Die letzten Verse eines Bittgebets kamen stumm über ihre Lippen. Erst dann öffnete Belana ihre Augen und ließ ihren Blick über die Menge der Gläubigen wandern, die den Tempel verließen. Sie ließ ihre Arme sinken und unterdrückte ein tiefes Seufzen. Heute war ein anstrengender Tag gewesen. Der Hohe Rat hatte sie über einen Grenzübertritt von elysischen Truppen informiert. Sie wussten nicht, wie, aber die Fahrzeuge waren aufgehalten worden, bevor sie eine Siedlung angreifen hatten können. Nun schwellte die Sorge um weitere Angriffe in Belanas Brust.
Sie wischte sich ein wenig Schweiß von der Stirn und sammelte ihre Gedanken, bevor sie ihr Kleid straff zog und sich vom Altar abwandte. Am Fuß des Podests hatte sich eine kleine Traube an Gläubigen eingefunden, die mit flehenden Blicken ihren Segen erwarteten. Sie drängten sich um die Hohe Priesterin, sobald sie die letzte Stufe erreicht hatte. Unzählige Hände griffen nach dem Saum ihres lilafarbenen Mantels. Belana war das Ziehen an ihr gewohnt.
Normalerweise genoss sie den Kontakt mit ihren Kindern. Allein die Anwesenheit der Menschen in Eintracht unter dem den Göttern geweihten Himmel erfüllte ihr Herz mit großer Freude. Doch das ungute Gefühl in ihrem Magen ließ ihr Lächeln an diesem Abend ein wenig steif wirken. Dennoch schaffte Belana es, ihre schmalen Finger in routinierter Gelassenheit auf die Köpfe der Bittsteller zu legen und für sie den Schutz der Götter zu erbitten. Mit langsamen Schritten watete sie durch die Ansammlung der Menschen, um schließlich von ihren beiden Beraterinnen eingerahmt und zum Ausgang eskortiert zu werden.
Ihre privaten Räume, bestehend aus einem Studier- und einem Schlafzimmer, waren durch Flure vom Rest des Tempels abgetrennt. Die Tore zu diesem Teil des Tempels waren streng bewacht. Nicht jedem war der direkte Zugang zur Hohen Priesterin gestattet. Mit einem leisen Seufzen betrat Belana die Stille ihres Arbeitszimmers. Die heimelige Atmosphäre, die die dicken Teppiche und die deckenhohen Bücherregale verströmten, beruhigte das nervöse Rumoren in ihrem Magen ein wenig. Sie nahm den Geruch der alten ledergebundenen Bücher wahr. Sie öffnete die Brosche ihres Umhangs und ließ den Stoff von ihren Schultern gleiten.
Als sich die schwere Tür hinter den eintretenden Beraterinnen schließen sollte, griff eine Hand in den schmalen Schlitz zwischen Rahmen und Tür. Ein atemloses Keuchen drang zu ihnen. Mit großer Mühe wurde das schwere Holz weiter aufgeschoben. »Hohe Mutter!«
Irritiert wandte sich Belana um und blickte zum Ausgang. Wer wagte es, ungefragt in ihre Privatsphäre einzudringen? Als auch ihre Begleiterinnen ungläubig die Stirn runzelten, wollte Belana nach den Wachen rufen. Da blitzte der verzierte Saum eines blauen Umhangs in dem größer werdenden Spalt auf. Sie erkannte das Muster sofort. Auf ihren Fingerzeig hin reagierte eine der Begleiterinnen, sprang zur Tür und zog diese auf.
Kaum war der Spalt groß genug, drängte sich Moira in das Zimmer und zog eine junge Priesterin mit sich. Hinter ihnen fiel die Tür krachend ins Schloss. Mit hochrotem Gesicht und schwerem Atem hängte sich die alte Priesterin an den Arm ihrer Gefährtin. Sie wollte sprechen, doch die Anstrengung nahm ihr die Luft.
Besorgt runzelte Belana die Stirn und faltete ihre Hände vor sich zusammen. Was veranlasste die betagte Ausbilderin, sie auf diese Weise zu stören? Was war so dringend, dass sie in ihrem Alter einen Kollaps riskierte? Ihre von der Mutter geschenkte Intuition zwickte Belana ins Herz. Dies war kein gutes Zeichen. »Setz dich doch bitte.«
Die Hohe Priesterin bemühte sich um einen gelassenen Ton. Sie hatte ihre Aufgabe als bedachte Vernunft verstanden. Sie bot der japsenden Frau einen der gepolsterten Stühle der Sitzecke an, die sich an der Seite ihres Studierzimmers befand.
Die junge Frau bugsierte die Ausbilderin in Richtung des Sofas und Moira fiel mit einem Schnaufen darauf. Klein wie sie war, versank sie förmlich in den Kissen, während ihre Begleitung unschlüssig neben dem Sofa stehen blieb.
Wäre jemand anderes so in Belanas Unterkunft eingedrungen, würde er oder sie in Ketten oder gar tot auf dem Boden vor ihr liegen. Die Ausbilderin jedoch genoss bei der Hohen Priesterin eine gewisse Narrenfreiheit. Moira hatte sie selbst in den Abläufen der wichtigen Zeremonien unterwiesen. Ein mildes Lächeln legte sich auf Belanas Lippen. Sie verschränkte die Hände auf dem Rücken und blickte ihren Gast an. »Moira, eine wirklich späte und überraschende Störung. Was kann ich für dich tun?«
Der rote Kopf der Ausbilderin wies in Richtung der jungen Frau. Japsend brachte sie ein paar Worte hervor. »Aithne … wichtige Neuigkeiten …«
Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte Belana die junge Frau, die mit gesenktem Kopf nervös die Hände knetete. Die wenigen Linien auf ihrem Gesicht sagten Belana, dass sie noch nicht lange im Dienste des Tempels stand. Doch die smaragdgrünen Augen, die unter der weiten Kapuze funkelten, ließen sie aufmerken. Wo hatte sie ein solches Grün schon einmal gesehen?
Sie legte den Kopf schräg und wartete darauf, dass ihr Gast mit der Sprache herausrückte. Doch anstatt zu reden, richtete sich der Blick der Priesterin auf die beiden Beraterinnen, die schützend hinter Belana Stellung bezogen hatten. Das tiefe Grün der Augen der jungen Frau konnte die Skepsis darin nicht verdecken. Ihre Finger fuhren in einer monotonen Bewegung den Saum ihres Mantels entlang, wobei ihre Fingerspitzen dem Muster darauf folgten.
Belana verstand nicht, wer diese Frau war und was sie hier mit Moira wollte. Aber sie erinnerte sich an einige Schriften des Alten, in denen er den Leser Geduld und Nachsicht lehrte. Sie verstand den Wink der Götter und wandte sich an ihre Aufpasserinnen. »Bitte, Schwestern. Lasst mich allein mit meinen Gästen sprechen.«
Als Antwort erhielt sie zusammengezogene Augenbrauen und ein angedeutetes Kopfschütteln. Sie verstärkte ihr Lächeln und verlieh ihrer Bitte mit einem ernsten Blick Nachdruck. Ihre Hand wies zur Tür. Um dem Geheimnis dieses Besuchs auf die Spur zu kommen, musste Aithne sich sicher genug fühlen, um frei zu sprechen. »Bitte.«
Auch wenn die beiden Frauen zögerten, deuteten sie ein Nicken an und traten schließlich zur Tür. »Hohe Mutter. Wir werden auf der anderen Seite Wache halten.«
Als sich die Tür hinter den beiden schloss, nahm Belana auf einem der Sessel Platz und forderte Aithne mit einem Lächeln auf, es ihr gleich zu tun. Die junge Frau nahm das Angebot dankend an. Als sie sich setzte, zog sie die Kapuze ihres Umhangs herunter. Mit zittrigen Fingern strich sie ihren Mantel auf den Knien glatt. Hilfesuchend wandte sich ihr Blick zu Moira, die es sich mit einem wohligen Grunzen auf dem Sofa bequem gemacht hatte.
»Erzähl einfach!« Die Ausbilderin wischte sich Schweiß von der Oberlippe. Anscheinend hatte sie ihre Sprache wiedergefunden.
Nach einem kurzen Zögern sackten die Schultern der jungen Frau hinunter und sie seufzte ergeben. Sie schloss zu einem tiefen Atemzug die Augen, bevor sie sich an Belana wandte. Ihr Blick legte sich mit einer Entschlossenheit auf sie, die Belana von der zierlichen Frau nicht erwartet hatte. »Hohe Mutter, es geht um meine Schwester Brietta. Wir beide sind vor etlichen Jahren als Flüchtlinge nach Saoirse gekommen und haben uns als Waisenkinder auf den Straßen durchgekämpft.«
Bei diesen Worten zog sich das Herz der Hohen Priesterin zusammen. Die Freiheit in Damasia veranlasste die Menschen oft genug, sich für ihr eigenes Wohl und gegen das der Gemeinschaft zu entscheiden. Der Kampf der Priesterinnen für die Schutzlosen war an so vielen Tagen schmerzhaft aussichtslos. Die Qual, die sich in Belanas Augen schlich, blieb jedoch von ihren Gästen unbemerkt.
Unbeirrt fuhr Aithne fort. »Es war nicht leicht, aber Brietta hat sich um mich gekümmert. Sie war meine Familie. Sie war alles, was ich hatte. Aber das hat sich eines Tages geändert. Auf einem Streifzug wurde sie von elysischen Soldaten aufgegriffen. Mir wurde gesagt, sie hätten sie getötet …« An der Stelle brach die junge Frau ab. Nachdenklich kaute sie auf ihrer Unterlippe herum. Ihre Finger hatten das gleichmäßige Massieren des Saums wieder aufgenommen.
Belana seufzte leise. Sie kannte solch traurige Geschichten viel zu gut. Leider kam es von Zeit zu Zeit zu unschönen Vorfällen, insbesondere am Rande der Außenposten Elysiums. Die Gründungsfamilien gingen gnadenlos mit jedem Eindringling vor. Da den Angehörigen meist eine Leiche zum Betrauern fehlte, war die Trauer oft von Unglauben begleitet. Belana wollte die Hände der jungen Frau ergreifen und deren Verlust mit gelernten, mitfühlenden Worten erleichtern, da fokussierte sich Aithnes Blick auf die Hohe Priesterin.
»Sie haben sie verschleppt. Erst vor einigen Tagen habe ich erfahren, dass sie auf die Inseln gebracht wurde. Sie haben sie halbtot geschlagen, wodurch sie ihr Gedächtnis verloren hat. Jahrelang hat sie auf Elysium gelebt, ohne zu wissen, woher sie wirklich stammt.«
Belana zog ihre Augenbrauen zusammen und versuchte, ihrem Gesicht einen verständnisvollen Ausdruck zu geben. Sie glaubte die Worte der jungen Frau nicht. Die Gründungsfamilien würden niemals ein Kind aus Damasia bei sich aufnehmen und schon gar nicht in deren Mitte aufziehen. Sie ergriff die Hände der Priesterin und spürte das Zittern darin. »Woher willst du das wissen?«
»Ich habe sie wiedergetroffen.«
Belana schüttelte traurig den Kopf und seufzte. Wer auch immer diese junge Frau ausnutzte, musste sehr grausam sein. Sie wollte zum Sprechen ansetzen, da strafften sich plötzlich Aithnes Schultern. »Ich weiß, dass das verrückt klingt, aber ich habe Brietta wiedergefunden. Und ich möchte für sie Euren Schutz erbitten. Auch wenn sie sich noch nicht an alles erinnern kann, glüht in ihr der Funke Damasias. Sie gehört hierher! Bitte, Hohe Mutter! Gewährt ihr Eure Gnade und nehmt Sie wieder in unserer Mitte auf.« Während sie sprach, rückte sie an den Rand ihres Stuhls. Ihre tränenerfüllten Augen blickten die Hohe Priesterin flehend an.
Belanas Mitleid mit der jungen Frau schnürte ihr die Brust ein. Sprachlos musterte sie das junge Gesicht vor ihr, das vor trotziger Entschlossenheit glühte. Aithne war wirklich davon überzeugt, ihre Schwester wiedergefunden zu haben. »Aithne, hör zu. Ich weiß nicht, wen du vermeintlich wiedergefunden hast. Aber ich kann nicht …«
»Es ist ihre Schwester. Dank der Götter hat sie Elysium überlebt.« Moira ließ sich seufzend tiefer in die Kissen sinken und strich über den samtigen Stoff, der sie umgab.
»Wie bitte?«
»Ich weiß, was du denkst. Aber Aithne ist nicht auf den Schwindel eines Flüchtlings der Inseln reingefallen. Die Götter haben Brietta beschützt und die Schwestern wieder zueinander geführt. Und das aus gutem Grund!«
»Wie kommst du darauf?« Belana hatte Mühe, ihrer Stimme einen gelassenen Ton zu verleihen. So langsam stellte Moira ihre Geduld auf die Probe. Sie hatte wichtigere Belange, um die sie sich kümmern musste, als die Spinnereien einer alten Frau.
»Aithne, erzähl ihr von deiner Gabe! Und von eurer Verbindung.«
Die jungen Frau kniff irritiert die Augen zusammen und funkelte Moira wütend an. »Ich verstehe nicht, was …«
Diese schmatzte leise und verschränkte in Seelenruhe ihre Hände vor dem Bauch. »Deine Visionen, mein Kind!«
Bei dem Wort zuckte Belana zusammen. Visionen? Schon lange hatte es niemanden mehr gegeben, der mit einer solchen Gabe gesegnet worden war. Nicht seit … Sie richtete sich in ihrem Sessel auf und blickte Aithne fragend an. Der Griff um deren Hände verstärkte sich. »Wovon spricht sie? Was für Visionen?«
Bei der festeren Berührung zuckte Aithne zusammen. Sie wollte ihre Hände aus der Umklammerung zurückziehen, doch die Finger der Hohen Priesterin hielten sie eisern fest. »Aithne. Über so etwas macht man keine Scherze. Sag mir ehrlich, wovon spricht Moira?«
»Ich … ich habe seit meiner Kindheit diese Gabe«, zögernd rückte Aithne mit der Sprache heraus. »Die Götter sprechen in Visionen zu mir. Sie zeigen mir Bilder. Bilder der Zukunft, aber auch der Gegenwart und Vergangenheit. Es sind kurze Ausschnitte. Es liegt an mir, sie zu verstehen. In den Nächten vor dem Wiedersehen mit Brietta hat mir die Mutter Bilder von ihr gezeigt. In einer Uniform. Und dann Bilder der Ruine. Ich musste diesen Ort finden, um sie zu treffen. In anderen Visionen hat sie mir gezeigt, was ich tun musste, um Brietta von ihrem Team wegzulocken.«
»Und deine Schwester? Besitzt sie ebenfalls solche Fähigkeiten?« Belana hing an den Lippen der jungen Frau. Was sie erzählte, schien zu unwirklich, um wahr zu sein.
Aithne zögerte. Ihr Blick huschte zwischen Moira und Belana hin und her. »Ich weiß nicht, ob es mir zusteht, davon zu erzählen …«
Belana krallte ihre Finger in die Hände der jungen Frau, sodass diese vor Schmerzen das Gesicht verzog. Aithnes Versuche, sich aus der Umklammerung zu befreien, wurden heftiger. Aber die Hohe Priesterin ließ nicht locker. Sie musste die Wahrheit wissen! »Aithne, bitte! Alles, was du mir erzählst, wird diesen Raum nicht verlassen. Aber du musst ehrlich zu mir sein!«
Die Augen der jungen Frau musterten sie ängstlich. Schließlich schienen die Worte der Hohen Priesterin zu wirken. »Auf den Inseln hat man Brietta im Militär ausgebildet. Wegen ihres Talents an der Waffe und im Einsatz hat sie es sogar bis zur Position eines Leutnants bei den Divisionen geschafft. Ich habe selbst erlebt, wie sie ganz allein und praktisch unbewaffnet eine ganze Gruppe der Divisionen ausgeschaltet hat.«
Aithne schluckte und blickte erneut zu Moira. Als ihr diese aufmunternd zunickte, fuhr sie fort. »Sie hat mir anvertraut, dass sie im Kampf in eine Art Trance verfällt. Eine Stimme, die sie anleitet und sie stärker und schneller macht.«
Belana musste ein ungläubiges Stöhnen unterdrücken. Konnte die Prophezeiung wirklich eingetreten sein? »Und diese Verbindung zwischen dir und deiner Schwester?«
»Es ist … wie ein … ein Band zwischen uns. Wir können es nutzen, um miteinander zu sprechen. Wir zeigen uns Bilder, Gefühle, Eindrücke.«
Ein Schauer schüttelte Belanas Schultern. Sie konnte nicht glauben, was sie da hörte. Das konnte nicht wahr sein. Ihr fragender Blick wanderte zu Moira. Das Grinsen der Ausbilderin strotzte vor Sicherheit.
»Du kannst ihr glauben. Ich selbst habe ihre Gabe seit Beginn ihrer Ausbildung getestet. Ich zweifle nicht daran.«
Belanas Blick wanderte zu Aithnes Gesicht. Diese grünen Augen … Als die Hohe Priesterin sich erinnerte, woher sie diese Farbe kannte, öffneten sich wortlos ihre Lippen. Erst langsam sickerte die Bedeutung dieser Erkenntnis in ihren Verstand. Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel und rann über ihre Wange.
Aithnes Blick wanderte verwirrt zwischen Belana und Moira hin und her. Sie schüttelte verärgert den Kopf. »Kann mir bitte jemand erklären, was hier vor sich geht?«
Belana zwang sich zur Ruhe. Dies war ein wichtiger Moment für ganz Damasia. Die Hohe Priesterin löste die Umklammerung ihrer Hände, griff unter den Kragen ihres Kleides und zog ein kleines Amulett hervor. Sie nahm es ab und legte es in Aithnes Hände.
Ungläubig betrachtete die junge Frau das runde Metallstück. Auf der Vorderseite war das Wappen Damasias eingeprägt. Ein dünnes Band aus eckigen Mustern umrahmte ein Kurzschwert. Um dessen Griff und breite Klinge schlang sich ein wehender Umhang. Aithne strich andächtig über die Prägung. Als sie verstand, weiteten sich ihre Augen. Ihre Unterlippe zitterte. »Das kann nicht …«
Belanas Stimme war ein zittriges Flüstern. »Ihr seid zurückgekehrt.«