Kapitel 16 - Brietta 

Der Tag war bereits vorangeschritten, als Brietta und Colin auf dem Plateau eintrafen. Briettas Schultern entspannten sich, als sie in der Ferne ihre Schwester am vereinbarten Treffpunkt erkannte. Die junge Frau war nicht allein. Neben ihr wartete eine schlanke, hochgewachsene Frau, die ebenfalls in den blauen Mantel einer Priesterin gehüllt war. Auf ihrem Gesicht erkannte Brietta beim Näherkommen ein ähnliches Netz aus Tätowierungen wie bei Aithne, nur wesentlich dichter. Ihre Haltung strömte eine Autorität aus, die Brietta nicht gefiel. Die Trance wallte am Rande ihres Bewusstseins auf. Instinktiv fuhr ihre Hand zu ihrem Oberschenkel. Schmerzlich verkrampften sich ihre Finger, als diese ins Leere griffen. Fuck! Sie hätte alles für den vertrauten Griff ihrer Waffe gegeben. Was die anderen wohl damit gemacht hatten?

Die geschärfte Sicht half ihr dabei, das Umland im Blick zu behalten, während sie sich den beiden Frauen näherte. Zum Glück hatten sie das Plateau als Treffpunkt bestimmt. Auf der Ebene konnte sich kein Angreifer verstecken. Auch wenn die Fremde groß war, würde Brietta mit ihr fertig werden. Grimmig zuckten ihre Mundwinkel und mit zusammengekniffen Augen trat sie auf die beiden zu.

Ein prüfendes Zupfen am Band zwischen ihnen wurde mit einem Lächeln von Aithne beantwortet. Sie schlang ihre Arme um Brietta und drückte sie an sich. »Keine Sorge. Mir geht es gut. Es ist alles in Ordnung.«

»Sicher?« Briettas Blick fokussierte die Fremde, während sie Aithnes Umarmung erwiderte. Ihre Schwester war nicht verletzt oder gefesselt. Und dennoch störte sie der Blick, mit dem die Priesterin sie nicht aus den Augen ließ. Etwas lag in der Luft und ließ die Trance weiterhin in ihren Adern kreiseln.

»Beruhige dich. Wir sind nicht in Gefahr.« Aithne verstärkte den Druck ihrer Umarmung und küsste sie auf die Wange. Schließlich löste sie sich von ihr und drehte sich zu ihrer Begleitung um. »Darf ich dir die Hohe Priesterin vorstellen?«

Mit einem freundlichen Lächeln trat die Frau auf Brietta zu und hielt ihr die Hand hin. Ihre Augen funkelten vor Aufregung, was Briettas Skepsis neues Feuer gab. »Es freut mich, dich kennenzulernen, Brietta. Nenn mich gerne Belana.«

Brietta musterte Belanas Hand. Ihre Nasenwurzel kräuselte sich. Diese Frau hatte Absichten. Aber die Trance schien sie nicht als Gefahr einzustufen. Lauernde Wachsamkeit schlierte durch ihren Kopf. Aber keine Angriffslust. Mit einem ergebenen Schnaufen ergriff Brietta die schlanken Finger der Hohen Priesterin und nickte ihr zur Begrüßung zu. Ob es ihr gefiel oder nicht, sie brauchte sie.

»Und darf ich dir Colin vorstellen?« Aithne, die den jungen Mann ebenfalls mit einer kräftigen Umarmung begrüßt hatte, zog ihn der Hohen Priesterin entgegen. Kaum, dass er vor ihr stand, ging er auf ein Knie und küsste den Saum ihres Mantels.

»Mögen die Götter dir wohl gesonnen sein.« Die Hand auf seinem Scheitel, murmelte Belana den Segen.

»Verzeiht. Ich habe Euch in dem blauen Mantel nicht direkt erkannt«, murmelte Colin, als ihn Belana wieder auf die Beine zog.

»In meiner offiziellen Robe hätte ich auf den Straßen der Stadt zu viel Aufmerksamkeit auf mich gezogen.« Belana lächelte Colin verständnisvoll zu.

Mit gerunzelter Stirn beobachtete Brietta die Szene. Colins plötzliche Unterwürfigkeit schürte ihre Skepsis. Diese Frau besaß Macht. Unbewusst ballte Brietta ihre Hände zu Fäusten.

»Du kannst ihr vertrauen.« Aithne hakte sich bei Brietta unter und legte den Kopf an ihre Schulter. Anscheinend entging ihrer Schwester die Skepsis in Briettas Blick nicht. Aithne ließ das Band zwischen ihnen sanft vibrieren. Der Klang hallte in Briettas Brust wider und beruhigte ihre Nerven. Die Trance verzog sich allmählich aus ihrem Kopf und ihre Fäuste lösten sich. Leise knurrte Brietta ihrer Schwester zu: »Na schön! Sie kriegt einen Vorschuss. Aber ich werde sie trotzdem gut im Auge behalten.«

Belana, die den kurzen Wortwechsel der Schwestern nicht gehört hatte, strahlte mit ausgebreiteten Armen in die Runde. »Ich möchte euch herzlich nach Saoirse einladen. Seid meine Gäste im Großen Tempel!«

Brietta musterte die große Frau ein letztes Mal mit einem prüfenden Blick. Belanas Auftreten forderte Respekt ein. Sie war es gewohnt, gehört zu werden. In ihrer aktuellen Situation war das vielleicht nicht das Schlechteste. Brietta gab sich einen Ruck. »Vielen Dank für die Einladung. Wir nehmen sie gerne an.«

 

Brietta war fasziniert von den alten Transportern, die sich in einer Schlange in Richtung des Haupttors zogen. Sie ließ ihren Blick neugierig über die Waren wandern, die auf den unzähligen Ladeflächen vertäut waren. Die Abgase der Motoren kitzelten in ihrer Nase. Auf Elysium wurde seit Jahrzehnten kein Benzin oder Diesel mehr verwendet. Die Vehikel, an denen sie entlanggingen, wirkten wie aus einem anderen Jahrhundert. Rost fraß sich an etlichen Stellen durch das Metall. Viele der montierten Teile sahen nach notdürftigem Pragmatismus aus. Brietta schüttelte mit einem mitleidigen Lächeln den Kopf. Wie konnte diese Nation so beharrlich gegen Elysium standhalten?

»Du bist sicherlich anderes von den Inseln gewohnt.« Colin war ihre Verwunderung nicht entgangen. Der junge Mann gesellte sich zu ihr, während Aithne und Belana, in einer angeregten Diskussion versunken, vor ihnen liefen.

»Wieso stellt ihr euch gegen Technologie?«

»Wir stellen uns nicht dagegen. Das, womit wir arbeiten, ist das, was uns die Gründungsfamilien übrig gelassen haben.«

»Wie meinst du das?«

»Hinter den Mauern Calaris verschwanden damals jegliche technologischen Ressourcen und jegliches Wissen darüber. Und falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte, die Gründungsfamilien sind nicht sonderlich daran interessiert, zu teilen.«

»Mir wurde erzählt, dass ihr aufgrund eurer Religion kein Interesse an Fortschritt habt.«

»Das trifft sicherlich auf einige Mitglieder der Gemeinde zu, aber nicht für alle!«

»Das musst du mir erklären.«

»Du kennst unsere vier Götter?«

»Die Mutter, der Vater, der Alte und das Kind.«

»Jeder von ihnen steht für bestimmte Attribute. Der Alte zum Beispiel steht für die Weisheit und die Erfahrung. Aber auch für Traditionen und das Altbewährte. Die Priesterinnen predigen das Gleichgewicht zwischen den unterschiedlichen Lehren der Götter. Wenn du alle vier berücksichtigst, wirst du ein glückliches Leben führen. Aber das zu schaffen, ist extrem schwer. Manche Leute setzen daher bewusst nur auf einen oder zwei Götter. Eben von deren oder dessen Ansichten sie überzeugt sind.«

»Dann sind wahrscheinlich die Anhänger des Alten eher skeptisch gegenüber Neuerungen. Wohingegen die des Kindes den Fortschritt wollen.«

Colin nickte. Mit gerunzelter Stirn musterte Colin sie für einen Moment. Dann richtete er seinen nachdenklichen Blick auf die Stadtmauern, die sich in der Ferne erhoben. »Diese Skepsis gegenüber allem Neuartigen wurde durch Elysium nur befeuert. In Damasia wird dir von Geburt an eingetrichtert, dass dir alles, was modern ist und glänzt, an den Kragen will.«

Bei seinen Worten zog Brietta den Mantel enger um sich und die Kapuze tiefer ins Gesicht. Aithne hatte den Umhang einer Priesterin mitgebracht, um die eng anliegende schwarze Hose und ihre kurzen Haare zu verdecken. Die Angst vor Elysium schien tief in den Menschen Damasias verwurzelt zu sein. »Ich verstehe eure Angst vor den Inseln. Aber ich kann dir sagen, dass auch Elysium weiche Knie bei dem Gedanken an eure Krieger bekommt.«

Colin lachte laut auf. Sein amüsierter Blick richtete sich auf sie. »Selbst die Blechbüchsen von den Divisionen?!«

»Die harte Ausbildung in den Divisionen dient einem Zweck. Du sollst keine Angst mehr haben. Nicht vor Schmerzen, nicht vor dem Töten oder gar dem Sterben selbst. Aber ich kann dir sagen, dass das ganze Training vergessen war, als ich das erste Mal einem von euch begegnet bin. Obwohl ich mit einer Pistole und er nur mit einer Axt bewaffnet war, hat er mich fast getötet.« Sie schob Colins Pullover, den sie noch immer trug, ein Stück nach oben und entblößte ihre Seite. In voller Länge zog sich eine Narbe darüber. An dem Tag hatte sie gedacht, sie würde sterben.

Bei dem Anblick presste Colin die Lippen aufeinander und stieß ein leises Zischen aus. »Verdammt!«

»So langsam verstehe ich, wieso er das damals geschafft hat. Ich habe damals gegen etwas gekämpft. Er hat für etwas gekämpft.«

 

Mit einem Seufzen trat Brietta auf den Vorplatz des Tempels und nahm die Kapuze des Mantels ab. Sie streckte ihre Schultern und dehnte ihren Brustkorb. Endlich durchatmen! Doch das wilde Durcheinander auf der Straße mit den Händlern hatte ihr gefallen. Diese vielen neuen Eindrücke! Sie würde einmal allein oder mit Colin dorthin zukehren müssen. Denn Aithnes Nervosität hatte auf sie abgefärbt und ihr den Besuch ein wenig verleidet. Aber kaum hatten sie das schmiedeeiserne Tor zur Brücke des Tempels passiert, hatte ihre Schwester ihre alte Ausgeglichenheit wiedergefunden.

Aithne trat neben Brietta unter das Dach aus Ranken und begann ihr von den Pflanzen zu erzählen, als ein meckerndes Lachen zwischen den Steinsäulen des Platzes ertönte. Instinktiv schob sich Brietta vor ihre Schwester und griff an ihren Oberschenkel. Verdammt! Schon wieder! Sie musste so schnell wie möglich an eine Waffe kommen!

Im nächsten Moment wurde sie von einem Paar dürrer Arme umklammert. Erneut erklang dieses seltsame Lachen. Doch dieses Mal war das lachende Gesicht an Briettas Brust gepresst. Die alte Frau war um einiges kleiner als Brietta. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, in Briettas Gesicht zu fassen und mit ihren knochigen Fingern in ihre Wange zu kneifen. Das breite Grinsen der kleinen Frau strahlte Brietta entgegen. »Endlich bist du zu Hause!«

Aithnes unterdrücktes Glucksen erklang in Briettas Rücken. Hilfesuchend versuchte Brietta, sich nach ihrer Schwester umzublicken. Aber die Fremde hielt sie noch immer umklammert.

»Darf ich dir meine Ausbilderin Moira vorstellen?« Mit einem breiten Grinsen trat Aithne hinter Briettas Rücken hervor und legte beide Hände auf die Schultern der alten Frau. Diese löste sich von Brietta und trat mit vor Stolz geschwollener Brust einige Schritte zurück.

»Moira, das ist meine große Schwester Brietta.« Aithnes Mundwinkel zuckten verschmitzt in die Höhe. Ihr schien dieser irritierende Auftritt ihrer Ausbilderin zu gefallen.

»Ich habe veranlasst, dass etwas zu essen und trinken in mein Studierzimmer gebracht wird. Eine kleine Stärkung wird uns sicher guttun, bevor wir uns unterhalten.« Belana trat zu der kleinen Gruppe. Eine Frau hatte Belanas blauen Mantel gegen einen lilafarbenen getauscht. Mit einem Seitenblick bemerkte Brietta die unzähligen Stickereien auf dem Stoff. Die Hohe Priesterin musste viel Zeit darin investiert haben.

»Etwas zu essen klingt gut!« Moira klatschte in die Hände. Mit einem freudigen Grunzen drehte sie sich um und trippelte auf einen Seiteneingang zu.

Kopfschüttelnd blickte Brietta ihr nach. Alles an dieser Frau verwirrte sie!

Belana lächelte sie von der Seite an. »Sie hat so ihre Eigenarten. Aber du wirst ihren Wert bald erkennen.«

 

»Wunderschön, nicht wahr?« Aithnes Stimme neben ihr war ein Flüstern. Ihre Schwester hatte sie überrascht, sodass Brietta leicht zusammenzuckte. Sie war vor einem Gemälde stehen geblieben. Fast über die gesamte Länge der Wand erstreckte sich vor ihr eine aus Öl gemalte Landschaft. Karg und trostlos war die Ebene, auf deren Seite eine kleine Hütte stand. Im Eingang der notdürftigen Behausung stand eine Frau, die einen blauen Mantel trug. Von ihr ging eine gewisse Wärme aus und das mitfühlende Lächeln auf ihrem Gesicht fing Briettas Blick. Es war fast so, als ob die Frau sie willkommen hieß.

»Das ist die Mutter. Das Bild stellt eine wichtige Szene in ihren Lehren dar. Selbst eine so bescheidene Hütte kann ein Zuhause sein, wenn du sie mit den richtigen Werten füllst.«

»Tja, so bescheiden ist die ‚Hütte‘ hier allerdings nicht.« Brietta riss ihren Blick von der Darstellung los und sah sich demonstrativ in dem opulent geschmückten Flur um. Allein das Gemälde hing in einem Rahmen aus Gold. Das Material fand sich auf den Stühlen und Konsolen entlang des Gangs wieder und vervollständigte die dicken Teppiche, die den steinernen Boden verdeckten.

»Belana spielt eine wichtige Rolle in Damasia. Auf ihren Schultern liegt viel Verantwortung. Ich finde es richtig, dass wir sie und ihre Arbeit ein wenig ehren. Gibt es denn so etwas auf den Inseln nicht?«

Brietta dachte unweigerlich an den Main Tower und Citos Apartment zurück. Der Marmorboden, die weiche Matratze seines Bettes. Ein Schaudern ging durch ihren Oberkörper. Sie hatte die Erinnerung an ihn und diese Nacht bisher verdrängt. Brietta presste ihre Zähne aufeinander und zuckte grimmig mit den Mundwinkeln. Entschlossen wischte sie diese Gedanken beiseite. Das tat nichts mehr zu Sache. »Doch. Aber da gibt es nicht so viel von diesem …« Sie deutete auf die vielen kleinen Verzierungen und Borden an den Möbelstücken. Verzweifelt suchte sie nach einem anderen Wort für »Kitsch«.

Erwartungsvoll wanderten Aithnes Augenbrauen nach oben. Sie musste offensichtlich ein Lachen unterdrücken. Den hilfesuchenden Blick ihrer Schwester ließ sie in der Luft hängen.

»Auf Elysium ist eben alles schlichter«, fand Brietta einen Ausweg, worauf Aithne laut lachte.

»Gut gerettet!« Ihre Schwester hakte sich bei ihr unter und zog sie zu der Tür, hinter der die anderen verschwunden waren.

Dahinter erwartete sie ein gut gefüllter Tisch mit Schälchen voller Essen. Moira hatte es sich auf dem breiten Sofa um den Tisch bequem gemacht und machte sich schmatzend über die vielen Leckereien her. Wieder beobachtete Brietta die alte Frau mit einem Kopfschütteln. Was hätte ihr Ausbilder Bruce wohl zu dieser Dame gesagt? Bei dem Gedanken, wie ein Treffen der beiden ablaufen würde, huschte ein Grinsen über ihr Gesicht.

»Setzt euch! Nehmt von allem so viel ihr wollt.« Belana wies mit einem einladenden Lächeln auf die Sitzecke, während sie einer weiteren Priesterin ihren Mantel reichte. Brietta erkannte die Frau vom Vorplatz wieder. Sie nahm ebenfalls den Mantel ab, legte ihn zusammen und reichte ihn ihr. Diese nahm ihn mit einem Nicken entgegen, wechselte ein flüsterndes Wort mit Belana und verließ dann den Raum.

Briettas Blick fiel auf Colin. Er hatte sich mit einem Glas und einem Schälchen auf einen Stuhl in der Ecke verkrochen. Mit gerunzelter Stirn musterte sie ihn. Seine angespannten Schultern, der gesenkte Blick und die Wortlosigkeit waren neu. Dieser Ort schien ihm Unbehagen zu bereiten. Mitleidig nickte sie ihm zu. Sie verstand ihn. Auch wenn dieses Büro mit den hölzernen Regalen, den dicken Teppichen und dem goldverzierten Schreibtisch nicht viel gemein mit dem von General Titus hatte, riefen beide Orte ein unangenehmes Ziehen in ihren Gliedern hervor. Sie mochte es nicht, eingesperrt zu sein.

Ganz anders schien es Aithne zu gehen. Mit einem Seufzen ließ sie sich auf einen der gepolsterten Stühle fallen. Nach einem Durchschnaufen goss sie in zwei Gläser Wasser aus einer Karaffe ein. Lächelnd hielt sie Brietta eines davon hin. »Komm. Du musst sicherlich durstig sein.«

Brietta nahm das Glas entgegen und setzte sich in den Stuhl neben ihrer Schwester. Erst als sie das kühle Nass auf ihren Lippen spürte, bemerkte sie, wie durstig sie war, und stürzte das Wasser in einem Zug hinunter.

»Oh, du musst das probieren!« Aithne griff eines der Schälchen vom Tisch. Mit etwas Brot nahm sie das Gericht auf und hielt es ihrer Schwester unter die Nase. Obwohl Brietta alles andere als hungrig war, aß sie. Das Essen war fremd für sie, doch es schmeckte. Kauend nickte sie der begeistert strahlenden Aithne zu.

Währenddessen hatte die Hohe Priesterin ihnen gegenüber Platz genommen. Ein halbleeres Glas in den Händen, saß sie zurückgelehnt in ihrem Sessel und musterte die beiden Schwestern. Selbst als sie einen Schluck nahm, wandte sie den Blick nicht von ihnen ab.

Belanas Aufmerksamkeit prickelte in Briettas Nacken, sodass sie mit einer erhobenen Hand einen weiteren Bissen von Aithne ablehnte. Sie leerte ein weiteres Glas Wasser und lehnte sich dann ebenfalls in ihrem Stuhl zurück. Erwartungsvoll musterte sie die Hohe Priesterin. Es war an Belana, als erstes zu sprechen.

»Brietta, sagen dir die Namen Brios und Shay etwas?«

Nachdenklich leckte sich Brietta einen Tropfen Wasser von den Lippen. Die Hohe Priesterin wollte also direkt zum Punkt kommen. Das gefiel ihr. Sie schüttelte leicht den Kopf. »Die Namen sind mir nicht bekannt.«

Aithne zog ein kleines Amulett aus ihrer Hosentasche und drückte es Brietta in die Hand. Mit einem Nicken wies sie auf das Wappen der Nation, das in den runden Anhänger eingraviert war. »Sie waren das Schwert und der Mantel Damasias.«

Briettas Blick verharrte auf dem Schmuckstück. Sie kannte das Wappen, doch bis zum heutigen Tag war ihr die Bedeutung der dargestellten Gegenstände nicht bewusst gewesen. Ihr Blick wanderte über das lächelnde Gesicht ihrer Schwester und fixierte dann die Hohe Priesterin. »Ich verstehe nicht …«

»Vor der Gründung Elysiums lebten die Menschen alle gemeinsam in unserem Staat Damasia. Aber dann gründeten fünf Familien die Stadt Calaris, um den Lehren des Kindes und des Vaters zu folgen. Sie sahen im Fortschritt den einzigen Weg in die Zukunft und den Kampf als notwendiges Mittel, um diesen zu verteidigen. Jeder Versuch, mit ihnen zu sprechen, sorgte dafür, dass ihre Mauern höher und dicker wurden. Sie schotteten sich vom Rest der Menschheit ab und riefen schließlich ihren eigenen Staat Elysium aus. Die Götter befürworteten diese Spaltung nicht. Als Strafe schickten sie uns die schwarze Seuche.«

Bei diesen Worten kräuselte sich Briettas Nasenwurzel. Dieser ganze Götterkram war ihr nicht geheuer. »Auf Elysium wird gesagt, dass die schwarze Seuche aufgrund der Lebensbedingungen in Damasia entstanden war.«

»Weil die Deppen da oben ja immer die Wahrheit verbreiten.«

Moiras Grunzen vom Sofa entlockte Brietta ein genervtes Knurren. Diese alte Krähe testete wirklich ihren Geduldsfaden. Als sie der alten Frau eine zynische Antwort entgegnen wollte, erhob Belana beschwichtigend die Hände. »So erzürnt die Götter auch über dieses Ungleichgewicht waren, wurde das Herz der Mutter von den vielen Gebeten erweicht. Und sie schickte uns die Brüder Shay und Brios. Beide waren mit besonderen Gaben gesegnet.« Mit dem Kopf wies Belana auf ein Bild an der Wand ihres Studierzimmers.

Brietta musste sich drehen, um es betrachten zu können. Das Gemälde stellte zwei junge Männer da. Einer breitschultrig und muskulös, mit kurzen Haaren, die ihm fransig ins Gesicht fielen. Sein Gesicht blickte streng aus dem Bild und seine blaue Uniform unterstrich den ernsten Eindruck. Mit den Händen umfasste er den Knauf eines Kurzschwertes, dessen Spitze den Boden berührte.

Der Mann neben ihm wirkte älter, obwohl er kleiner und schmächtiger war. Ähnliche Tätowierungen wie die der Priesterinnen zierten sein Gesicht und über seine Schultern fiel gemeinsam mit seinen langen Haaren ein blauer Umhang. Er blickte dem Betrachter freundlich aus dem Bild entgegen. Aber Brietta stutzte. So unterschiedlich die beiden auch waren, blickten sie sie aus den gleichen smaragdgrünen Augen an.

Nun sprach Aithne weiter. »Shay war der ältere der beiden Brüder. Er hatte Visionen, in denen die Götter ihnen den Weg wiesen. Er sorgte für den Zusammenhalt in unseren Reihen und die Seele unserer Nation. Sein jüngerer Bruder Brios …« Aithne ergriff Briettas Hand. Ihre Finger waren schwitzig warm. Zitterten sie? Prüfend musterte Brietta das Gesicht ihrer Schwester. Ihre Wangen glühten vor Aufregung und sie holte tief Luft, um fortzufahren. »Brios war das Schwert Damasias. Er war ein begnadeter Kämpfer. Die Berichte sagen, dass er selbst in der ausweglosesten Situation scharfsinnig handelte. Es gab nichts, was er nicht töten konnte.«

Bei diesen Worten kniff Brietta die Augen zusammen. Ihre Kiefer mahlten und Unruhe kribbelte unter ihrer Haut. Verstand sie etwa richtig, was die beiden ihr sagen wollten?

Belana rutschte auf ihrem Stuhl nach vorne und stütze beide Ellbogen auf ihre Knie. Die Aufmerksamkeit in ihren Augen war Ernsthaftigkeit gewichen. »Die beiden sollten die Menschheit wieder vereinen, das Gleichgewicht wiederherstellen und damit die schwarze Seuche beenden. Leider scheiterten sie am Tag des RISE. Mit den fliegenden Inseln konnten sie es nicht aufnehmen. Vor seinem Tod hatte Shay eine letzte Vision. Er sah, dass ein weiteres Geschwisterpaar kommen würde, um das zu erreichen, was für sie unmöglich war. Dass die Rückkehr des Schwerts und des Mantels Damasias ein neues Zeitalter einläuten würde.«

Brietta konnte sich ein Prusten nicht verkneifen. Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Das war doch alles absurd! »Und ihr glaubt jetzt, nur weil Aithne und ich auch grüne Augen haben, dass wir dieses Paar sind? Wir beide sollen die Inseln stürzen und die schwarze Seuche vertreiben?«

Aithnes Finger waren mittlerweile eiskalt und umklammerten ihre Hand. »Unsere grünen Augen sind nur der offensichtlichste Hinweis. Denk doch an unsere Fähigkeiten und unsere Verbindung! Endlich ergibt das alles Sinn. Du bist das Schwert Damasias.«

Aber Brietta hatte keine Möglichkeit mehr, auf die Worte ihrer Schwester zu reagieren. Kaum hatte sie den letzten Satz vernommen, zerschnitt ein greller Schmerz ihr Gesicht. Ihre Narbe glühte. Es fühlte sich an, als würde Bruces Klinge erneut ihre Haut zerschneiden. Dieses Mal jedoch mit sengender Hitze. Wie gelernt unterdrückte Brietta einen Schmerzensschrei hinter ihren zusammengepressten Zähnen. Unwillkürlich entzog sie Aithne ihrer Hand und presste sie auf die Wange.

»Ich weiß, dass das alles viel ist. Ich musste es auch erst einmal verdauen. Und ich kenne die ganzen Geschichten. Doch bitte vertrau uns.« Aithnes Stimme drang dumpf durch den rasenden Schmerz zu ihr.

Briettas Atem ging schwer und ihre Fingernägel krallten sich in ihre Haut, in einem verzweifelten Versuch, dieses Rasen in ihren Nerven zu beruhigen. Sie sah, dass sich Belanas Lippen bewegten, hörte ihr dumpfes Murmeln. Aber der Raum begann allmählich, vor ihren Augen zu verschwimmen. Nein! Nicht ohnmächtig werden! Nicht hier! Bedrohlich schwankten die hohen Bücherregale vor ihren Augen. Sie musste raus. Sie brauchte frische Luft!