Kapitel 9 - Colin 

Er konnte Aithne gerade noch fassen, bevor sie Brietta in den Abgrund gefolgt wäre. Colin umklammerte die schluchzende Frau mit beiden Armen. Schreiend wand sie sich in seinem Griff und krallte ihre Finger in seine Haut.

Er begriff selbst nicht ganz, was geschehen war. Doch das Brummen der Wagen in der Ferne holte ihn aus seiner Schreckstarre. Entschlossen packte er Aithne an den Schultern, wirbelte sie zu sich herum und umfasste mit beiden Händen ihren Kopf. Er blickte in ihr wutverzerrtes Gesicht. »Beruhige dich, Aithne! Die töten alle, wenn wir nichts tun! Und das wegen uns!«

Aithne schluchzte ein letztes Mal auf und verstummte. »Wir sollten darauf vertrauen, dass Brietta weiß, was sie tut, und uns um unsere Aufgabe kümmern.« Er verstärkte ein letztes Mal den Druck seiner Finger um Aithnes Gesicht und blickte ihr tief in die Augen.

Blinzelnd musterte sie ihn für einige Atemzüge. Dann fuhr sie mit einer Hand über ihre Wangen und rieb die Tränen von ihrer Haut.

Bei ihrem bestätigenden Nicken ließ Colin sie los. Er warf einen letzten Blick in die Richtung, in die Brietta verschwunden war. Hoffentlich wusste sie wirklich, was sie tat. Er zurrte die Trageriemen seines Rucksacks fester und drehte sich auf dem Absatz um. Mit Aithnes Schnaufen im Rücken begann er zu laufen.

Sie brauchten einige Minuten, bis der Abhang abflachte und in eine bewaldete Ebene überging. Obwohl seine Beine brannten, verlangsamte Colin seinen Lauf zwischen den dicht stehenden Bäumen nicht. Erleichterung spornte ihn ein letztes Mal an, als die Palisaden vor ihm im Wald auftauchten. Nach Atem ringend erreichte er das Tor, stieß es auf und stolperte einige Meter weiter auf den Platz zwischen den Hütten. Er musste sich auf seine Oberschenkel stützen und zog gierig Sauerstoff in seinen Körper. Am Rande registrierte er die erstaunten Blicke einiger Dorfbewohner, die sich zögernd näherten.

»Was ist hier los?« Eine tiefe Stimme teilte die Traube an Schaulustigen um Colin. Sie machten für einen älteren Mann Platz. Seine breite Statur sprach von harter Arbeit auf dem Feld. Schwielige Hände fuhren durch den ergrauten Bart. Auf seiner aus Flicken bestehenden Weste prangte ein helles Abzeichen. Er musterte Colin skeptisch. »Und du bist?«

Dieser suchte zwischen seinen Atemzügen seine Stimme. »… Colin …«

In diesem Moment kam auch Aithne stolpernd durch das Tor. Mit schweißüberströmtem Gesicht und rasselndem Atem sackte sie neben Colin auf den Boden.

Beim Anblick ihres blauen Mantels wich die Skepsis im Blick des Mannes. Erstaunt zog er die Luft ein, ging auf ein Knie und griff nach dem Saum ihres Umhangs. Andächtig führte er die Stickerei an seine Lippen.

Aithne legte instinktiv ihre Hand auf seinen Scheitel, schloss die Augen und murmelte einen Segen. Ein entrückter Ausdruck legte sich auf das Gesicht des Mannes.

Colin hatte vergessen, wie nützlich die Anwesenheit einer Priesterin sein konnte. Mit einem Schnaufen erhob er sich wieder. »Wir müssen sofort das Dorf evakuieren.«

Der Mann runzelte die Stirn und musterte ihn erneut von oben bis unten. Er war damit beschäftigt, Aithne auf die Füße zu helfen. »Und warum sollten wir das tun?«

»Weil wir nicht die einzigen sind, die sich in diese Gegend verirrt haben.« Mit diesen Worten drehte sich Colin in Richtung der Straße und wies mit seinem ausgestreckten Arm auf die gräuliche Wolke, die sich bedrohlich genähert hatte.

Der Mann brauchte einen Moment, um den Staub gegen den bewölkten Himmel zu erkennen. Er ging an Colin vorbei auf das Tor zu. »Was bei den Göttern?«

»Truppen aus Elysium.«

»Wie viele?«

Colin ließ seinen Blick über die Dorfbewohner schweifen. »Zu viele. Wenn wir alle retten wollen, bleibt uns nur die Evakuierung!«

Der Mann überlegte und warf Aithne einen fragenden Blick zu.

»Wir müssen fliehen.« Sie trat neben ihn und legte eine Hand auf seine Schulter. Ihr Daumen strich beruhigend über den rauen Stoff seines Hemdes.

Mit einem letzten Blick auf ihren blauen Umhang schnaubte der Mann entschlossen auf und wandte sich an seine Leute. »Evakuiert das Dorf! So schnell wie möglich! Nehmt nur das Notwendigste mit!«

Plötzlich kam Bewegung unter die Menschen. Jeder rannte, um aus seiner Hütte das Wichtigste zu packen.

»Jakob. Ich bin der Dorfvorsteher.« Der Mann reichte Colin seine schwielige Hand.

Es dauerte nur wenige Minuten, bis die ersten Familien das Dorf verließen. Ihre spärlichen Habseligkeiten auf den Rücken geschnallt, verstreuten sie sich in den umliegenden Wäldern. Die älteren und gebrechlichen Siedler hatten ihren Platz auf den wenigen Reittieren des Dorfes gefunden.

Colin nahm Aithne ein letztes Mal in die Arme, bevor er ihr die Zügel eines Pferds in die Hand drückte. »Kommt erst zurück, wenn ihr sicher seid, dass die Blechdosen weg sind.«

»Und was ist mit dir?«

»Einer muss doch nach dem Rechten sehen. Jakob und ich bleiben in der Nähe und holen euch, wenn es wieder sicher ist.«

Ihre geweiteten, smaragdgrünen Augen musterten ihn.

Colin wollte Aithne weiter beruhigen, doch seine Worte gingen in der Druckwelle einer Detonation unter. Sand tanzte um ihre Knöchel, während ein Feuerball wie in Zeitlupe über die Wipfel des Waldes stieg.

Instinktiv hob Colin die Hand vor sein Gesicht, denn die Hitze der Explosion prickelte auf seiner Haut. Die letzten Flammen verstoben am bewölkten Himmel und Stille legte sich über den Wald.

Colin ließ seine Hand sinken und musterte mit offenem Mund die Straße, die ruhig und friedlich vor ihm lag. Adrenalin wallte in seinen Adern auf und dröhnte in seinen Ohren. Verdammt! Brie! Er stieß die Luft aus seiner Lunge zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.

Eine plötzliche Bewegung neben ihm riss ihn aus seiner Schockstarre. Aithne hatte die Zügel fallen gelassen und bewegte sich auf der Straße in Richtung Explosion. Colin bekam sie an der Schulter zu fassen. »Aithne!«

Sie schüttelte seine Hand ab, blieb jedoch stehen. »Nein! Vielleicht braucht sie Hilfe!«

»Du kannst für diese Menschen gerade mehr tun als für sie.« Er hielt ihr die Zügel hin.

Sie musterte mit zusammengezogenen Augenbrauen und bebenden Nasenflügeln seine Hand. Dann wanderte ihr Blick zu der alten Frau auf dem Pferd. Bei ihrem schwachen Lächeln sackten Aithnes Schultern herunter und ein ergebenes Schnaufen durchfuhr ihren Körper. Sie griff nach den Riemen. »Na gut. Aber versprich mir, dass du sie suchst!«

Erst auf sein Nicken hin wandte sie sich um und führte das Tier mit einem auffordernden Zungenschnalzen zwischen die Bäume. Die Dunkelheit verschluckte die kleine Gruppe. Colin seufzte erleichtert auf. Er hatte wenigstens eine der Schwestern in Sicherheit bringen können.

 

Es waren Stunden vergangen, seit die Explosion den Wald erschüttert hatte. Stille lag über allem. Colin verlagerte das Gewicht auf seinen Beinen. In seinen Adern kribbelte es vor Nervosität. Wo blieb Brietta? Der junge Mann verharrte gut versteckt in Sichtweite des Tors im Unterholz. Wenige Meter neben ihm hörte er Jakob im Gebüsch rascheln.

Der Dorfvorsteher kämpfte sich aus einem Strauch hervor und näherte sich der Straße, den Blick in die Ferne gerichtet. Colin folgte ihm. Für einige Momente verharrten die beiden Männer schweigend vor dem Tor der Siedlung.

»Keine Staubwolke mehr.«

Jakob brummte zustimmend, den Blick ebenfalls auf den Himmel gerichtet.

»Kann ich mir ein Fahrzeug ausborgen?«

»Du willst nachsehen?«

Colin zog die Nase hoch und nickte dann. Er hatte es Aithne versprochen.

»Soll ich dich begleiten?«

»Nein. Jemand muss bleiben, um die anderen zu informieren. Wenn ich bis Mitternacht nicht zurück sein sollte, weißt du Bescheid.«

Der Dorfvorsteher überlegte für einen Moment. Doch dann zuckte er mit den Schultern, drehte sich um und steuerte auf einen kleinen Schuppen an der Seite des Dorfes zu. Er rumorte im Inneren. Dann schwang die Tür des Verschlags auf und Jakob rollte ein altes Motorrad heraus. Der Zweiräder hatte definitiv schon bessere Zeiten gesehen. Aber als Jakob den Anlasser mit dem Fuß trat, erwachte das Fahrzeug röhrend zum Leben. Liebevoll tätschelte er den Tank des Motorrads. »Pass mir gut darauf auf! Ich habe ewig gebraucht, um das gute Stück wieder zum Laufen zu bringen.«

Colin schwang sein Bein über den Sitz und nahm auf dem geflickten Sattel Platz. Dankbar nickte er Jakob zu und legte den ersten Gang ein. »Ehrensache.«

 

Die Sonne stand bereits tief am Himmel und tauchte den Feldweg vor Colin in ein dunkles Orange. Vor seinem inneren Auge wollte das Bild des Feuerballs nicht verschwinden. Mit schweißnassen Händen packte er die Griffe des Lenkrads. Auch wenn er es vor Aithne hatte verbergen können, hatte ihn die Explosion bis ins Mark erschüttert. Beim großen Vater! Brietta durfte nichts passiert sein! Er hatte sie doch gerade erst wiedergefunden. Seine Kiefer mahlten und er presste sich enger an das röhrende Metall. Schneller! Wieso konnte das Ding nicht schneller fahren? Der Weg vor ihm wollte nicht enden.

Dann nahm er eine kleine Biegung und riss im nächsten Moment mit einem Keuchen das Motorrad herum. Schlingernd kam er zum Stehen. Den tuckernden Motor unter sich, betrachtete er die Szene, die vor ihm lag.

Ein querstehender Van blockierte den Feldweg. Die Bäume links und rechts hinter dem Fahrzeug waren schwarz verbrannt und noch immer glommen kleine Feuer an einigen Ästen. Metallene Gegenstände hatten sich in die Stämme gebohrt und verliehen der Szene einen bizarren Anblick.

»Immerhin keine Blechdosen«, murmelte er leise und stieg von seinem Gefährt ab. Im nächsten Moment traf ihn der Gedanke wie ein Fausthieb in die Magengrube. Auch kein Lebenszeichen von ihr.

Er ließ das Motorrad zu Boden fallen und zog die Pistole aus dem Halfter. Die Waffe im Anschlag, näherte er sich langsam dem Van. Schweiß rann ihm den Rücken hinunter und kitzelte auf seiner Haut.

»Brietta?« Er konnte den Ruf nach ihr nicht zurückhalten. Seine Stimme hallte über die Straße. Stille antwortete ihm, was seinen Griff um die Waffe fester werden ließ. Bitte nicht! Er erreichte die vordere Tür des Wagens. Bevor er die Fahrertür aufreißen konnte, durchfuhr den Van ein schweres Poltern und krachend senkte sich eine Seite des Wagens ab.

»Scheiße!« Mit einem Fluch sprang er erschrocken zur Seite und riss seine Waffe hoch. Denn auf der gegenüberliegenden Seite des Wagens regte sich etwas. Schritte kamen um das Fahrzeug herum zu ihm. Er zielte in die Richtung des Geräusches, doch er hatte Mühe, die Pistole ruhig zu halten. Eine Person tauchte mit großen Schritten hinter dem Wagen hervor.

»Habe ich nicht gesagt, dass ihr euch verstecken sollt?« Breitbeinig stellte sich Brietta neben den Wagen, blickte ihn vorwurfsvoll an und wischte ihre ölverschmierten Hände an einem Stück Stoff ab.

Ein erleichtertes Stöhnen kam über Colins Lippen und seine Arme sackten herunter. Sie lebte! Ohne darüber nachzudenken, war er bei ihr und zog sie an sich. Er vergrub seine Nase in ihrem Haar. Unter all dem Gestank nach Rauch und Blut konnte er sie ausmachen. Er würde sie überall wiedererkennen! Seine Arme griffen fester um sie.

Zögerlich erwiderte Brietta seine Umarmung. Als ihre Hände langsam über seinen Rücken strichen, entwich ihm ein Seufzen.

»Nur Freunde, hm?«, flüsterte sie so leise an seinem Ohr, dass er nicht sicher war, ob sie wirklich mit ihm gesprochen hatte.

Aber der amüsierte Unterton in ihrer Stimme entging ihm nicht. Mit einem verlegenen Räuspern löste er sich von ihr. Verschämt fuhr er sich durch die Haare und trat von Brietta weg. Er musste sich in ihrer Gegenwart besser zusammenreißen! Er wies mit dem Kinn auf die Blutflecken auf ihrem Top. »Alles in Ordnung? Bist du in verletzt?«

»Keine Sorge. Alles gut bei mir.« Sie legte den Kopf schräg und grinste ihn an. Dann drehte sie sich um und ging auf die Rückseite des Vans zu.

Er folgte ihr. Was ihn hinter dem Van erwartete, ließ ihm für einen Moment den Atem stocken. Um das ausgebrannte Gerippe eines zweiten Vans lagen die verkohlten Überreste mehrerer Menschen verstreut. Die geschmolzenen Reste ihrer Kampfanzüge verklebten ihre Knochen. In einiger Entfernung lagen metallene Haufen, die früher wohl einmal Gleiter gewesen waren. Beim Geruch von verbranntem Fleisch musste Colin würgten. »Das warst du? Ganz allein?«

»Das ist mein Talent. Das ist es, was Elysium bis zur Perfektion geschliffen hat.« Ihre Stimme klang wie Eis.

Ein Schaudern ging durch Colins Körper. Die Soldaten der Divisionen waren unter den Damasiern gefürchtet. Auch er sah zu, dass er einen Bogen um sie machte. Doch so etwas? Er warf Brietta einen Seitenblick zu. Sie war die gefährlichste Person, der er je begegnet war.

Brietta seufzte leise, ließ die Schultern sinken und wandte sich dem intakten Van zu. Sie ging in die Hocke und begutachtete eines der Räder. »War nicht leicht, ihn zu flicken. Aber das sollte so gehen.«

Colin warf dem Schlachtfeld einen letzten Blick zu. Dann schüttelte er den Kopf und wandte sich Brietta zu. Mit geschürzten Lippen betrachtete er das geflickte Gummi. »Hätte nicht gedacht, dass du zu faul zum Laufen bist.«

Ihr leises Lachen neben ihm lief angenehm warm seinen Rücken hinunter. Sie erhob sich und trat an die hinteren Türen des Wagens. »Ich bin zwar kräftig, aber all dies könnte ich allein nicht tragen.«

Colin blickte durch die geöffneten Hintertüren des Vans. Beim Anblick des Laderaumes pfiff er durch die Zähne. In dem Wagen stapelten sich diverse Kisten und Kartons. Dank der Markierungen und Symbole darauf war klar, dass sie mit Verpflegung und Medikamenten gefüllt waren. Diese Dinge waren ein kleiner Segen, sowohl für das Dorf als auch für sie.

»Sie sind nicht gekommen, um mich zu retten. Bei so vielen Vorräten haben sie sich auf einen längeren Einsatz eingestellt.«

»Länger?«

»Sie hätten nicht zurückkehren dürfen, ohne ihren Auftrag erledigt zu haben.« Schnaubend ließ Brietta die Türen des Vans zufallen.

»Und der wäre?«

»Sie sollten mich töten.« Sie trat an die Fahrertür des Vans.

»Wieso sollten sie das tun wollen?«

»Weil ich mit meiner Geschichte einigen Leuten da oben gefährlich werden kann.«

Colin lud das Motorrad in den Van, während Brietta sich an das Steuer setzte.

»Welchen Leuten?«

»General Titus, Berater Cito … Ich bin mir sicher, dass zumindest der General über meine Herkunft wusste. Dafür war er damals im Krankenhaus zu sehr an mir interessiert. Er gab mir auch meinen Namen. Meinen falschen Namen.« Ihre Kiefermuskeln mahlten und das Plastik des Lenkrads knirschte unter dem Druck ihrer Finger. Sie bugsierte den röhrenden Wagen auf die Straße.

»Wie könnte ihm das gefährlich werden?«

»Er hat mich gefördert. Durch ihn wurde ich nicht nur in das Ausbildungsprogramm der Divisionen aufgenommen, sondern auch in die Position des Leutnants befördert. Vor meinem Verschwinden wollte er mich zu einem Major machen. Wer weiß, was er sonst noch mit mir vorhatte. Wenn rauskommt, dass er wissend ein Kind aus Damasia in Elysium aufgenommen hat, kann er froh sein, wenn er seinen Kopf auf den Schultern behält.«