Die Lackierung des Wagens war durch die Zeit und den Staub der Straßen stumpf geschmirgelt, aber die dunkle Farbe war noch immer erkennbar. Das längliche Gefährt hatte an der Straße vor dem Tempel auf sie gewartet. Es war nicht viel Zeit geblieben, um zu sprechen. Sie wusste nur, dass Belana den Rat in der Nacht informiert hatte, woraufhin die Mitglieder Aithne und Brietta so schnell wie möglich kennenlernen wollten. Verständlich. Dennoch rumorte ein ungutes Gefühl in Briettas Magen und immer wieder schwappte die Trance an den Rand ihres Bewusstseins. Mit gekräuselter Nasenwurzel betrachtete sie das Wappen Damasias, das auf den Kotflügel des Wagens gemalt war. Das Schwert und der Mantel … Sie konnte ein Schnalzen mit der Zunge nicht verhindern, was ihr einen amüsierten Seitenblick Belanas einhandelte.
Die Hohe Priesterin ging gelassenen Schrittes auf die Limousine zu, raffte ihren Mantel hoch und stieg ein. Dieses Prozedere schien ihr nicht sonderlich fremd zu sein. Aithne folgte ihr kurze Zeit später. Sie verschwand jedoch nicht im Inneren, ohne Colin einen Kuss zur Verabschiedung auf die Wange zu drücken und Brietta ein aufmunterndes Lächeln zuzuwerfen.
»Sicher, dass ich nicht mitkommen soll?« Colin trat neben sie und musterte ebenfalls den Wagen. In seiner Stimme lag eine gehörige Portion Argwohn. Brietta hatte seine Frage gehört, aber sie wurde von seiner Nähe abgelenkt. Er stand so dicht neben ihr, dass seine Finger kaum merklich ihre Hand strichen. Sein Geruch nach Sonne kitzelte in ihrer Nase. Sie musste sich mit einem Kopfschütteln aus ihren unanständigen Gedanken holen. »Wenn das Gespräch schiefläuft, muss sich jemand um Aithne kümmern.«
Brietta blickte ihn an. »Ich weiß, dass du viel lieber dabei wärst. Aber die Gewissheit, dass du im schlimmsten Fall Aithne da rausholst, beruhigt mich.«
Sein Schnauben klang nach Zustimmung. Wenn auch widerwillig. Sie grinste ihm unter einem dankbaren Kopfnicken zu. Als sie auf die offen stehende Tür des Wagens zutrat, schlangen sich plötzlich seine Arme um ihre Taille. Er zog sie an sich und vergrub für einen Atemzug seine Nase in ihren Haaren. »Wehe, du kommst nicht zurück!«
Sein Flüstern jagte Gänsehaut ihr Rückgrat hinunter und Brietta seufzte leise. Auch wenn ihr seine anfängliche Skepsis gefallen hatte, seine Zuwendung war berauschend. »Keine Sorge. So schnell wirst du mich nicht mehr los.«
Bevor sie sich von ihm löste, drückte sie einen flüchtigen Kuss in seine Halsbeuge. Das tiefe Brummen in seiner Brust gefiel ihr. Sie grinste ihm mit einem Augenzwinkern zu, bevor sie zu den anderen in den Wagen stieg. Die Tür schloss sich hinter ihr und das Gefährt setzte sich in Bewegung.
Durch die getönten Scheiben der Limousine warf Brietta Colin einen letzten Blick zu. Dann verschwand er zwischen den Menschen auf der Straße und der Wagen entfernte sich allmählich vom Tempel. Brietta lehnte sich in ihrem Sitz zurück und versuchte, sich zu entspannen. Aber die Enge des Fahrzeugs machte die Trance nervöser. Schnaubend fuhr sie mit beiden Händen über ihr Gesicht, bevor sie ihren Blick auf Belana richtete. Sie musste sich ablenken. »Erzähl mir von den Ratsmitgliedern.«
»Insgesamt besteht der Rat aus vier Mitgliedern. Da wäre zunächst General Raik. Ihm ist das Militär unterstellt. Fiona hat die innere Sicherheit zur Aufgabe und dazu die Polizei zur Hilfe. Juna ist so etwas wie unsere Kassenwartin. Sie kümmert sich um alle finanziellen Angelegenheiten des Staates. Kenan ist das Ratsmitglied für Gesundheit und Soziales.«
»Und deine Funktion?«
»Als Hohe Priesterin habe ich die Aufgabe, als Vermittlerin bei Konflikten innerhalb des Rates zu dienen. Wenn der Rat in Ausnahmefällen keine Mehrheit für einen Beschluss findet, kann ich das Zünglein an der Waage sein und ebenfalls meine Stimme bei einem Votum abgeben.«
»Wie, glaubst du, nehmen sie die Neuigkeit auf?«
Nachdenklich schürzte Belana die Lippen und richtete die Brosche an ihrem Mantel. »Wäre da nur die Sache, dass ihr zurückgekehrt seid, wäre das sicher für alle kein Problem. Aber die Tatsache, dass du ein elysischer Leutnant bist, wird einigen von ihnen … nun ja, sauer aufstoßen.«
»War! Sie war ein elysischer Leutnant.« Entschlossen reckte Aithne das Kinn in die Höhe und rutschte dichter an Brietta heran. So inbrünstig ihre Worte auch klangen, die Finger, mit denen sie nach Briettas Hand griff, waren schwitzig.
Brietta lächelte ihre Schwester dankbar an und tätschelte deren Handrücken. Sie war sich auch sicher, dass ihre Vergangenheit dem Rat nicht gefallen würde. Mit gerunzelter Stirn blickte sie aus dem Fenster und sah dabei zu, wie die Häuser der Stadt an ihnen vorbeizogen. Das Stadtbild Saoirses war so ganz anders als das von Elysium. Statt Stahl und perfekt geputzten Glaswänden waren Stein und Staub allgegenwärtig. Pflanzen und bunte Malereien an den Hauswänden gaben der Stadt Fröhlichkeit. In dem bunten Treiben der Menschen, die sich am Rande der Straße tummelten, pulsierte Leben. Brietta lächelte und drückte die Hand ihrer Schwester. Ja, die Entscheidung, hierzubleiben, war vielleicht nicht die einfachste gewesen, aber sie war die richtige.
Bald schon stoppte der Wagen vor einem breiten Tor aus Stahl. Es war das erste von vielen, die sie auf ihrem Weg zum Kapitol passieren mussten. Obwohl das Gebäude des Kapitols die Stadt überragte, war es auf dem Fußweg gut abgeschottet. Während der Wagen langsam von Tor zu Tor fuhr und Belana sich und ihre Gäste bei jedem Stopp auswies, scannte Briettas geschulter Blick die Anlage. Sie war überrascht über die Kameras, die gut positioniert alles im Blick hatten. Bewaffnete Männer und Frauen patrouillierten den Weg und musterten den Wagen mit skeptischen Blicken. Auch die Abwehrsysteme waren nicht so alt, wie Brietta erwartet hatte.
Nachdem sie auch den letzten Kontrollpunkt passiert hatten und sorgfältig kontrolliert worden waren, bog der Wagen ab und hielt vor dem Haupteingang des Kapitols. Vor der zweiflügeligen Holztür erwartete sie ein junger Mann in Hemd und Anzug. Kaum war Belana aus dem Wagen ausgestiegen, begrüßte er sie mit einer tiefen Verbeugung und einem schmalen Lächeln. »Hohe Priesterin! Herzlich willkommen! Der Rat erwartet Sie. Ich begleite Sie und Ihre Gäste gerne zu ihnen.«
Kies knirschte unter Briettas Sohlen, als sie aus dem Auto stieg. Sie ließ ihren Blick über den Innenhof schweifen. Der Springbrunnen, der leise vor sich hinplätscherte, und die akkurat angelegten Beete erinnerten sie an eine unschöne Begegnung aus ihrer Vergangenheit. Ihre Kiefermuskeln spannten sich an und ließen ihre Zähne knirschen. Der Druck von Aithnes Fingern, die Brietta die ganze Fahrt über nicht losgelassen hatten, verstärkte sich. Die Angst in Aithnes Stimme holte Brietta aus ihrer Erinnerung. »Was ist, wenn sie uns nicht glauben?«
Brietta ließ die Hand ihrer Schwester los, um ihre Finger um deren Kinn zu legen. Sie sah ihr tief in die smaragdgrünen Augen. »Es ist egal, was da oben passiert. Was sie zu uns sagen oder nicht. Ich bin da. Egal, wohin du gehst.« Kraftvoll ließ sie das gemeinsame Band zwischen ihnen schwingen, während Aithnes Worte vom Lagerfeuer im Plätschern des Brunnens verklangen. Für einen Moment weiteten sich Aithnes Augen. Aber dann schürzte sie die Lippen zu einer trotzigen Schnute und nickte Brietta zu.
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, bevor sie erneut Aithnes Hand ergriff und sie mit sich durch die Eingangstür zog. Das Innere des Kapitols empfing sie mit emsiger Geschäftigkeit. Die Schritte der Männer und Frauen, die durch die große Eingangshalle eilten, hallten an den Wänden aus glattpoliertem Stein wider. Gemurmel waberte die unzähligen Flure entlang, die von der Halle abzweigten. Wäre Belana nicht da gewesen, wäre das Durchqueren der Menge mühsam gewesen. Aber der Hohen Priesterin machten die Menschen mit gesenktem Kopf Platz.
Belanas Autorität hatte Brietta bei ihrer ersten Begegnung skeptisch werden lassen. Auf den Inseln hieß eine solche Ausstrahlung nichts Gutes. Aber während die kleine Gruppe die Halle durchquerte und die Priesterin den einen oder anderen erbetenen Segen verteilte, erkannte sie den Unterschied. Belana musste den Respekt der Leute nicht einfordern. Sie hatte ihn sich erarbeitet.
»Im Gebäude ist der Großteil der Behörden untergebracht. Hier laufen die wichtigsten Informationen aus allen Ecken des Landes zusammen«, raunte Aithne Brietta zu, während sie ihrem Begleiter durch die Eingangshalle folgten. Dieser ging an dem Empfangstresen in der Mitte des Raumes vorbei und auf die breite Treppe am anderen Ende zu, über welche sie in den oberen Stock gelangten. Je tiefer sie in das Gebäude vordrangen, umso ruhiger wurde es. Die Flure wurden leerer. Hier und da drang Gemurmel durch die verschlossenen Türen.
Dann blieb der Mann vor einer Doppeltür stehen und drehte sich mit erwartungsvollem Blick zu ihnen um. »Meine Damen. Wenn Sie so freundlich wären und einen Augenblick warten könnten. Ich kündige Ihr Erscheinen dem Hohen Rat an.« Mit diesen Worten klopfte er an die Tür und verschwand.
Belana legte ihre Hand auf Briettas Schulter. »Bitte lass mich reden. Ich kenne die Vier. Ich weiß, mit welchen Worten ich sie am besten erreiche.«
Brietta musterte die Hohe Priesterin mit erhobener Augenbraue. Der Vorschlag gefiel ihr nicht. Die Trance kitzelte am Rande ihres Sichtfelds und ließ ihre Nasenflügel zuckten. Sie wollte für sich selbst sprechen. Der Druck von Belanas Hand auf ihrer Schulter verstärkte sich. »Bitte, Brietta.« Als auch Aithne ihre Hand fester drückte, schnaubte sie schließlich wütend auf und nickte der Hohen Priesterin zu. Na schön! Fürs Erste würde sie ihr den Vortritt lassen.
In dem Moment öffneten sich die beiden Flügel der Tür. Tageslicht strömte zu ihnen in den dunklen Flur. Als die drei auf das Kopfnicken des Mannes hineintraten, erkannte Brietta, woher das Licht stammte. Durch die bodentiefen Fenster des Saals konnte man die gesamte Stadt überblicken. Unter ihren Füßen knarzte der Parkettboden, als Brietta hinter der Hohen Priesterin den Raum durchquerte. Ein leises Klicken in ihrem Rücken verriet ihr, dass die Tür wieder verschlossen wurde. Augenblicklich kreiselte die Trance in ihren Adern und ihr Griff um Aithnes Hand wurde fester. Mit gekräuselter Stirn huschte ihr Blick durch den Raum. In dem dunklen Holz, mit dem der Saal vertäfelt war, konnte sie keinen weiteren Ausgang erkennen. Von den Wänden beäugten sie mannshohe Porträts von ehemaligen Ratsmitgliedern. Aber es waren die bewaffneten Wachen, die Briettas Aufmerksamkeit auf sich zogen. Ihre Kiefer mahlten. Sie bugsierte Aithne in ihren Rücken. Wenn es hart auf hart käme, würde sie ihre Schwester mit ihrem Leben beschützen.
»Belana! Wir freuen uns, Euch begrüßen zu dürfen!« An dem runden Tisch vor ihnen erhob sich ein Mann und begrüßte die Hohe Priesterin mit ausgebreiteten Armen. Auch wenn auf seinen Lippen ein Lächeln lag, strahlten seine kurzgeschorenen grauen Haare und die blaue, unförmige Uniform eine Kühle aus, die Brietta nur allzu bekannt vorkam. Ihre Nasenflügel bebten. Sie würde nicht zulassen, dass der Rat Aithne etwas antat.
»Vielen Dank, General Raik.« Belana nickte dem Mann zu und blieb einige Meter vor ihm stehen. Mit einem Lächeln blickte sie in die Runde der Ratsmitglieder. Brietta zählte insgesamt vier Personen: zwei Männer und zwei Frauen. Der Rat war also vollständig versammelt. Neugierige Blicke brannten auf ihrem Gesicht, was ihr bei der Kontrolle der Trance nicht half. Die Aufmerksamkeit von Autoritäten bedeutete auf Elysium nichts Gutes.
»Verehrter Hoher Rat! Ich habe Ihnen in der Nacht die freudige Nachricht übermittelt: Shays letzte Prophezeiung ist eingetreten. Meine Schwester Moira, eine erfahrene Ausbilderin unseres Tempels, ist vor Jahren auf eine Novizin aufmerksam geworden.« Belana drehte sich zu den beiden Schwestern um und streckte einen Arm in Aithnes Richtung. Mit einem freundlichen Lächeln winkte sie sie heran. Wie angewurzelt blieb Brietta stehen und baute sich vor ihrer Schwester auf. Ihr Blick verengte sich. Alles in ihr widerstrebte es, Aithnes Deckung aufzugeben. Sollten die beiden fliehen müssen, wäre es besser, wenn Aithne unmittelbar in ihrer Nähe war. Aber eine sanfte Berührung an ihrem Arm holte sie aus ihrer Starre. Aithne trat neben ihr hervor und strich ihr über die Schulter. »Ist schon gut«, flüsterte sie ihr zu, während sie auf Belana zutrat. Widerwillig ließ Brietta ihre Hand los.
Belana zog die junge Frau neben sich und legte zur Verstärkung ihrer Worte beide Hände auf Aithnes Schultern. »Über Jahre hat Moira Aithnes Gabe geprüft und konnte mir und meinen Beraterinnen zweifelsfrei aufzeigen, dass die Götter zu der jungen Frau sprechen. Erzähl ihnen davon, mein Kind.«
Aithnes Schultern strafften sich und ihr leises Räuspern klingelte in Briettas Ohren. Die Distanz zwischen den beiden Schwestern machte die Trance nervös und es kribbelte unter Briettas Haut. Ihr gefiel die Situation nicht. Ihr Blick huschte zwischen dem Rat und den Wachen hin und her. Nur der kleinste Hinweis, dass die Wachen sie verhaften oder gar angreifen sollten, würde reichen und Brietta würde mit den Anwesenden kurzen Prozess machen. Die Trance sang in ihren Ohren.
»Bereits seit meiner Kindheit habe ich Visionen. Meine Mutter hat diese Fähigkeit schon früh erkannt und mich im Umgang mit ihnen geschult. Aber sie starb, bevor ich meine Gabe vollends verstehen konnte. Moira hat mir während meiner Ausbildung geholfen und ich habe gelernt, die Nachrichten der Götter zu verstehen. Visionen der Mutter haben mich zu meiner Schwester geführt. Dank der Götter habe ich sie nach Jahren wiedergefunden.«
»Wiedergefunden?« Der hagere Mann in der Mitte der Runde hatte sich bei Aithnes Erzählungen nach vorne auf den Tisch gelehnt. Mit kleinen, freundlichen Augen musterte Ratsmitglied Kenan die Gruppe.
Aithne wandte sich Brietta zu und streckte eine Hand nach ihr aus. Brietta ergriff sie und ließ sich nach vorne neben ihre Schwester ziehen. »Brietta wurde entführt. Sie wurde auf die Inseln verschleppt und dort in dem Glauben aufgezogen, sie stamme von dort.«
Ein Raunen ging durch den Raum.
»Du willst damit sagen, dass sie Elysianerin ist?« Die graue Uniform, die die Frau trug, wies sie als Ratsmitglied Fiona aus. Ihre langen Haare, die sie streng zurückgekämmt in einem Pferdeschwanz trug, gaben den Blick auf ein junges Gesicht frei. Trotz ihres Alters funkelten Brietta intelligente Augen an. Diese Frau durfte sie nicht unterschätzen. »Ich war knapp vierzehn Jahre alt. Elysische Soldaten griffen mich auf. Ich überlebte, aber verlor mein Gedächtnis. Ein Major erkannte mein Talent und nahm mich in das Ausbildungsprogramm der Divisionen auf.«
»Divisionen?« Ruckartig setzte sich Fiona auf und ihre Hand zuckte zu den Wachen, die sich augenblicklich in Bewegung setzen. Beim Anblick der Uniformierten, die mit entsicherten Gewehren auf sie zuschritten, kreischte die Trance in Briettas Gliedern auf. Sie knurrte und schob sich schützend vor Aithne.
»Fiona! Bitte!« General Raiks flache Hand fuhr auf den Tisch, sodass die Gläser darauf leise klirrten. Mit einem Kopfnicken verwies er die Wachen wieder auf ihre Positionen. Unter zusammengezogenen Augenbrauen blickte er seine Kollegin über den Tisch hinweg an. »Lass unsere Gäste in Ruhe aussprechen.«
Die junge Frau schnaubte wütend auf. Ihre Oberlippe zuckte, aber sie nickte dem General zu. Dieser wandte sich seinen Gästen zu. »Bitte. Fahr fort.«
Jeder Muskel in Briettas Körper vibrierte unter der Trance. Sie bemerkte kaum, dass Raik das Wort an sie gerichtet hatte. Ihre Aufmerksamkeit lang ganz bei den Wachen und deren Waffen. Dann registrierte sie Aithnes Hand in ihrem Rücken und ein leichtes Ziehen an dem gemeinsamen Band. Aithne flüsterte: »Es ist alles in Ordnung.«
Scharf zog Brietta Luft durch die Nase ein und riss ihren Blick von den Wachen, um Fionas Gesicht zu mustern. Die junge Frau schleuderte ihr den gleichen Argwohn zurück, der auch in ihrem Körper kreiselte. Aber Aithnes warme Hand in ihrem Rücken beruhigte die Trance. Allmählich wich die Anspannung aus Briettas Körper und ließ sie aufatmen. Sie musste sich beruhigen. Sie brauchte die Zustimmung des Rates.
»Brietta. Erzähle dem Rat von deiner Fähigkeit.« Belanas Stimme ließ sie aufhorchten. Brietta biss sich auf die Zunge. Aithne war damals am Lagerfeuer die erste Person gewesen, der sie davon erzählt hatte. Ihr Geheimnis … Dann straffte sie ihre Schultern und richtete sich mit erhobenem Haupt auf. Colin hatte in der letzten Nacht Mut bewiesen und sein dunkelstes Geheimnis mit ihr geteilt. Für eine gemeinsame Zukunft würde sie dies auch tun. »Ich bestand die Aufnahme in die Divisionen als eine der jüngsten Rekrutinnen. Und das nicht ohne Grund. Im Kampf befällt mich ein Zustand, eine Art Trance. Meine Sinne werden geschärft. Ich kann im Dunkeln besser sehen. Ich bin schneller und stärker. Bei Entscheidungen hilft mir eine Stimme. Sie leitet mich mit Scharfsinn. So schaffte ich es, innerhalb kürzester Zeit in den Rang eines Leutnants aufzusteigen.«
Die Blicke, die sich die Ratsmitglieder untereinander zuwarfen, waren schwer zu lesen. General Raik musterte Brietta aufmerksam und tippte nachdenklich mit einem Finger auf seine verschränkten Arme. Kenan fuhr sich mit einem Seufzen über den glattrasierten Schädel und Fionas Argwohn war schärfer als zuvor.
»Was ist mit Brios und Shays weiteren Fähigkeiten?« Ratsmitglied Juna, die bisher geschwiegen hatte, schob mit einem Zeigefinger ihre Brille ein Stück nach oben. Ihre schmächtige Figur versank in einem Hosenanzug, zu dem ihr strenger Dutt im Nacken passte.
»Auch die Schwestern teilen eine besondere Verbindung. Ein unsichtbares Band, über das sie kommunizieren können.« Belana nickte Juna bestätigend zu. Sie ließ einige Sekunden verstreichen, bevor sie erneut zum Sprechen ansetzte. »Verehrter Hoher Rat. Ich bin sicher, dass Ihr meiner Nachricht von letzter Nacht mit einer gesunden Portion Skepsis begegnet seid. Auch wird die Tatsache, dass Brietta einige Jahre auf den Inseln verbracht hat, nicht sehr vertrauenswürdig erscheinen. Seid jedoch sicher, dass meine Schwestern und ich nicht leichtfertig eine solche Aussage treffen. Brietta und Aithne sind das wiedergekehrte Schwert und der Mantel Damasias!«
Ein amüsiertes Knurren kam von Fiona und sie hieb mit der flachen Hand auf die Armlehne ihres Stuhls. »Das Schwert Damasias? Ein elender, elysischer Spion! Das ist sie! Wie konntet Ihr Euch von diesem Unschuldsgetue einlullen lassen? Wir sollten euch alle auf der Stelle festnehmen!«
»Fiona, es ehrt dich, dass du die Sicherheit unserer Stadt so wertschätzt. Aber lass deinen Hass auf Elysium dir nicht die Weitsicht nehmen.« Kenans Stimme war sanft, aber bestimmt. Er hatte sich auf seinem Stuhl zurückgelehnt. Ein Lächeln umspielte seine Augen, während er die beiden Schwestern aufmerksam musterte.
»Kenan hat Recht. Selbst, wenn sie nicht das Schwert sein sollte, könnte ihr Wissen für uns nützlich sein.« General Raik schaltete sich in die Unterhaltung ein.
»Aber warum sollte sie uns helfen?« Junas Einwand kam zaghaft.
»Ich stehe vor euch, obwohl ich mich dadurch in Lebensgefahr bringe.« Briettas Blick richtete sich auf die Gewehre der Wachen, die unter der Anspannung der Männer leise vibrierten.
»Das kann auch alles eine Falle sein.« Fionas Stimme war ein Fauchen. Aber auch Kenan und Raik nickten zustimmend und ihre Blicke richteten sich auf Brietta. Sie atmete tief ein und trat einen Schritt auf den Tisch zu. Das Zucken der Wachen ignorierte sie. Sie hatte mit Junas Frage gerechnet. »Die Gründungsfamilien fürchten sich vor Damasia und der Idee eines freien, selbstbestimmten Lebens. Sie tun alles, um den Bewohnern der Inseln Angst vor euch zu machen. Das ist es, woraus mein bisheriges Leben bestand. Wozu ich ausgebildet wurde. Schmerz und Angst.«
Für einen Moment schloss Brietta die Augen. Ein leichtes Ziehen in ihrer Narbe ließ sie schnauben. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie ihre Hände zu Fäusten ballte. Sie öffnete ihre Finger und wischte ihren Schweiß an ihrer Hose ab. »Aber dann traf ich Aithne und ich erlebte, was für mich bisher undenkbar war. Sie liebt mich. Sie liebt mich, obwohl sie mit eigenen Augen gesehen hat, wozu ich in der Lage bin. Und das gibt mir Hoffnung, dass meine Gabe etwas Gutes ist. Dass ich sie nutzen kann, um zu helfen und nicht bloß, um zu morden.«
Bei Briettas Worten tauchte Aithne an ihrer Seite auf. Mit gerecktem Kinn stellte sich ihre Schwester dicht neben sie, packte ihre Hand und blickte dem Rat trotzig entgegen. Eine nachdenkliche Ruhe legte sich über den Saal. General Raik trommelte nachdenklich auf dem Tisch. Fiona hatte die Arme vor der Brust verschränkt und fixierte Brietta feindselig. Nur Kenan saß entspannt zurückgelehnt in seinem Stuhl und nahm einen Schluck Wasser. Junas leises Räuspern unterbrach die Stille. »Ich glaube ihnen. Es war mutig, zu uns zu kommen und sich zu offenbaren. So etwas tut man nicht leichtfertig und schon gar nicht grundlos.«
Kenan nickte in die Richtung seiner Kollegin. »Ich stimme Juna zu. Brietta hat es bis nach Saoirse geschafft. Wenn sie uns schaden wollte, hätte sie dies bereits getan.«
General Raik zog scharf Luft durch die Nase ein und ließ sich mit durchgestrecktem Rücken in seinem Stuhl zurückfallen. Er fuhr sich mit einer Hand über die stoppeligen Wangen. »Ob als Schwert Damasias oder als elysischer Flüchtling. Was wäre deine Idee, um den Gründungsfamilien zu Leibe zu rücken?«
»Auf den Inseln sind die Familien für uns unerreichbar. Daher haben wir genau zwei Optionen. Entweder zwingen wir sie auf die Erde oder wir finden einen Weg zu ihnen hinauf.«
»Nicht, dass wir nicht auch schon auf diese Idee gekommen wären«, zischte es aus Fionas Ecke, was Brietta jedoch nicht weiter beeindruckte. Sie fixierte ihren Blick auf General Raik. »Die Ankerpunkte. Nehmen wir nach und nach jeden von ihnen ein, sind beide Optionen für uns denkbar.«
»Und wie stellen wir das an?« Der Mann hörte ihr aufmerksam zu.
»Wir fangen mit einem an und arbeiten uns sukzessiv vor. Mit jeder Eroberung wachsen unsere Ressourcen und die Angst auf den Inseln.«
General Raiks Mundwinkel zuckten verärgert, als Fiona laut prustete. Sein wütender Blick in ihre Richtung brachte sie schnell zum Verstummen. »Die Außenposten sind mit den neuesten Abwehrsystemen gesichert. Selbst wenn wir all unsere Männer und Geschütze einsetzen, sehe ich keine Chance, wie wir auch nur einen Stützpunkt einnehmen könnten.«
»Ihre Überlegenheit liegt darin, dass sie ihre Augen und Ohren überall haben. Wenn ich in den Stützpunkt gelange, kann ich sowohl ihre Stromversorgung als auch ihre Kommunikationssysteme lahmlegen. Die Besatzung der Posten wird überfordert sein, wenn ihnen die Kameras, Sensoren und Funkverbindungen fehlen.«
Fiona schnaubte empört auf und verschränkte trotzig ihre Arme vor der Brust. »Klar! Als wenn die dir die Tür aufmachen, wenn du nett genug anklopfst.«
Briettas Blick huschte zu Fiona. So langsam ging sie ihr gehörig auf die Nerven. Ihre Mundwinkel zuckten und ihre Lippen kräuselten sich verärgert, während sie die junge Frau musterte. »Gebt mir zwei eurer fähigsten Männer. Gemeinsam locken wir ein Divisionsteam hinter den Mauern hervor. Wir kümmern uns um sie und sind innerhalb kurzer Zeit im Besitz der Kampfanzüge der Divisionen. Hinter den Visieren und mit meinem Wissen über die internen Vorgänge werden sie uns freiwillig die Tür öffnen.«
General Raiks Schnalzen mit der Zunge ließ sie herumfahren. Der Blick seiner grauen Augen war interessiert. Sie hatte ihn fast für sich gewonnen. »Es wird nicht leicht sein, ein ganzes Divisionsteam auszuschalten.«
»Das gilt nicht für das Schwert Damasias.«
Hinter Raiks Hand, mit der er durch seinen Bart fuhr, blitzte ein Lächeln hervor. Er schmunzelte und nickte anerkennend.
»Wie sieht es aus, Raik? Für mich klingt der Plan machbar.« Kenan hatte sich dem General zugewandt und musterte ihn aufmerksam.
Dieser fuhr sich erneut mit der Hand über den Mund. Sein Blick verengte sich, bevor er sich nach vorne an den Tisch lehnte. »Der Plan ist riskant. Aber er ist die beste Chance, Elysium in die Knie zu zwingen, die wir je hatten.«
»Dann hast du hiermit meine Zustimmung.« Kenan leerte sein Glas und stellte es auf den Tisch.
»Meine auch.« Juna zog das Revers ihrer Jacketts glatt und versuchte, sich darin so groß wie möglich zu machen. Hinter ihren Brillengläsern blitzen ihre kleinen Augen entschlossen auf.
»Fiona. Die Mobilmachung des Militärs bedarf der Zustimmung des gesamten Rates. Wie sieht es mit dir aus?« Raik blickte die junge Frau über den Tisch hinweg an.
Ihre Finger verkrampften sich an ihren Oberarmen, als sich alle Blicke auf sie richteten. Die Muskeln ihrer Kiefer spannten sich an. Brietta konnte das Knirschen ihrer Zähne beinahe hören. »Selbst wenn ich die Tatsache mit dem elysischen Leutnant außer Acht lasse, wäre ein solcher Angriff wahnsinnig. Durch unsere Bemühungen in den letzten Jahren haben wir so etwas wie Frieden. Wir würden nur einen Krieg provozieren.«
»Krieg ist unvermeidbar. Die Gründungsfamilien haben aus niederen, egoistischen Gründen die Menschen auf den Inseln eingesperrt. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass sie sie nicht freiwillig gehen lassen werden. Die fehlgeschlagenen Versuche, unsere Brüder und Schwestern zu befreien, haben uns verzagen lassen. Aber nun schicken uns die Götter neuen Mut! Ratsmitglied Fiona, lest das Zeichen der Götter richtig und ergreift die Chance, dem Terror Elysiums endlich ein Ende zu bereiten!« Belana trat neben Brietta und legte eine Hand auf ihre Schulter. Ihre Finger gruben sich in ihre Muskeln, während die Hohe Priesterin sprach.
Unter Belanas beschwörenden Blicken stöhnte Fiona ergeben auf. Widerwillig löste sie ihre verschränkten Arme und legte beide Hände flach vor sich auf den Tisch. »Na schön. Ich stimme zu.«