Kapitel 8 - Brietta 

Als Brietta wieder erwachte, wurde die Hütte von Sonnenstrahlen durchflutet. Sie blinzelte gegen das Licht, das durch die zersplitterten Reste der Tür fiel, und streckte ihre Glieder. Die Hände und Füße wieder gefesselt, lag sie auf der Matratze in der Ecke des Raumes. Bei dem Gedanken an die Diskussion zwischen Colin und Aithne musste sie unwillkürlich schmunzeln. Auf die Hände gestützt, setzte sie sich auf und lehnte ihren Rücken gegen die Wand. Sie war allein in der Hütte. Doch in einem Topf über dem Feuer köchelte Essen vor sich hin. Die anderen mussten in der Nähe sein. Sie ließ ihren Blick wandern. Dunkle Flecken auf den Holzdielen am Boden erinnerten an den Vorfall der letzten Nacht.

Letzte Nacht … Sie betrachtete ihren Unterarm. Aithne hatte anscheinend in der Zwischenzeit besseres Verbandsmaterial gefunden. Die junge Frau hatte Übung in der Versorgung von Wunden.

»Tut es weh?«

Colins Stimme ließ Brietta zusammenzucken. Seine Umrisse schoben sich in die Öffnung der Tür. Er trat zu ihr an die Matratze und ging in die Hocke, immer noch auf Sicherheitsabstand bedacht.

Sie schmunzelte und wandte ihm den Kopf zu. »Ich habe Schlimmeres erlebt.«

»Kann ich mir vorstellen.« Sein Blick streifte die Narbe auf ihrer Wange.

Sie schnaubte und verzog ihre Mundwinkel zu einem missglückten Lächeln. Er hatte keine Ahnung.

»Alles … gut?« Seine dunklen Augen musterten sie. In seinem Blick hatte sich etwas verändert. Gestern hatte er sie angesehen wie etwas Tödliches. Aber nun spiegelte sich aufrichtige Sorge und ein Funke Neugierde darin. Sie studierte sein Gesicht eingehend. Mit dem markanten Kinn und den kleinen Lachfalten um seine sanft geschwungenen Lippen war er ein sehr attraktiver Mann. Doch in ihr regte sich das Gefühl, dass es nicht nur sein Aussehen war, was ihn so anziehend für sie machte. Sie wusste, dass ihr gemeinsames Lachen ihr Gänsehaut bereiten konnte. Dass seine Neckereien sie zur Weißglut brachten, sie aber genau dasselbe bei ihm schaffte. Dass er so einige ihrer tiefsten Geheimnisse nicht nur kannte, sondern auch teilte. Sie verspürte den Drang, ihm seine blonden Locken aus dem Gesicht zu streichen und zärtlich über seine stoppeligen Wangen zu fahren. »Wer bist du, Colin?«

Ihre Frage ließ ihn erstaunt mit dem Kopf zucken. Seine Stirn legte sich in Falten und er kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe. »Wir waren Freunde.«

»Nur Freunde?«

»Sehr gute Freunde.«

»Mit Extras?«

»Scheiße, nein!« Entrüstet schnaubte er und erhob sich wieder.

Sie schürzte die Lippen und musterte ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue. So ganz nahm sie ihm das nicht ab. Dazu waren ihre Regungen zu eindeutig und seine Wangen zu rot geworden. Sie schloss mit einem Achselzucken die Augen. »Schade.«

Sein wütend geschnaubtes »Diese Frau« entfernte sich in Richtung Ausgang und sein Schatten verschwand durch die Tür nach draußen. Mit einem Lächeln auf den Lippen blickte sie ihm nach. Dabei bemerkte sie, dass die zersplitterte Tür ihr den Ausblick auf die Umgebung der kleinen Kate freigab. Vor der Hütte erstreckte sich ein dicht bewaldetes Tal. Bei dem Anblick des satten Grüns, das sich in einer leichten Brise wiegte, musste Brietta leise seufzen. Das Gefühl, dass eine lang gehegte Sehnsucht in Erfüllung ging, kribbelte in ihrem Herzen. Die Sonne wärmte ihre Haut und eine wohlige Gänsehaut überzog ihre Arme.

Brietta … Der Name klang in ihr nach. Nein, nicht irgendein Name. Ihr Name! Es war ganz anders als damals im Krankenhaus. Sam hatte nie wirklich gepasst. Sie seufzte erneut.

»Alles in Ordnung?« Mit besorgtem Blick kniete sich Aithne neben sie auf die Matratze. Sie zog die Kapuze ihres blauen Umhangs, dessen bestickter Stoff sich wie eine Decke um sie legte, vom Kopf.

»Absurderweise, ja.«

Bei Briettas Worten breitete sich ein Lächeln auf dem Gesicht der jungen Frau aus. Sie schlug die Beine zu einem Schneidersitz, rückte näher an Brietta heran und griff nach ihrem verletzten Arm. Sie löste den Verband, wusch die Wunde vorsichtig mit frischem Wasser aus und schmierte eine Kräuterpaste auf den Schnitt. »Du hast tief geschnitten. Ich musste die Wunde nähen. Leider mehr schlecht als recht. Zum Glück ist nichts entzündet. Dennoch wird das eine Narbe geben.«

Während die junge Frau den Arm erneut verband, beobachtete Brietta sie mit gerunzelter Stirn. Beim Anblick der vorsichtig arbeitenden Finger musste sie unwillkürlich an Maggies rote Lockenmähne denken. Sie biss sich auf die Unterlippe, denn Bedauern durchfuhr ihre Brust bei der Erinnerung an die vielen ausgeschlagenen Hilfsangebote.

Aithne verknotete die Enden des Verbandes, als Brietta ihre Hände ergriff. Sie verschränkte ihre Finger ineinander und strich andächtig mit dem Daumen über ihren Handrücken. »Erzähl mir meine Geschichte.«

»Bist du dir sicher?«

»Nein. Aber seit gestern bin ich mir bei gar nichts mehr sicher.«

Aithne schürzte die Lippen und musterte sie einige Augenblicke. Dann sackten ihre Schulter herunter. »Was möchtest du wissen?«

»Was ist mit unseren Eltern?«

Bei dieser Frage krampften sich Aithnes Finger. Fuck! Anscheinend hatte Sam mit ihrer ersten Frage einen wunden Punkt getroffen. Als sie einlenken wollte, seufzte Aithne leise. »Sie sind beide tot. Unsere Siedlung wurde von elysischen Truppen überfallen. Sie haben alle aus dem Dorf umgebracht.«

»Was ist passiert?«

»Ich schätze, dass unser kleiner Außenposten am westlichen Rand Damasias ein einfaches Ziel war. Wir beiden waren gerade einmal sechs und zehn Jahre alt. Vater und die Männer haben versucht, die Soldaten aufzuhalten. Doch sie hatten keine Chance. Mutter hat alle Überlebenden in den naheliegenden Tempel gebracht. Ihre Hoffnung war, dass die Angreifer aus Respekt vor dem geweihten Gebäude die Menschen darin verschonen würden.«

Brietta schnalzte mit der Zunge und schüttelte mitleidig den Kopf. »Du hast selbst gesagt, dass wir auf Elysium nicht viel für eure Götter übrig haben.«

»Sie haben den Tempel in Brand gesteckt. Du hast irgendwie gespürt, dass der Tempel kein sicherer Ort war. Du hast Mutter angefleht, dir zu folgen und zu fliehen. Doch sie wollte die anderen Leute aus dem Dorf nicht allein lassen. Da hast du mich gepackt und bist mit mir durch ein kleines Seitenfenster geflohen.«

Brietta sah Tränen in Aithnes Augen. Unwillkürlich hob sie ihre gefesselten Hände an die Wange ihrer Schwester, um sie zu beruhigen. Mit einem Seufzen schloss Aithne die Augen und lehnte ihren Kopf in Sams Handfläche. »Ich habe dich so vermisst.«

Ein Tropfen löste sich aus Aithnes Augenwinkel. Die salzige Flüssigkeit tropfte auf Briettas Fingerspitzen. Ein heißer Schmerz durchfuhr die Narbe auf ihrer Wange. Das Brennen ließ sie unwillkürlich zusammenzucken. Ihre Finger gruben sich tiefer in Aithnes Haut.

»Das Offensichtliche ist nicht immer das Richtige.« Die Stimme ihres Ausbilders wischte jeden Zweifel beiseite. Es widersprach allem, was sie für die Wahrheit gehalten hatte. Aber diese junge Frau war ihr Fleisch und Blut. Aithne war ihre kleine Schwester. Die Erkenntnis gab den Griff um ihr Herz frei. Mit Tränen in den Augen keuchte Brietta auf. Sie gab dem Ziehen in ihrer Brust nach und zog Aithne in ihre Arme.

Mit einem Schluchzen vergrub Aithne das Gesicht an Briettas Halsbeuge.

In dieser engen Umarmung verharrten sie einige Zeit. Brietta strich ihrer kleinen Schwester über den Kopf und lauschte ihrem leisen Schluchzen. Doch plötzlich erstarrte Brietta und ihre Finger verkrampften sich. Ihre Stimme war ein Flüstern. »Ihr müsst sofort weg.«

Aithne hob mit gerunzelter Stirn den Kopf. »Was?«

Im selben Moment kam Colin durch die Tür in die Hütte gestürmt und begann, ihre wenigen Habseligkeiten in die beiden Rucksäcke zu stopfen. »Sie kommen!«

»Was redet ihr denn da?« Aithnes Stimme hatte einen wütenden Ton angenommen. Sie löste sich von Brietta und richtete sich auf, wobei sie den rotierenden Colin beobachtete.

»Hörst du das nicht? Das Brummen?« Brietta legte ihre gefesselten Hände auf Aithnes Schulter.

Irritiert schüttelte die junge Frau den Kopf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

»Das sind mindestens zwei Shuttles. Sie kommen, um mich zu holen. Ich habe den Chip zu spät zerstört.« Sie biss sich wütend auf die Unterlippe und blickte zu dem Verband an ihrem Unterarm.

Aithne schüttelte noch immer verwirrt den Kopf. »Aber was?«

»Verdammt, Aithne! Das sind elysische Soldaten! Irgendein Rettungstrupp, um sie hier rauszuholen.« Colin herrschte sie an, was ihm einen wütenden Blick von Brietta bescherte.

»Sie werden euch töten. Ihr müsst so schnell wie möglich weg.« Briettas Griff um Aithnes Schulter wurde fester. Sie blickte ihrer Schwester tief in die Augen. Die Trance begann allmählich, in ihren Ohren zu singen. Die nahende Gefahr kribbelte in ihrem Nacken.

Als Aithne langsam verstand, riss sie ihre Augen auf. Im nächsten Moment verdunkelte sich ihre Miene und ihre Nasenwurzel kräuselte sich. Sie packte Briettas Arm und warf sich neben sie auf die Matratze. »Ohne dich gehe ich nirgendwo hin.«

»Aithne! Sie töten euch, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich werde euch vor ihnen nicht beschützen können.«

»Dann musst du mit uns kommen.«

Mit einem wütenden Schnauben drehte sich Colin zu den beiden um. »Wer sagt denn überhaupt, dass sie mit uns kommen will?«

»Interessant, dass dich ihr Wille auf einmal interessiert!«, fauchte Aithne und wies mit einem Finger auf die Fesseln.

»Verdammt, Aithne! Wo willst du denn mit ihr hin? Meinst du etwa, dass wir mit einem elysischen Leutnant einfach so in Saoirse reinspazieren können?«

»Ich lasse nicht zu, dass wir uns noch einmal verlieren. Ich habe keine Ahnung, was wir als nächstes machen. Aber ich gehe nicht ohne sie.«

Das Brummen der Shuttles vibrierte auf Briettas Trommelfellen. Aithne beschützen . Dieser Streit führte zu nichts. Sie mussten hier weg!

»Colin! Mach mich los. Aithne wird diese Hütte nicht ohne mich verlassen.« Brietta hielt ihm mit einem flehenden Gesichtsausdruck ihre gefesselten Handgelenke hin.

Zur Bestätigung schnaubte Aithne neben ihr auf. Ihre Finger gruben sich in Briettas Oberarm.

Colin bleckte wütend die Zähne. Seine Finger krampften sich um einen Trageriemen. Schließlich schüttelte er ergeben den Kopf. »Na gut. Dann nehmen wir sie mit.«

Er zog das Messer aus dem Rucksack und kniete sich neben Brietta. Bevor er mit der Klinge ihre Fesseln durchtrennte, blickte er sie mit gerunzelter Stirn an. »Lass mich das nicht bereuen!«

 

Die Trance führte Brietta durch den dunklen Wald. Taghell leuchtete das Unterholz vor ihr auf und ihre Füße fanden instinktiv Halt auf dem feuchten Untergrund. Sie zog die kühle Luft in ihre Lunge. Ihre Sinne vibrierten unter den Eindrücken der Nacht, während in ihren Ohren die Turbinen der Shuttles dröhnten. Die elysischen Soldaten hatten die Hütte erreicht. Im Laufen warf Brietta einen Blick hinter sich. Obwohl die drei bereits gut Strecke gemacht hatten, konnte sie das Licht der Scheinwerfer im Dunkel zwischen den Bäumen erkennen. Alarmiert schrien ihre Instinkte auf. Sie blieb für einen Moment stehen und schätzte die Distanz. Die Sensoren sollten sie nicht erfassen können.

Neben ihr kämpfte sich Aithne mit hochrotem Kopf durch einen Strauch und kam stolpernd zum Stehen. Nach Luft ringend, wischte sie sich den Schweiß vom Gesicht. Entschieden griff Brietta nach Aithnes Rucksack und schulterte ihn selbst. Sie mussten ihren Vorsprung ausbauen.

»Komm schon! Wir müssen weiter!« Brietta hakte sich bei ihrer Schwester ein und zog sie mit sich. Aithnes verzweifeltes Schnaufen in ihren Ohren ließ die Trance nervös tänzeln.

Colin quittierte den Rucksack auf Briettas Rücken mit einem wütenden Blick. »Wenn die uns kriegen, wird die Tatsache, dass ich deine Vorräte habe, dein kleinstes Problem sein«, zischte sie ihm entgegen.

Der Körper des Mannes halt, was seine trainierten Muskeln versprachen. Colin konnte mit ihrem Tempo mithalten und fand seinen Weg über Baumstämme und Felsen. Sein Schnauben verschwand neben ihr im Unterholz.

 

Bei den ersten Sonnenstrahlen des Tages hatte Aithne auch ihre letzten Kraftreserven aufgebraucht. Sie sackte zu Boden und rang verzweifelt nach Atem. »Bitte … nur … kurz …«

Brietta kniete sich neben sie und musterte das müde Gesicht der jungen Frau.

»Was meinst du? Haben wir die Blechdosen abgehängt?« Colin hockte sich ebenfalls zu ihnen. Er nahm seinen Rucksack von den Schultern und reichte Aithne eine Wasserflasche, die er daraus hervorkramte. Fragend hob er seinen Blick zu Brietta.

Sie stand auf und ging einige Schritte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Die Stille des Waldes hinter ihnen gab ihr Hoffnung. »Da sie uns noch nicht eingeholt haben, gehe ich davon aus, dass sie im Wald erstmal eine andere Richtung eingeschlagen haben. Wir können das Tempo drosseln. Aber weiterlaufen müssen wir. Wenn wir stehen blieben, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie uns kriegen.«

»Tja, bleibt die Frage, in welche Richtung wir laufen.« Colin schnalzte mit der Zunge, während ihm Aithne die Flasche wieder reichte. Er hob das Gefäß an die Lippen und nahm ebenfalls einige Schlucke.

»Wir müssen nach Saoirse.«

Bei Aithnes Worten verschluckte sich Colin. Hustend wischte er sich Wasser von den Lippen. »Bist du irre?«

»Ich werde die Hohe Priesterin um ihren Schutz bitten.«

»Du bist wirklich irre!«

»Wer ist die Hohe Priesterin?« Brietta kniete sich neben ihre Schwester.

»Sie ist das Oberhaupt unseres Glaubens. Ihr untersteht der Große Tempel in Saoirse. Mit ihrem Schutz wird es dir möglich sein, wieder in Damasia zu leben.«

»Und du meinst, dass wir mit ihr im Schlepptau bis zum Großen Tempel laufen können?« Schnaubend musterte Colin Briettas Kleidung.

»Mach dich nicht lächerlich! Ich werde zuerst allein mit ihr reden. Wenn ich ihr alles erkläre, wird sie Brietta sicher wieder in unserer Gemeinschaft aufnehmen.«

Entgeistert musterte Brietta ihrer Schwester. Sie sah die Begeisterung in ihren aufgerissenen Augen. Sie sollte in Damasia leben? Abrupt erhob sich Brietta. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten.

»Was, wenn es eine Falle ist?« Colins zweifelnde Stimme drang dumpf durch ihre kreisenden Gedanken.

»Eine Falle?«

»Was, wenn sie ein Köder ist? Wenn das alles ein Plan Elysiums ist, um uns auszuspähen?«

»Nein. Die Mutter würde mich nicht falsch führen.«

Brietta bekam Aithnes weitere Worte nicht mehr mit. Die Idee ihrer Schwester kreiselte durch ihre Gedanken. Es war eine Sache, mit den beiden zu fliehen, um ihre Schwester vor den elysischen Truppen zu beschützen. Aber es war eine komplett andere, ein Leben in Damasia zu beginnen. Der Blick Briettas aufgerissener Augen huschte zwischen Aithne und Colin hin und her, die sich am Boden hockend weiter stritten.

Vor Briettas innerem Auge tauchten Bilder ihrer Kameraden auf. Alex, Rob, Maggie. Sie keuchte leise auf. Was würde aus ihrem Team werden, wenn sie nicht zurückkehrte? Ihr Finger ballten sich zu Fäusten.

Mit einem Mal meldete sich die Trance in ihrem Hinterkopf und ihr Blick huschte zwischen die Bäume in ihrem Rücken. Ihr geschärfter Hörsinn nahm dumpfe Geräusche von Stiefeln am Waldboden wahr. Sie mussten weiter.

»Genug jetzt.« Sie fuhr den beiden Streithähnen mitten ins Wort. »Gehen wir meinetwegen nach Saoirse. Wenn wir dort sind, können wir überlegen, wie es weitergeht.« Wenn es Aithne in Sicherheit brachte, würde sie vorerst mit nach Saoirse gehen. Sollte sie mit dieser Priesterin sprechen. Nur weil sie die Möglichkeit bekam, in Damasia zu leben, bedeutete das nicht, dass sie das auch tun musste.

Sie blickte in Aithnes große Augen. Ein Lächeln strahlte ihr entgegen. Die Hoffnung schien Aithne neue Kraft zu geben und sie schaffte es, sich auf die Beine zu hieven.

Auch Colin schnaubte und erhob sich wieder. »Weiter ins Landesinnere zu gehen, klingt sinnvoll. Auch wenn wir dadurch Gefahr laufen, von unseren Leuten erwischt zu werden. Doch ich lasse mich lieber auf eine Auseinandersetzung mit denen ein als mit den Blechdosen.«

 

Nach weiteren Stunden des Marsches durch den Wald öffnete sich dieser plötzlich. Als Brietta zwischen den letzten Bäumen hervortrat, stand sie auf der Kuppel einer Anhöhe. Vor ihr erstreckte sich eine weite Ebene. Ein angenehmer Schauer rieselte über ihren Rücken, als sie über die grünen Wiesen blickte, deren Halme sich sanft im Wind wiegten.

»Nicht trödeln!«, grummelte Colin ihr zu, schob sich an ihr vorbei und trat aus dem Dunkeln des Waldes in das helle Grün der sonnenbeschienenen Felder.

»Gib ihm ein wenig Zeit.« Aithne blieb neben Brietta stehen. Ihr Gesicht war von der Anstrengung des Marsches gerötet. Seite an Seite setzten sich die beiden Schwestern in Bewegung. Einige Zeit liefen sie schweigend nebeneinander.

»Seid ihr eigentlich ein Paar?« Brietta wies mit dem Kinn auf Colin, der mit flottem Tempo vor ihnen die Ebene überquerte.

Überrascht stutzte Aithne, um dann in ein Lachen auszubrechen. Glucksend wischte sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Bei den Göttern, nein! Nach dem Überfall unseres Dorfes sind wir in Damasias Hauptstadt geflohen. In Saoirse haben wir, besser gesagt du, Colin getroffen. Seit dem Tod seiner Eltern lebte er auf den Straßen. Er hat dir gezeigt, wie das so funktioniert. All die kleinen Tricks und Gaunereien, die dafür gesorgt haben, dass wir es trocken, warm und vor allem etwas zu Essen hatten. Als du verschwunden bist, hat er sich um mich gekümmert. Ich war gerade einmal zehn Jahre alt. Er ist wie ein Bruder für mich.«

Die Worte hallten in Brietta nach, während ihr Blick über die grünen Weiten schweifte. »Wie war das damals mit meinem Verschwinden? Was ist passiert?«

Aithne blieb stehen und hob den Blick in den Himmel. Sie schirmte ihre Augen mit einer Hand ab und überlegte für einen Moment. »Colin und du wart an dem Tag auf Erkundungstour. Das habt ihr öfters gemacht, um nach alten Gegenständen zu suchen. Die verkaufen sich gut auf dem Schwarzmarkt. Irgendwie seid ihr dabei auf einen elysischen Einsatztrupp gestoßen. Colin konnte sich in Sicherheit bringen. Doch dich haben sie geschnappt. Was genau sie mit dir gemacht haben, hat er nie erzählt. Er meinte nur, dass …« Sie musste schlucken und senkte den Blick. Sie blinzelte eine Träne weg.

Brietta stellte sich dichter an sie heran und griff nach ihrer Hand. Sie verschränkte ihre Finger ineinander und drückte zu. »Sie haben mich zusammengeschlagen. Und das nicht allzu zimperlich. Die Ärzte im Krankenhaus dachten damals, ich würde es nicht schaffen.«

»Und trotzdem hast du überlebt! Ich habe doch gesagt, dass das Kämpfen dein Ding ist.« Aithnes Lächeln strahlte ihr unter feuchten Augen entgegen.

Brietta erwiderte das Grinsen und drückte Aithnes Hand noch einmal kräftig, bevor sie sich von ihr löste.

»Kuscheln könnt ihr später! Seht zu, dass ihr eure Hintern in Bewegung setzt.« Colin war nicht entgangen, dass sie stehen geblieben waren. Sein Grummeln drang aus einigen Metern Entfernung zu ihnen.

Entrüstet schnaubte Aithne auf und warf ihren Zopf über die Schulter in den Nacken. Sie marschierte mit erhobenem Kopf an dem wartenden Colin vorbei. »Du hast wirklich Glück, dass die Götter dich mit deinem Aussehen gesegnet haben. Denn bei diesem Charme hättest du sonst null Chancen bei den Frauen!«

Brietta musste sich ein Lachen verkneifen. Sie folgte Aithne und schob sich unnötig dicht an Colin vorbei. Ihre Augenbrauen zuckten in die Höhe, während sie ihn mit leicht geöffneten Lippen musterte. »Ja, den Göttern bist du wirklich zu Dank verpflichtet.«

Während sie zu der prustenden Aithne aufschloss, entging ihr die aufsteigende Röte unter seinen Bartstoppeln nicht. Sie warf ihm einen Blick über die Schulter zu. Ja, sie machte ihn nervös. Sie erlaubte sich, in Aithnes Lachen einzusteigen.

»Ich habe vergessen, wie anstrengend ihr beiden zusammen seid!« Colins ergebenes Schnaufen ertönte in ihrem Rücken.

 

Am Ende des Tages hatten sie die Ebenen hinter sich gelassen. Am Rande eines Waldes schlugen sie ihr Lager für die Nacht auf. Aithne hatte der Marsch viel Kraft gekostet. Kaum hatten sie das provisorische Lager eingerichtet und kalte Konserven verspeist, rollte Aithne sich auf dem Boden zusammen und schlief erschöpft ein.

Brietta setzte sich neben sie. Eine kühle Brise strich über die Ebene und verfing sich in ihren Haaren. Neben ihr zitterte Aithne unter ihrem Umhang leicht, sodass sich Brietta wünschte, ein Feuer machen zu können. Doch das Licht würde zu viel Aufmerksamkeit erregen. Sie seufzte leise und strich ihrer Schwester über den Rücken.

»Hier.« Colin stand vor ihr und hielt ihr einen Pullover hin. Das Kleidungsstück war aus so grober Wolle gestrickt, dass Brietta bereits beim Anblick das Kratzen auf der Haut spüren konnte.

»Ist sicher recht kalt.« Er wies mit einem Nicken auf ihre Stoffhose und das Tanktop.

Mit einem dankbaren Lächeln nahm sie sein Angebot an. Der Pulli war wirklich kratzig, aber er wärmte. Wohlig grummelte sie und vergrub ihre Nase in dem hohen Kragen. Der Stoff roch nach Colin und ein Kribbeln verfing sich in Briettas Rückgrat.

Sie zuckte leicht zusammen, als sich Colin neben sie fallen ließ. Er streckte die Beine aus und dehnte seine Muskeln.

»Schlaf ruhig ein wenig. Ich übernehme die erste Wache.« Sie beobachtete, wie er seine Waden massierte.

Grimmig hob er den Blick und musterte sie schweigend. Seine Kiefer mahlten und unter seinen müden Augen zuckten seine Nasenflügel. Dann widmete er sich wieder seinen verspannten Beinen.

Sein hartnäckiges Misstrauen ließ Brietta schmunzeln. Sie hob den Blick zum Sternenhimmel. »Ich verstehe dich. An deiner Stelle würde ich mir auch nicht über den Weg trauen. Ich kann dir auch gar nicht sagen, wieso ich es bei euch tue. Aber seit letzter Nacht ist alles, woran ich denken kann, Aithnes Sicherheit.« Ihre Hand legte sich fast automatisch auf den Rücken der schlafenden Aithne. Brietta schürzte nachdenklich die Lippen. Ihr Blick wanderte die unzähligen leuchtenden Punkte über ihren Köpfen entlang. Der Himmel kam ihr viel größer vor als auf Elysium. Von hier unten hatte man eine andere Sicht auf die Dinge. »Mein Leben lang habe ich erfahren, wie es ist, irgendwie fehl am Platze zu sein. Es ist schön, sich einmal … angekommen zu fühlen. Irgendwie absurd, dass es gerade bei den Menschen ist, die ich zu fürchten und hassen gelernt habe.« Bei dem Gedanken an ihre Ausbildung lief ein unangenehmes Kribbeln durch all ihre Narben. Erinnerungen an Schmerz, Tränen und Wut durchfuhren ihre Brust. Am grellsten schrie die Narbe auf ihrer Wange auf, sodass Brietta die Hand an ihr Gesicht hob. Sie strich leicht darüber, um den Schmerz zu vertreiben. »Jemand hat mir einmal gesagt, dass das Offensichtliche nicht immer das Richtige ist. Damals habe ich ihn nicht verstanden. Aber jetzt tue ich es.«

»Das klingt nach einem guten Rat.«

Erst beim Klang von Colins Stimme wurde ihr bewusst, dass sie ihre Gedanken nicht nur laut ausgesprochen hatte, sondern dass diese auch gehört worden waren. Sie biss sich auf die Zunge. Sein Blick brannte auf ihrem Gesicht. Ihre Worte waren ihr auf einmal unangenehm. Sie starrte zu den Sternen hinauf und flehte. Lass ihn das vergessen!

»Kann ich dir eine Frage stellen?« Colins Flüstern war zögerlich. Sein Blick war ebenfalls auf den Himmel gerichtet.

»Klar.« Sie räusperte sich, dankbar für den Themenwechsel.

»Kannst du dich wirklich an nichts erinnern?«

Brietta drehte ihm den Kopf zu. Im Dunklen konnte sie seine skeptischen Gesichtszüge nur erahnen. Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin in einem Krankenhaus aufgewacht, ohne jegliche Erinnerungen daran, was passiert ist.«

»Du hast nie versucht, mehr über dich herauszufinden?«

Erinnerungen an eine flache Hand in ihrem Gesicht ließen sie mit den Zähnen knirschen. Fast schmeckte sie ihr eignes Blut auf der Zunge. »Du stellst dir das so einfach vor. Ich musste schmerzhaft lernen, dass zu viele Fragen auf Elysium gefährlich sind. Diese Lektion war überlebenswichtig.«

 

Brietta blickte zum Himmel hoch. Sie trat die wenigen Schritte zwischen den Bäumen hervor. Die Wärme der Sonnenstrahlen in ihrem Gesicht tat gut und verscheuchte die Müdigkeit aus ihren Knochen. Die drei hatten auch dieses Waldstück hinter sich gelassen und von ihren Verfolgern hatte Brietta selbst in der Trance nichts mehr gehört. Erleichtert zog sie die warme Luft ein. Sie stoppte ihren Marsch wenige Zentimeter vor dem Rand des Abhangs, der in ein weitläufiges Tal abfiel. Gegen die Sonne blinzelnd, ließ sie ihren Blick über die weite Ebene schweifen.

Am Fuße des Abhangs wiegten sich die Kronen eines Meeres aus Bäumen in der Mittagsbrise. Der Wald erstreckte sich über einige leicht anfallende Hügel vor ihnen, einer mit einer kleinen Siedlung auf seiner Kuppe. Die Bäume waren an der Stelle gerodet worden. Einfache Holzpalisaden umsäumten eine kleine Ansammlung von Häusern. Rauch stieg aus einigen Schornsteinen in die Höhe. Von der einen Seite des Dorfes führte ein dünner Streifen parallel zum Abhang, auf dem sie standen, durch das dichte Grün und verlor sich in der Weite des Waldes.

Aithnes Magenknurren kündigte die junge Frau an, die mit einem erleichterten Seufzen neben Brietta trat. Das Frühstück aus Wasser und einigen Beeren war recht spärlich ausgefallen.

»Im Dorf können wir sicherlich unsere Vorräte auffüllen.« Colin wandte sich zum Gehen. Am Abhang entlang würden sie den Wald und damit auch die Siedlung erreichen.

Doch die Trance kreiste in Briettas Körper und sorgte dafür, dass sie wie angewurzelt am Rande des Abhangs stehen blieb und in die Ferne starrte. Was ihre Gabe sie sehen ließ, gefiel ihr nicht.

Aithne legte ihre Hand vorsichtig auf ihren Oberarm. »Alles in Ordnung?«

»Wir haben sie doch nicht abgeschüttelt.«

»Wie bitte?«

Wortlos hob Brietta den Arm und deutete über die Ebene vor ihnen in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Die anderen konnten die feine, weiße Linie der Staubwolke am Himmel noch nicht sehen. »Ich schätze, dass es zwei schwere Fahrzeuge sind. Zusätzlich kann es einige Begleitfahrzeuge geben. Sie bewegen sich auf die Siedlung zu.« Sie vervollständige die Linie, die die Wolken über dem Wald zogen.

»Könnten das auch Fahrzeuge von uns sein?« Colin trat neben sie. Angestrengt versuchte er, etwas zu erkennen.

»Eure Motoren funktionieren mit der Technik der alten Zeit. Ihr erzeugt wesentlich mehr Staub. Und Ruß vom Diesel. Wenn das eure Fahrzeuge wären, wären die Wolken wesentlich dunkler und dichter.«

»Sind die wegen uns da?« Aithnes Finger krallten sich in ihren Arm.

»Davon können wir ausgehen. Warum sollten sie es sonst wagen, so weit nach Damasia vorzudringen? Scheiße! Du musst da oben wirklich wichtige Freunde haben!« Colin schnaubte wütend auf.

»Anscheinend wichtigere, als wir alle dachten.« Nachdenklich zog Brietta ihre Augenbrauen zusammen. Diese Hartnäckigkeit gefiel ihr nicht.

»Was nun?«

»Wenn wir davon ausgehen, dass es sich um zwei Vans und drei Begleitfahrzeuge handelt, reden wir von mindestens acht Divisionssoldaten und zwölf Fußsoldaten. Ein Dorf mit Holzpalisaden wird kaum eine Chance haben. Ich gehe nicht davon aus, dass solche Siedlungen für einen Angriff sonderlich gut ausgestattet sind?« Fragend blickte sie zu Colin.

Er presste die Kiefer zusammen. »Nein.«

Die Trance wirbelte in Schlieren durch Briettas Verstand und ließ sie für einen Moment wanken. Die einfachste Lösung war, das Dorf seinem Schicksal zu überlassen und einen Bogen zu schlagen, um den Truppen aus dem Weg zu gehen.

Wild kreischte es in ihren Adern auf und Brietta wusste im nächsten Moment, was sie tun musste. Entschlossen trat sie an Colin heran. Bevor er protestieren konnte, öffnete sie seinen Rucksack und zog das Küchenmesser daraus hervor. Mit schnellen Griffen streifte sie ihren Rucksack ab und drückte ihn Aithne in die Hand.

Diese sah sie mit großen, fragenden Augen an.

»Ihr beiden müsst so schnell wie möglich zu dem Dorf gelangen. Evakuiert jeden und alles, was ihr könnt. Sie sollen sich in den umliegenden Wäldern verstreuen und erst zum Dorf zurückkehren, wenn die Gefahr vorbei ist.« Der Ton ihrer Stimme ließ keine Widerworte zu.

»Und was wirst du tun?« Colin trat neben die zitternde Aithne und blickte auf das Messer in Briettas Hand.

»Ich werde euch so viel Zeit verschaffen, wie ich kann.« Mit diesen Worten nahm Brietta die Klinge zwischen ihre Zähne, hockte sich auf den Boden und schwang sich über die Kante in den Abgrund.

Mit gekonnten Griffen hangelte sich Brietta den felsigen Abhang hinunter. Kaum berührten ihre Füße festen Boden, nahm sie Geschwindigkeit auf. Im Laufen sickerte die Trance allmählich in ihren Verstand. Sie musste nicht lange laufen, bis sie vor sich die Straße ausmachen konnte. Tief in das Unterholz geduckt, näherte sie sich dem Kiesweg, der das Dickicht des Waldes durchschnitt. Die Trance schwemmte in ihren Verstand und sie konnte in einiger Entfernung die nahenden Fahrzeuge erkennen. Wie vermutet, waren es zwei gepanzerte Vans, die von drei Gleitern flankiert waren. Die Wagen donnerten über den staubigen Kies.

Brietta duckte sich in das Gebüsch und ließ sie näher kommen. Als der erste Van an ihr vorbeifuhr, tauchte sie aus ihrem Versteck hervor. Sie holte aus und warf das Messer. Mit einem lauten Geräusch zerplatzte der hintere Reifen des Vans, als die Klinge eindrang.

Augenblicklich brach der Wagen aus. Schlingernd stellte sich das Fahrzeug quer und schlitterte mehrere Meter weit über den Feldweg. Mit seinem ausscherenden Heck nahm der Wagen einen der drei Gleiter mit, der krachend an einem Baum zerschellte. Der Fahrer des zweiten Vans musste hart bremsen, um nicht ebenfalls zu kollidieren. Die beiden Gleiter waren nicht einmal ganz zum Stehen gekommen, da sprang Brietta aus ihrer Deckung auf die Straße. Sie kam knapp hinter einem der Einsitzer aus dem Dickicht hervor.

Der Fahrer hatte die Bewegung hinter sich bemerkt. Doch bevor er reagieren konnte, hatte Brietta die Waffe aus der Tasche an seinem Sattel gezogen, die Pumpgun durchgeladen und ihm eine Salve der Munition in den Oberkörper geschossen. Sie ließ den leblosen Körper des Fahrers los und trat in einer fließenden Bewegung hinter den Van. Sie rammte den Lauf der Waffe zwischen die Türgriffe des Wagens. Von innen riss die Mannschaft an der Doppeltür. Doch der Stahl des Waffenlaufs hielt Stand und verhinderte, dass Brietta von den Männern überrannt wurde.

Neben ihr tauchte der Fahrer des letzten Gleiters auf. Mit einem Schlag konnte sie den Lauf der Waffe von sich abwenden, sodass der Schuss, der sich gelöst hatte, knapp an ihrem Kopf vorbeizischte. Das Geräusch ließ die Trance aufschreien und ihr Körper pumpte mehr Adrenalin in ihre Blutbahn.

Sie duckte sich unter dem ausgestreckten Arm mit der Waffe hindurch. Ihr Handballen rammte sich in den Oberkörper des Angreifers. Sie traf zielgenau die Stelle, die von den Platten des Kampfanzuges unbedeckt war. Als eine Rippe brach, wich der Mann keuchend zurück. Er ließ den Arm mit der Waffe sinken. In dieser Bewegung griff Brietta an, entwendete ihm die Waffe und feuerte eine Kugel in das Visier seines Helmes.

In der Zwischenzeit strömten die Männer aus der hinteren Tür des ersten Vans und umrundeten das zweite Fahrzeug. Als die ersten Soldaten an die Rückseite des Vans traten, konnte Brietta sich gerade noch auf das Dach des Fahrzeugs retten.

Sie presste sich flach auf das Metall, robbte sich an die Windschutzscheibe und schwang sich auf die Motorhaube. Dem überraschten Fahrer des Vans schoss sie durch die Scheibe eine Kugel in den Kopf.

Der Schuss rief die anderen Männer an die Vorderseite des Vans. Blitzschnell rollte sich Brietta von der Motorhaube herunter und unter den Van. Auf dem Rücken liegend feuerte sie Salve um Salve auf die Füße der Soldaten um den Van.

Vor Schmerzen schreiend, fielen die Soldaten auf den Boden. Brietta kam mit einer Rolle unter dem Van hervor, richtete sich auf und beendete das Leiden der Männer endgültig.

Die restlichen Soldaten hatten mittlerweile ihre Kollegen aus dem zweiten Van befreit. Brietta konnte die Stiefel auf dem sandigen Untergrund des Feldweges hinter sich hören. Im Laufen packte sie den Gürtel eines toten Soldaten.

Mit großen Sprüngen rettete sie sich hinter den querstehenden Van. Sie hörte die Befehle und Rufe der Truppen. Schüsse folgten und durchsiebten die Panzerung des Wagens. Brietta löste eine Granate vom Waffengürtel. Sie zog den Stift und holte aus.

Schlitternd kam die Kugel unter dem zweiten Van an. Keine Sekunde später erschütterte die Detonation der Granate den kleinen Feldweg, dicht gefolgt von der Explosion des Tanks des Vans.

Brietta duckte sich hinter den Wagen. Sie klemmte ihren Kopf zwischen die Knie und umschlang ihn schützend mit ihren Armen. Teile des Wagens und der Gleiter flogen links und rechts an ihrem Versteck vorbei. Der Wagen in ihrem Rücken wurde durch die Druckwellen über die Straße geschoben und drückte sich gegen sie. Ihre Ohren dröhnten vom Lärm der Explosionen.

Kaum waren die letzten metallenen Überreste der Fahrzeuge auf der Straße aufgekommen, stand Brietta wieder auf den Beinen. Sie lud ihre Waffe mit einem Magazin aus dem Gürtel nach. Mit der Pistole im Anschlag, kam sie langsam neben dem Van hervor.

Das kleine Stück Feldweg vor ihr war ein Schlachtfeld. Vom Van waren nur ein paar rauchende Teile übrig geblieben, einige standen noch in Flammen.

Mit Bedauern musste Brietta feststellen, dass auch die beiden Gleiter in Einzelteile zerfetzt worden waren. Der Wald um den Feldweg war von Metallstücken durchsiebt und das Benzin hatte einige kleinere Feuer verursacht. Rauch hüllte die Szene ein und zusammen mit der plötzlichen Stille verlieh er dem Ganzen einen fast schon melancholischen Anblick. Einzelne schwellende oder schwarz brennende Körper ließen erahnen, dass die Männer von der Detonation überrascht worden waren.

Brietta ließ die Waffe sinken. Sie atmete tief durch. Während die Trance ihren Verstand freigab, schob sich das Bild einer roten Lockenmähne vor ihr inneres Auge. Sie zog scharf die Luft ein und ihre Knie wurden weich. Waren rote Haare unter den Soldaten gewesen? Ein leises Stöhnen riss sie aus ihren Gedanken und ließ sie herumfahren.

In einiger Entfernung hatte sich der erste Gleiter mit dem Hinterteil um einen Baum gewickelt. Der Fahrer hatte sich vor dem Aufprall mit einem Sprung ins Gebüsch retten können. Bei seinem Rettungsversuch hatte er allerdings die starken Äste eines Baumstammes nicht gesehen. Blut tropfte von der Spitze eines Astes, der aus dem Körper des Soldaten ragte.

Mit langsamen Schritten trat Brietta auf den Soldaten zu. Sein Visier war in der Mitte gebrochen. Sie hörte das Rauschen der Anzeigen. Sie kniete sich neben ihn.

Der Atem des Sterbenden ging rasselnd.

Sie griff nach seinem Helm und nahm ihn ihm ab. Das Gesicht eines jungen Mannes kam zum Vorschein. Blut lief aus seinen Mundwinkeln und bestätigte Briettas Verdacht, dass der Ast seine Lunge getroffen hatte. Brietta war überrascht von dem jungen Alter des Soldaten. Er musste gerade erst die Aufnahme bestanden haben. Sie musterte sein Abzeichen. Division Kappa.

»Dein erster Außeneinsatz?« Sie ließ den kaputten Helm neben sich auf den Boden fallen.

Die Augen des Mannes weiteten sich vor Erstaunen, als er ihr Gesicht erkannte. Die Überraschung ließ ihn seine Ausbildung für einen Moment vergessen und entlockte ihm ein zaghaftes Kopfnicken.

»Mein erster Einsatz war eine Wache auf einem der Stützpunkte. Wieso haben sie einen Anfänger auf eine Rettungsmission geschickt?« Sie stellte die Frage eher sich selbst als dem Mann.

Doch dieser war aus seiner Überraschung erwacht, presste die Lippen aufeinander und starrte sie wütend an.

Sie musterte ihn mit gerunzelter Stirn. »Wieso schickt ihr überhaupt so viele Männer, um einen Leutnant zu evakuieren?«

Seine Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen und seine Lippen pressten sich enger aufeinander.

Sie wusste, dass sie aus ihm nichts mehr herausbekommen würde. Doch eine Frage musste sie ihm dennoch stellen. Sie hob ihren Blick und sah ihn ernst an. »Hör zu! Wir beide wissen, dass du aus dieser Sache nicht lebend herauskommst.« Sie deutete auf den blutverschmierten Ast, der aus seinem Leib ragte. »Du kannst dich also entscheiden. Entweder wirst du langsam an deinem eigenen Blut ersticken, oder ich kann dafür sorgen, dass es kurz und schmerzlos wird.« Bei ihren letzten Worten hob sie die Pistole in ihrer Hand.

Seine Augen weiteten sich angsterfüllt.

»Du musst mir nur eine Frage beantworten. Waren Leute der Division Omega bei dem Einsatz dabei?« Sie deutete auf die rauchenden Überreste auf der Straße hinter ihr.

Der Blick des Mannes suchte hektisch die Umgebung nach einem Ausweg ab. Seine Gedanken rasten. Doch schließlich schloss er mit einem Schnauben die Augen und sein eben noch angespannter Körper erschlaffte, als ihm die Ausweglosigkeit seiner Situation bewusst wurde. Er ließ seinen Kopf in den Nacken fallen und blickte auf das sich wogende Meer an Blättern über sich. »Ich wusste heute Morgen beim Aufstehen, dass das kein guter Tag wird.« Er hustete schwer und mehr Blut floss über seine Lippen. Er hob den Kopf und sah Brietta unverwandt an. »Nein. Es war niemand aus deiner Division dabei.«

Erleichtert nickte Brietta. Sie stand auf.

Als sie den Lauf ihrer Waffe auf den Mann richtete, holte er Luft. »Wir waren auf keiner Rettungsmission. Wir wurden mit einem Tötungsauftrag geschickt.«

Mehr hätte er nicht sagen können, denn Brietta löste den Abzug der Waffe aus und der Kopf des jungen Mannes sank auf seine Brust.