2.

Solomon Kugel lag im Bett und stellte sich vor, wie er bei einem Hausbrand erstickte, denn er war Optimist. Das jedenfalls meinte sein zuverlässiger Ratgeber, Professor Jove, sein Leitbild. So sehr wolle Kugel, dass sich alles zum Besten kehre, erklärte Professor Jove, dass er immerzu Angst vor dem Schlimmsten habe. Die Hoffnung, sagte Professor Jove, sei Solomon Kugels größte Schwäche.

Kugel versuchte, sich zu ändern. Es würde nicht leicht werden. Er hoffte, er könnte es.

Kugel starrte stumm an die Decke über seinem Bett und horchte.

Er hörte etwas.

Er war sich ganz sicher.

Da oben.

Auf dem Dachboden.

Was ist das?, überlegte er.

Ein Kratzen?

Ein Scharren?

Ein Tapp-tapp-Tappen.

Der andere Grund, weswegen Kugel im Bett lag und sich vorstellte, wie er bei einem Hausbrand erstickte, war der, dass jemand Farmhäuser anzündete, genau solche wie das, das er und seine Frau unlängst erworben hatten. Die Brandserie begann bald, nachdem die Kugels eingezogen waren; in den sechs Wochen seither waren drei Farmhäuser abgefackelt worden. Der Polizeichef von Stockton schwor, er werde den Verantwortlichen schnappen, wer es auch sei. Kugel hoffte es, hatte aber, seit das erste Farmhaus in Flammen aufging und niederbrannte, nicht mehr geschlafen.

Da war es wieder.

Das Geräusch.

Vielleicht waren es Mäuse.

Wahrscheinlich waren es Mäuse.

Hier stehen hundert Farmhäuser, du Blödmann. Warum sollte er es auf dich abgesehen haben? Wir sind hier auf dem Land.

Du machst dir selber Angst.

Du quälst dich.

Es ist narzisstisch.

Es ist Größenwahn.

Es ist Optimismus.

Es sind Mäuse.

Klingt aber nicht nach Mäusen.

Kugel dachte häufig an den Tod und sogar noch häufiger ans Sterben. Tat er das wirklich, so fragte er sich, weil er Optimist war? Genau deshalb, hatte Professor Jove erklärt. Kugel liebe das Leben, bemerkte Professor Jove, daher erwarte er viel zu viel davon; wild versessen aufs Leben, habe er eine Heidenangst, dass jemand durch Gewalt oder Zufall seinen vorzeitigen Tod verursachen könnte. Kugel verwies zu seiner Verteidigung darauf, dass er ja nicht glaube, jemand wollte ihn umbringen, er finde es nur einfach durchaus im Bereich des Möglichen, dass jemand, ihm unbekannt und aus noch zu erhellenden Gründen, es tun könnte; es gebe einen Unterschied, führte er an, wie klein auch immer, zwischen Paranoia und Pragmatismus.

Kugels Mutter wiederum ängstigte sich weniger vor dem Tod als vor dem Leben. Ihr Leben war bedauerlicherweise zu gut, zu glatt verlaufen, überdurchschnittlich in puncto Komfort und Sicherheit, unterdurchschnittlich in puncto Leiden und Schmerzen, besser, als man mit Recht erwarten, und herzloserweise viel länger, als man mit Recht verlangen konnte. Am Leben und glücklich, rief sie.

Insbesondere dachte Kugel an das Sterben selbst. Er dachte an den Schmerz, an die Angst. Am meisten aber dachte er daran, was er im letzten Augenblick wohl sagen würde, an seine ultima verba, seine letzten Worte. Sie sollten weise sein, fand er, was aber nicht missmutig oder stumpf hieße; einfach, dass sie etwas bedeuteten, etwas Besonderes sein sollten. Sie sollten offenbaren, erhellen. Er wollte nicht überrascht werden, sprachlos, ächzend, im allerletzten Augenblick nicht wissen, was er sagen sollte.

Nein, halt, ich uff.

Darüber habe ich eigentlich nicht weiter klatsch.

Könnte ich doch nur peng.

Wir, die ganze Menschheit, sind eine Geschichte, kollektiv wie individuell, und Kugel wollte nicht, dass seine individuelle Geschichte mit einer Ellipse endete. Ein Punkt, klar, wenn man Glück hat. Ein Ausrufezeichen, okay. Ein Fragezeichen, möglicherweise; das waren doch die Satzzeichen, mit denen alle Geschichten enden sollten, die kollektiven wie die individuellen.

Aber nicht mit einer Ellipse.

Alles, nur keine Ellipse.

Lass es nicht so enden, sagte Pancho Villa, um Worte verlegen, nachdem man ihm neunmal in Brust und Kopf geschossen hatte. Sag ihnen, sagte er, bevor er starb, dass ich etwas gesagt habe.

Für solche Gedanken hatte Kugel ständig ein kleines Notizbuch samt Stift dabei, und ab und zu, wenn ihm ein passender letzter Gedanke oder eine finale Wendung einfielen, schrieb er sie schnell hinein. Mit den Jahren hatte er so manches Notizbuch gefüllt, doch die präzise, die richtige Idee, die stand noch aus. Der Unterschied zwischen dem richtigen Wort und dem falschen Wort, schrieb Mark Twain, ist der Unterschied zwischen Blitz und Glühwürmchen.

Twains letzte Worte, an seine Tochter, waren: Wenn wir uns wieder

Dann starb er.

Also ist auch das Timing wichtig.

Kugel hoffte, dass alles, was er sagte, wenn es einmal so weit sein würde, eines Tages noch einmal gesagt, dass es gehört und weitererzählt würde, über alle Generationen hinweg, die es bis zum großen Ende eben noch gebe. Er hoffte, es werde etwas sein, was sein geliebter Sohn Jonah noch in Erinnerung behalten werde, etwas, woran sich der Junge in schwierigen Zeiten, lange nachdem sein Vater verstorben wäre, orientieren und in diesen sorgfältig gewählten Worten ein Licht, eine Weisheit finden könne (vorausgesetzt natürlich, dass Jonah nicht vor ihm starb oder dass sie, Vater und Sohn, bei einem tragischen Unfall zusammen starben; sollte das der Fall sein, dann wusste Kugel schon genau, was er Jonah sagen würde, beispielsweise in einem Flugzeug, das auf die Erde stürzt. Er würde sagen: Es tut mir leid, es tut mir leid, aber wenigstens ist es vorbei. Oder etwas wie: Tja, mein Sohn, das war der harte Teil. Das Leben ist vorbei. Danach, mein Junge, ist alles super).

Letztlich erhoffte Kugel sich dies: dass seine letzten Worte das alles sinnvoll erscheinen ließen, alles dieses Leben, diese Anstrengungen, diese schreckliche Plackerei immerzu. Diese ungewollte, unerbittliche Existenz. Dass es nicht nur eine Bühne war, dass wir nicht lediglich Schauspieler waren. Kugel konnte nie an Gott glauben, aber er konnte auch nie nicht an ihn glauben; es sollte einen Gott geben, fand Kugel, auch wenn es ihn wahrscheinlich nicht gab.

Lukas zufolge, dem Autor des gleichnamigen Evangeliums, sagte Jesus, als er am Kreuz starb, Folgendes: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände.

Hm.

Ein bisschen durchsichtig. Ein bisschen selbstgefällig. Ein bisschen blasiert. Wo sollte der Geist denn sonst hin, wenn nicht zu Gott? Der Augenblick, bevor man vor seinen Schöpfer tritt, ist wahrscheinlich nicht der richtige Moment, um so zu tun, als erweise man Ihm einen großen Gefallen, indem man Ihm seine Seele befiehlt.

Kugel ging auf die vierzig zu, und obwohl er sich noch nicht ganz entschieden hatte, was seine letzten Worte sein sollten, wusste er doch schon lange mit Sicherheit, was sie nicht sein sollten: Sie sollten nicht flehentlich sein. Mehr als alles andere wollte er nicht flehen. Kein Bitte. Kein Nein. Kein Halt. Kein Bitte, nein; kein Nein, halt; kein Halt, bitte. Kein Nein, nein, nein. Kein Bitte, bitte, bitte. Kein Halt, halt, halt.

Bitte tut mir nicht weh, flehte die Mätresse Ludwigs XV. ihren Scharfrichter an, als er sie zur Guillotine führte.

Er tat ihr weh.

Nun mal ganz ruhig, sagte Malcolm X zu seinen Mördern.

Sie erschossen ihn mit sechzehn Kugeln.

Vielleicht waren sie ja ganz ruhig, dachte Kugel. Vielleicht hatten sie vorgehabt, ihn mit zwanzig Kugeln zu durchlöchern. In diesen Dingen geziemt es sich für das Opfer, präzise zu sein.

Kugels Abneigung gegen das Flehen entstammte weder Stolz noch einem Übermaß an Mut; er hoffte nur, nicht in eine Situation zu kommen, in der Flehen helfen könnte. Bei Altersschwäche hilft kein Flehen. Bei Krebs hilft kein Flehen. Mit diesen Toden konnte er leben. Man kann kein Auto anflehen, dass es einen nicht überfährt, kein Klavier, dass es einem nicht auf den Kopf fällt. Man kann nur Menschen anflehen. Jede Situation, in der Flehen hilfreich sein konnte, war zwangsläufig eine, in der das eigene Leben in der Hand eines Anderen lag, ein bestürzend prekärer Ort für das eigene Leben. Kugel war entschlossen, nicht von der Hand eines anderen zu sterben, wenn auch nur, um seine Mutter zu widerlegen, die darauf beharrte, dass ihre letzten Worte wie auch die ihres Sohnes und des Sohnes ihres Sohnes, egal welche, in einer Gaskammer gesprochen werden würden.

Oder in einem Ofen.

Oder ganz unten in einem Massengrab.

Oder ganz oben in einem Massengrab.

Da war es wieder. Das Tappgeräusch.

Die Verbringung in ein Massengrab war nur dann von Belang, vermutete Kugel, wenn man noch am Leben war, wenn sie einem irgendwie ins Bein oder den Arm geschossen hatten und die Wunden nicht tödlich waren. In dem Fall wäre es weit, weit besser, ganz unten in einem Massengrab zu liegen, wo das Gewicht der Leichen darüber einen totquetschen und das Leben gnädigerweise schnell beenden würden, statt dass man langsam und qualvoll ganz oben auf dem Leichenhaufen starb und vielleicht sogar noch lebte, wenn sie einen begruben.

Tapp. Tapp-tapp-tapp.

Er war sich sicher.

Auf dem Dachboden.

Außer sie schossen noch ein zweites Mal in den Leichenhaufen. Dann wäre es ganz oben natürlich besser.

Folgendes sagte Samuel Becketts Vater, kurz bevor er starb: Was für ein Morgen.

Ein bisschen ironisch, das, dachte Kugel. Ein Lächeln. Das Lachen, das über das Unglückliche lacht.

Oder übers Sterben.

Vielleicht ginge das:

Was für ein Tag.

Sieht nach Regen aus, ihr Trottel.

Kugel überlegte, was wohl die letzten Worte seines Vaters gewesen waren oder ob er letzte Worte gesprochen hatte oder ob er tot war oder lebte.

Es wurden Fehler gemacht?

Kugel hatte eine Theorie. Kugel war überzeugt, dass jeder, egal welche letzten Worte er in seinem letzten Augenblick auch sprechen mochte, doch eigentlich nur einen Gedanken hatte, mehr nicht: die verwirrte, entgeisterte Enttäuschung über die Todesursache.

Ein Hai?

Ein Zug? Wirklich? Ich werde von einem Zug überfahren?

Malaria? Ach, komm. Malaria?

Ungeachtet dessen, was gesagt wurde, war doch das und nur das der letzte Gedanke eines Menschen, die letzte reine Erkenntnis, die einem Menschen, jedem Menschen, durchs Gehirn fuhr, bevor dieses Gehirn für immer aufhörte zu arbeiten. Nicht Shema yisroel adonai elohainu adonai echad. Nicht Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt. Nur die lächerliche, lachhafte Ursache des eigenen unergründlichen, unbegreiflichen Ablebens.

Krebs?

Tuberkulose?

Benito Mussolinis letzte Worte, als er seinem Henker gegenüberstand, waren folgende:

Schieß mir in die Brust!

Sein letzter Gedanke dagegen, da war sich Kugel sicher, war der:

In die Brust geschossen?

Da war es wieder dieses Geräusch.

So eine Art Trippeln. Ein Schleifen.

Kugel setzte sich auf.

Da war doch was.

Da oben war was.

Denn schließlich wird kein Tod einem Leben jemals gerecht. Unser Ende ist immer eine Enttäuschung, eine Beleidigung, eine Überraschung, blöder, als wir dachten, und weniger, als wir erhofft hatten.

Kreuzigung?, dachte Jesus. Hör auf.

Schierling?, dachte Sokrates.

In eine Thora-Rolle eingewickelt und lebendig verbrannt?, dachte Rabbi Akiba. Du verarschst mich doch.

Wieder dieses Geräusch.

Wie klang ein Brandstifter überhaupt?

Kugel horchte.

Neben sich hörte er seine Brianna, seine Bree, seine Heldin, seine Liebe, tief in ihrem wunderbaren Prozac-Schlummer. Er hörte Jonah auf der anderen Seite des Flurs, die Bettfedern ächzten, als er sich im Tiefschlaf wälzte. Seinem paracetamolschen.

Hart, hier überhaupt Schlaf zu finden.

Hier auf der Erde nämlich.

Natürlich schossen sie nicht immer ein zweites Mal in ein Massengrab. So ist das Leben halt: ein kolossaler, unentrinnbarer Leichenhaufen und ein zweites Mal wird nicht geschossen.

Kugel kroch leise aus dem Bett und kniete sich auf den Fußboden neben der Heizungsklappe beim Nachttisch. Der Holzboden drückte hart gegen seine Knie, dennoch legte er die Hände zu beiden Seiten der Klappe, beugte sich vor und hielt ein Ohr an das kalte Metallgitter.

Durch die Klappe hörte er den Mieter unter ihnen in seinem Zimmer herumlaufen (er war zwei Wochen zuvor eingezogen, und Kugel konnte sich seinen Namen noch immer nicht merken; Isaac, Ishmael, Esau irgendwas Biblisches). Er hörte das Rauschen von Applaus und Gelächter aus dem Fernseher des Mieters, den der Mieter die ganze Nacht laufen ließ. Dazwischen hörte er Mutter in ihrem Schlafzimmer neben dem des Mieters, ihr gequältes, schmerzgeplagtes Stöhnen. Wenn Mutter sich anhörte, als läge sie im Sterben, lebte sie; klang es, als schliefe sie friedlich, war sie wahrscheinlich tot.

Und dann hörte er noch ein eindeutiges Tappen.

Oben.

Auf dem Dachboden.

Ein Ticken?

Ein Tappen.

Als würde eine Maus sachte kacken, auf seinen Dachboden kacken.

Wie kleine Mäusefüße.

Fast wie ein Tippen.

Assel Proust, scherzte er. Johann Wolfgang Kröte. Franz Kacka.

Wahrscheinlich waren es bloß Mäuse.

Leise, um Bree nicht zu wecken, richtete Kugel sich auf, zog seinen Morgenmantel an, nahm die lange, metallene Taschenlampe, die neben dem Bett stand, ging so leise wie möglich auf Zehenspitzen über die alten, knarrenden Dielen und trat in die Kühle des dunklen Flurs hinaus.

Würde ein Brandstifter sein Feuer denn auf dem Dachboden legen?

Machen die das nicht draußen? Irgendwo am Fundament?

Das ist kein Brandstifter.

Du machst dich lächerlich.

Er packte den Strick, der von der Dachbodentür herunterhing, und zog langsam daran in der Hoffnung, keinen Brandstifter vorzufinden, in der Hoffnung, eine Maus vorzufinden, allermindestens Mäuseköttel; würde er Mäuseköttel vorfinden, dann wüsste er, dass eine Maus das Geräusch gemacht hatte, und dann würde er vielleicht doch noch schlafen können.

So ist das Leben, dachte er, als er die hölzerne Dachbodentreppe auseinanderfaltete: Eines Tages kommt man an einen Punkt, wo man hofft, Kacke zu finden. Wo die beste aller Möglichkeiten die Entdeckung, gelobt sei Christus, eines Haufens Scheiße ist.

Kugel erklomm die knarrenden Stufen, so leise er konnte.

Vielleicht war es ja eine Maus.

Er kam oben an der Treppe an. Auf dem Dachboden war es warm, wärmer als im übrigen Haus. Das Tappen brach jäh ab.

Hallo?, flüsterte Kugel.

Wahrscheinlich nur eine Maus.

Hallo?

Und als keine Antwort kam, kroch Kugel in das feuchte, scheußliche Dunkel über ihm.