dass wir an deinem Album arbeiten?
Hannah half Mutter auf und führte sie in ihr Zimmer, wo sie bei ihr blieb, Sachen aus Zeitungen und Geschichtsbüchern ausschnitt und auf die Seiten des Albums klebte, bis Mutter schließlich müde wurde und einschlief.
Unterdessen hatte Kugel einen Arzt aus dem Ort angerufen, der sich nach vielen Einwänden doch noch bereit erklärte, am Abend auf einen Hausbesuch vorbeizukommen.
Kugel legte auf und hätte fast die Hände zum Siegesjubel in die Luft gereckt. Er war bester Stimmung. Keine Branddrohung, eine fast fertig geschriebene Erstfassung und Mutter offenbar in den letzten Zügen. Konnte der Tag noch besser werden?
Sol, hörte er Hannah sagen.
Er drehte sich zu ihr um. Neben ihr stand Pinkus.
Ich glaube, es wäre besser, sagte sie, wenn wir ausziehen.
Unglaublich, sagte Kugel.
Es tut uns leid, sagte Pinkus.
Un-glaub-lich, sagte Kugel noch einmal.
Auch Hannah entschuldigte sich. Aber wenn sie blieben, meinte sie, würde das die Behauptungen der Frau auf dem Dachboden bestätigen, was Mutter nur noch mehr aufregen würde.
Kugel nickte.
Dann lasst mich euch wenigstens, sagte er, packen helfen.
Hannah umarmte ihn, und er umarmte sie. Pinkus erbot sich, Kugel zu helfen, die Matratze vom Dachboden herunterzutragen, doch Kugel versicherte ihm, das werde nicht nötig sein.
Mutter stand während der ganzen Zeit, in der sie packten, nur einmal auf, und zwar, um auf die Toilette zu gehen. Ihr Zustand hatte sich eindeutig verschlechtert. Sie bewegte sich wieder langsam, und ihre ganze Haltung schien sich verändert zu haben, von aufrecht und getrieben noch gestern zu gebeugt heute. Das tröstliche alte Gewicht von Sonstwas lastete endlich wieder auf ihren krummen Schultern. Kugel sah sie sich an und kam zu dem Schluss, am nächsten Morgen seinem Vorgesetzten eine E-Mail zu schreiben, um zu sehen, ob nicht eine kleine offene Aussprache möglich wäre. Er würde ihm alles erklären, was passiert war, alle Schuld auf sich nehmen und darum bitten, seine alte Stelle wiederzubekommen; sie seien doch ein tolles Team und hätten schon tolle Arbeit zusammen geleistet, und es wäre doch schade, wenn das alles nur wegen ein paar Wochen Stress und Anspannung kaputtgehen würde. Ich war doch seit den Komposttagen hier, würde er sagen. Ob der Vorgesetzte denn wisse, dass der Umzug in ein neues Haus als eines der stressigsten Dinge gelte, die ein Mann durchmachen könne, gleich nach einem Todesfall in der Familie? Noch stressiger als eine Scheidung? Das würde er ihm sagen, und es sind weiß Gott schon merkwürdigere Dinge passiert.
Es wurde ein ganz schön toller Tag. Am Nachmittag schienen sogar die Medikamente, die er Anne gebracht hatte, zu wirken; ihr Husten hatte nachgelassen, er hörte sie durch die Klappen wie gewöhnlich tippen und brummeln. Er half Hannah und Pinkus, ihre Sachen zum Auto zu tragen, hievte die Koffer in den Kofferraum und schloss ihn mit einem befriedigenden Knall.
Dank doch bitte Bree für uns, sagte Hannah.
Na sicher, sagte Kugel, na sicher. Sie ist bald wieder da, vielleicht schon morgen. Hey, wisst ihr, was? Kommt doch am Sonntag auf ein Barbecue, was meint ihr?
Hm, sagte Hannah. Erst mal sehen, wie’s Mutter geht.
Na sicher, sagte Kugel, na sicher.
Er winkte ihnen nach, als sie die Einfahrt hinausfuhren, und er lächelte. Er zog sein Handy hervor und wählte Mutters alte Nummer in Brooklyn.
¿Sí?, sagte eine Frau am anderen Ende.
Hallo?, sagte Kugel.
¿Sí?
Ist Bree Kugel da? Hier spricht ihr Mann.
Nein, nein, sagte die Frau, Miss Bree nicht da. Ich bin da, mit Jonah.
Oh, sagte Kugel.
Sie ist Mann lesen hören, sagte die Frau.
Sie ist zu einer Lesung gegangen, sagte Kugel.
Ja, ja, Lesung. Berühmte Mann.
Philip Roth?
Ich weiß nicht.
Nicht Philip Roth?
Ich weiß nicht.
Kugel lächelte. Er freute sich für sie.
Das ist ja toll, sagte Kugel, ganz toll. Würden Sie ihr sagen, sie möchte mich gleich anrufen, wenn sie wieder da ist?
Ja, sí.
Und würden Sie Jonah sagen, dass wir uns bald sehen?
Sí, sí.
Kugel klappte das Handy zu und holte tief Luft. Leise pfeifend schlenderte er am Haus vorbei nach hinten auf den Rasen. Weitere Sämlinge waren im Gemüsegarten gewachsen.
Will?, rief er.
Er brauchte jemanden, dem er die gute Nachricht erzählen konnte.
Will?
Na, dann sagte er es ihm eben später.
Erst als Kugel wieder auf dem vorderen Rasen war, roch er den Rauch.
Etwas brannte.
War es der Herd der Nachbarn? Verbrannte jemand Laub? In seinem Kopf raste es, und dann sah er den Rauch unter der Haustür hervorkriechen.
Will!, brüllte er, als er zur Tür rannte. Will!
War Anne gestorben? Das war doch absurd. Wie sollte Wilbur das so schnell erfahren haben, selbst wenn sie tatsächlich tot war?
Hatte Mutter sie umgebracht?
Kugel riss die Haustür auf. Schon füllte Rauch den unteren Flur aus, und er sah Flammen, die zornig unter Mutters Zimmertür hervorzüngelten.
Mutter!, schrie er.
Er rannte zu ihrer Tür und versuchte, sie zu öffnen, doch der Türknauf, heiß von den Flammen dahinter, versengte ihm die Hand. Er trat mit aller Kraft dagegen, doch es zeigte keinerlei Wirkung.
Mutter!, schrie er.
Er rannte wieder hinaus – der Rauch war nun im gesamten Erdgeschoss – und raste ums Haus zum Fenster von Mutters Zimmer. Darin war dichter Rauch, trotzdem konnte er Mutter sehen, die am Bett mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lag. Er hämmerte an die Scheibe, doch sie regte sich nicht. Das Fenster stand leicht offen, und er griff hinein und drückte es ganz nach oben; der Sauerstoffschub fachte die wütenden Flammen an, sie schlugen nach ihm und versengten die Hausverkleidung. Er wartete einen Augenblick, bis sie nachgelassen hatten, dann stieg er hinein.
Mutter!, schrie er, als er drin war, doch sie regte sich nicht.
Er rannte zur Tür – wie immer hatte sie einen Stuhl unter den Knauf gekeilt, damit sie nicht geöffnet werden konnte. Er trat den Stuhl beiseite, zog den Ärmel über die Hand und riss die Tür auf, versuchte, den Rauch aus der Luft zu wedeln, doch die Flammen brausten nur wieder auf und brandeten als gewaltige Feuerwelle in den Flur. Er streckte den Kopf durch die Haustür und mühte sich hustend, kontrolliert zu atmen. Schon brannte das Mieterzimmer lichterloh, und an der Flurdecke leckten Flammen. Schwarzer Qualm wallte Richtung Küche und die Treppe hinauf, auch das hölzerne Treppengeländer hatte schon Feuer gefangen.
Er lief wieder zu Mutter, die sich noch immer nicht regte; um sie herum lagen verbrannte und geschwärzte Seiten von Anne Franks Manuskript. Die übrigen lagen auf dem Rost des versiegelten Kamins, wo Mutter es angezündet hatte.
Mutter, sagte er leise, Mutter, was hast du getan?
Doch sie antwortete nicht.
Mit seinem unverletzten Arm zog er sie in eine sitzende Position, legte sie sich über die Schulter und richtete sich mühsam auf. Er humpelte mit ihr aus ihrem Zimmer, durch den lodernden Flur zum Wohnzimmer. Die Decke über der Haustür war herabgestürzt, so blieb als Ausweg nur noch die Gartentür in der Küche.
Auch die Treppe brannte jetzt. Er musste sich sofort entscheiden. Wenn er Mutter hinausschaffte, würde er auf keinen Fall Anne Frank retten können. Rettete er Anne Frank, würde er auf keinen Fall Mutter retten können.
Er kniete nieder und rollte Mutter von der Schulter auf den Fußboden. Ihre Beine waren geschwärzt, blutig und voller Blasen, ihre Kleidung an manchen Stellen versengt, an anderen brannte sie. Auch ihr Hals war so stark verbrannt, dass die Haut schon Blasen warf und blutete. Ihre Atmung war flach, und obwohl auch ihr Gesicht große Blasen und Verbrennungen aufwies und ihre Lippen aufgeplatzt waren, konnte Kugel sehen, dass Mutter lächelte. Das hatte er so lange nicht mehr gesehen – überhaupt je einmal? –, dass er es zunächst für eine Entstellung durch die Verbrennungen hielt, aber dann beugte er sich näher zu ihr, und da lächelte sie noch breiter. Sie war, in Todesqualen, endlich glücklich.
Diese Hundesöhne, sagte sie leise.
Ich weiß, sagte Kugel.
Seit dem Krieg.
Ist ja gut, Mutter, sagte Kugel und küsste sie auf die Stirn. Ist ja gut.
Dann löste Kugel sich von ihr und lief die Treppe hoch, hangelte sich an den Stellen, wo die Stufen schon weggebrochen waren, am Geländer weiter. Er hatte keine Ahnung, wie er wieder hinunterkommen sollte, aber das würde er sich später überlegen – vielleicht würde inzwischen ja die Feuerwehr da sein und sie konnten durch ein Dachfenster aussteigen.
Hörte er Sirenen?
Er glaubte, Sirenen zu hören.
Wahrscheinlich waren es Sirenen.
Er zog die Dachbodentür herunter, von oben quoll ihm schwarzer Rauch entgegen. Er stieg die Treppe hinauf, rief hustend nach ihr, fand es immer schwieriger, überhaupt etwas Luft in die Lungen zu bekommen. Hier oben war der Rauch viel schwerer. Er blieb stehen, überlegte einen Augenblick, ob er wieder hinuntergehen sollte, doch er konnte sie ja nicht da liegen lassen. Er hievte sich auf den Dachboden, versuchte, dicht am Fußboden zu bleiben, machte man das nicht so?, dicht am Boden bleiben, oder war es das Gegenteil, sollte er sich vom Fußboden fernhalten? Er wusste es nicht mehr, allerdings wusste er, dass der Verkäufer gesagt hatte, die Auflage mit dem Memory Foam sei ein wenig entflammbar, und nun sah er sie lustig brennen, ein Feuerbett, ein Flammenbett, als wäre es mehr als alles andere ein Kohlenbett, ein Bett in der Hölle, und er überlegte, ob sie es jetzt überhaupt noch zurücknehmen würden, ob sie es ihm erstatten würden, aber das bezweifelte er, und Bree würde sich auch aufregen, und dann sah er plötzlich, wie die Kartonmauer einstürzte, und er glaubte, das komme vom Feuer, glaubte, sie sei bestimmt schon tot, aber durch den Qualm sah er die Gestalt – wirklich? ja – eines Mannes, ein Feuerwehrmann, dachte er, nein, der Mann hatte ja gar keinen Helm, keinen Mantel. Kugel konnte ihn nicht richtig erkennen, das Feuer war so heiß, der Rauch brannte ihm in den Augen, vielleicht war es ein Feuerwehrmann, vielleicht war es auch Will, war es Will? Er wusste es nicht, aber jemand stand da aufrecht, er war kleiner als Will und schmal, aber er trug Anne Frank auf den Armen, trug sie zum Dachfenster an der Ostseite des Hauses, und da hörte Kugel sie, Anne Frank, und sie lachte ihn aus.
Sie hätten es nie geschafft, Mr Kugel!, rief sie. Sie hätten in Auschwitz keine fünf Minuten überlebt. Ich bin eine Überlebende, Mr Kugel!
Kugel kroch vorwärts, versuchte, zum Fenster zu kommen, zu erkennen, wer das war, vielleicht war es ja Professor Jove. War Professor Jove endlich gekommen? Oder würde er sagen, dass Kugel gar nicht erst versuchen solle zu überleben, dass er aufgeben solle? Was sagte der Barmann zum Huhn? Warum überquerte die Ziege die Farm? Was kriegt man, wenn man am Kreuz ist? Aua. Trottel. Bah. North. Sag ihnen, ich hab was gesagt. Dachträger. Waren das Sirenen? Hörte er Sirenen?
Kugel erreichte Annes Schlafstelle, die alten Decken brannten, loderten, heiß, und obwohl sie schon am Fenster war und der, der sie da trug, sie schon fast zum Dach hinaus hatte, nahm Kugel ihren Laptop und hielt ihn ihr hin, und da lachte sie erneut.
Nein danke, Mr Kugel, rief sie, ich habe diese Holocaust-Scheiße satt. Ich wende mich wieder meinem Roman zu, Mr Kugel, ich bin Schriftstellerin, keine blöde Essayistin! Zweiunddreißig Millionen Auflage, das ist kein Pappenstiel …
… und während der Mann ihr durchs Fenster half, erhaschte Kugel einen Blick auf ihn, nur für einen kurzen Augenblick, im Sonnenlicht, und er überlegte: Konnte das denn, konnte das denn wirklich er sein, war das überhaupt möglich, wie konnte das möglich sein? Kugel rappelte sich auf, nur ein bisschen noch, nur das kleinste bisschen, doch er hatte keinen Atem mehr, keine Luft, und mit der letzten verbliebenen Kraft in seinem verbrannten und blutenden Körper zog er sich auf die Knie, und da sah er ihn endlich, ja, tatsächlich, mein Gott, er war es, war er es? Konnte er es denn sein? Und er streckte die Hand nach ihm aus, um Hilfe, um Rettung, doch der Mann wandte sich ab und verschwand, und Kugel rief ihm nach, und die Worte, die Solomon Kugel ihm zurief, waren die letzten beiden Worte, die Solomon Kugel noch sprach:
Alan, japste Kugel. Dershowitz.
Die Flammen brausten um ihn herum, die Welt wurde gelb und orange und schwarz, und es gab nur noch Feuer und dann Dunkelheit, und Kugel legte den Kopf nieder und schloss die Augen, denn er war sehr, sehr müde, und er wollte dringend, dringend schlafen.
Anne Frank?, dachte er.
Komisch.