Colin fuhr mit einer Hand ihren Rücken auf und ab. Dabei strich er mit einem Finger über eine besonders lange Narbe auf ihrem Rücken. Sie seufzte wohlig bei seiner Berührung.
»Erzählst du mir, woher sie stammt?«
»Ein Übungskampf mit meinem Ausbilder. Ich habe die Länge des Speers falsch eingeschätzt. Er hat mich beim Ducken erwischt.«
»Dein Ausbilder hat dir den Rücken aufgeschlitzt?«
Unter ihr spannte sich Colins Körper an. Der Schmerz in seiner Stimme gellte in ihren Ohren. Es tat mehr weh als der Schnitt der Klinge damals. Sie runzelte die Stirn und hob ihren Blick zu ihm. »Tun dir meine Narben weh?«
»Ja. Weil es meine Schuld ist, dass du sie besitzt.«
Brietta stützte sich mit einer Hand auf seinem Brustkorb ab und richtete sich leicht auf. Im schummrigen Licht des neuen Morgens betrachtete sie sein Gesicht. Es gefiel ihr nicht, wie die Reue seine Augen dunkel färbte. Sie schüttelte den Kopf. »Was mit mir passiert ist, ist nicht deine Schuld. Ich bin dir damals gefolgt. Dazu hat mich niemand gezwungen.«
Mit einem Schnauben setzte sie sich auf und zog ihre Knie gegen die Brust. Nachdenklich fuhr sie mit einem Finger die Narbe an ihrer Wange entlang. »Meine Narben erzählen meine Geschichte. So wie es deine Tattoos tun. Mit jeder von ihnen verbinde ich etwas. Ja, sicherlich sind es schmerzhafte Erinnerungen. Aber ohne sie hätte ich die Inseln nicht überlebt. Ohne sie wäre ich nicht hier. Ich blicke nicht mit Groll in die Vergangenheit, denn endlich freue ich mich auf die Zukunft.«
Die Laken raschelten leise, als sich Colin neben ihr aufrichtete. Mit einer Hand umfasste er ihr Kinn und zog ihr Gesicht zu sich. Liebevoll flüsterte er: »Ich liebe dich, Brie!«
Als sie ihm antworten wollte, vibrierte das Band zu ihrer Schwester in ihrer Brust. Das Bild vom Holzschild des Tylis tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Sie schnaubte ergeben: »Aithne ist hier.«
Wenige Augenblicke später ertönte ein Klopfen gegen die Tür. »Colin? Brietta?«
Widerwillig ließ Brietta Colin los, der sich mit einem Grinsen auf den Lippen von ihr löste. Nur mit einem Laken um die Hüften, ging er zur Tür und öffnete sie.
Bei seinem Anblick färbte sich Aithnes Gesicht augenblicklich tiefrot. »Ich … ähm … der Rat hat sich gemeldet … es geht los.«
»Dann werde ich schnell unter die Dusche hüpfen.« Bei ihrem Gestammel wurde Colins Grinsen breiter und er machte ihr mit einer ausladenden Handbewegung an der Tür Platz. Bevor er im Badezimmer verschwand, warf er Brietta, die ebenfalls in ein Laken gehüllt auf dem Bett lag, einen letzten Blick zu. Die Lust in seinen Augen prickelte auf ihrem Gesicht.
Mit einem tadelnden Kopfschütteln ließ sich Aithne neben sie auf das Bett fallen. »Uns steht ein Krieg bevor und ihr habt nichts Besseres zu tun als …«
»Es wild zu treiben?« Brietta beendete ihren Satz und lachte bei dem peinlich berührten Gesichtsausdruck ihrer Schwester.
»Wenn es dich glücklich macht …« Aithne stupste sie mit einem Lächeln an.
Brietta setzte sich auf und lehnte sich gegen die Schulter ihrer Schwester. Aithnes Worte hatten etwas in ihr zum Klingen gebracht. Nachdenklich schürzte sie die Lippen und fuhr mit ihrer Fußspitze imaginäre Kreise auf dem Boden vor dem Bett nach. »Was Sex angeht, war ich in den letzten Jahren eindeutig nicht untätig. Dazu war es auch eine zu gute Ablenkung von meinem Scheiß. Aber das mit Colin fühlt sich anders an. Irgendwie intimer. Mich interessiert an ihm mehr als sein Aussehen oder dass er mich befriedigen kann. Es gefällt mir, dass ich ihm wichtig bin.«
Sie musterte die verschlossene Tür das Badezimmer, von wo das Rauschen von Wasser zu hören war. Aithne legte ihren Kopf auf Briettas Schulter und seufzte leise. »Klingt irgendwie unanständig. Aber auch schön!«
Hinter dem Gebäude wartete bereits die dunkle Limousine auf die drei. Als sich die hintere Tür öffnete, blickte ihnen Belana entgegen. Mit einem wissenden Lächeln begrüßte sie Brietta, die sich neben die Hohe Priesterin auf die hintere Sitzbank setzte.
»Guten Morgen! Ich hoffe, du hast in der Nacht wenigstens ein bisschen Erholung gefunden.« Ihr Blick wanderte zu Colins Hand, die sich auf Briettas Oberschenkel legte.
Briettas Oberlippe kräuselte sich unter einem verschmitzten Grinsen. »Ein wenig.«
Der Wagen setzte sich in Bewegung und fuhr holpernd über die Straßen.
»Die Kasernen sind im Osten der Stadt. General Raik und seine Männer haben gute Arbeit geleistet. Ich hatte nicht erwartet, dass sie die Truppen so schnell mobilisieren können.«
»Ich auch nicht.« Brietta griff nach Colins Hand und verschränkte ihre Finger ineinander. Sie hatte gehofft, dass sie etwas mehr Zeit zu zweit haben würden. Ihr Blick wanderte zu ihm. Sie seufzte bei seinem ergebenen Schulterzucken.
Ohne Probleme passierten sie das Tor der Kasernen. Die Betonplatten, über die ihr Wagen langsam rollte, waren alles andere als eben. Abgeschlagene Kanten reihten sich notdürftig aneinander, um wenigstens den Eindruck einer Ebene zu erschaffen. Aus verschiedenen Materialien zusammengezimmerte Hütten mussten die Unterkünfte der Soldaten sein. Mit gekräuselter Stirn beobachtete Brietta das rege Treiben zwischen den Baracken. Männer und Frauen wuselten in hektischer Betriebsamkeit umher. Selten blitzte das blau einer Uniform in den Reihen zusammengewürfelter Kleidungsstücke hervor. »Keine Kriegsbemalung?«, fragend wanderte ihr Blick zu Colin.
Dieser schüttelte den Kopf. »Das machen wir nur noch zu zeremoniellen Angelegenheiten. Ein nackter Oberkörper ist im Kampf dann doch recht unpraktisch.«
»Dann muss Elysium dringend sein Trainingsprogramm auf den neuesten Stand bringen.« Brietta schmunzelte bei dem Gedanken an die Darstellung der Krieger in den Programmen. Diese dienten sicherlich auch als Futter für die Gruselgeschichten, die sich in den Tischen den Divisionen über Damasia erzählt wurden.
Mit einem Räuspern unterbrach Belana die Unterhaltung. Sie hatte sich leicht vorgebeugt und folgte Briettas Blick durch die getönten Fensterscheiben. Die Falten auf ihrer Stirn waren ungewöhnlich für sie. »Wir treffen uns mit einem gewissen Oberst Fynn. Laut Raik soll er einer seiner fähigsten Männer sein und über hervorragende Ortskenntnisse über den nördlichen Außenposten verfügen.«
Der junge Mann erwartete sie an einem Seiteneingang der wenigen Hangars, die an die Baracken anschlossen. Während sich der Wagen langsam näherte, fuhr er sich mit den Fingern durch seine blonden Haare und kämmte sie hinters Ohr. Das Blitzen in seinen Augen gefiel Brietta. Ein freundliches Lächeln umspielte seine Lippen und sein markantes Kinn schob sich keck nach vorn. Er deutete eine Verbeugung an und trat mit ausgestreckter Hand auf sie zu, als Brietta als erste aus dem Wagen stieg. »Ich freue mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen!«
»Bitte. Nenn mich Brietta. Und das ist meine Schwester Aithne.« Sie ergriff seine Hand und erwiderte das Lächeln. Der Oberst war ein attraktiver Mann. Dies war nicht nur ihr aufgefallen. Aithnes Wangen waren mit einer Röte überzogen, als sie neben ihr auftauchte. Mit einem schüchternen Lächeln reichte sie ihm ihre Hand. Brietta musste grinsen. Da spürte sie Colins Körper in ihrem Rücken.
»Den sollte ich wohl besser im Blick behalten.« Unter seinen Worten hörte sie seine Zähne knirschen und demonstrativ legte sich eine Hand auf ihre Hüfte.
»Es gefällt mir wesentlich besser, wenn du nur Augen für mich hast.« Sie zupfte seine Hand von ihrer Taille und verpasste ihm einen amüsierten Seitenblick.
»Oberst Fynn! General Raik hat Sie bereits angekündigt.« Belana stieg als Letzte aus dem Auto und begrüßte den Soldaten.
»Ich bringe Sie gerne zum Besprechungsraum. Dann können wir alle Einzelheiten durchgehen.« Er nickte auffordernd in die Runde und wies ihnen mit einer Armbewegung an, ihm zu folgen. Sie durchquerten die Halle, deren seitliche Tore offen standen. Ein Sammelsurium an Fahrzeugen bot sich Brietta unter dem schützenden Dach der Anlage. In mal mehr, mal weniger gutem Zustand reihten sich unterschiedliche Wägen aneinander, die von Männern und Frauen beladen wurden.
An der gegenüberliegenden Seite kamen sie über eine Treppe in den oberen Rang des Gebäudes. In dem länglichen Raum begrüßte sie General Raik und führte sie an einen Tisch, der über und über mit Karten und Berichten bedeckt war. Brietta ließ ihren Blick über die vielen unbekannten Gesichter im Raum schweifen. Die Männer und Frauen waren zum Großteil uniformiert, auch wenn deren Uniformen nicht alle einheitlich waren. Die Abzeichen an ihren Revers kennzeichneten sie als ranghohe Soldaten. Sie mussten zum Beraterstab des Generals gehören.
Brietta erkannte die Umrisse des nördlichen Stützpunktes auf einem der Pläne. Interessiert trat sie näher und ließ ihren Blick über die Zeichnung schweifen. Sie war erstaunlich detailliert. Anerkennend nickte sie und fuhr mit dem Finger über die gezeichneten Linien. »Gut getroffen!«
»Danke. Hat mich auch einiges an Zeit gekostet.« Fynn trat neben sie. Seine Mundwinkel zuckten unter einem stolzen Grinsen, das breiter wurde, als Raik neben ihn trat und eine Hand auf seine Schulter legte.
»Oberst Fynn und Oberst Kian werden euch auf eurem Einsatz begleiten. Mit dem Geländewagen werdet ihr ungefähr sechs Stunden bis zum Außenposten brauchen. Ihr bekommt eine Stunde Vorsprung. Dann rücken wir ab.«
Erneut musterte Brietta den Oberst. Er war zwar ein wenig schmal für ihren Geschmack, aber seine Augen blitzten ihr aufmerksam entgegen. Sie nickte mit geschürzten Lippen und wandte sich wieder dem Papier vor ihr zu. Sie umkreiste mit ihrem Zeigefinger ein unscheinbares Gebäude an der westlichen Seite des Postens. »Das ist der Stromgenerator der Anlage. Vier bis fünf gut platzierte Sprengkörper sollten ihren Dienst tun und den Außenposten lahm legen.«
»Notstrom?«
»Dessen Kapazitäten reichen nur, um die Kommunikationsverbindungen aufrecht zu erhalten. Die Geschütze und Sensoren werden damit nicht gespeist.« Briettas Finger wanderte zu dem viereckigen Gebäude im Zentrum des Lagers. »Eine härtere Nuss wird die Kommandozentrale. Das Gehirn des Postens wird gut geschützt. Man muss die Abläufe schon gut kennen, um kein Misstrauen zu erwecken. Daher nehme ich mir die Zentrale gemeinsam mit Colin vor. Sobald auch sie in die Luft gegangen ist, sind sie blind, taub und ein leichtes Ziel für unsere Truppen.«
In den Reihen der Anwesenden waren die Gespräche verstummt. Alle hörten ihr aufmerksam zu. Oberst Fynn strich sich nachdenklich über die Lippen und ließ seinen Blick über den Plan wandern. Dann nickte er. »Verstanden! Das kriegen Kian und ich hin.«
»General Raik, wie ist der Stand der Truppen?« Brietta hob den Blick von dem Plan und fixierte den Mann neben ihr. Der verschränkte die Arme hinter dem Rücken und streckte die Schultern. »In genau zwei Stunden sind die Regimente eins bis vier einsatzbereit und fertig zum Abzug.«
Zufrieden nickte sie ihm zu.
»Für dich und Colin liegt Ausrüstung bereit. Wenn ihr wollt, könnt ihr euch umziehen. Oberst Fynn wird euch hinbringen.«
Erneut nickte Brietta zufrieden. Ihr Blick schweifte in der Runde der Anwesenden. Sie sah die Entschlossenheit in jedem einzelnen Gesicht. Sie lächelte grimmig.
»Ich habe auf Elysium gelebt. Ich bin in ihrer Mitte groß geworden. Ich weiß, welche schaurigen Geschichten sie sich über die damasischen Truppen erzählen. Ich habe erlebt, welche Furcht ihnen das damasische Wappen einflößt.« Ihre Faust fuhr auf den Tisch vor ihr.
»Ihre Waffen mögen den unseren überlegen sein, doch unserer Entschlossenheit können sie nichts entgegensetzen! Unser Mut ist es, der ihnen kalte Schauer über den Rücken laufen lässt! Kämpfen wir! Zeigen wir ihnen, dass sie Recht daran tun, uns zu fürchten!«
Fynn brachte sie in eine kleine Baracke an der Seite der Kaserne. Colin nahm er wieder mit sich, damit dieser sich in einem anderen Zimmer in Ruhe umziehen konnte. Während Brietta ihre alte Kleidung ablegte und die Uniform anzog, saß Aithne auf einem der beiden Feldbetten und beobachtete sie nachdenklich. Das Band in ihrer Brust vibrierte vor Angst.
Mit einem Seufzen ging Brietta vor Aithne auf die Knie und ergriff ihre Hände. Sie waren eiskalt. »Mach dir keine Sorgen. Es wird alles gut.«
»Macht dir der Gedanke, dass wir uns wieder trennen müssen, keine Angst?«
»Es macht mir mehr Angst zu wissen, dass du in Gefahr bist.«
Aithne schnaubte trotzig auf und krallte ihre Finger um Briettas.
»Du verstehst doch hoffentlich, dass du nicht mit auf den Einsatz kommen kannst, oder? Du und deine Fähigkeit werden bei General Raik viel mehr gebraucht.«
Aithne zog ihre Stirn in Falten und schluckte. Dann nickte sie und griff sich in die Haare. Sie löste eine der Holzperlen, zupfte eine Strähne aus Briettas Haaren und flocht die Perle in einen kleinen Zopf ein. Anschließend strich sie ihn hinter Briettas Ohr und lächelte. »Damit du nie wieder vergisst, wo du herkommst.«
Mit einem traurigen Seufzen zog Brietta ihre Schwester an sich. Das gemeinsame Band schwang bis in die kleinste Faser ihres Körpers. Es umschloss sie und ihre Schwester und zog sich fester um die beiden als je zu vor.
Ein vorsichtiges Klopfen an der Holztür holte die beiden aus ihrer Umarmung. Fynns Stimme drang durch die geschlossene Tür zu ihnen. »Seid Ihr so weit?«
Brietta löste sich von Aithne und blickte ihr in die Augen. Dann küsste sie Aithne auf die Stirn und erhob sich wieder. Sie wandte sich den letzten Teilen ihrer Ausrüstung zu.
»Warte!« Aithne griff in die Tasche ihres Mantels und zog Briettas Oberschenkelholster und ihre elysische Pistole daraus hervor.
»Du hattest sie die ganze Zeit?«
Mit einem schuldigen Lächeln reichte sie Brietta die Waffe. »Als wir dir deinen Anzug auszogen, habe ich sie an mich genommen. Colin habe ich gesagt, dass wir sie wohl auf dem Weg verloren haben müssen. Er ist den ganzen Weg zurückgelaufen, um sie zu suchen. Dabei ist er deinem Team fast in die Arme gelaufen. Ich dachte mir, dass sie dir wichtig wäre.«
Andächtig nahm Brietta das Bündel entgegen. Sie entrollte den Gurt und zog die Pistole aus dem Holster. Freudig kribbelte die Trance unter dem vertrauten Gewicht der Waffe in ihrer Hand. Sie hatte sie vermisst. Sie nickte Aithne zu. »Danke.«
Mit geübten Griffen schnallte sie das Holster um ihren Oberschenkel und sicherte die Waffe darin. Sie fühlte sich wohler mit ihrer Pistole in greifbarer Nähe. Sie umarmte Aithne noch einmal und trat dann vor die Baracke.
Auf den grauen Betonplatten stand ein offener Geländewagen. Auf der Rückbank saß neben Colin ein weiterer junger Mann. Er trug wie sie einen Anzug in Tarnfarben. Seine Haare waren genau so kurz geschoren wie die von General Raik. Als er Brietta erblickte, sprang er vom Rücksitz und verbeugte sich vor ihr. »Es ist mir eine Ehre!«
Brietta trat auf ihn zu und klopfte ihm auf die Schulter. »Du musst Kian sein.«
»Ja, Schwert Damasias.«
Sie musste grinsen. »Nenn mich Brietta.«
Colin, der ebenfalls wie Kian ausgestiegen war, umarmte Aithne zum Abschied. »Keine Dummheiten, solange wir nicht da sind, um dich zu retten!«
Sie gluckste leise an seiner Schulter. »Ich gebe mir Mühe. Und du, pass mir gut auf sie auf.«
»Darauf kannst du dich verlassen.«
Auch wenn der Geländewagen sie schnell durch das unwegsame Gelände brachte, stand die Sonne bereits tief am Himmel, als sie die ersten Ruinen einer der verlassenen Städte um den nördlichen Stützpunkt erreichten. Brietta brauchte nicht lange, um sich in ihrem alten Einsatzgebiet zu orientieren. Ortskundig lotste sie Fynn durch die Überbleibsel der Vergangenheit. Sie wies ihn an, den Wagen in einer halb verfallenen Zufahrt zu einer Tiefgarage zu parken.
Während die Männer den Wagen notdürftig mit Planen und anderem herumliegenden Material verdeckten, kletterte Brietta die Auffahrt hinauf. Sie blickte in die Straße und konnte in der Ferne die Mauern des Stützpunktes ausmachen. Colin trat neben sie. Ihm folgten Fynn und Kian. Ihre erwartungsvollen Blicke richteten sich auf sie. Brietta wies mit dem Arm die Straße entlang. »Ein Block in südlicher Richtung und wir laufen in die Erfassung ihrer Sensoren. In einem der Hauseingänge sollte unser Feuer ihre Aufmerksamkeit wecken. Sammelt auf dem Weg brennbares Material.«
Sie drehte sich zu den dreien um. »Sie werden sich aufteilen und die angrenzenden Gebäude durchsuchen. Das gibt jedem von uns die Chance, sich um einen von ihnen zu kümmern. Seht zu, dass es schnell geht und sie keine Chance haben, zu funken. Versucht, Schusswaffen zu vermeiden. Jeder verdächtige Funkspruch wird uns den Zutritt erschweren. Verstanden?«
Ein einstimmiges Nicken beantwortete ihre Frage.
»Gut. Fynn und Colin, ihr werdet Posten in den oberen Stockwerken der gegenüberliegenden Gebäude beziehen. Kian, du wirst das angrenzende Gebäude sichern. Ich bleibe auf der Straße. Lasst die Finger vom Leutnant. Um den kümmere ich mich.«
Brietta stapelte das gesammelte Holz und Papier an einer halb verfallenen Häuserwand. Es sollte alles so unauffällig wie möglich wirken. Bevor sie mit einem Feuerzeug den Haufen in Brand setzte, vergewisserte sie sich, dass die anderen bereits auf dem Weg zu den vereinbarten Positionen waren.
Schon bald zog eine dicke Rauchwolke über die verlassenen Straßen der Ruinen. Während die Flammen heller und größer wurden, schwappte die Trance an den Rand ihres Bewusstseins. Brietta gab dem Zerren mit einem leisen Seufzen nach. Der Zustand hatte seit langer Zeit keinen Besitz mehr von ihrem Körper ergriffen. Es fühlte sich fast ekstatisch an, als die Kraft ihre Glieder durchspülte. An ihre geschärften Sinne drang ein dumpfes Grollen. In der Ferne öffneten sich die Tore des Stützpunktes. Sie bleckte die Zähne. Das ging wirklich schnell! Ein prüfender Blick über die Fassaden der umliegenden Gebäude zeigte ihr die Gestalten ihrer lauernden Kameraden in den Schatten der Ruinen. Alle waren auf Position, sodass sie sich ebenfalls zurückzog und hinter einen ausgebrannten Wagen auf der gegenüberliegenden Seite duckte. Dann wartete sie.
Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis dumpfe Schritte über die leere Straße hallten. Sie näherten sich. Vier Männer in den glänzenden Kampfanzügen der Divisionen traten auf das Feuer zu. Zwei von ihnen löschten die Flammen, während die anderen zwei die Kreuzung sicherten. Sehr gut. Alles lief nach Protokoll. Die Trance schwoll in Briettas Adern an. Das Knistern des Funks unter den Helmen der Männer drang zu ihr. Sie erhielten die gewohnten Instruktionen der Zentrale. Mit einem zufriedenen Lächeln beobachtete Brietta, wie sie sich aufteilten.
Während sein Team in den umliegenden Gebäuden verschwand, blieb der elysische Leutnant auf der Kreuzung stehen. Für einige Atemzüge richtete sich sein Visier die Straße hinauf und hinab. Aber schließlich entschied er sich für die Richtung, in der Brietta hinter dem Wrack kniete.
Als Brietta die Streifen auf den Schultern des Leutnants erkannte, spannten sich ihre Kiefer an. Ihr Blick wanderte auf seine Brust. Ein aus Kupfer geschmiedetes Gamma prangte auf der rechten Brustplatte des Mannes. Diese Abzeichen waren neu. Anscheinend hielten sie es für notwendig, die Divisionen zu markieren. Grimmig lächelte Brietta. Das würde ihr Vorhaben vereinfachen.
Eng presste sie sich gegen die verbrannten Flanken des Autos. Sie verschmolz mit den dunkler werdenden Schatten. Sie hörte, wie das Klicken der Metallkappen der Stiefel auf das Wrack zusteuerte. Plötzlich verstummten die Schritte und ein Lichtkegel fiel über ihrem Kopf durch die leeren Fenster des Wagens. Suchend wanderte der Lichtpunkt an der Häuserwand entlang.
Brietta hörte das leise Murmeln des Mannes im Funk. Seine Kollegen schienen bisher auch noch nichts gefunden zu haben.
Die Trance kreischte freudig in ihren Adern auf, als sich der Soldat wieder in Bewegung setzte und sich die Schritte auf das eine Ende des Wracks zubewegten. Sie verließ sich ganz auf ihr geschärftes Gehör und bewegte sich diagonal zu den Schritten, sodass sie immer im Schatten des Wracks blieb. Als der Leutnant an der hinteren Ecke des Autos hervortauchte, beschleunigte sie ihre Schritte. Geduckt sprintete sie an der Längsseite des Wagens entlang und zog das Jagdmesser aus ihrem Gürtel.
Erschrocken keuchte der Mann auf, als Brietta ihn von hinten packte. Sie riss seinen Kopf nach hinten und rammte ihm in einer flüssigen Bewegung das Messer von unten in die Kehle. Sein Blut spritzte warm über ihre Hände. Sie riss ihm den Helm vom Kopf, damit das Röcheln seiner letzten Atemzüge nicht über den Funk zu hören war. Bevor sein schlaffer Körper auf dem Asphalt aufkam, fing sie ihn auf. Bloß keinen Lärm machen!
Sie griff ihm von hinten unter die Schultern und schleppte ihn hinter das Autowrack. Sie positionierte die Leiche so, dass sie von den Gebäuden aus nicht zu sehen sein würde. Dann huschte sie geduckt zum Häusereingang weiter. Dass der Leutnant tot war, würde dem Team nicht lange verborgen bleiben. Sie mussten schnell machen.
Vorsichtig lugte Brietta in das Dunkel im Inneren des zerfallenen Gebäudes. Als sie sicher war, dass die Luft rein war, betrat sie das Treppenhaus. Schummrig fiel das Licht durch die offene Treppe hinein. An vielen Stellen fehlten die Decken im ersten Stock. Ihr Blick wanderte über die Stufen. Im Dreck und Staub der Jahre konnte sie keine Fußspuren ausmachen. Der Soldat musste sich im Erdgeschoss befinden. Sie hielt inne und lauschte. So sehr sie sich auch anstrengte, konnte sie keine Schritte hören. Verdammt! Wo war er? Und wo war Kian?
Zügig schlich sie weiter und erkundete die restlichen Räume, stets darauf bedacht, wohin sie trat. Nach und nach drang sie tiefer in das Innere des Gebäudes vor. Sie durchstreifte die verlassenen Büros. Erst nach einiger Zeit stieß sie auf Fußspuren. Sofort erkannte sie die markanten Abdrücke der elysischen Stiefel. Sie verringerte ihr Tempo.
Sie war noch nicht ganz um die nächste Abbiegung, da schrie die Trance auf. Beunruhigende Geräusche hallten den langen Flur zu ihr hinauf. Krachend wurde ein Körper gegen die Wand geworfen. Ihm folgte ein tiefes Stöhnen.
Augenblicklich rannte Brietta los. Sie hörte, wie sich Schläge und Tritte in einen Körper gruben, wie wilde Flüche, gefolgt von schwerem Ächzen, ausgestoßen wurden. Schlitternd kam sie vor der letzten Tür des Flurs zum Stehen. Die breiten Schultern eines elysischen Soldaten nahmen den Großteil der Abstellkammer ein. Sein gepanzerter Oberkörper versperrte Brietta die Sicht, aber sie konnte Kians Stöhnen hören.
Abrupt drehte sich der Mann zu ihr um. Sein wütender Blick fixierte sie. Als er das blutige Messer in ihrer Hand sah, stürzte er sich mit einem markerschütternden Schrei auf sie. Er packte sie an den Schultern und warf sie gegen die nächstgelegene Wand.
Mit einem Krachen brach sie durch das morsche Holz. Staub und Splitter flogen durch die Luft, als Brietta auf der anderen Seite auf dem Boden aufschlug. Der harte Aufprall auf dem Beton nahm ihr die Luft. Hustend rang sie nach Atem und versuchte, die Sterne vor ihren Augen wegzublinzeln. Die Trance schrillte in ihren Ohren und mahnte sie, wieder auf Füße zu kommen.
Vor ihr brach der elysische Soldat durch das Loch in der Wand. Seine Stimme triefte vor Abscheu. »Widerliche damasische Brut!«
Immer noch hustend, stemmte Brietta sich wieder auf die Füße und taumelte einige Schritte zurück. Ihr Blick huschte über den Boden und suchte nach dem Messer, das ihr bei dem Sturz aus der Hand geglitten war. Sie stieß einen Fluch aus, als sich die glänzenden Fußkappen des Soldaten neben die Klinge im Staub stellten. Unter seinem Visier sah sie sein breites Grinsen.
Adrenalin verstärkte den Rausch der Trance und weitete ihre Pupillen. Sie bleckte die Zähne. Im selben Moment stürzte sie sich auf den Mann. Sie duckte sich unter seinen Armen hinweg, die sie packen wollten. Dabei griff sie auf den Boden, wo ihre Finger sich um einen Steinbrocken schlossen. Mit Kraft schoss sie an seiner Flanke wieder in die Höhe. Dabei riss sie ihm den Helm vom Kopf und rammte ihm den Brocken mitten ins Gesicht. Knackend brach seine Nase und der Stein zerschnitt ihm die Haut. Wütend heulte er auf und taumelte zurück. Seine Hand fuhr an die Waffe an seinem Gürtel. Es war ihm nicht einmal gelungen, die Pistole zu ziehen, da regneten Briettas Hiebe schon auf ihn herab.
Sie wusste, wo sie treffen musste. Wo die Panzerung ihren Fäusten den Weg freimachte. Immer wieder gruben sich ihre Schläge in seinen Körper. Der Mann versuchte, ihre Attacken mit seinen Armen abzuwehren, aber Brietta war zu schnell für ihn. Sie schrie ihm ihre Wut entgegen und trieb ihn Schritt für Schritt weiter zurück.
Rückwärts fiel er in den Flur hinein. Sein schwerer Körper wirbelte Staub vom Boden auf. Hustend versuchte der Soldat, sich wieder aufzurichten.
Aber Brietta stieß ihn mit ihrem Fuß wieder zu Boden. Wütend blickte sie sein blutverschmiertes Gesicht an, als sie sich über ihm aufbaute. Die Trance schrie nach seinem Blut. Das Jagdmesser hatte sie auf ihrem Weg zu ihm wieder aufgesammelt. Ihr Griff um die Waffe wurde fester.
Der Soldat spuckte Speichel und Blut nach ihr. »Damasische Fotze!«
Sie schnaubte bei seinen Worten und stieß ihm die Klinge zwischen die Rippen.
Kians Stöhnen brachte sie wieder zu sich und vertrieb die Trance aus ihrem Kopf. Als sie zu der Abstellkammer kam, stemmte er sich gerade wieder hoch. Gequält lächelte er sie an. »Der Mistkerl hat mich überrascht.«
»Meinst du, du kannst die Mission zu Ende bringen?« Sie musterte ihn. Er hielt sich den Oberkörper und sein Gesicht hatte ein paar Verletzungen abbekommen, aber sein Atem ging gleichmäßig. Es schien keine Rippe gebrochen zu sein.
Kian nickte knapp und versuchte, sich aufzurichten. »Das schaffe ich schon.«
»Sicher?« Sie sah, wie er sein Gesicht vor Schmerzen verzog.
»Der Kampfanzug wird mich stützen. Das schaffe ich!«
»Na schön.« Auch wenn es ihr nicht gefiel, sie brauchten vier Personen. Einen verschwundenen Soldaten würde sie nicht so einfach erklären können. Einen verletzten schon eher. Sie nickte ihm zu und half ihm dabei, dem toten Soldaten den Anzug auszuziehen.
Als sie wenige Minuten später wieder auf die Straße traten, erwarteten sie Fynn und Colin. Beide trugen ebenfalls die glänzenden elysischen Kampfanzüge.
»Was ist passiert?« Besorgt trat Fynn auf Kian zu und musterte dessen malträtiertes Gesicht. Während Kian von dem Vorfall berichtete, zog Brietta die Leiche des Leutnants hinter dem Autowrack hervor und entkleidete auch ihn. Schnell hatte sie die Schichten der Panzerung angelegt. Als sich der Helm mit einem leisen Surren mit dem Anzug verband, blinkte das Display vor ihren Augen auf. Die vertraute Anzeige des Interfaces erschien vor ihr.
Es rauschte in der Verbindung zur Kommandozentrale. Für einen Moment hatte Brietta die Befürchtung, dass bei dem Kampf etwas kaputt gegangen sei, bis sich eine besorgte Frauenstimme über die Frequenz meldete.
»Einsatzteam Livito bitte melden. Bitte melden!«
Mit tiefer Stimme antwortete Brietta ihr zügig: »Hier Einsatzteam Livito. Wir wurden von einem Rudel Wölfe überrascht. Einen leicht Verletzten, keine Toten zu melden.«
Brietta konnte hören, wie die junge Frau erleichtert aufatmete. Dann räusperte sie sich. »Und das Wärmesignal auf den Sensoren?«
»Nur ein Haufen aus Papier, der sich entzündet haben muss. Wir haben die Umgebung untersucht und bis auf die elenden Viecher nichts ungewöhnliches vorgefunden.«
»Sehr gut, dann macht euch auf den Rückweg. Der Commander will euch vor Einbruch der Dunkelheit zurück hinter den Mauern haben.«