Warschau, 10. Februar Ich habe lange nicht geschrieben, zuletzt wohl Mitte Dezember in Wielgolas. Die Feiertage verliefen unerwartet gut, das heißt Heiligabend und die beiden darauffolgenden Tage. Es waren viele Personen versammelt. Ich hatte jede von ihnen zu Wort kommen, in ihrem eigenen Ton sprechen lassen wollen. Doch die Krankheit und der Tod meiner Schwester trieben die Gedanken und das Herz in eine andere Richtung. Eine schwere Woche. Ich musste die Arme an die Schwelle zum anderen Leben geleiten. Sooft ich den Tod einer Person von Nahem erlebe, habe ich den Eindruck, dass hinter dieser Schwelle nichts ist. Nur der Zerfall des Körpers. Vielleicht ist deshalb jeder Tod ein ewiger Abschied und damit umso schmerzhafter.
Ich war noch gut zwei Wochen in Wielgolas und beobachtete gleichgültig die wunderbare Blüte des Januars. Dann die Rückkehr im Schlitten nach Warschau […]. Die Wohnung war kalt, was ich mit einer Erkältung bezahlte. In die Krankheit fiel die Nachricht von einem Banditenüberfall auf Wielgolas. Er war für den 7. Januar geplant gewesen, die Nacht von Milas Tod. Aus Furcht, dass die Deutschen im Hof stehen könnten, hatten sie den Raubzug verlegt.
15. Februar Die Kälte raubt den letzten Rest Energie. Was bleibt, um sich innerlich zu wärmen? Auf dem Plac Narutowicza liegen reglose Wale aus Schnee. Im Park stehen die Bäume, weil es ein distinguiertes Viertel ist, in Bielany werden sie als Brennmaterial gestohlen, obwohl Herren aus verschiedenen Ministerien Wache stehen. Unbewaffnet, sie bekommen fünf Zloty am Tag.
22. Februar Im Bett der Entschluss: Das Alltagsleben notieren, vor allem, um dem Marasmus entgegenzuwirken. Gestern bei den Wysznackis. Der Haushalt lebt auf kleinerem Fuß als früher, aber mit denselben Tendenzen. Die Familie hat den Krieg in Warschau durchgemacht. Alle arbeiten. Die Tochter hat auf ihrem Posten Verwundete und Tote getragen. Später im Lazarus-Krankenhaus, selbst als die Ärzte schon abgezogen waren. […] Heute vertieft sie sich ganz in die Medizin. Die Mutter ist rasch in den normalen Schulalltag zurückgekehrt, obwohl ihr das Deutsche Probleme macht. Als sie als Direktorin die Schule wiedereröffnete, wusste sie – zum ersten Mal im Leben – nicht, was sie den Kindern sagen sollte. Sie ließ das Rätsel der Veränderungen ungelöst. […]
Später mit anderen Damen zu Lardelli. Durch das Gespräch zog sich das Problem der Beschaffung von Lebensmitteln – was wo zu bekommen ist. […] Der Krieg macht Appetit, aber befriedigt ihn nicht, deshalb richtet sich alle Sorge auf dieses Thema.
27. Februar Gestern bin ich durch Straßen gestromert, die aussahen wie in der Provinz. Schmutzig, verwahrlost, schlecht beleuchtet, willkürliches Überqueren von Kreuzungen. Ein völlig anderes Publikum. Zugleich hatten sie etwas vom alten Warschau […], als es noch keine Fahrbahnen gab. […] Außer dem Brennen in den Augen ständige Stiche ins Herz. Das offenbar noch empfindsam ist. Bei Wedel hing eine Bekanntmachung: Man darf weder an jüdische Geschäfte noch an Juden verkaufen. An der Kierbiedź-Bibliothek der Schriftzug: »Zutritt für Juden verboten.«
1. März Ich breche auf zum evangelischen Krankenhaus, zur Zahnärztin. Jedes Mal nehme ich möglichst einen anderen Weg, um so viel wie möglich zu sehen. Wird das die letzte Leidenschaft sein, die mich verlässt? Nowolipki. An einer Stelle ist die Straße mit riesigen Leitern versperrt. […] Platz für Trümmer, die jeden Moment herabfallen können. Aufgebaut sicher von den Arbeitern, die schon mit Hämmern die Mauern des Gebäudes abklopfen. Die Juden gehen trotzdem weiter, manche laufen über die gefährdete Fläche. Ich zögere, aber dann mache ich einen Bogen um die Stelle. Ich, die Furchtlose? Ich wollte meine Nerven schonen, und vielleicht ist ja Israel auch, wie der Araber, Fatalist?
Zurück gehe ich durch die enge Mylna, die Długa, an »unserem« Café vorbei. Im Sommer haben Dresdner und ich dort das herrliche Eis genossen. […] In der Długa haben wir Häuser angeschaut. Hier wohnte Mochnacki, hier Lelewel. Wir planten einen Film über das alte Warschau. Ich hatte eine historisch-künstlerische Dokumentation im Sinn. Mirski hätte sich darum gekümmert. Auf diesem Weg sehe ich in der Altstadt einen Christus mit weggerissener Stütze unter den Füßen. Der harmlose Kiliński27 fuchtelt mit dem Schwert. Vorbei an den im letzten Jahr ausgegrabenen Mauern, gehe ich durch das offene Tor in der Piekarska, das freilich mit der Warnung »Achtung, Seuche« versehen ist, zurück in die Świętojańska. Wie im Mittelalter bei der Pest. Ob sie noch weiter gehen und, wie in Łódź, ein Ghetto errichten?
In den Verband zum Mittagessen. Das Ganze heißt jetzt »Literarische Küche«. Wieder Suppe aus Gemüseschalen, eine vitaminreiche Neuerung?
2. März Was tun? Das bisherige Leben fortführen, Notizen machen, einem Chronisten gleich die flüchtigen Fakten festhalten. Damit eine Spur von ihnen bleibt. Ein Dokument für die Zukunft … Wenn es nicht überdauert oder von niemandem genutzt wird, sei’s drum. Ich habe das Gefühl, dass ich meine bescheidene Mission erfülle. […] Jemand sagt: »Gut, dass abends um acht das gesellschaftliche Leben außerhalb der eigenen vier Wände endet.« Man kann nicht mehr auf Kosten des Geldbeutels und der Gesundheit bis Mitternacht Gäste bewirten. Obwohl, meine liebe Cousine war immer am meisten auf ihr Ansehen bedacht. Und jetzt kann sie nach dem Mittagessen zum Bridge einladen. Bridge – die einzige Sache, der weder der Krieg noch Hitler etwas anhaben können.
Anfang März Gestern haben wir Marmelade gekauft. Sie hat die Farbe von Möhren. Dabei entspannt sich die Lage in den Geschäften, sie sind nicht mehr so leer wie Ende Januar.
»Lass mich nicht so viel Leid ertragen, Herr, wie ich kann«, höre ich jemanden auf der Straße sagen. Der Mensch ist kein Held mehr, wie noch zu Beginn des Krieges. […] Es gibt noch mehr Blutsauger als früher. Natürlich sehe ich auch positive Beispiele. Die junge Wysznacka arbeitet heldenhaft im Krankenhaus, der Priester Zenon Kalinowski nimmt Scharen die Beichte ab, Stanisław Piotr Koczorowski hütet die Bibliothek in schweren Zeiten. Und in allen anderen.
Es hieß, in Warschau seien 60 000 Menschen getötet worden, jetzt wurde eine Null gestrichen. Eine Marktfrau aus einem nahen Dorf bringt Butter. »Für wie viel?« »Nein, ich will kein Geld?« »Wie bitte?« »Ich will etwas aus Gold.«
7. März Fela ist fest entschlossen, zum normalen Leben zurückzukehren. Und ich? Erst schien es mir meine Aufgabe zu sein, Material zu sammeln, um ein Zeugnis der Zeit, der traurigen Wahrheit zu schaffen, dann suchte ich im Schreiben Halt, inzwischen ist es mir zur Gewohnheit geworden. Davon abgesehen fürchte ich keine Zukunft, erwarte nichts für mich. Wenn ich von etwas »träume«, dann von Gift. Einer sicher in einem Teil der Garderobe eingenähten Dosis, sicher verborgen wie die Brillanten, die man jetzt im Knopfloch der Weste versteckt.
Zu Rita Rey28. […] Sie war in Krakau. Dort herrschen Niedergeschlagenheit und Furcht. Gotische Lettern bezeichnen die Straßen. Die Sigismund-Glocke ist stehengeblieben. Sie lässt sich nicht einmal mit elektrischer Kraft bewegen. Aus der Marienkirche wurden während der Messe Kunstwerke und Kultgegenstände entfernt. Uns blieben die Restaurants »Żywiec« und »Pod setką«. Ansonsten: Juden und Polen verboten. Ebenso die Hotels. Das Tannenberg- und das Kościuszko-Denkmal sind fort. Mickiewicz soll Hitler weichen.
10. März Ich mache beim Frühstück Notizen auf einer Papierserviette, später tippe ich sie auf der Maschine ab. […] Was vor knapp einem Jahr noch eine böse Vision war – der plötzliche Anblick des Hakenkreuzes auf dem Schlossdach (nach der Einnahme von Prag) –, sehe ich jetzt real am Akademischen Haus gegenüber. Der freundliche Märzwind rollt das rote Tuch zusammen und wieder aus. Damals scherzte ich mit der entsetzlichen Prophezeiung, zur Empörung der Mirskis und Dr. Dresdners, die mich an diesem Abend besuchten. Nun erfüllte sie sich, wenn auch an einem anderen Ort. Der Doktor hat ein sehr gutes Gedächtnis, er hat das von mir skizzierte Bild bestimmt noch im Kopf. Wie frage ich ihn? Auf privaten Ätherwellen?
17. März Gegen Abend […] habe ich einen langen Spaziergang gemacht. Die Staszic-Kolonie29 wird teilweise abgerissen. Jedes einstige Haus bildet eine eigene Trümmerschicht. Das große Warschau leuchtet heute backsteinrot – wie geronnenes Blut. Im Licht der untergehenden Sonne ähneln die Mauern den Felsen am Dnisterufer. Auch dort schuf eine Katastrophe, wenn auch keine historische, große Flächen mit kräftigen Farben. Erstarrt und abgeschlossen in ihrer Entwicklung, aber wie lebendig und schön. Nicht so wie hier. Was muss dieser Anblick in einem Menschen auslösen, der sein mitunter jahrelanges Zuhause in Trümmern vorfindet? Wie Karol Irzykowski. Die Arbeitstage, die Bibliotheken, alles, was ein Literatenleben ansammeln kann.
Wir haben Krieg, doch mangelt es nicht an Langeweile für die Zivilisten. Ich war […] in der Literatenküche. Welch geistige Leere, obwohl es manchmal voll ist. Normalerweise gäbe es ein unglaubliches Palaver, jetzt hört man Flüstern, Andeutungen, allenfalls Begeisterung über einen Hund, der de la compagnie ist, oder über die Klößchen. Die Abwechslung im Speiseplan tut gut, die Klößchen sind klar, fast durchsichtig, mit Zwiebeln garniert. Man könnte eine zweite Portion vertragen. Die Gesichter der Gäste sind blass, verängstigt, fast wie die, die man im seuchengefährdeten Bezirk zu sehen bekommt. […] Danach war ich in der Mazowiecka, im Lesesaal der Schriftstellergenossenschaft.30 […] Guter Tee und genug Zucker. Doch wer kann sich diesen Luxus leisten, der 50 Groschen kostet? Ich habe Zeitschriften in drei Sprachen gelesen […].
Schmutz und Unrat. […] Die Maske des Schnees ist von Warschaus Gesicht gefallen. Ich irre buchstäblich durch den Häuserfriedhof der Stadt. Das Terrain von der Chmielna […] bis zur Królewska links von der Marszałkowska ist mit Stacheldraht verbarrikadiert. Manchmal will man zu einem Haus und stellt fest, dass man von der anderen Seite kommen muss, um hineinzugelangen. Weil der Weg von Trümmern versperrt ist. Die leeren Augenhöhlen der Häuser starren in die Tiefe. Telegrafendrähte hängen an dünnen Seilen. Was, wenn ein stärkerer Wind sie packt?
Was tut sich im Untergrund, die seit Generationen bekannte Arbeit? Ich weiß nicht, wer dort arbeitet, welche Körner sie für die Frühjahrssaat vorbereiten. Manchmal bekommt man ein Zeichen ihres Wirkens direkt in die Hand, manchmal nur durch die Erzählungen eines glaubwürdigen Dritten.
Ich suche nach einer Handtasche, meine wurde in der Karowa gestohlen – von Verwandten der ehrlichen Hauswarte oder von zeitweiligen Treppenhausbewohnern? […] Die Handtaschenpreise schwanken wie heute alles, ohne jegliches ökonomisches Verhältnis zwischen den Dingen. Abwertung ist nicht das richtige Wort, aber wie soll man es nennen? Einfach die Logik des Lebens – alles Notwendige ist teuer, das Unverzichtbare am teuersten […]. Ich habe zwei Läden von gleichsam städtischem Aussehen entdeckt. Einen offensichtlich »arisierten« auf der Świętokrzyska, aktuell gibt es dort Meterware. Die Verkäuferinnen haben wenig Ahnung vom Geschäft, sie wissen nicht, wo sie die Preise suchen sollen. Der Patron spricht perfekt Deutsch und berät freundlich einen kaufenden Soldaten. »Bettina« steht auf dem Ladenschild. Die Buchhandlung »Arcta« heißt jetzt Gemeinschaftsgeschäft und hat sich in Kioske aufgeteilt. Einer verkauft Kerzen, ich habe mich für alle Fälle eingedeckt, als vorsorgliche Haushälterin. […] Ein anderer Kiosk verkauft Kurzwaren. […] Bücher gibt es auch, und wie. […] In der Abteilung »Zum Wiederentdecken« finde ich Iwaszkiewicz und einige Arbeiten zum Freimaurertum. Das nennt man auf Höhe der Zeit sein – sicher ungewollt. Auf der Suche nach einer Handtasche war ich noch im Kommissionskaufhaus in der Nowy Świat. Vom Charakter wie die »Bettina«, nur eleganter. Perlenketten, im Schaufenster moderne Möbel und einige schöne Schuhe.
In der Universitätskirche St. Anna das Grab Christi: Das Kreuz ist zerbrochen, eine Atmosphäre des Grauens, Feuer erhellt die Sterbeszene. Das fromme Volk schaut mit schmerzendem Herzen zu – während in diesen Tagen die Jungen, getrieben von Raubgier oder Furcht, den Einflüsterungen »Los, auf die Juden« erliegen und Jagd auf die leichten, sich versteckenden Opfer einer doppelten Bestialität machen.
Plakate kündigen Sportwettkämpfe in Zakopane an. Zu Ostern.
19. März Ich schaffe es nicht, den Menschen Gutes zu tun, aber noch kann ich kleine Freuden bereiten (Lebensmittel, Süßigkeiten).
Sie haben Kraft durch Freude, wir hatten während der Bombardierungen Solidarität, jetzt den erbitterten Kampf der abweichenden Interessen im Untergrund.
Ab April gilt die Sommerzeit. […] In Paris wurde am ersten Aprilwochenende, in der Nacht von Samstag auf Sonntag, nach der letzten Metro die Uhr eine Stunde zurückgestellt. Tags darauf erwachte ich morgens zu früh, weil ich noch nicht an die Umstellung gewöhnt war. Was tun mit der gewonnenen Zeit? Manchmal wusste ich es, dann nahm ich die Zugabe freudig an …
Die Deutschen haben den Kindern befohlen, zur Kirche zu gehen und das Andenken des Marschalls31 zu feiern. Angeblich sagen sie: Wenn der »alte Papa« noch lebte, hätte er es nicht zum Krieg kommen lassen. Meinen sie, er hätte Danzig abgetreten et tout ce qui s’en suit?
20. März Von draußen ist ein frühlingshaftes Hämmern zu hören, Menschen laufen durch Trümmer und Ruinen. Die Arbeit beginnt. Ich gehöre zum Typ der wählerischen, aber glücklichen Feinschmecker. Mir ist alles recht. […] Die Möhrenmarmelade ist wunderbar. Gestern habe ich zum ersten Mal seit zwei Monaten wieder einen Apfel gegessen. Das erste Telefonat. Ich habe kaum die Stimme gehört.
Eine Szene vor dem Hotel Polonia. Ein einhändiger, einbeiniger Invalide verkauft Zigaretten. »Guten Tag, Herr Bootsmann«, begrüßt er einen Kunden, der gerade als bloß dreißigprozentiger Invalide aus der Gefangenschaft heimgekehrt ist. Der hätte fast den Matrosen aus seiner Einheit nicht erkannt. Er setzt sich zu ihm auf den Boden »und beide weinten«32.
Ich habe der Wäscherin etwas Butter gegeben. »Das ist mein ganzes Osterfrühstück.« Fela hat Brot mitgebracht und entschuldigt sich, dass es nicht besonders frisch ist. »Es gibt heute kein unfrisches Brot.«
Wenn uns das ewige Leben erwartet, dann ist es gut, wenn nicht, ist es immer noch besser als hier. Warum haben die Menschen Angst vor dem Tod?
Gestern in der Tram war es scheußlich. An jeder Station Menschentrauben; die Starken drängeln sich vor. Wie kommt diese Mutter mit den Kindern nach Hause? Es ist nicht mehr nur eine Frage der Bahn, die man womöglich verpasst. Im Fall der letzten Tram kann es das Todesurteil bedeuten.
22. März Das Fotoplastikon. Als das Kino noch in den Anfängen steckte, ging ich in Krakau in die Floriańska, setzte mich vor die Gucklöcher und ging auf Reisen. Jetzt rufe ich mir die Welt in Erinnerung, die ich damals nur auf diese Weise kennenlernte.
In der Innenstadt treibt ein Mannweib sein Unwesen, halb männlich gekleidet, statt eines Feldherrenstabs einen Stock. In seinem Gefolge Jugendliche: »Heja, auf die Juden!« Zum Gefallen der vorübergehenden Deutschen. Eine Frau mit Armbinde fällt nach einem harten Schlag in den Schmutz. Jemand springt ihr bei. »Sind Sie ein Judenadvokat? Was haben sie Ihnen gezahlt?« Wie werden sich die Beziehungen später gestalten? Die jungen Leute, denen ich begegne, halten neben den Freimaurern die Juden für die Ursache unseres nationalen Unglücks.
Morgen werde ich allein schlafen, nach so vielen Nächten in unterschiedlicher, bisweilen zahlreicher Gesellschaft. Etwas, wofür ich kämpfte, als Teil des Daseins für mich und andere, die eigenen vier Wände hier auf Erden, wichtiger als ein Grab nach dem Tod – es ging verloren wie vieles andere. Jetzt bekomme ich es zurück – für wie lange?
Wie nach dem Tod eines lieben Menschen kehrt das Leben für andere langsam zur Normalität zurück. Die Warschauer Straßen werden heller, es gibt mehr Licht. Carpe diem, sagte man früher, jetzt heißt es: »Sei dem Augenblick voraus, dann kaufst und verkaufst du gut.« Man sieht sehr viele Bettler, mir scheint, ihre Klagen rühren niemanden als sie selbst.
29. März Aus den Wanderungen eines Originals. Ich bin mit der Tram 27 gefahren. Und habe in die andere Richtung aus dem Fenster geschaut als beim letzten Mal. In der Żelazna ein kubistisches Bild aus den Wänden eines zerbombten Hauses. Der Plac Bankowy in Trümmern. […] Durch die Rymarska in Richtung Leszno. Das Heilig-Geist-Krankenhaus ist komplett zerstört. Schmutzige Schneehaufen. Unwegsames Gelände. Scharen von Menschen mit Armbinden. Verkauf von blauen Davidsternen auf weißen Grund. Der Straßenhandel hat sich um diesen Zweig erweitert. […] Über den Plac Teatralny, durch die Senatorska Richtung Schloss. Die Straße ist verbarrikadiert, aber an der Seite kommt man durch. Was macht es schon, wenn einem ein Stück Mauer auf den Kopf fällt? […] Der Eingang in die Świętojańska ist mit Drahtverhauen versperrt und wird von einem Polizisten bewacht. Deshalb weiche ich in die Piekarska aus. An ihrem Eingang stehen zweisprachige Warnschilder: »Zaraza – Seuche«. Dazwischen ein Tor, so breit, dass sogar die Fuhrwerke durchpassen, die sich über den holprigen Straßenbelag mühen […]. Ich schlängle mich zwischen Passanten und Fahrrädern hindurch […]. Auf Umwegen gelange ich zur Korsettmacherin in der Świętojańska. Ein kurzes Gespräch über die lokalen Verhältnisse. Es gibt keine Seuche. Kein einziger Fall ist bekannt. […] Ich kehre auf den Plac Zamkowy zurück, wieder auf Umwegen. […] Das Schloss ist nach dem Brand und nach der Abnahme des Daches ein seiner alten Pracht beraubtes Skelett […]. Sigismund33 harrt geduldig aus.
Es nahen die Iden des März. Zum »NKW« wegen der Nummer mit der Chronik der Septembertage […]. Als ginge ich zu einer Redaktion, um einen eigenen Artikel abzuholen. Dann zu Koczorowski, dort treffe ich Zuzanna Rabska […]. Sie hat der Nationalbibliothek ihre Sammlung polnischer Lyrik der letzten vier Jahrzehnte zur Aufbewahrung gegeben. Was ist mit ihnen geschehen? Koczorowski steht in der Galerie meiner Bekannten für berufliches Heldentum. Im September brachte er Handschriften und wertvollere Drucke zum Fort Legionów, die er vor dem Feuer gerettet hatte. Während der kurzzeitigen »Herrschaft« der Vorstadtbewohner (27. und 28. September) hatte die Menge die wertvollen Bände geplündert und die anderen zerstört. Die Werke sind wieder an ihrem Platz, doch welches Schicksal erwartet sie jetzt? Bringen sie sie fort, um sie gegen Devisen zu verkaufen, die ihnen fehlen? Nicht aus Lust an der Vernichtung, sondern für den Profit.
1. April Im Zeitschriftenlesesaal ein Heft zum Feldzug. Unser Herbst in Bildern, aus Sicht der anderen Seite. […] Interessante Luftaufnahmen der zerstörten Hauptstadt. Das Inferno von Warschau.
6. April Der erste Aprilsonntag. Blauer Himmel, der Wind tut seine Pflicht und lässt die leichten Schals flattern.
Die Türme des Wiener Bahnhofs zerfallen einer nach dem anderen und stürzen ein. Ihre Ziegel haben dieselbe rötlich marmorierte Farbe wie Japan im Fotoplastikon. Ich habe es gestern gesehen wie in Jugendzeiten. […] Nur schaute ich damals mit größerer Neugier. Heute war ich fast allein – ich suche naiv nach Eindrücken!
8. April Die Bibliotheken müssen französische und englische Titel aus dem Verkehr ziehen. Damit versiegt eine große, heute die einzige Quelle geistiger Freuden. Alt und Jung preist heute das Lesen. Die Befürchtung, dass mir bald nur noch Felas Bibliothek bleibt, beginnt sich zu bewahrheiten. Jetzt, wo ich zur liseuse acharnée geworden bin, so viel lese wie schon lange nicht mehr.
Gewisse Punkte der misère de la vie verlieren an Gewicht. Es ist wärmer, man muss sich nicht mehr wie die Eskimos kleiden und im Pelz wohnen, das Telefon funktioniert wieder, man kann länger draußen sein. Dafür machen sich die Einschränkungen des geistigen Lebens stärker bemerkbar.
9. April Bald wird Efeu die frischen Ruinen umkränzen … Wie wird das Morgen? Ich bin nicht nur materiell in einer besseren Lage als andere. Die moralische bleibt unverändert. Ich habe nichts zu verlieren. Ich erwarte nichts mehr vom Leben, also kann man mir nicht die Hoffnung nehmen.
Wie jeden Sonntag war ich bei den Mirskis in der Aleje Niepodległości. Demokratisierung. Nachmittagstee […] mit Brot und Marmelade. […] Der abendliche Heimweg. Ein herrlicher Abend. Zu Fuß. Opernhaftes Licht und Farben. Der Horizont wie nach Rezept blutig, das Firmament blau, auf ihm der Halbmond. Und der vertraute Stern, der uns seit Monaten begleitet.
Vom 12. auf den 13. April Ich weiß noch nicht, wie die Mauern verlaufen werden, es kursieren phantastische Gerüchte. Ich selbst habe gesehen, wie vor den Augen der Passanten zwischen Marszałkowska und Sienna eine gleichsam opernhafte Mauer in die Höhe wuchs. »Sehen Sie nur, mit Zement«, bemerkte eine Frau. Auch auf der Królewska und in der Altstadt soll eine stehen. Man wird nur mit Passierschein herauskommen können, die Trams sollen im Transit verkehren. Ein Staat im Staat. Vielmehr eine Hölle in der Hölle!
Nach dem 23. April Der YMCA sammelt Bücher für Kriegsgefangene. Ein Anlass, in die Karowa zu gehen. Dort liegen vielleicht noch die Bücher, die letztes Jahr für politische Häftlinge bestimmt worden waren. Zofia Petersowa hatte die Übergabe verzögert. Sie ist nicht mehr beim Patronat, aber heute ist auch nichts mehr zu machen. Obwohl früher viel für den Pawiak34 getan wurde. Es gibt eine große Bibliothek, aus der Zuza Rabska sich Burckhardts Renaissance ausleihen konnte. Sie beklagte sich aber, dass sie nur selten Zeit zum Lesen gehabt habe, obwohl die Leidensgenossinnen Schweigestunden vereinbart hatten. Es kamen die dort üblichen Sorgen dazwischen, die Gespräche erforderten. Jemand wurde zum Verhör abgeholt, jemand erlitt einen Nervenzusammenbruch.
Die »Schutzmauer« in Warschau wächst. Noch ist nicht bekannt, wie sie verlaufen wird. Ich muss zu den Bekannten in der Złota, bevor die Zugänge gesperrt werden.
Außer dem »NKW« kaufe ich keine Zeitungen. Ich gehe in den Lesesaal, wo ich mich für 30 Groschen an einer größeren Dosis Gift berausche. Es gibt deutsche, russische, italienische und (in Rumänien erscheinende) französische Zeitschriften. Beim Studium der oft unverständlichen Artikel komme ich mir vor wie in einem fremden Land.
Die Deutschen haben 6000 Männer mit Armbinden verlangt. Sie bekamen 5000. Deswegen gab es eine Razzia am Sabbat. Auf dem Weg durch die Leszno sehe ich, wie sie Gefangene machen. Sie nehmen in lockerer Reihe die ganze Straßenbreite ein. Die festlich gekleideten Juden fliehen, verstecken sich in Hauseingängen und Winkeln, schicken die Kinder auf Kundschaft, ob die Luft wieder rein ist. Elegante Fräuleins halten Wache, sie warnen die Passanten: »Geh nicht weiter, kehr um.« Plötzlich höre ich fast neben mir die Stimme eines – buchstäblich – erst aufgespürten, dann gejagten Tieres. Gefasst! So urtümlich schreit der gequälte Mensch …
Mit dem Frühjahr verschmelzen die »Neuankömmlinge« mehr mit dem Ganzen. Das Grün irritiert weniger, zumal es auch bei Frauenmänteln in Mode ist. Die »Exotik« nimmt ab, wenn selbst in den Schaufenstern der Fotografen immer mehr Uniformen zu sehen sind.
Ein Hygienekomitee, so hieß es am Morgen, kontrolliert Betten und sogar Köpfe. Es war da, in einer langen Prozession zog es durch die Wohnung. An der Spitze ging ein junger polnischer Beamter, dann ein Polizist, eine junge Frau […] in einem Schutzanzug und ein junger Mann, der ihr fast ähnelte, sicher wegen des Anzugs. Das wären im Zweifel die Vollstrecker gewesen. Sie rochen nach Desinfektionsmittel, obgleich der Spezialist mit dem Eimer im Treppenhaus geblieben war. Bei uns war die Anwendung finaler Mittel natürlich nicht nötig. Der Anführer des Zugs entschuldigte sich höflich, sagte aber, wir müssten alle zum Präventionsbad. Morgen ist der Termin. Ich bin gespannt, wie diese Exekution ablaufen wird, obwohl ich es im gegebenen Fall vorziehen würde, meine Neugier nicht de visu zu befriedigen, der Bericht eines Augenzeugen würde mir genügen.
Ende April Eine starke Spritze schützt vor Krankheit … Ich hatte den Mut, nach Warschau zurückzukommen, darum ist mir vorerst nichts Schlimmes widerfahren. Noch stehe ich unter dem Regiment des Lebens, nicht des Todes. […] Ich esse genug, denn die verlorenen Pfunde waren eine unnötige Beigabe zur Leibesfülle. Natürlich betreffen die Güter, die ich im Gegensatz zu anderen besitze, überwiegend das äußere Leben, doch das ist schon viel. Ich habe die Provinz im Rücken, ich kann dorthin fahren, kann abends ohne schlechtes Gewissen Klunkersuppe essen, kleine Gefälligkeiten erweisen, jemanden in die Konditorei einladen, und das allenfalls auf Kosten eines billigeren Mittagessens tags darauf. Welch kleiner Preis für eine große Freude! […] Momentan habe ich mehr denn je Lust, zu geben, und ich frage nicht, was ich als Gegenleistung bekommen könnte. Ich möchte einfach geben, wenn ich Geld bekomme, denke ich zuerst an andere. […] Andererseits macht man mit diesen kleinen Hilfsleistungen auch der Seele etwas vor, die immer weniger an die alten Wahrheiten glaubt – den Fortschritt der Menschheit, die Möglichkeit einer allgemeinen Erneuerung usw.