1939

Warschau, 10. August  Ich habe länger nichts geschrieben. Ich war zu beschäftigt. Aber Dr. Dresdner ist verreist […] und damit sind die Ausflüge durch Warschau zu Ende. Ich habe die Stadt jetzt erst kennengelernt, unter seiner Führung. Ich habe sie besichtigt wie die fremde, Neugier weckende Stadt, in der ich vor sehr vielen Jahren das Stadtleben erlernte. Unerfahren, allein. Jetzt mit dem Ballast vieler Errungenschaften, aber immer mit Interesse und einem konkreten schöpferischen Ziel: Wir wollen Material sammeln für einen Film mit dem Titel Die unbekannte Hauptstadt, der kleine Geheimnisse aus ihrer Kunst und Geschichte sowie interessante Details ihrer alltäglichen Gepflogenheiten beleuchten soll. Józef Mirski hilft als Ministerialrat für Kinofragen bei der Verwirklichung der Idee. Das wird gleich nach den Ferien geschehen.

Das Erkunden Warschaus und Gespräche, dazu Eindrücke, die nur Touristen zugänglich sind. Eine Vesper in einem Café am Friedhof in Gesellschaft eines Polizisten, der am Nebentisch sitzt und sich in unsere Unterhaltung einmischt; Rührei um Mitternacht in Grochów unter Einheimischen, die fröhlich riesige Portionen verschlingen. Neben spontanen Rastpausen eine fest vereinbarte in unserem Café. Eine Atmosphäre wie in der tiefsten Provinz, man kann sicher sein, dass man keinem Bekannten begegnet.

Warschau war mir immer gleichgültig oder sogar unsympathisch, jetzt ist es mir lieb geworden.

15. August  Ich fahre nach Horodnica, ins Zeltlager des Stefan-Żeromski-Arbeiterinstituts für Bildung und Kultur1. Mich interessiert diese noch recht unbekannte Form des Nachkriegszusammenlebens. Alle lachen mich aus, sie sagen, für so etwas müsse man 20 sein und heiteres Wetter garantiert haben. Doch die Gier nach Eindrücken kennt kein Alter. Innerlich bin ich immer heiter. Manche prophezeien einen aufziehenden Sturm. Ich glaube, dieses Mal wird er an uns vorbeiziehen. Denn ich vertraue auf die Weisheit der Menschheit. Sie wird es nicht wollen, es nicht zulassen …

Horodnica, 20. August  Wie angenehm es sein wird, frei von allen Problemen zu schreiben […]. Schildern, was ich sehe, mich begeistern, nicht kritisieren. Feststellen, nicht suchen. Hoffnung haben, unerschütterlich glauben.

Ich stehe am Dnister. Ich kenne den Fluss von der anderen Seite. Ein arabisches Sprichwort sagt: »Niemand kühlte je seine Füße im selben Wasser.« Doch mir kommt es die ganze Zeit vor, als wäre ich genau hier über die Kiesel gewatet. Doch nein, die Steine, die damals die kleinen Füße verletzten, sind jetzt anders geschliffen, ihre Berührung wäre den heutigen Füßen fremd.

Ich preise den Dnister, er fließt wie in fernen Kindheitstagen, ruhig, sicher. Obwohl er inzwischen von österreichischem und russischem Blut getrübt wurde, auch polnischem. Er ist nicht heiter. Das Wasser ist wie der Mensch, ein Abbild seines Inneren und zugleich Spiegel seiner Umgebung. Das Ufer, könnte man sagen, austauschbar, hier rote Felsen, dort das noch sehr frische Grün der Fluren und Wälder. Und so immer abwechselnd, die Anblicke springen von einem Ufer ans andere. Das macht, dass das Flussbett … Nicht schreiben, nicht grübeln – schauen … Irgendwann wird es sich in eine passende Form kleiden. Nutzen, was in die Tiefen des Unterbewusstseins einsickert.

22. August  Ich fasse einen Eindruck sur la vie … Das warme Podolien erhellt das Geheimnis des ganzen Lebens, mir ist die Frau des Südens bewusst geworden, die ich immer schon war, weil ich hier geboren wurde. In diesem Land, das gleichsam kein Teil Polens ist, sondern ein eigenes, spüre ich mein eigentliches Vaterland. Die üppige Flora, ihre Fülle zeugt von einem anderen Breitengrad. Der Mais ist reich an Gold, sein Haar formt herrliche Federbüsche. Die Sonnenblumen, das Sinnbild des Südens, hat ein größerer Kolorist gemalt als van Gogh. Der Weißdorn wächst zu einem Baum heran, er trägt frische Blätter neben reifen Beeren. Die sehr schlanken Weiden wirken wie Zypressen […]. Die Akazien sind wie Palmen, der Tabak verströmt schon jetzt seinen betörenden Zauber, der Duft der wie in Bormesles-les-Mimosas von der Sonne erwärmten Winde betäubt einen geradezu. Der Wermut brennt in der Luft, der aromatische Riesenhanf wächst über die Köpfe der Menschen, jetzt weniger Nutz- als Zierpflanze. Die Kürbisse: Blätter und Früchte fallen auf die Steine entlang des Uferwegs wie dekorative Einfälle der kunstvollsten Gärtner. Die einzigartige Schönheit der Landschaft …

25. August  Ich muss nicht allein sein, wenn ich nicht will. Ich kenne niemanden, niemand stellt sich hier vor, aber ich plaudere mit verschiedenen Menschen. Gestern ein Ausflug nach Zaleszczyki, die ganze Gruppe. […] Ich habe mich abgesondert, das mache ich gern! Ich bin allein durch das wunderschöne polnische Meran gelaufen. […] Brücken springen mit einigen weißen Sätzen von den Höhen herab und dann über den Dnister auf dem friedlichen Weg nach Rumänien. Auf dem Markt […] Stapel von Wassermelonen. Man nimmt sie in die Hand und drückt sie, um am Klang die Qualität zu erkennen. Sie werden auch in Vierteln verkauft. Der Saft rinnt einem die Hände und – man möchte sagen – die Schnute herunter. Ich bin plötzlich wieder klein.

28. August  Wenn ich auch über nichts schreiben möchte, als was meine Augen sehen, so muss ich doch, als Material für spätere Artikel, meine Eindrücke von der mir zuvor unbekannten Institution festhalten. Obwohl chaotisch, kann ich die Notizen später für einen Artikel nutzen, in dem dieser oder jener Aspekt erhellt werden muss. […] Einrichtungen dieser Art haben eindeutig viele Vorzüge. Sie entwickeln das Sozialverhalten schüchterner Menschen, fördern die Eigenständigkeit in einem bestimmten Milieu. […] Früher verreiste die Familie im Tross mit Töpfen und Kasserollen und lebte auf dem Land ihr gemeinsames Stadtleben weiter, heute reißt sich der Einzelne von zu Hause los, worin sicherlich das eigentliche Erholungspotenzial liegt, allein schon durch den Abstand von den normalen Lebensumständen. Das äußere Resultat ist sichtbar, alle Fremden verhalten sich rücksichtsvoll. Niemand schubst, niemand drängt – im wörtlichen wie übertragenen Sinne. Man muss auf jeden achten, um keinem auf die Hühneraugen zu treten. An die Mitmenschen denken, um die gemeinsame Harmonie zu bewahren.

Unser Aufenthalt hier hat eine doppelte didaktische Bedeutung. Einmal, weil alle Gäste aufeinander einwirken und wir so Einfluss auf die künftige Demokratisierung der Gesellschaft haben. Das geschieht von selbst, ohne Vorgabe. Die Disziplin, die sich unter mehreren Hundert bunt zusammengewürfelten Menschen herausbilden muss, entspringt eher inneren Impulsen, als dass sie aufgezwungen würde: Alle haben die gleichen Rechte und die gleichen Pflichten. […] Zugleich ist es unsere Aufgabe, positiv auf diejenigen einzuwirken, die auf ihrem Boden die mitunter fernen Landsleute aufnehmen. Das podolische Volk, sagt mein Führer, und die Erinnerungen aus früherer Zeit bestätigen es, ist hilfsbereit und wohlwollend. In der Entstehungszeit des Ferienlagers standen sie dem Plan ablehnend und misstrauisch gegenüber. Sie dachten, wie ein Bauer zugab, »dass ihr böse Menschen seid«. Es erwies sich anders. Deshalb öffneten sie bereitwillig nicht nur ihre Häuser – ein Zimmer kostet 15 Zloty pro Monat –, sondern auch ihre von Aprikosen überquellenden Gärten. Ob wir ihrem Vertrauen gerecht werden? Wir können uns über unsere Gastgeber beschweren, auf der Rückseite der Meldekarte ist Platz für Anmerkungen; die Bauern, wie sie nun einmal sind, drucksen im Zweifelsfall ängstlich herum, kommen vom Hölzchen aufs Stöckchen, bis dem Verwalter langweilig wird und er die Sache ohne Urteil ad acta legt. Die Aprikosen sind inzwischen längst auf dem Weg nach Warschau.

In der unpolitischen Atmosphäre vergisst man den Antisemitismus. Niemand denkt an einen möglichen Krieg. Das merke ich, wenn ich mir anhöre, was die Leute untereinander reden.

Ich halte mir immer zugute, dass ich mich leicht akklimatisiere. Ich sitze in der Stube, wie ich früher in Salons gesessen habe. […] Ich unterhalte mich mit den Bauern wie mit Damen. Gerade ist ein Großväterchen hereingekommen, um zu schauen, wie die Maschine unter den Fingern Buchstaben ausspuckt. Dann stellt er undiplomatische Fragen: Wie viel Geld ich verdiene. Wie alt ich bin. Warum ich ohne Mann und Kinder gekommen bin. Vielleicht hat er recht. Mein Alleinsein schreckt die Leute ab. Sie denken, eine Frau meines Alters müsse mit einer erwachsenen Tochter hier sein. Sie wissen nicht, dass es mir so gerade recht ist. Ich bin allein, also denke ich. Wenn ich in Begleitung reisen würde, wäre ich nicht ich. Das selbstbestimmte Leben verleiht Schwung. Selbst wenn es um die äußeren Formen geht. Ich betreibe weiterhin freies Klettern; ein unabhängiger Wandersmann – ich schulde niemandem Rechenschaft, wohin ich gehe. Wie immer laufe ich voller Vertrauen in Hunde und Menschen über fremde Felder, stecke frei von jeglicher Angst in fremden Wäldern neue Wege ab. Echte, gegen die Erschöpfung der Beine gleichgültige Neugier leitet treu die unersättlichen Augen. Wie meine Seele lenke ich auch meine Schritte nicht, sondern folge ihnen.

31. August  Gestern waren wir mit zwei Wagen in Czerwonogród. […] Auf dem Rückweg hielten uns Glocken an; in einem Uferdorf wurde Alarm geschlagen. Die Gemeinde verkündete die Mobilmachung. Es wird unwiderruflich, was das Herz verdrängen wollte. Die Glocken schallten über den Dnister, begleiteten uns die ganze Zeit. Auch in Horodnica war man schon informiert.

Heute Nacht reisen die Einberufenen ab. Verängstigte Zivilisten, Frauen, Kinder. Ich habe gewartet, um die gestern noch Fremden und Gleichgültigen herzlich zu verabschieden. Der Speisesaal ist voller Menschen und Gepäck. Ein Fräulein mit kesser Locke hat Angst vor dem Krieg. Ob sie allein bleibt, ohne Männer? Ich nehme sie in den Arm. Ich suche ein bestimmtes Paar und finde es in einer Ecke des Saals, verbarrikadiert hinter eleganten Koffern. Die Dame sitzt, in Reisekleidung, gebeugt da, plötzlich gealtert, fast eine »Schmerzensmutter«. Er wirkt um Jahre jünger. Morgen soll er sich bei seinem Regiment melden. Ein herrlicher Ulan2! Die Frauen werden ihn mit Blumen überhäufen. Er wird siegen.

1. September  Ich bin mit dem Bleistift in der Hand unterwegs. Der Morgen versammelt podolische Aromen. Es ist so hell, dass man blinzeln muss. Beim Frühstück ist nur noch ein kleines Grüppchen. Ich reise auf jeden Fall in den nächsten Tagen ab. Schließlich muss ich auf dem zugewiesenen Posten sein. Vielleicht gibt es Krieg … Vorher für ein paar Tage nach Zaleszczyki. Ich sage das dem Kommandanten und bitte um Rückgabe der 200 Zloty, die ich ihm zur Aufbewahrung gegeben habe. Er […] gesteht: »Wir haben das Geld genommen, wir mussten die Bauern für ihre Lieferungen bezahlen, sie wurden eingezogen.« Haben sie ihm gedroht? Er verspricht, das Geld zurückzuzahlen, sobald er welches aus der Zentrale erhält.

Das Radio ist kaputt. Ob die Post kommen wird?

Nachmittags. Ich will ans andere Dnister-Ufer. An der Fähre sagt eine Frau, sie nehme diesen Weg nach Zaleszczyki, weil die Bahnverbindung durch Rumänien unterbrochen sei. Ein Schreck. Spaziergang durch den Wald mit dem ständigen Gedanken: Immer weiter! Sehen, was hinter der Sichtgrenze geschieht. Typisch für mich. Und zugleich die Sorge, es könnte schlechte Neuigkeiten geben. Ich kehre zum Fluss zurück. An der Fähre steht eine Britschka. Ein Offizier will übersetzen. Niedrigwasser, die Überfahrt wird dauern. Er hat es eilig. Er befiehlt einem Bauern, der mit einem Sack auf den Schultern wartet, bis er an der Reihe ist, eine Furt zu suchen. Der Bauer widersetzt sich, er sei nicht von hier, er kenne den Dnister nicht. »Von wo dann?!« Der Offizier unterstreicht seine Frage durch das Zischen der Peitsche, die er dem Kutscher abgenommen hat. »Papiere!« In seinem brutalen Verhalten spüre ich den Vorgeschmack des Kriegs. Ich erstarre. Dann wendet er sich an mich: »Was tun Sie hier?« »Ich bin im Ferienlager.« »Es gibt keine Ferienlager mehr. Wir haben Krieg.« Mein Gesichtsausdruck weckt Mitleid in ihm. »Ja«, sagt er sanfter, »wir haben Krieg. Sie haben schon Grodno und Lemberg bombardiert, doch wir sind in Ostpreußen einmarschiert. Der Westwall ist durchbrochen.«

Wir sind auf der Fähre. Offensichtlich will der Offizier die Stimmung im ukrainischen Dorf nicht verschlechtern, er lässt den Bauern seiner Wege ziehen. Jetzt steht er jung und kühn neben mir. Er tröstet mich: »Was soll’s, das Ganze wird schnell vorbei sein.« »Sie haben leicht reden. Sie haben den Großen Krieg nicht erlebt.« »Doch … Als Student bin ich in die polnische Armee in Frankreich eingetreten …«

Plötzlich fühlen wir uns einander nahe. Ich strecke meine Hand aus. Er küsst sie. Wir nennen unsere Namen. »Sie haben mir den ersten Frontbericht erstattet … Dafür kann ich Ihnen nicht genug danken.«

Er springt auf die Britschka. Eine Staubwolke wie in Korzeniowskis3 Romanen entzieht ihn meinem Blick.

Ich kehre zum »Pavillon« zurück. Bringe den anderen die schreckliche Nachricht …

Die Notizen des heutigen Tages, die plötzlich zum historischen Dokument geworden sind, verewige ich schnell auf der Schreibmaschine.

Abend. Das Radio ist repariert. Es spuckt unverständliche Wortkombinationen aus: »Achtung, Achtung, vorüber, vorüber.« Dann fremde Namen, geometrische Formeln, Neologismen. Was hat das zu bedeuten? Jemand erklärt: »Erinnern Sie sich nicht an die Probealarme? So signalisieren sie Luftangriffe.«

Auf Warschau?

2. September  Ein unerträglicher Tag …

Von Horodnica nach Lwów, 3. September  Eine entsetzlich dumme Situation – fin de saison. Wären nicht die Tragik des Kriegsbeginns und die zunehmend bedrohlichen Nachrichten … Angeblich sind auch Frankreich und England ins Feld gezogen. Auf ganz Polen fallen Bomben.

Ich bin auf einen Weinbergshügel gewandert. Der Winzer empört sich: »Sie werfen Bomben auf eure Tschenstochauer Maria … Das ist wie auf unsere Potschajiwer4«. Er erklärt mir die Aufteilung des gemeinsamen Guts, des Weinbergs, unter den Bauern. Ich bedaure, dass ich nie nach Zaleszczyki übersiedeln konnte, eine Arbeit hätte sich gefunden. Was ist mit der Familie? Wie wird es weitergehen? Ich nehme, was das Schicksal bringt. Und sei’s der Tod, das ist mir seit einiger Zeit gleichgültig, aber was ist mit allen anderen, der Idee des Friedens? Klar ist: Der entfesselte Sturm wird sich nicht so bald beruhigen lassen, der Krieg weckt die schlimmsten Machtinstinkte. Ich habe es auf der Fähre gesehen, als ich den ersten Bericht erhielt. Heute weiß ich: Er war falsch. Man muss etwas tun, aber was? Weiter über unser unbedeutendes Land nachdenken? Wie eng sein Horizont jetzt doch ist …

9 Uhr abends. Ich gehe mit Irena am Dnister-Ufer spazieren. […] Wir gelangen an die rumänische Grenze. Ein Wachsoldat verlässt seinen Posten, um mit uns zu plaudern. Er sagt, die Bauern gingen gern zur Mobilmachung, manche sogar freiwillig. Man hört Detonationen. »Was sind das für dumpfe Explosionen?« »Keine Sorge, das ist die Kupfergrube. Sie arbeitet in zwei Schichten. Für den Kriegsbedarf.« »Jetzt erst. Ist das nicht zu spät?«

Ein plötzlicher Entschluss. Abreise in der Nacht von Sonntag auf Montag, vom 3. auf den 4. Wir schlafen mit Wache. Wir sind in den »Pavillon« gezogen, um uns gegenseitig zu wecken. Ich stehe als Erste auf. Ich gehe ins Büro, wo die Leitung über die Rechnungen wacht. Ich bitte um meine 200 Zloty, die bis zur Abreise aufgetaucht sein sollten. Wie sich herausstellt, können sie mir nur 20 geben, den Rest soll ich in Warschau bekommen. »Stypułkowski reist ja mit Ihnen«, sagt der Angestellte, der dableibt. Die Zentrale werde mir die Summe umgehend auszahlen. Wir könnten uns unterwegs verlieren, es könnten viele andere Katastrophen geschehen – ich versuche, meinen Besitz zu verteidigen. Vergebens. Ich habe nicht die Kraft, in diesem Moment eine Szene zu machen. Sie erklären, ich benähme mich wahrlich gentlemanlike, und händigen mir deshalb 25 Zloty aus.

Wir laden unsere Sachen auf das Fuhrwerk. Der Weg ist holprig, voller Steine. […] Die Sonne geht am weiten Horizont auf und färbt ihn so rot, dass uns ein von Blut überlaufener Himmel umgibt. Die Bahnstation Horodenka erwacht zu frühem Leben, ein Stück Süden. Vom Herbst nichts zu spüren. Das Grün der Wintersaat ist frisch, fast duftend. Gepflügte Äcker mit flauschig-schwarzer Erde. Große Tabakfelder. Über den hoch aufragenden Blättern blühen rosa Kelche.

Auf dem Bahnhof herrscht relative Ruhe. Wir erreichen Kołomyja. Wir müssen umsteigen. Wir warten, dass es weitergeht. Gendarmen eskortieren eine Gruppe von Menschen durch den Bahnhof. Spione oder Diversanten? Hinter der scheinbaren Ruhe lugt das Gesicht des Krieges hervor.

Lwów nach 16 Jahren. Ich habe die Stadt auf dem Hinweg nach Horodnica gesehen, aber nur flüchtig im Tempo des Eilzugs. Jetzt sollen wir im Bahnhof bleiben, keiner weiß wie lange. Zum Glück hat sich eine warme Mahlzeit gefunden. […] Die Trams fahren verdunkelt. Ich weiß nicht, ob es schon einen Luftangriff gegeben hat oder ob man einen erwartet. Kein Einheimischer hat Zeit für ein Gespräch. Ein Gewirr von Menschen und Geschäften. Irgendwo im Dunkel die einst geliebte Stadt. […] Wir beziehen eilig unseren Posten zwischen zwei Gleisen. Es fährt ein Zug ein, der uns mitnehmen wird. Oder auch nicht. Es ist kalt. […] Die Lautsprecher schweigen, Stille auch im Publikum. Der Zug nimmt uns mit und der Schaffner gibt uns sogar ein eigenes Abteil. Warum fährt niemand in diese Richtung, nach Warschau? Sei’s drum, wir werden es bequem haben.

Von Lwów nach Warschau, 5. September  Die Nacht war ruhig. Der Morgen ist fast fröhlich. […] Auf jedem Bahnhof eine Schar begeisterter Frauen. Wen begrüßen sie? Wir sind noch keine Soldaten, obwohl wir auf unsere Posten zurückkehren. Sie verteilen Milch, Brot, Zigaretten.

Drei Uhr nachmittags. Einige Stunden Aufenthalt in einem kaum vom Hörensagen bekannten Ort, Rejowiec. Umsteigen. Abfahrtszeit unbekannt. Ich habe Lust auf einen landeskundlichen Ausflug. Ich zerreiße meine Begierde in vernünftige Fetzen. Wir suchen nach Essen, mit Mühe bekommen wir eine Suppe, während wir abwechselnd das Gepäck bewachen. Unter einem uralten Baum sitzt ein Arbeiter. Er liest Zeitung und kommentiert. Ich höre unerwartete Städtenamen: Płońsk, Przasnysz … alle schon nicht mehr unser. Wir steigen in einen Güterzug, das nennt sich wohl vierte Klasse.

Lublin. Warten auf den Anschlusszug. Mit Gewalt gelangen wir in einen Zweite-Klasse-Waggon. Niemand hat nach Fahrkarten gefragt. Es ist dunkel. Unheimlich. Auf den Sitzbänken schlafen Offiziere. Mit Mühe finden wir ein freies Eckchen. Henryka lehnt sich an die Schulter eines unbekannten Nachbarn. Sie flüstert etwas. Ist das schon das Kriegsleben, ohne hemmende Gedanken ans Morgen? Der Zug fährt langsam. Er hält oft. Niemand schaut aus dem Fenster, kein Wunder – warum auch? Es ist früh. Wir passieren andere Züge. Sie stehen fast an jedem Bahnhof. Voller Soldaten. Warum fahren sie in die Richtung, aus der wir zurückkehren? Jemand beugt sich heraus, bittet uns, diese und jene Warschauer Nummer anzurufen. Er sei heil und gesund. Man darf nicht danach fragen, aber wo sollte er verwundet oder getötet worden sein?

Dęblin. Die höheren Chargen steigen um in Richtung Radom. Auch wir müssen umsteigen. In einen ärmlichen Zug, fast eine Vorstadtbahn.

Pilawa. Nicht mehr weit! Wir fahren immer langsamer. Die Straßen sind voll mit allen möglichen Fahrzeugen. Übers Feld ziehen Menschenkolonnen. Was bedeutet das alles?

Plötzlich stoppt der Zug: Luftangriff! Wir kauern uns an die Wände. Irena, die doch Rotkreuzschwester hatte werden sollen, bricht in hysterisches Lachen aus und presst sich an mich. Henryka und Stypułkowski stürzen aus dem Waggon. Ein Verwundeter ruft nach letztem Beistand. Eine junge Frau ruft: »Lasst ihn nicht allein sterben.« Wir hören das Kommando derer, die den Zug verlassen haben: »Wir sind im Gebüsch, alle ins Feld. Hinlegen!« Donnerschläge. Neben uns ein noch lauteres Stöhnen. Keine Kraft aufzustehen, hinzugehen … Stille. Wir kehren zurück. Wir zählen durch. Der junge Arzt aus dem Nachbarabteil, der in Horodnica mit uns losfuhr, ist tot. Werden wir es nicht bis zum Hauptbahnhof schaffen? Wir halten in Praga. Wie nach Hause kommen? Es gibt weder Taxis noch Kutschen. Angeblich ist es verboten, die Brücke zu überqueren. Warum? Wir überlegen, wo wir übernachten können. Mir fällt das jüdische Akademikerheim ein, da findet sich bestimmt eine Ecke. Nein! Dr. Dresdner wohnte dort, ich habe ihn einmal besucht, als er krank war […]. Jetzt ist es ein Krankenhaus! Aber nebenan sind Nonnen. Vergeblich bitten wir um einen Platz auf dem Fußboden. Für morgen machen sie vielleicht Strohsäcke fertig, aber »diese Nacht schlafen Sie woanders«. Wir stehen zwischen dubiosen, finsteren Gestalten. Unser Begleiter sagt, er habe Bekannte. Ein neuer Versuch. Wir gehen zu den Woźniaks in die Jagiellońska. Sie öffnen die Tür. Ausruhen! Wir ruhen uns nicht aus. Wir setzen uns ins Esszimmer, sie servieren Tee und erzählen schreckliche Dinge. […] Nach zehn Minuten wissen wir alles. Die Regierung ist geflohen. 20 Jahre Staatswesen sind ausgelöscht. Mehr noch. Das System ist bankrott, das Ansehen des Staates ruiniert, womöglich gar die Unabhängigkeit verloren …

Ich fühlte mich, als hätte ich in dieser kurzen Zeit mein Leben verloren. Ich saß reglos da und dachte an nichts, als was ich hörte, ohne nachzufragen. Ein Wort hing in der Luft: Fliehen! So lautete der Befehl. Die Männer sollen Warschau verlassen, am besten auch die Frauen. Wohin? Und warum?

Stypułkowski will sein Regiment finden. Ich gebe ihm einen kleinen Koffer und viele gute Worte mit auf den Weg. Ich küsse ihn auf die Stirn. Stellvertretend für alle poilus5.

Ich schlafe auf einem bequemen Bett ein, in einem Haus, von dessen Existenz ich bis vor einer Stunde nichts wusste. Ich erwache mit einem stechenden Schmerz und dem entsetzlichen Bewusstsein der faktischen und geistigen Niederlage.

Die Qual des Notizenmachens!

Ich habe nur ein paar Zloty in der Handtasche. Sind Verwandte und Bekannte dageblieben? Wo soll ich sie suchen? Es fallen Schüsse, die Welt dröhnt. Es heißt, der dritte Stock sei zu weit oben. Wir gehen in eine Wohnung im Erdgeschoss. Wir teilen die Gaben, die wir unterwegs bekommen haben. Jemand bringt heißen Reis. Ich hatte seit Tagen nichts Warmes mehr zwischen den Zähnen.

Dann knien sich alle hin und beten laut, hysterisch. Ich kann das nicht anhören. Ich gehe telefonieren – rufe die Familie an, Bekannte. Bei den Albertinern finde ich einen Apparat. Ich warte, bis ich an der Reihe bin. Unterdessen lausche ich den Gesprächen. Wieder heißt es: Fliehen! Ein Mönch sagt: »Man muss sich nur Zivilkleidung besorgen.« Vom Dienstmädchen erfahre ich, dass meine Schwester zum Bruder aufs Land gefahren ist – am schlimmsten Tag. Welcher Tag war der schlimmste? Henryka und ich stellen uns bei Turek in der Targowa um Brot an. Wo verstecken wir uns, wenn die Schüsse gefährlich werden? Ich nehme ein Stück Papier mit, um meine Eindrücke festzuhalten.

Warschau, 8. September  In der Karowa 5 im Bunker. In der Nacht vom 7. auf den 8. wurden wir um eins mit der Nachricht geweckt, man könne auf der Poniatowski-Brücke über die Weichsel. Unterwegs rief man uns zurück, obwohl Herr Woźniak versichert hatte, in Warschau sei es sicherer als in Praga.6 In welcher Hinsicht? Wir beschlossen, es gegen Abend, wenn die Bombardements enden würden, über die Kierbedź-Brücke zu versuchen. Ich wollte zu mir in die Karowa. Der Abend kam im Schein ferner Feuer, wir gingen schnell, vorbei an Menschen, die in die Gegenrichtung zogen. War es nirgends sicher? Wir hatten es nicht mehr weit. Doch es ging nur schleppend voran, wir mussten Umwege machen, uns durch Passanten hindurchschlängeln. Es wurde dunkel. Sie fingen an zu schießen. Anders als bisher. Jemand sagte: »Die Artillerie zielt auf die Brücke.« Wir stürzten in die Bednarska, ein paar Schritte vom Haus, aber wir brauchten Deckung, drückten uns von Wand zu Wand. Die Menge schob uns in einen dunklen Raum. Einen Abort. […] Nein, es war nur feucht. Ich blieb auf dem nassen Fußboden stehen. Ein abscheulicher Mief. Man konnte nicht atmen. Gedränge. Die Angst hatte, wie es schien, wildfremde Menschen zu einer unzertrennlichen Gruppe geformt. Es wurde still. ›Flüchten‹ war mein einziger Gedanke. Wir liefen, nun aber jeder für sich. Ich erreichte meinen Garten im Hinterhof. Das Tor war verschlossen, ich musste das andere nehmen. Als ich in mein Zimmer wollte, hielt mich jemand auf der Treppe an – in den Schutzraum! Schließlich fand ich Frau Bylinowa. »Was wollen Sie denn hier?«, fragte sie scharf. »Ich bin nach Hause gekommen.« Allgemeines Gelächter. Darf man jetzt nicht mehr in Warschau sein? Trotz des Verbots bin ich in den dritten Stock gelaufen und habe mich unter meiner Decke verkrochen. Der Steinboden, den ich mit Zeitungen ausgelegt habe, strahlte Kälte aus. Wir drei, Henryka, Irena und ich, kuschelten uns aneinander. Den Tag habe ich halb verschlafen. Aber ich muss alles notieren. Nichts Heißes zwischen den Zähnen.

9. September  Eine beunruhigende Nacht. Bestimmt wird das Haus mit seinen fünf Etagen über uns einstürzen. Der Kommandant des Blocks bringt – einigen Auserwählten – schlechte Nachrichten. Ich beeile mich zu erfahren, was geschehen ist. Er weist mich schroff ab. Doch ich höre die düstere Mahnung aus dem Radio: »Merkt euch die Nacht des neunten Tags des neunten Monats des Jahres 39.« […] Daraus schließe ich, dass das deutsche Radio die Einnahme Warschaus gemeldet hat. In einer solchen Nacht untätig dasitzen zu müssen … Am Morgen dementiert das polnische Radio die böse Drohung. Der Feind hat unsere Frequenz gekapert …

Langsam erhole ich mich geistig von der Erschöpfung der Reise und dem ersten Schock … Ich schütze mich mit der altbewährten Methode: Beobachten, was um mich herum passiert. Ich sehe zwei Parteien, Damen und Dienstmädchen. Letzteren droht offenbar keine Gefahr, wenn man sie nach oben schickt, um Futter für die lieben Hündchen zu holen. Sie müssen sogar mit ihnen Gassi gehen, wenn auch nicht weit. Die Damen wiederum stören sich an der zu großen Anzahl von Menschen im Schutzraum, zumal nicht alle rechtmäßig hier sind … Im Sinne des Gemeinwohls sollen sie den Keller verlassen. Eine Anspielung auf meine Gefährtinnen.

Ein örtlicher Architekt wurde gerufen, gutmütig erklärte er, das Haus sei sehr unsicher, sowohl seiner Lage als auch seiner Höhe wegen. Man unternahm viele schöne Versuche, vor allem die Jüdinnen loszuwerden. Ein offensichtliches Spiel. Ich schaltete mich ein und fragte: »Habe ich ein Anrecht auf ein Fleckchen in diesem Schutzraum?« – »Natürlich.« – »Dann teile ich es in drei Teile …« Empörung, die aber letztlich in Zustimmung mündet. Trotzdem hat die sensible Henryka sich die Sache zu Herzen genommen und ist noch am selben Tag in ihr Haus in der Innenstadt zurückgekehrt.

Die Damen blicken weiter ungnädig auf mich, die rebellische Unruhestifterin. Sie kochen gemeinsam Suppe für alle und essen in der Parterrewohnung. Ich bekomme nichts. Ein Dienstmädchen bringt uns seine Portion. Ich nutze aus, dass wir allein sind, und notiere rasch meine Eindrücke.

Karowa 5, Ausgabestelle. Die seriösen Bewohnerinnen tragen Gasmasken und weiße Schürzen. Sie teilen sich die Ämter und Würden. Die Arbeit überlassen sie den Dienstmädchen. Die energische Hauswartin führt das Kommando. Sie macht sich auf zum Empfang – von Soldaten. Ich höre den Befehl: »Füße waschen!« Woher kommen sie? […] Befinden sie sich schon in Auflösung? »Von unserer Kompanie sind nur ein paar Mann übrig. Kein Offizier weit und breit. Wir haben keine Munition, streunen herum, keine Einheit will uns.« Welche Waffengattung? Er lacht bitter. »Wir sind jetzt alle Infanteristen. Ich habe 70 Kilometer gemacht, habe Gewehr, Koppel und Munition weggeworfen, um schneller voranzukommen. Diese Stiefel …« Die Tragödie des Schuhwerks rückt an die Spitze der nationalen Schicksalsschläge.

Am Abend war ich kurz auf meinem Balkon. Ringsum überall Blitze.

10. September  Am Morgen höre ich bei der Hauswartin Radio. Starzyński7 ruft zur Ordnung auf. Ich nehme den Befehl wörtlich. Trotz der Schüsse gehe ich in den dritten Stock und räume ein bisschen auf. Die Läden sind befehlsgemäß offen, obwohl Sonntag ist. Ich muss mich mit Lebensmitteln versorgen. Viel kann ich nicht kaufen, aber Tomaten sind sehr billig. Irena rührt sich nicht vom Fleck, sie hat Angst. Ich muss auch an sie denken.

Nachmittags. Ich war bei Bekannten in der Warecka. Wir haben zum ruhigen Garten hin am offenen Fenster gesessen. Man hätte meinen können, es gewittert, obwohl es weder Blitz noch Donner gab. Man hörte die Kugeln fallen. Ein schwerer, schwerer Hagel. Ich kehrte durch das halbdunkle Warschau zurück und hielt kurz auf dem Hügel, von dem aus ich vor kurzem noch mit Dr. Dresdner das Juli-Fest im Garten des Ministerrates beobachtet hatte. Heute – ein Blick in die Ferne […]. Grochów brennt. Der Feuerschein flutet den Horizont.

11. September  Ich bin aus der Karowa ausgezogen. Nach telefonischer Abstimmung mit den Januszewskis, das heißt mit ihrem Dienstmädchen Marysia, denn sie sind nicht da – sie ist in Wielgolas, er im Krieg. Ich habe Irena gesagt, dass ich sie mitnehme. In ihre Wohnung irgendwo beim Plac Narutowicza kann sie nicht zurück. In der Ulica 6-go Sierpnia sind viele Menschen, trotzdem habe ich das Mädchenzimmer. Die treue Marysia gibt mir zu essen. Ich muss Lebensmittel besorgen, das ist das Dringendste, und dann mich zur Arbeit melden.

Hier ist es still und gut. Die Bombardements sind überstanden, die scheußliche Stimmung auch.

12. September  Ich kaufe, was noch zu haben ist, Mehl, Kaffee, Zucker, Nudeln, sogar Rosinen. […] Gestern war ich beim Żeromski-Institut in der Senatorska, um meine 200 Zloty abzuholen. Es war niemand im Büro. Alles leer. Haben sie ihre Dokumente eingepackt oder verbrannt? Adieu, 200 Zloty! In der jetzigen Lage hätten sie mir und anderen viel Gutes tun können.

13. September  Es gibt keine Front – die Front ist überall. Die Stadt ist mit Glas übersät. »Rasenfläche nicht betreten« – das Schild steht auf der Spitze einer im Zickzack verlaufenden Barrikade. Ich gehe in die Puławska, Brot besorgen. Stehe stundenlang Schlange. Erobere einen Laib. Erfahre vieles. Witze über die Einrichtung eines Ulaninnen-Regiments. […] Aktuelle Stimmen: »Ich kann mein Elend ertragen, solange nur der Deutsche nicht kommt. Ich bin fast gestorben, als ich gehört habe, was sie tun. Sie führen die Zivilbevölkerung vor sich her in den Angriff. Ihre Flieger sind sehr jung, oft Frauen. Berauscht vom Benzin.«

Ich habe ein paar kleine und große Tafeln Schokolade gekauft. In den Läden gibt es keine. Ein Vertreter der Piasecki-Fabrik, der aus dem vierten Stock bei uns eingezogen ist, hat uns »usurpierte« verkauft.

14. September  Ich war beim Schriftstellerverband in der Pierackiego. Er ist ins Nebenhaus umgezogen und nennt sich nun Literarische Bereitschaft. Die Amtsgeschäfte führt Jan Nepomucen Miller, der stellvertretende Vorsitzende. Warum hat er so ein seltsames Gesicht? Habe auch ich meine übliche Miene in Horodnica gelassen? Er hat Feuilletons fürs Radio bestellt. Optimistisch sollen sie sein. Ich schreibe im Bett unter dem Donner der anrückenden Geschütze. Ich höre nicht nur das Pfeifen, ich sehe fast die Geschosse. Ich erfasse die Bahn jeder Kugel, nicht weil sie mir gelten könnte, sondern weil ich den Luftzug so deutlich spüre.

Mit dem Brot wird es zusehends schlimmer. Präsident Starzyński erklärt, die Mühlen seien abgebrannt. Die Stadt mahlt ihr eigenes Mehl, gibt es keine Vorräte? Ich halte eine Lobrede auf Pferdefleisch, die guten Hausfrauen winken entrüstet ab. Schon ist eine Maxime aus dem letzten Krieg wieder aktuell: »Gast im Haus, pack die Butter in die Speisekammer.«

Marysia herrscht hier im Namen einer bisher unbekannten höheren Ökonomie. Sie serviert nur Suppe. Der Hunger hält Einzug in ein Haus, in dem die Kinder das beste Mittagessen stehen ließen.

Ich muss meine Sachen aus Praga holen. In der Bereitschaft habe ich Anna Świrszczyńska getroffen. Sie schlägt mir Nachtdienste im Krankenhaus vor. Bei den Sterbenden. Dazu braucht man Schuhe mit leisen Sohlen. Meine sind noch im Koffer.

15. September  Es sind äußerlich schöne Tage. Ich laufe die Aleje Ujazdowskie hinunter zur Belwederska. Man hat mich zu einem richtigen Mittagessen eingeladen. Über mir ein helles Blau, um mich herum der Geruch welkender Blätter. Mir kommen Gedichte in Erinnerung, eins nach dem anderen. »Ehre und Vaterland« – die in den Frontgiebel der Armeebibliothek gemeißelte Losung der Dąbrowski-Legionen fällt mir freudig ins Auge.

Nachmittags. Wir hören russisches Radio. Was hat das zu bedeuten? Polnische Flugzeuge sollen die sowjetische Grenze überflogen haben. Wahrheit oder Provokation? […] Gegen fünf machen wir uns auf den Heimweg. Die netten Gastgeber begleiten uns bis zu ihrer Grenze. Sie wollen sich die Beine vertreten, es ist wunderbar, heiter. Plötzlich ein, zwei, drei Donnerschläge. In kurzer Folge. Wir stürzen ins erstbeste Haustor. Warten. Kurze Stille. Die Gastgeber bieten uns an, zu ihnen zurückzukehren und in improvisierten Betten zu übernachten. Die unteren Nachbarn sind fort und haben die Schlüssel dagelassen. Ist heute nicht egal wo man schläft, solange man nur das müde Haupt betten kann, und sei es in Sorge? Das ganze Fenster ist von Blitzen erhellt …

Ich wollte Briefe in den Postkasten werfen. Am Eingang zum Gebäude am Plac Napoleona stand ein Uniformierter. Er nahm die Sendungen entgegen. Eine neue Form der Post – von Hand zu Hand … Starzyński hat im Radio die Jugend zur Gründung einer Warschauer Legion aufgerufen. Wird sie gebraucht? Die jungen Leute sind dem Appell gefolgt. Gestern ist einer der Freiwilligen gefallen. Der Präsident war auf seinem Begräbnis.

In Ochota haben Frauen Panzerwagen mit Benzin übergossen.

17. September  Ein warmer Sonntag. […] Die Ankündigung eines Hörspiels von Irzykowski8: Im besetzten Warschau. Man spricht von Bajans9 siegreichem Torpedo, von der Westerplatte – dem polnischen Alcázar, vom Partisanenkampf gegen motorisierte Truppen. Der Ingenieur Jan Weber erzählt, er habe eine Technische Bereitschaft gegründet, die Bomben- und Granatschäden beseitigen soll. Menschen aus Trümmern bergen, einsturzgefährdete Gebäude stützen, Brände löschen. Das ist nötig, denn die Feuerwehr wurde ans andere Weichselufer abgezogen. Häuser, deren Mauern Risse haben, müssen evakuiert werden. Arbeitsbrigaden des Magistrats sind im Einsatz. Man hat Rettungstrupps aus – jetzt beschäftigungslosen – Straßenbahnern gegründet. Der Stadtpräsident setzt sie auch zum Schutz der Brücken ein.

Am Abend meldet das Radio: »Unsere Grenzen wurden von den Bolschewiken überschritten, die ihr Vorgehen so begründeten: ›Polens Regierung hat das Land verlassen, also ist der mit ihr geschlossene Pakt hinfällig.‹« Das erfahren wir ohne den üblichen Kommentar von Major Lipiński10. Nur Starzyński spricht lange über deutsche Vorschläge zur Erleichterung der Ausreise von Diplomaten. […] Wir streiten und trösten uns gegenseitig. Starzyński hat ja keine Unterhändler ausgesandt, um einen Frieden oder wenigstens einen Waffenstillstand auszuhandeln. Es geht nur um die Vertreter neutraler Staaten. Wo sind unsere Truppen? Marschieren sie weiter?

18. September  Im Radio die Litanei der Suchenden und der Gesuchten. Ein Durcheinander von Kreisen, Dörfern, Städten, Vierteln, Ost und West. Die Liste wird jeden Tag länger. Erbarme dich, Herr, der Vermissten, behüte sie! Ich gebe der Familie ein Lebenszeichen.

Aus den offiziellen Nachrichten lässt sich schließen, dass die Bolschewiken vorrücken – kampflos? So hört es sich für uns an. Die viersprachigen Kommentare für die Welt klingen anders. Optimistisch. Warum? Gerade das Ausland müsste man doch laut um Hilfe anrufen. Höhere Politik? Die Nachricht des Grenzübertritts wird ruhig verkündet, als fait accompli. Also wie nun? Gestern wiederum sagte der internationale Militärbericht die Wahrheit, während der nationale log. Ich verstehe das nicht. Mangelnde Koordination selbst im Radio? Was ist das? Der Präsident gibt die Macht ab. Zwangsläufig übernimmt der Senatsmarschall. Paderewski11 ruft zum Durchhalten auf. Werden wir durchhalten? Die Naivität der Fliege auf dem Weg zum Kampf mit dem Elefanten. Überdies glaubt und versteht jeder Starzyński oder Lipiński auf eigene Weise. Während des letzten Kriegs sagte man: »Er lügt wie ein Augenzeuge«, heute heißt es: »Er verdreht die Tatsachen wie ein Radiohörer.«

Mit Schokolade und Bleistift in der Tasche gehe ich in die Chocimska, um Brot zu kaufen. Die Erde atmet noch herbstliche Wärme. In den Parks blüht der Feuersalbei, die letzte Freude des Jardin du Luxembourg. Einheimische Pelargonien, gleichfalls rot. Purpurn. Ganz Warschau ist blutig. Nein, dort steht weißes Blumenrohr. Ich stehe ein paar Stunden an. Vergebens. Der vormittägliche Luftangriff traf auf den passiven Widerstand von Frauen und Kindern. Sie kehren halbtot in ihre Häuser zurück. Auf der kleinen Wiese vor dem MSW12 sehe ich Pferde liegen. Auf den ersten Blick scheinen sie zu schlafen, aber sie wurden letzte Nacht von Kanonenschüssen getötet. Direkt neben meinem jetzigen Zuhause. Sieht so ein Schlachtfeld aus? Ich schaue lange hin. Und freue mich sehr, als ich später einem ungezäumten Pferd begegne, es steht da und scharrt ganz normal mit den Hufen … Ein Mütterchen tritt heran und bittet mich um ein »Stückchen« Brot … Ich habe keins. Ich gebe ihr ein Stück Schokolade.

Je älter sie sind, desto mehr sorgen sich meine zufälligen Gefährtinnen ums Leben. Jeder meiner Ausflüge ist für sie ein Abschied für immer. Sie sitzen lieber zu Hause. Einmal kam ich abends im letzten Moment, bevor das Tor geschlossen wurde – es fing gerade erst an zu dämmern, aber so ist der Befehl. Der ganze Chor fragte: »Warum bringen Sie sich in Gefahr?« Allen voran Irena. Sie wartete ernsthaft besorgt in einem Winkel des Vorzimmers. Dann ging sie in unser gemeinsames Zimmer. Auf meinem – zeitweiligen – Bett lag ein Schrapnellsplitter. Er hatte nicht die schönen alten Möbel erwischt, sondern sich in die Bettdecke gebohrt … Wenn ich dort geruht hätte … in Sicherheit …

Ich hätte ein erbauliches Feuilleton über die polnisch-französische Freundschaft schreiben sollen, bekam dann aber Lust, über den Präsidenten zu schreiben. Ich werde auch noch über die Zeit am Dnister schreiben. Ich werde Miller sagen, dass ich von Bauern hörte, die der Einberufung gern gefolgt sind und sich sogar freiwillig gemeldet haben. Wunderbar. Ich tue der Propaganda Genüge und schaue gleichzeitig auf die sonnigen Tage zurück. Unterdessen habe ich eine Runde durch die bislang unbekannte Welt der Zerstörung gemacht. Es kursieren diverse Gerüchte über bombardierte Objekte. Die Zeitungen melden heute die Zerstörung des Krankenhauses Verklärung des Herrn. 700 verletzte Patienten, viele Tote. Bisher waren Brücken und die Zitadelle das Ziel. Jetzt auch die Innenstadt? Tagsüber Flieger, nachts Artilleriefeuer. 220-Millimeter-Kanonen, sagt man. Technisch heißt das wohl Störfeuer. […] Rydz-Śmigły13 soll gesagt haben: »Zielt genau, aber spart Munition.« Mangelt es vielleicht schon daran? Je lebhafter die Vorstellungskraft, desto größer die Angst. Der Verstand kann sie nicht bremsen. Dagegen hilft nur der angeborene Optimismus.

Zu Anusia mit der Bitte, abzutippen, was ich für die Literarische Bereitschaft geschrieben habe. Meine Maschine ist in Praga. Existierst du noch, treuer Gefährte? In der Szpitalna ist ein Drahtverhau errichtet worden. Liliputanerinnen aus dem Zirkus überholen mich und überwinden flink die Hindernisse. Sie können das. Ich schaffe es nur mit Mühe. Im Dunkeln wird es noch schwerer sein. Vielleicht sollte ich bei Anusia übernachten? Ich habe jetzt immer Nachthemd und Zahnbürste dabei, wenn ich nachmittags losziehe. Ich übernachte bei ihr. Wir essen nur ein halbes Kriegsabendbrot. Dann hören wir Radiomusik. Jemand spielt Chopin. Dann eine abgenutzte Schallplatte mit dem Paderewski-Menuett. Zu sanft für heutige Ohren.

Nachmittags. Ich war beim Radio – sie nehmen heute keine Suchanzeigen an. Es sind zu viele. Die Post arbeitet bis auf weiteres nicht. In der Pierackiego überreiche ich Miller verschämt mein gekünstelt zuversichtliches Geschreibsel … »Vielleicht machen wir eine Sonderausgabe. Liefern Sie uns bitte mehr.« Man muss schreiben, auch wenn der Glaube fehlt. Wir wissen es beide, verstehen uns ohne Worte. Millers Gesicht ist noch grauer geworden. Oder grüner. Auf jeden Fall versteinert. Ich muss etwas tun, irgendwohin gehen, mich ablenken. Nicht in die 6-go Sierpnia zurück. Im Café Blikle nehme ich einen Kaffee und ein Brötchen – für vier Zloty. Zu Hause wartet eine kurze Nachricht von Zbyszek. Der Herr Oberleutnant steht mit seiner Patrouille in der Aleja Szucha. Er bittet mich, sofort zu ihm zu kommen!

Abends. À la guerre comme à la guerre. Der sanfte Zbyszek erzählt von seinen Kriegstaten … Auf dem vorherigen Posten in der Szucha hat er die Exekution von Saboteuren befohlen. Sie hätten deutsche Namen gehabt und auf verdächtige Weise Licht gemacht, aus der Küche sei merkwürdiger Rauch aufgestiegen. Offensichtlich hätten sie dem Feind Signale gesendet. Es gibt viele derartige Fälle. Ist der Eifer nicht vielleicht übertrieben? Er erwidert empört: »Überall wird doch gewarnt: Der Spion hat Augen und Ohren.« Richtig. Das ist die Ursache für die Jagd nach Opfern. Die vielen Fälle. Verzerrt die Legende nicht die Realität? Und der Fallschirmspringer, der sich im Łazienki-Park versteckte? Ich weiß. In großer Zahl hetzte die Meute ihm nach. Das Radio mahnt unablässig: Wachsam sein, den Feind auf unserem Boden aufspüren …

Ich esse mit den Honoratioren der Einheit Erbsensuppe. Zum Dessert gibt es Birnen aus Rydz-Śmigłys Garten. »Wir sind heute Nacht dort gestanden«, rechtfertigt sich ein Korporal. Ich bin keineswegs empört, zumal ich noch ein paar mit nach Hause bekomme. Eine vortreffliche Sorte. Fast wie Duchesse. Gleichzeitig zeigt jemand Handgranaten. Sie haben die Gestalt von Birnen. Oder eher von kleinen, braunen Ananassen. Ihre Oberfläche ist uneben, von Furchen durchzogen. Er erklärt den Mechanismus. Ich schaue hin, höre aber nicht zu. Gerade ist ein Soldat ins Zimmer gekommen. Er macht es sich in einem Sessel bequem, ohne auf die Einladung eines Offiziers zu warten. Vorsichtig beginnt er eine Debatte über die Notwendigkeit des Salutierens vor höheren Chargen. »Das ist in Friedenszeiten gut, nicht im Krieg.« Er spuckt ganz offiziell auf den Teppich.

Zbyszek will den schlechten Eindruck wettmachen, den der Untergebene gemacht haben könnte, und bittet mich ins Nebenzimmer. Wir inspizieren die Bibliothek. Schöne Ausgaben. […] Ein Soldat kommt wegen seiner Zuweisung, ein anderer bringt eine lange Liste mit Namen und Adressen. Er bittet mich, den Familien übers Radio Nachricht von ihnen zu geben. Ein frommes Ansinnen! […] Ein Dritter bringt ein Flugblatt der Deutschen. Sie fordern die »irregeleitete polnische Bevölkerung« auf, sich zu ergeben. Die Armee werde nach Hause zurückkehren, Ruhe und Ordnung würden wiederhergestellt werden. Ich habe dieses Zeugnis der Dreistigkeit mitgenommen. Außerdem habe ich die Broschüre von General Sosnkowski14 bekommen, keine erbauliche Lektüre. Ein Vademekum für Offiziere. Entsetzlich. Das, wofür wir uns schämen sollten, soll uns retten. Der General vergleicht die kulturellen Bedürfnisse deutscher und polnischer Soldaten. Die polnischen bräuchten nichts, also seien sie überlegen.

27. September  Ruhe. Ein plötzlicher Anflug von Hoffnung. Zbyszek hat Essen gebracht. Eine riesige Scheibe Schinken auf Brot. Bonbons von Wedel, dazu Streichhölzer und Kerzen. Um elf Uhr morgens, als ich auf meinem provisorischen Nachtlager im Esszimmer lag und daran dachte, dass ich seit zwei Wochen kein Fleisch gesehen habe. […] Selten nimmt ein Traum so rasch konkrete Gestalt an.

Ich bin losgezogen, um nach dem letzten désastre das neue Antlitz Warschaus zu betrachten. Einen anderen Abschnitt als gestern: die Marszałkowska ab Plac Zbawiciela. Die Backsteine der Häuser liegen auf der Fahrbahn wie aus dem Sack geschüttete Kartoffeln. An der Ecke zur Śniadeckich hängt ein unbeschädigtes Plakat der Wasserjungfrau, wenngleich das Theater, das die Aufführung annonciert, komplett zerstört ist. Weiter unten sind auf beiden Seiten der Straße ganze Häuserreihen in Trümmern. Die geplünderten Läden stehen offen und leer. Der Hauptbahnhof ist in seinen Grundfesten erschüttert. In der Widok hat sich eine Schlange zum Wasserholen gebildet […]. Um das Eckhaus, in dem die Konditorei Szwajcarska war, schlingen sich seltsame Eisenspiralen. Ich habe nie bemerkt, wie viel Draht über unseren Köpfen schwebt, der nun, herabgefallen, ein schwer zu durchdringendes Geflecht bildet.

Es ist ein sehr schöner Tag. Doch statt Herbstwind liegt ein beißender Geruch in der Luft. Die Frauen halten sich Tücher vor die Gesichter. Erst dachte ich, sie wollten ihr Schluchzen unterdrücken. Weit gefehlt, die unverhüllten Augen blicken neugierig […], sie halten sich bloß die Nase zu, so entsetzlich ist der Mief. Sie kommen kaum vorwärts, der Weg ist beschwerlich, von unfreiwilligen Barrikaden verbaut. Ich erreiche den Plac Napoleona. Alles steht, wenn auch schwankend. Post und Prudential halten sich, auch wenn Löcher von zahlreichen Bombeneinschlägen zeugen. […] Ich höre Neuigkeiten, die von vielen Stimmen bekräftigt werden: englische Landungstruppen in Danzig. Wie das? Die Bolschewiken haben doch Ostpreußen besetzt, um den Verbündeten die Befreiung Warschaus zu erleichtern. »Die Engländer sind übrigens schon in Okęcie15«, versichert ein anderer gut Informierter. […] Ich kehre über den Plac Trzech Krzyży zurück, wo Flammen lodern. Brennt die Kirche? In diesem Augenblick geht die Schießerei wieder los, also biege ich in die Krucza ein und schlängele mich durch Asche und Trümmer.

Flugzeuge in der Luft. Andere als bisher. Ohne Bomben. Jemand sagt englische, jemand anderes sowjetische. Der Ujazdowski-Park. Frühmorgens gehen wir heimlich hin, Wasser holen. Jetzt steht er weit offen und wartet auf Spaziergänger. […] Unter einer Kastanie liegt, in einen Soldatenmantel gehüllt, ein Warschauer Held. Ihm gegenüber, am Eingang zur Konditorei, sein Kamerad, ebenfalls unserem Blick entzogen. Sein Gesicht ist mit einem Mantel bedeckt, die klägliche Gestalt des Körpers spricht vom Tod. Er ist allgegenwärtig. Er hat den ganzen Platz Na Rozdrożu eingenommen. Vor einer weißen Mauer glänzen die schwarzen Flecken der ebenfalls im Kampf getöteten Pferde. Ob sie lange auf ihr Begräbnis warten müssen? Wieder ein menschlicher Leichnam auf meinem Weg, fast wäre ich draufgetreten. Welche Freude, als ich am Eingang zum Park einem lebendigen Soldaten begegne. Er sitzt im Gartenwärterhäuschen, mit einem Holzlöffel isst er Bonbons aus einer Blechdose.

Ich gehe in den Park hinein. Ich habe den ganzen Prozess des Zerfalls von Menschen- und Tierleibern gesehen, ich habe die einzelnen Phasen beobachtet, an denen sich die Nichtigkeit des Lebens studieren lässt. Ich kann nicht über die toten Landsleute schreiben. Obschon auch das Pferd ein Gefährte des Menschen ist. Ich sehe, wie sich eines zu sterben anschickt. Es fällt, erhebt sich, versucht mit letzter Kraft aufzustehen. Ein vorbeikommender Soldat ermuntert es mit der Peitsche. Er scheitert. Es liegt wieder da. Für immer. […] Vor meinen Augen hat es sich von einem lebenden Geschöpf in etwas Totes verwandelt. […] Ich gehe weiter, tiefer in den Park hinein. Säbel, Sporen, Gasmasken liegen verstreut herum. Rund um den Teich Helme, die vielleicht Toten gehörten – jetzt dienen sie zum Wasserschöpfen.

Um die Gräben herum gelange ich zur Górnosłąska. Es ist merkwürdig still, die Luft voller Zuversicht. Durch unfreiwillig offene Fenster blickt man in leere Räume. Durch frisch in die Mauern gebrochene Arkaden scheint das Blau eines italienischen Himmels. Ich gehe weiter bergab, fast bis zur Czerniakowska. Auf einem Zettel notiere ich meine Eindrücke. Zu einer Gruppe von Menschen auf dem Trottoir sage ich: »Dieses Viertel ist vergleichsweise wenig zerstört« und frage mit Blick auf ein kaum beschädigtes großes weißes Haus: »Was ist das für ein Gebäude?« »Eine Kinderfabrik«, antwortet eine Frau. Ich nehme es als traurigen Witz und zugleich als die Wahrheit. In vielen Schößen keimt frische »Kriegssaat«. Ich habe viele Dienstmädchen in dunklen Hausfluren flirten sehen, die Fortführung von heimlichen Straßenbekanntschaften. Den Damen fehlen die passenden Chargen, während der Belagerung traf man bestenfalls einen Oberleutnant. Das heißt nicht, dass sie keine Ablenkung vom Grauen des Krieges suchen. Nie haben die Menschen so sehr gegenseitige Nähe gesucht wie in diesen Septembertagen. All die flüchtigen und engeren Bekanntschaften mit Personen, denen ich unter anderen Umständen nie nahegekommen wäre. Jemand kommt auf mich zu und fragt: »Sie sind Reporterin?« »Ja.« »Das war eine Autofabrik, jetzt befinden sich hier die Staatlichen Luftfahrt-Werke.«

Plötzlich steht ein Soldat vor mir. Offenbar hat ihn jemand eilig herbeigerufen, er wirkt außer Atem und verlegen. »Ihre Papiere bitte.« Ich gebe ihm den Ausweis des Schriftstellerverbands. Er betrachtet ihn verständnislos. »Kommen Sie bitte mit auf die Wache.« Wir gehen, eine kleine neugierige Schar folgt uns in sicherem Abstand. Ich sehe mich nicht nach ihr um, ich fühle mich sicher und selbstbewusst. Der Wachhabende versteht mein Amt auch nicht oder hat seine Befehle – er schickt mich weiter. Jetzt umgibt mich eine dichte, feindselige, aufgebrachte Menge. Nur ein Straßenbahner sagt wohlwollend: »Sie hätten nichts aufschreiben sollen. Sie hätten die Leute nicht ausfragen sollen. Die Obrigkeit, ja, die entscheidet, aber manchmal kommt es gar nicht dazu. Man hätte Sie lynchen können.« Erst jetzt dämmert es mir. Sie halten mich für einen Spion oder Diversanten. […] Hat mein letztes Stündlein geschlagen? »Abführen zum Bataillonskommando«, lautet der Befehl. […] Wir gehen bergauf, den Weg zurück, den ich vor kurzem allein gegangen bin. Ein Soldat neben mir. Ich will ein Gespräch unter Landsleuten beginnen, wie es meine Art ist. Er reagiert nicht. Als wir in die Wiejska einbiegen, erfahre ich nur, dass das Bataillonskommando im YMCA-Haus sitzt. […] Der Soldat fragt den Wachposten, wo er sich und mich melden muss. Wir gehen ins Untergeschoss des Gebäudes. Es ist dunkel. Nur manchmal strahlen uns Scheinwerfer direkt in die Augen. Eine Tür geht auf. Ich höre den Befehl: »Die Verhaftete vorführen.« Die Verhaftete bin ich? »Warten.« […] Ich weiß nicht, wie lange ich gewartet habe, bevor sich eine weitere Tür öffnet und ich höre: »Die Verhaftete hereinführen.« Die Bezeichnung erstaunt mich nicht mehr, wie leicht man sich doch an alles gewöhnt. In Kriegszeiten geht das sehr schnell. Ich trete ein, hinter mir mein Begleiter. »Herr Hauptmann, melde gehorsamst, diese Dame hat militärische Objekte beschrieben.« »Darauf steht eine Kugel in die Rübe.« Aber ich habe keine Rübe, sondern einen Kopf, angeblich sogar einen klugen, und Dr. D., der meinen Schädel hat röntgen lassen, fand ihn hübsch gebaut. Er riet mir, die Aufnahme ins Familienarchiv aufzunehmen. Richtig, das Foto wird bleiben! Der Gedanke muss mir schnell durch den Kopf gehuscht sein, denn beim Anblick meines Henkers in spe ergreife ich sofort und unaufgefordert das Wort: »Herr Hauptmann, ich glaube nicht, dass ein Spion am helllichten Tag herumläuft und die Leute ausfragt. Er beschafft sich seine Informationen anders und merkt sie sich auch anders, statt sich vor aller Augen Notizen zu machen. Das ist eine literarische und journalistische Methode. Eine gefährliche in Zeiten wie diesen, das gebe ich zu.« »Seien Sie so gnädig und erklären Sie mir nicht, wie Spione arbeiten«, fährt er mich drohend an. »Ich erwäge nur die Psychologie der Sache. Auch eine berufliche Gewohnheit.« »Wie ist Ihr Nachname?« Ich nenne ihn. Aus der Schar der Offiziere weiter hinten im Raum tritt einer hervor. Ich kenne mich mit den Rängen nicht aus. »Aura?«, erkundigt er sich nach dem Vornamen. »Ja.« »Was machen Sie in Warschau?« Also ein Bekannter aus Paris. »Ich frage, was Sie hier machen?« »Ich wohne hier.« »Schon länger?« »Fast zwei Jahre.« »In welcher Straße?« »6-go Sierpnia, Nummer 8.« »Gegenüber vom MSW?« »Ja.« Jetzt will er wissen seit wann genau. Ich sage seit dem 11. September […]. Ich sage wahrheitsgetreu alles, wie es ist, auch wenn es sicher einen schlechten Eindruck macht, dass ich zur falschen Zeit an den falschen Ort gezogen bin. Sei’s drum, die Wahrheit ist meine einzige Verteidigung. Aber während es in mir arbeitet, bleibe ich neugierig und frage ihn, woher wir uns kennen. Ich gewinne eine kurze Pause und erfahre, dass wir uns tatsächlich in Paris und später in Warschau begegnet sind. »Sie erinnern sich nicht an mich, ich war in Zivil. Ich habe Ihnen sogar eine Schreibmaschine für Herrn P. geliehen.« Dunkel erinnere ich mich. […] »Schreiben Sie immer noch für ›Bluszcz‹16?« Konversation oder Verhör? »Ja. Noch im August hatte ich zwei Artikel dort.« Jetzt wird der Offizier moralisch. »Ja, ich weiß, es war verrückt und leichtsinnig. […] Aber das ist meine Methode. Ich bin empfänglich für gesehene oder erlebte Eindrücke, doch das Neue verdrängt sie schnell. Deshalb notiere ich alles.« »Wir haben doch Kriegszustand! Wäre ich nicht zufällig hier gewesen …« Wohl aus Takt will er nicht aussprechen, welchem Schicksal ich entgangen bin. »Halten Sie sich künftig von Militärobjekten fern.« »Ganz Warschau ist ein Militärobjekt, seit es zur Festung wurde.« »So hat es sich zu Ihrem Glück gefügt.« Er wendet sich an einen sehr jungen Oberleutnant: »Führen Sie bitte die Dame aus dem Gebäude.« […] Im Hinausgehen bekomme ich vom Herrn Hauptmann den Zettel mit meinen Notizen und meinen Ausweis zurück. Ich sage: »Offenbar ist mir noch zu leben bestimmt, von wegen – Kugel in die Rübe.«

28. September  Die Nacht war schwer. Zbyszek war da, um zu sagen, dass Warschau kapituliert. […] Der Junge, der gestern noch voll guten Mutes gewesen war, stand völlig niedergeschlagen vor mir. Das Flüstern im Vorzimmer weckte Verdacht, also erfuhren auch die anderen die Wahrheit. Zwei Stunden danach begann meine Nachtschicht. Bis zum Morgengrauen ging ich im Gang vor dem Haustor auf und ab. Viel Bewegung im Hof. Die hier stationierten Verteidiger wussten, dass es die letzte Nacht sein würde …

Erst dachte ich noch, es sei vielleicht ein Gerücht. Doch der Morgen bestätigte Zbyszeks Worte. Unsere Damen krochen mutig aus dem Haus. Unter Obhut übrigens von Begleiterinnen wie mir. Das Wichtigste war nun, die zur Aufbewahrung weggegebenen Pelze zurückzuholen. Zur Ujejska17 in die Nowy Świat. Trümmer und Ruinen. Ein eingestürztes Haus […] an der Ecke Chmielna bildete eine Barriere, fast wie ein Berggipfel. Statt Kletterpartien helfende Hände. Am Fuß des Ziegelhaufens eine dekorativ in ein Tuch drapierte Leiche. Der Tod trifft Menschen und Pferde in unterschiedlichen Posen. Dieser Junge hatte die Hände erhoben. Weiße, schöne Hände. In ihrer Steifheit hatten sie etwas Flehendes.

Oktober  Belgien soll Deutschland den Krieg erklärt haben. Stimmt das? Ich bin in die Aleje gelaufen, um zu sehen, ob auf dem Palais, in dem sich das Konsulat befindet, die Flagge gehisst ist. Sie hängt noch. Beredtes Zeugnis der Lüge […]. Ich habe den seltsamen Anspruch, dass die Leute edle Gedanken haben müssten, obwohl sie frieren und hungern. Alle haben zu viel gelitten, und mancher denkt sicher, dass es unnötig war. An der Ecke Aleje und Koszykowa verteilen sie Brot […]. Sie werfen die Laibe in die Luft, irgendwer schafft es, einen zu fangen. Eine Idee unserer Bürgerwache. So amüsiert sich die Öffentlichkeit.

5. Oktober  Erst herumlaufen, jetzt unter die schützenden Fittiche des Bettes kriechen. Ich betrüge mich mit dem tröstenden Gedanken: Ich muss leben, um die Wahrheit zu berichten, wenn einst in Polen wieder frei gedruckt werden kann.

6. Oktober  Janka Porazińska war da. […] Sie schilderte ein Erlebnis vom 10. September. An einem Abhang war ein Flugzeug abgestürzt. Es brannte. Sie ging mit der Menge dorthin. Die Frauen waren außer sich vor Freude. »Vielleicht hatte auch er eine Mutter?«, rutschte es ihr heraus. Um ein Haar hätte der Pulk sie gelyncht. Sie flüchtete.

Ich habe einen Rundgang gemacht. Die Barrikaden stehen noch, obwohl ihre Tore immer größere Breschen bilden. Am französischen Konsulat hängt das Hakenkreuz. Eine Anordnung zum Umtausch von Zloty in Mark. Geldbeschränkungen für Juden. Der Friedhof auf dem Plac Trzech Krzyży wächst weiter, hier ist es schön, obwohl ganz Warschau stinkt. Das einst blühende Warschau. Nicht wiederzuerkennen. Häuserskelette. Der Handel hat sich wie im Orient auf die Straße verlagert. Illegal. Diebesgut wird in Hauseingängen verkauft, um der Obrigkeit nicht aufzufallen. Jeder, der einst an Gott glaubte, hat gestohlen und geplündert. […] In der Pierackiego erklärt ein Fräulein: »Unser Verband ist aufgelöst worden.« […] Die evangelische Kirche, die ich nach den ersten Bombardements gesehen habe, erinnert jetzt noch mehr an das Kolosseum. In der Wierzbowa ist das Brühlsche Palais teilweise zerstört. […] Ich war bei Gebethner in der Krakowskie Przedmieście.

Julia Dickstein-Wieleżyńska erzählt vom Tod ihres Vaters, sie ist mit ihrem Bruder dabei, Gemälde zur Verwahrung ans Nationalmuseum zu geben. Auf dem Rückweg kaufe ich Kerzen und Bonbons. Eine Frau spricht mich an und fragt nach dem Weg. »Ich suche Nachricht von meinen Söhnen. Ich komme von Żoliborz und will in die Filtrowa. Verzeihen Sie, dass ich von meinen Sorgen erzähle. Ich bin so kindisch.« Sie meint bestimmt: arm und einsam.

Nachmittags stand ich Schlange für Brot. Erfolglos. Manche bekamen zwei Laibe, andere nichts. Als die Menge anfing zu drängeln, schossen die Soldaten, zwar nur in die Luft, aber die Leute liefen auseinander und formierten sich neu. Wer schon fast an der Reihe gewesen war, stand nun wieder hinten. Man spricht über das Essen. Vereinzelt flüstert jemand: »Warum haben sie die Hauptstadt nicht früher übergeben?« Die Geschichte wird zeigen, ob es so kommen musste oder ob Verrat oder passive Unfähigkeit dahintersteckten. Am Abend kam Zbyszek aus Wielgolas. Seit der Belagerung hatte er von seinem Posten in der Szucha über mich gewacht. Er brachte Butter, Käse, gebratenes Huhn, Wurst und Speck. Nur Brot gab es keins, dort auf dem Land dachte niemand daran, dass das das Wichtigste ist.

7. Oktober  Die Suppenpreise wurden festgelegt. In einem erstklassigen Restaurant kostet eine dicke Suppe eineinhalb Zloty, Fleisch mit Gemüse zwei Zloty. Unser Verband existiert nicht mehr. Die Goetlowa18 richtet eine Wirtschaft mit billiger Suppe ein.

8. Oktober  Besuch von Irena […], die gleich nach dem Waffenstillstand zu sich nach Hause zurückgekehrt ist. Sie bringt Gartenblumen mit. Ihre Nelken leuchten. Sie berichtet, was sie in den letzten Tagen gesehen und gehört hat. Die Deutschen verteilen Konserven ans Volk. Die Damen machen ihnen schöne Augen. Die Juden werden zur Arbeit gezwungen, ein alter Mann brach zusammen, sie gaben ihm mit Bajonetten den Rest. Sie lassen sie singen: »Wir sind schuld am Krieg.«

Nach der Tragödie des Vaterlands kommen wieder die privaten hervor. Kein Haus. Keine Habe. Kein Ziel, keine Beschäftigung. Das Gefühl der Einsamkeit. Im Grauen des Krieges haben wir trotz allem zusammengehalten. Dieses Haus etwa, das so voll war, ist jetzt leer. Jeder ist zu sich zurückgekehrt, um sein altes Leben zu finden oder ein neues aufzubauen. Ich bin völlig aus der Bahn geworfen. Sogar äußerlich abhängig vom Wohlwollen Marysias – ob sie mir Brot zum Frühstück gibt. Der Hunger ist der Motor des Lebens. Sie gibt. Auch ich teile mit ihr, was ich habe. […] Auszüge aus einem Brief an meine Schwester: »Zum Schluss zu Deiner Nachricht. Ihr habt also sehr gelitten? Ich habe Widersprüchliches gehört. Leute, die durch Wielgolas kamen, sagten, dass der Hof noch steht, aber sie wussten nichts von den Bewohnern. Ich dachte, ihr seid vielleicht nach Osten geflohen, wie so viele andere. Ich komme zu euch. Mich ängstigt die lange Fahrt mit dem Fuhrwerk. Momentan raten alle davon ab. Ich nehme ein paar Etagen wie nichts, aber das Wild in den Wäldern … Um mich müsst ihr euch nicht sorgen. […] Körperlich geht es mir halbwegs gut. Der Kopf darf nicht schmerzen. Das Herz schon eher … Die Beine haben sich an lange Märsche gewöhnt, die Hände ans Tragen von Lasten. Seit einigen Tagen verkehren wieder Busse, doch sie sind überfüllt. Sie fahren selten und langsam. Wer wie ich gut zu Fuß ist, kommt schneller ans Ziel. Ich schreibe, vermische alles und alle, entsprechend dem Chaos in der Welt und im Kopf …«

Marysia und ihr Bruder gehen auf Beutezug in ein vermeintlich billiges Land, nach Praga. Sie nehmen den Brief mit, er geht bei erster Gelegenheit ab. Eine Gans kostet 50 Zloty, ein Kilo Fleisch sechs. Ich habe heute Geld bekommen und diesen Wahnsinnskauf angeordnet. Wir haben einen herrlichen Braten. Bis jetzt habe ich, zugegeben, gehungert. Manchmal bin ich nachts aufgewacht und habe nach Essbarem gesucht.

9. Oktober  Ein Kapitel für sich sind die Veränderungen, die das zerfallende Glas in der Stadt bewirkte. Erst funkelten große Scherben wie dickes Eis in der Sonne. Sie zerbrachen in dünne Eistäfelchen. Dann knirschte es unter den Füßen wie Meersand, um sich schließlich als in den Augen brennender Staub in der Luft zu verteilen.

Brände und Bomben haben der städtischen Architektur den Charakter eines makabren Films verliehen. Zinnen an unpassenden Orten. Für unsere Breiten unübliche Attiken und Ajours […], Briefkästen lassen sich ohne Schlüssel öffnen. Nach dem Einsturz der Mauern, die das Familienleben schützten, bleiben kleine Relikte: Ein Spiegel hängt in den Trümmern, eine Lampe vollzieht ihr Ritual, sie gehört über den Esstisch, die Heiligkeit eines Marienbildes konnte die Katastrophe nicht abwenden.

Alle Frauen schleppen Bretter, um neue Nester – Festungen – zu bauen. Auch ich müsste auf Beutezug gehen. Nein. Ich will nichts bauen! […] Auf dem Plac Trzech Krzyży wachsen die Grabhügel. Die anfangs unebenen Haufen werden im Laufe der Tage immer glatter. Auf einem steht eine ukrainische Inschrift. Soldatenmützen wackeln auf improvisierten Kreuzen.

Das Pferd, ein Allesfresser. Ich habe gesehen, wie eines an der Teppichstange knabberte und im Eisen Nahrung suchte. Wie es im Hof des einst sauberen, eleganten Hauses in der 6-go Sierpnia ungeduldig mit den Hufen scharrte. […] Das verstoßene Tier hinkte unsicher durch das Tor. […] Andere Klepper stehen reglos da. Liegen leblos auf den Grünflächen. Getötet, das heißt eines zufälligen Todes gestorben. Man kann ihnen nicht nur das Fell abziehen, was immer geschieht, sondern auch ein Stück Fleisch herausschneiden. Man sieht die nackten Rippen.

Ich begrüße jedes Lebenszeichen als normal. Das Messerschärfen, selbst das Teppichklopfen ist heute geregelt: bis elf Uhr morgens. In der Buchhandlung Gebethner ist Betrieb. Die neuen Bewohner Warschaus kaufen Ansichtskarten. »Was ist das für ein Platz?«, fragt einer. »Man erkennt ihn gar nicht.« Wie auch, wenn selbst wir unsere Straßen nicht wiedererkennen? Sie erwerben auch Bücher – solche, die bei ihnen verboten sind.

Das jüngst vergangene Leben wirkt schon historisch. Meine Schilderung von Powiśle,19 der Altweibersommer, den ich unter guten Bedingungen verbrachte. Ich fühlte mich größer, leichter, fröhlich. Ein intelligenter und lieber Gefährte zeigte mir die Stadt neu, die ich zum ersten Mal lieben lernte. Um nun umso mehr ihre Zerstörung zu beweinen.

Man spricht über die Regierung in Paris. […] Radiolügen über nahende Verstärkung. Paderewski hat zum Durchhalten aufgerufen. Der Alte hat gut reden, er sitzt in der wohl auf ewig sicheren Schweiz.

Das Chaos der ersten Tage. Feuerwehr, Rotes Kreuz, Regierung – alle geflohen. Das habe ich gleich nach der Ankunft in Praga erfahren. Umiastowskis Flüchtlinge20 schleppten sich auf Knien dahin, um zurückzukehren. Unterwegs wurden sie von niedrig auf die Bevölkerung gerichteten Gewehren niedergemäht. Jemand streute gute Nachrichten: »Hilfe ist unterwegs.« Die Selbstüberschätzung Einzelner und des ganzen Volkes. Rydz gab den Befehl, Warschau bis zum letzten Panzer, bis zum letzten Soldaten, bis zur letzten Frau zu verteidigen. Er selbst ist verduftet. Woraus wurden die Barrikaden errichtet? Aus allem, was gerade zur Hand war.

Während des Abwehrkampfs war die Solidarität in der Bevölkerung groß. Später wich sie Feindseligkeit. Die Disziplin lässt nach. Es gibt Streitereien in den Schlangen.

Die ersten antijüdischen Symptome. Unsere Leute, Starzyński etc. haben verkündet: »Es wird keine Repressionen geben.« Dasselbe sagt, in seiner ersten Ausgabe, der »Nowy Kurier Warszawski«.21 Die jüdische Bevölkerung solle nicht anders behandelt werden als der Rest. Aber gleich darauf heißt es: »Leere Wohnungen und Zimmer melden« – ausgenommen die jüdischen.

10. Oktober  Eine für die Stadt untypische nächtliche Stille umgibt mich. Nur die Wanduhr leistet mir Gesellschaft. Ich lese Klaczkos22 Wieczory Florenckie. Ich sehe, dass die meisten meiner Ansichten zur Kunst von dort stammen. Mit einem Buch geht es mir gut. Der Abstand hilft mir, die Gegenwart zu ertragen.

Man hat Reis in die Weichsel gekippt, statt ihn zu verteilen und auf diese Weise … Keine Weise kann helfen. Polen soll als Reststaat regiert werden und leben. Der Staat ist vor unseren Augen in den Abgrund gestürzt, und das Volk betrachtet die Niederlage unter dem Aspekt des Mangels an Nahrungsmitteln.

Chaos, Unfähigkeit, Scham. Im Angesicht der Barbarei.

Ich habe mich schlafen gelegt, ohne daran zu denken, dass man allzeit bereit sein muss, das brennende oder einstürzende Haus zu verlassen. Ich muss Kleidungsstücke bereitlegen, in die ich schnell hineinschlüpfen kann – ich kann nicht in Kleidern schlafen wie andere, die sich wochenlang nicht ausziehen. Das für den Vagabunden unverzichtbare Bündel mit Sachen und Essen vorbereiten. Eine Tafel Schokolade vor allem, die hat anderen und mir viel Gutes getan.

Der Kurs des Zloty zur Mark wurde bekanntgegeben. Besser als erwartet. Im Rathaus soll wieder elektrisches Licht brennen. Abgesehen davon liegt die Stadt im Dunkeln. Ich sehe neue, glänzende Autos. Sie sitzen Rücken an Rücken darin. Perfekt aneinander angepasst.

14. Oktober  Morgen. Zum ersten Mal ertönt im Hof die Stimme ehrlicher Arbeit. Es werden Bäume gefällt. Die Mauern sind mit Bekanntmachungen tapeziert.

Selbst die Läden müssen ihren Inhalt erklären, die Schilder wurden vom Höllenfeuer entstellt. Bettler ziehen durch die Straßen der Stadt.

Jemand sagt: »Schau, ein neues Grab.« Die Antwort: »Na und, lass uns schnell Wasser holen.« Essen und Trinken, das Gebot der Stunde.

Das normale Leben kehrt zurück. Das Café in der Dobra ist leerer als früher. Ich rieche den warmen, schweren Duft des süßen, fettigen Kuchens. Hier haben Dr. Dresdner und ich unsere landeskundlichen Ausflüge durch Warschau begonnen.

Seit Mittwoch, dem 11., erscheint der »NKW«. Während der Belagerung teilte man seine Eindrücke miteinander, jetzt liest man stumm. Über den Köpfen brummt der stählerne Vogel der Unruhe.

Mitte Oktober  Not im Elend – so lässt sich die allgemeine Lage beschreiben.

Man läuft durch die Stadt wie durch ein Bergsportgelände. Die Beine wundern sich über die Unebenheit des Pflasters. Gefahreninseln lauern überall in der Stadt, nicht nur in den Randgebieten. Beim Blick auf die Zerstörungen kann ich gut das Werk von Spreng- oder Brandbomben unterscheiden. […] Ich kann Stör- von Angriffsfeuer unterscheiden und einzelne Flugzeugbewegungen zuordnen. Die wissenschaftlich-anschauliche Methode.

Marschall Rydz, ein Titel, den man sich in Polen ehrlich verdienen muss. Alles existierte nur auf dem Papier. Er war ein schlechter Verwalter der realen Bestände, er überprüfte sie nicht. Militärdepots drei Kilometer von der Grenze entfernt. Die Armee taugte für Paraden auf dem Platz Na Rozdrożu! Allgemeine Unfähigkeit oder kollektiver Verrat?

Wasser. »Sie Glückliche, Sie haben es so nah zum Brunnen.« Ich gehe immer noch hin. Manchmal schwach vor Hunger. Ich esse Rosinen aus der Tasche. […] Mir fällt ein ungehöriger Witz ein. An einem Frühlingstag war ich auf den Balkon gegangen. Unter dem Eindruck der Nachrichten aus Prag sah ich plötzlich die Hakenkreuzflagge über dem Schloss wehen. Die Bekannten, denen ich scherzend von der unpatriotischen Sinnestäuschung erzählte, waren empört … Und jetzt … Das Schloss ist zerstört … […] Das rote Dach hat sich schwarz gefärbt.

16. Oktober  Es ist warm. Ich schaue vom Balkon. Die Leute bewegen sich wie immer um diese Jahreszeit, mit dem Schwung der neuen Saison, gestärkt von der Energie des Sommers, voller Hoffnungen für den Winter … Manche stromern träge herum, tragen keine Einkäufe, schleppen keine Pakete. Viele sind mit Rucksäcken bepackt. Die Frauen tragen Kopftücher, das ist der Stil der Kriegsmode. Die Bewegungen der Männer haben um diese mittägliche Spazierstunde weder Temperament noch Chic. Es fahren Kutschen, Fuhrwerke, höchstens noch Lastwagen. Dann wieder Stille. Selbst ein Leierkasten wäre willkommen. Klaviere sind wieder beliebt. Je tiefer, umfassender jemand gelebt hat, desto größer sein Schaden.

Was wird von Polen bleiben? Die Jugend und die Erde.

19. Oktober  Zurück in der 6-go Sierpnia. Dort treffe ich auf den Vizestarosten23 von Kutno und seinen Gefährten auf der Odyssee in den fernen, inzwischen sowjetischen polnischen Osten. Gegenseitige Berichte. »Du warst keine Heldin?«, wundert sich Władzio, den viele Frauen mit der Darstellung ihrer heroischen Rolle während der Bombardements begrüßten. Andere Personen hielten ihm vor: »Wegen euch, der Verwaltung, ist alles so schlimm gekommen.« Auch sie, die mit dem Auto losgefahren waren, machten den Rückweg zu Fuß oder bestenfalls mit dem Pferdewagen. »Das Fuhrwerk ist das Nationalverkehrsmittel«, sagt der Vizestarost, der keineswegs mit seinem, geschweige denn mit dem polnischen Schicksal versöhnt ist. Seine Frau, die er nach Warschau kommen lässt, meinte zunächst, sie sollten an ihren Wohnort zurückkehren und sich beim Landrat vorstellen. Vielleicht bekäme er einen Posten. Ihre Begründung war perfekt: »Sonst gewinnen die unerwünschten Subjekte die Überhand.« Darauf er: »Unter diesen Umständen nimmt nur ein Schuft einen Posten an, kein anderer taugt dazu.« […] Zuvor ist schon Mila aus Wielgolas gekommen, um sich gemäß Anordnung bei der Bahn zu melden, wo sie vor dem Krieg arbeitete. Wieder ist das Haus voll von ungemeldeten Personen, obwohl diesbezüglich schon ein strenges Verbot erging. […] Mila und ich lachen darüber, dass vor meiner Abreise nach Horodenko unsere größte Sorge der für Menschen in »unserem« Alter unangemessenen Form des Campingurlaubs galt. (So viele Nächte waren seither schlimmer als die im Zelt verbrachten.) Jetzt müssen wir uns zu zweit ein Sofa teilen.

20. Oktober  Mit einem Zettel in der Handtasche, weil mich nichts zur Vernunft bringen kann. Ich betrachte Splitter der Stadt, die das nächste Bild aus dem Auge verdrängt. Deshalb muss ich sie sur la vie festhalten. Ein älterer Herr, Akademiker, noch mit Binokel, schleppt einen Eimer Wasser. Ein junger Intellektueller mit Brille drückt einen Laib Brot an sich wie früher ein Buch. Die Leibesnahrung wurde mit größerer Mühe errungen. Schmutz. Ein Haufen armer Schlucker – das sind wir. Man muss im Zickzack durch die Straßen. Schlammpfützen und Schluchten. […] Eine Preisliste für Begräbnisse wurde ausgehängt. Sie gilt nicht für Juden.

Ich sehe den Briefträger. Er verteilt Briefe aus Ungarn und Rumänien.

An den Mauern Schriftzüge: »England, das ist dein Werk«. Im Vordergrund Chamberlain und ein verwundeter polnischer Soldat, im Hintergrund eine brennende Stadt.

Manche (Frauen) machen schon den Deutschen schöne Augen. Andere drohen mit ihnen.

Die Konsolidierung von Trauer, Verzweiflung, Kritik …

26. Oktober  Wir werden […] nach Wielgolas fahren. Es bietet sich eine Gelegenheit. […] Einige Fuhrwerke, die Lebensmittel vom Land brachten, sollen mit Stadtprodukten zurückkehren.

Warschau-Wielgolas, 27. Oktober  In der Senatorska habe ich das aus Wielgolas gewünschte Religionsbuch für Stasio und […] Strümpfe gekauft. […] Wir klettern auf die Wagen. Jede neben einen Knecht, die Koffer verstauen wir, wo Platz ist. Wir fahren durch Grochów, dessen Untergang mir Anfang September den Weg erhellte. Ein Trümmerfeld. Ein offenes Zimmer mit Rückwand gibt durch den Farbkontrast ein futuristisches Bild ab. Manche Häuser wollen zurück zur Normalität, auch auf Kosten der Ästhetik. Sperrholz vereint sich mit Glas. […] Wir kommen an Olszynka vorbei, das ich im Sommer zum ersten Mal besucht habe. Dort wurde Mitte September wieder gekämpft. […] In den Tagen der Flucht lagen Leichen auf der Landstraße […], sagt der Kutscher. Mit Schätzen gefüllte Krokodillederkoffer. Nur wer nichts hatte, verlor nichts. Ich kenne das Bild aus Erzählungen. Leider nicht de visu. Wenn das Böse schon geschehen musste, wäre ich gern überall gewesen. Mila ist die Strecke zu Fuß gelaufen, sie sagt, so müsse Napoleons Rückzug von Moskau ausgesehen haben. Ebenso tragisch, wenn auch nicht in Zivil. […] Am Straßenrand liegen jetzt viele Autoskelette. Der Tod öffnete den Fahrenden die Tür. Am Straßenrand Kreuze. […] Und dahinter goldene Herbstfelder. Das stille Land … […] Gegen zehn erreichen wir den Hof. Ich war lange nicht hier. Fünf Jahre. Auf der Veranda steht eine »Wache«. Zwei Soldaten. Mila geht ins Haus, ein Soldat folgt ihr. Ich frage den zweiten, ob alle schlafen. Die Herrschaften sind oben. Celinka kommt gelaufen, ein Offizier taucht auf und hält trotz des Passierscheins, der Nachtfahrten erlaubt, die Wagen fest. Wir aber haben im Dunkeln viele Kilometer gut hinter uns gebracht. Selbst die Patrouille, die uns in Pogorzel anhielt, fragte nur nach dem Inhalt der Koffer und wünschte uns auf Polnisch eine gute Nacht.

Wielgolas, 1. November  Der Weg zur Kirche gestattet einen Blick auf den Krieg im Abschnitt Latowicz. Die Dörfer sind zerstört, wie überall, ins Auge fallen als Erstes Kachelöfen, die nicht heizen. Die Löcher in der Kirche sind mit Stroh gestopft. Die Lesung des Tages handelt von den 140 000 Versiegelten (womit?). Es folgen die zwölf Stämme Israels. Und dann: »Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden.« Und wenn es gar nicht um Gerechtigkeit geht? Ich betrachte den Weißen Adler auf rotem Grund an der angeblich dieses Jahr renovierten Wand.

Nach der stillen Messe ein Bittgebet in verschiedenen Anliegen. Unter anderem für Frieden. Der Weg zum alten Friedhof führt durch das zerstörte Latowicz. Dort liegt mein Cousin, begraben 1905. Ich habe das Kind sehr geliebt. Jahrelang war der Friedhof verwahrlost, jetzt, neu aufgeräumt, dient er einer neuen Generation von Toten. […] Der neue Friedhof birgt andere Verwandte, Vater und Bruder. Wir begegnen kleinen Fuhrwerken, die in Stille zum Hochamt fahren, die Glocke schweigt zum Zeichen der Trauer. […] Nachmittags zieht eine Prozession von der Kirche hierher. Es ist nicht Sache der Herrschaft, daran teilzunehmen, darum sprechen wir jetzt das »Herr, gib ihnen die ewige Ruhe«. Stasio erklärt: »Es gibt keine Kerzen für die Gräber.« Schon im letzten Jahr wurden sie gestohlen, wie dann erst jetzt.

2. November  Am Gemeindehaus die Bekanntmachung, dass Fahrradfahren verboten ist.

4. November  Die Stimme eines geschlachteten Schweins riss mich aus dem Traum in den Tag. Ein weiterer Beleg für die Autarkie des Dorfs, die heute auch nötig ist. Ich hörte die Stimme des Tiers, nein, mehrere Stimmen. Auf den Protestschrei folgte beinahe ein Kinderweinen. Ich steckte den Kopf unters Kissen, wie es Feiglinge tun.

Der Aufenthalt hier hat teils etwas von solcher Politik. Man verdaut die Eindrücke der letzten Wochen, ohne dass neue hinzukommen. Es wird viel über Flüchtlinge gesprochen. Von allen Seiten treffen fast unwirkliche Gerüchte und Nachrichten ein. In mir überlagern die Bedürfnisse des angeschlagenen Körpers die geistige Erschöpfung. Ich schlafe gern lange oder liege einfach da. Im Warmen lässt es sich so gut erholen. Mit Appetit esse ich alles und laufe beinahe froh durch die Felder, die künftiges Korn in sich tragen, statt durch Ruinen, denen nur weiterer Zerfall bevorsteht. Die Gedanken lassen aber nicht locker. Wie konnte der junge Staat mit seiner unsicheren geographischen Lage unnötige Reformen in Angriff nehmen, vor denen sich etablierte Staaten hüten? […] So war die Rechtschreibreform ein Luxus. Auf Krieg waren wir indessen nicht vorbereitet.

6. November  Ich hatte Gelegenheit, nach Mińsk zu fahren. Der »NKW« berichtet von der Gründung einer westlichen Ukraine, die der Sowjetunion angeschlossen wurde. Keine lokalen Nachrichten. Die Zeitung könnte ebenso gut in Honolulu erscheinen. […] Viele Vermisstenanzeigen. Ansonsten Zeichen einer Normalisierung des Lebens. […] Die Post ist noch nicht wieder in Betrieb.

Gestern waren Deutsche hier: Zivilisten, Arbeiter; sie kamen, um Essen zu kaufen. Besonders beliebt sind Eier. Ein begehrtes und sicheres Produkt. Et pour cause, selbst die Polen vermögen sie nicht zu vergiften. Sie sagten, sie hätten England bombardiert wie Polen. Im »NKW« stand davon nichts. Warum sich mit uns abgeben. Es lief besser, als die blühendste Phantasie sich hätte ausmalen können …

7. November  Wir gehen schauen, ob es am Gemeindehaus neue Bekanntmachungen gibt. Eine Verordnung zur Registrierung von Fahrrädern. […] Hinter vorgehaltener Hand heißt es, dass selbst deutschen Staatsbürgern das Radio verboten wurde […]. An der Kirche in Siennica hängt eine Hakenkreuzflagge. Man spricht viel über die staatsbürgerliche Untauglichkeit der Bauern, ihre Gier und Profitsucht. […] In der Zeit der Fluchtbewegungen haben sie Nahrungsmittel gegen teures Geld abgegeben, wer keines hatte, wurde schlicht abgewiesen. Jetzt wollen sie nicht einmal den Agrarinstruktoren, die ihnen einst halfen, einen Scheffel Kartoffeln überlassen, weil sie hoffen, astronomische Summen dafür zu bekommen. Immer wieder heißt es: Das sind die Folgen der »staatsbürgerlichen Erziehung«. Oder ist es das Böse im Menschen, das heute überall triumphiert?

11. November  Das Gut und die Kirche haben heute den Nationalfeiertag begangen. Die jungen Leute wollten ihn religiös feiern. Fela hat aus Solidarität mit dem roten Buchstaben im Kalender ihr Sonntagskleid angezogen. Manche hier sagen, es gebe den Tag erst seit zwei Jahren. Er sei eine Erfindung nicht einmal Piłsudskis24, sondern seiner Nachfolger.

Gestern ein Besuch des hiesigen Pfarrers. »Ich war zuerst Pole, dann Priester. […] Jeden, der Polen aufgebaut hat, und wir haben ja alle ein Stück daran mitgewirkt, schmerzt all das sehr.« Wobei jeder andere Gründe für die Niederlage sieht und anderen Personen die Schuld zuweist. Er ist Nationalist, also beschuldigt er den Marschall und geht bis in dessen Magdeburger Zeit zurück. […] Ansonsten hat er viel Gescheites gesagt, aber nicht reagiert, als einer der jungen Leute sich sorgte: »Was, wenn Frankreich und England siegen? Das sind doch Freimaurer …« Er erzählte auch manches von Panzern, die Gattinnen und Habe ziviler wie militärischer Amtsträger in Sicherheit brachten, von Rot-Kreuz-Bandagen, die jetzt Kinder beim Pferdspielen als Zügel benutzen. […] Von Taten von Reservisten, die […] tapferer waren als die Professionellen. Nicht weit von hier habe ein Kommandeur, Anwalt im Zivilleben, seine Leute versammelt: »Werft die Waffen weg, Männer, und bringt euch in Sicherheit.« Er selbst habe sich das Leben genommen.

12. November  Ich lese Der Weg zurück. Es hat Parallelen zur Gegenwart. Auch dort gibt es Tauschhandel, sucht man neue Formen des Wirtschaftslebens. Einmal liest der Protagonist einen alten Schulaufsatz: »Warum muss Deutschland den Krieg gewinnen?« Das erinnert an Vorkriegszeitungen. Wenn er auf die Wirklichkeit blickt, hat er die Erinnerung von zwei Frontjahren vor Augen, ich bin bis heute Gefangene des Septembers. Die Bilder dieses Monats, die Stimmen, sind immer noch präsent. Eine Nacht in der 6-go Sierpnia in einem unsicheren Zimmer, das am nächsten Tag selbst sehr erschöpfte müde Soldaten nicht wollten. Geschützfeuer. »Sie haben ein MG-Nest entdeckt und halten drauf«, erklärte jemand aus dem Vorzimmer, zu dem die Tür offenstand. […] In der Stille von Wielgolas höre ich die überstandenen Nächte […] vielleicht klarer, als ich sie in Wirklichkeit hörte, schläfrig und erschöpft auf einem Strohsack auf dem Boden liegend.

13. November  Ich komme auf das gestern Geschriebene zurück, denn solange ich dieses Buch lese, fühle ich mich wie ein Remarque in Klein. Ich sehe jene Erlebnisse realer als die Wirklichkeit. […] Wie ich am 7. von Praga durch die Karowa lief, um möglichst schnell […] in den Schutzraum zu kommen, ein Abort voll schmutzigem Wasser und Gestank direkt neben meinem Haus in der Bednarska. […] Vom Viadukt aus konnte man sehen, wie Grochów brennt. […] Der Feuerschein erhellte den ganzen Weg, reichte bis zum weiten Horizont, als ich oben auf der Treppe stehenblieb. Von dort hatten Dresdner und ich auf das feiernde Powiśle geblickt. […] Wir waren so viele Stunden gemeinsam unterwegs. Wie geht es deinem Herzen jetzt, Karol? Das Feuer ist ein fremdes, fernes Element, dem ich im Laufe dieses Monats immer wieder begegnet bin. […] Als gegenüber von uns das Militärministerium brannte, züngelten die Flammen am Gebäude entlang, mehr spielend als die Wände verschlingend … Ich erinnere mich an die dunklen Schwaden, die später erst aufzogen. Schmutz in der ganzen Wohnung. Man bekam die Hände nicht sauber […]. Der Ruß fraß sich tief in die Haut. Was man auch anfasste, war dunkel und klebrig. Der kleine Offizier in der Krucza, dem ich Bonbons anbot und der sich verlegen von der Süßigkeit abwandte, auf die er Lust hatte. Die Bilder kommen immer wieder zurück. Ich blicke auf eine jetzt dunkelgoldene Lärche, und es separieren sich einzelne Erlebnisse. Damals formten sie ein Ganzes, verschmolzen zu einem einzigen Unglück ohne Datum. Niemand wusste, wie lange es schon währte, welcher Tag es war. […] Was ich in der raschen Folge der Ereignisse oder aus Geringschätzung nicht notierte, will jetzt aus der Feder, die über den heutigen Tag nicht viel zu sagen hat: Mündliche Zeitung von Ankömmlingen, Gerüchte und Vermutungen, Wünsche statt Wirklichkeit. Doch auch diese Lebensechos sind wichtig.

Der polnische Kreis verengt sich. In letzter Zeit war das Ausland für uns unerreichbar, jetzt haben wir noch weniger Platz unter der Sonne. Wie groß das Protektorat sein wird, wissen wir nicht. Krakau soll Hauptstadt werden.

16. November  Es heißt, die Juden sollen in ein Reservat in der Gegend von Lublin ziehen. Sie müssen ihre Ladenbestände bis zu einem bestimmten Datum verkaufen. Aber niemand will kaufen.

21. November  Wenn ich abends durch das Esszimmer gehe, sehe ich vor dem Kamin den deutschen Oberst, der hier gern die »graue Stunde« verbrachte. Er wartete in der Abgeschiedenheit auf den nahen Tag, an dem er an die Westfront gehen würde. Das war keine Frage des Schicksals, sondern ein längst festgelegter Termin. Er sagte, Wielgolas sei ihm für die Zeit nach dem Polenfeldzug vom 15. bis zum 29. Oktober zur Erholung zugewiesen worden, ohne Zweifel am Ausgang des Unterfangens. Das nennt man Disziplin – sie vermag den Lauf der Ereignisse zu lenken. Deshalb wurde dieses Haus auf der Karte anders markiert als zur Vernichtung bestimmte Orte. Das arme Siennica oder das unschuldige Latowicz. Dort ließen sie immerhin die Schule stehen.

Der Kopf schmerzt. Manchmal ist mit den Schmerzen jetzt auch Glück verbunden. Wenn man in Ruhe liegen kann, ohne Sorge, dass das Telefon ruft oder ein Kind weint. Der Optimist vergleicht sein Geschick mit denen, die unglücklicher sind, der Pessimist mit dem der Glücklichen. Nicht nur jetzt, immer schon ging es vielen Menschen schlechter als mir. Und sei es, weil ich die Kraft habe, mein Leid zu tragen.

2. Dezember  Die Häuser werden wiederaufgebaut werden, die Äcker wieder Früchte tragen, die Ställe neue Generationen von Vieh hervorbringen. Wer bringt die Kulturschätze, die geraubten Museen, die aufgegebenen, geschlossenen wissenschaftlichen Institutionen zurück? Das alles geschieht deshalb, weil die Deutschen keine polnische Intelligenz brauchen, die eigene ist ihnen genug. Auf der Straße begegnen mir möbelbepackte Fuhrwerke. Für ein, zwei Scheffel Kartoffeln kann man so viel kaufen! Die Pelze und das Kristall der Reichen kommen jetzt in den Besitz der einstigen Hungerleider.

Besuch. Ein Deutscher kauft etwas bei meinem Bruder. Er fragt: »Wären Ihnen die Sowjets lieber oder wir?« Keiner von beiden. »Natürlich. Aber wenn es nicht anders ginge?« Ich weiß nicht, wie die zweite Antwort lautete.

18. Dezember  Nicht nur Hitler denkt, dass die Juden an allem schuld sind. Die größte Sorge (eines gewissen Teils) der Jugend ist, was man »hinterher« mit ihnen anfangen soll. […] Es geht die Kunde, dass in Łódź das ONR25 sich bereitwillig den neuen Herrschern angenähert hat. »Es schadet nicht, dort Kontakte zu haben«, heißt es mit dem Gedanken an Protektion.

Man redet von Plänen, das Schloss zu sprengen, deshalb sollen die Leute 48 Stunden lang ihre Häuser nicht verlassen dürfen. Ein ähnliches Schicksal soll den Denkmälern bevorstehen, in Łódź wurden schon einige zerstört, Kościuszko26 liegt in Trümmern. Auf ihm steht ein Soldat. Sie lassen sich fotografieren wie Großwildjäger in der Savanne, den Fuß auf dem Kopf des erlegten Löwen.