Mit der Zeit gewöhnte sie sich an den Geruch nach Blut und Schweiß. Leicht war die Arbeit dennoch nicht. Aithne strich über die verkrampfte Hand einer jungen Frau, deren Bein entfernt worden war. Sie tauchte ein Stück Stoff in eine Schale mit Wasser und tupfte damit der Soldatin den Schweiß von der Stirn. Hoffentlich würden die Schmerzmittel des Arztes bald helfen. Aithne summte ein altes Lied aus ihrer Kindheit, während sie das kühle Wasser mit dem Lappen auf den Wangen der Frau verteilte. Deren flattrige Lider schlossen sich allmählich und der gleichmäßige Atem unter ihrer Hand war eine Erleichterung für Aithne.
Sie griff nach der Schüssel neben dem Bett und stand auf, um frisches Wasser zu holen. Im nächsten Moment fiel die Schale scheppernd zu Boden und Aithne presste beide Hände an ihre Seite. Ein unmenschlicher Schrei löste sich aus ihrer Kehle und sie sackte zu Boden. Wie Feuer schoss der Schmerz durch ihren Körper und zerriss sie innerlich. Ihr Magen drehte sich um und ihre Knie gaben nach. Die Wut des Schmerzes nahm ihr die Sinne und Tränen rannen über ihr Gesicht. Sie schrie, bis sie glaubte, ihre Lunge würde zerbersten.
»Aithne!« In dem wütenden Sturm des Schmerzes erkannte sie Belanas Stimme. Die Arme der Hohen Priesterin umklammerten sie, während sie sich am Boden krümmte. Sie spürte Hände, die hektisch ihre Seite untersuchten, in die sich ihre Finger gruben. Aithne schlug sie weg. Nicht sie war verletzt! Schluchzer mischten sich mit ihren Schreien. Brietta!
Schlimmer als der Schmerz war die Leere, die er hinterließ. Die wütenden Krallen lösten sich allmählich aus ihrem Körper. Aber Erlösung fand Aithne nicht. Immer wieder griff sie nach der Verbindung zu ihrer Schwester. Aber als Antwort empfing sie Stille. Bitte nicht! Sie vergrub ihr Gesicht an Belanas Brust, die sie wie ein kleines Kind in ihren Armen wiegte. Leise schluchzte Aithne und die Umarmung der Hohen Priesterin wurde enger. »Brietta!«
Ihre Lider flatterten, als die Vision begann. Wirre Szenen von ihr und Brietta zogen vor ihrem geistigen Auge vorbei. Aber sie konnte nicht sagen, ob dies die Vergangenheit oder die Zukunft war. So plötzlich wie die Bilder gekommen waren, verschwanden sie auch wieder.
Sie seufzte leise mit geschlossenen Augen. Langsam tauchte ihr Geist aus dem Schlaf hervor. Stück für Stück wurde ihr bewusst, was passiert war, wo genau sie sich befand. Ihre Finger krampften sich zusammen, als sie sich an den heftigen Schmerz erinnerte.
Sie brauchte einige Augenblicke, bis sie die Kraft aufbringen konnte, erneut nach der Verbindung zu ihrer Schwester zu greifen. Ihr Geist wanderte verhalten in die Dunkelheit in ihrem Kopf, suchte sorgenvoll nach dem Band, das sie mit ihrer Schwester verband. Aithne zupfte daran. Das leise Klingen verhallte in der Ferne. Sie lauschte, hoffte und betete für eine Antwort. Die Stille schien unendlich und die Leere griff nach ihrem Herzen. Als sie das Gefühl hatte, ihren Geist in der Einsamkeit zu verlieren, erhielt sie ein leises Klingen als Antwort. Es war schwach und weit entfernt. Aber sie spürte das Leben in der Verbindung und in ihrer Schwester.
Wie ein Ertrinkender, der endlich an die Wasseroberfläche stößt, schnappte Aithne nach Luft und öffnete die Augen. Erst jetzt wurde ihr Colins Anwesenheit bewusst. Ihre Sorgen spiegelten sich in seinen Augen wider und sie nahm den Druck seiner zitternden Hände wahr. Eine Träne rann von ihrem Augenwinkel ihre Schläfe entlang. Sie lächelte. »Sie lebt.«
In seinem Seufzen lag tiefe Erleichterung. Sein Kopf sackte auf seine Hände, die sich um ihre kalten Finger gelegt hatten. »Den Göttern sei gedankt!«
Für einen Moment schloss Aithne mit einem erlösenden Schluchzer die Augen und stimmte seinen Worten mit einem Nicken zu. Dann wandte sie ihm erneut das Gesicht zu und musterte ihn. Er sah müde aus. Dreck war notdürftig von seinen Wangen gewaschen worden und verklebte noch immer sein Haar. »Ich bin so froh, dass es dir gut geht.«
»Naja, gut? Am Leben bin ich, würde ich sagen.« Er grinste sie mit einem missglückten Lächeln an.
»Wie war’s da drin?«
»Beängstigend …«
Sie nickte und erwiderte den Druck seiner Hände. Ihr Blick fiel auf die Jacke, die er trug. Sie strich über den dunklen Stoff. Damasia besaß nur wenige Uniformen. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich einmal in einer Uniform sehe.«
»Mach dir bloß keine falschen Hoffnungen. Ich habe mich nicht bei dem Verein eingeschrieben. Sie haben mir das Zeug lediglich zum Wechseln gegeben. Im damasischen Lager kann ich ja schlecht den Anzug der Blechbüchsen tragen.«
Aithne lachte leise. Das stimmte wohl. Unwillkürlich fuhren ihre Fingerspitzen über die Knöpfe an den Ärmeln von Colins Jacke. Das Metall war kalt und die geschliffenen Kanten der Prägung zeichneten ein Muster auf ihre Fingerspitzen. Kaum hatte sie das damasische Wappen erkannt, tanzten die Bilder einer neuen Vision vor ihren geschlossenen Lidern. Aithne blickte Colin zwischen den letzten verblassenden Bildern hindurch an. »Ich muss sofort zu General Raik. Der Vater hat mir wichtige Informationen geschickt.«