Anfang Januar Beim Aufwachen zog heute vor den noch schlaftrunkenen Augen sehr lebendig ein Bruegel-Bild vorüber, das ich kürzlich in einer deutschen Zeitschrift sah: Die Krüppel. Mit Grauen, beinahe Ekel betrachtete ich diese Menschen, ihre schiefen Bewegungen und schmerzverzerrten Gesichter. Nur Bruegel vermochte das an Monstrosität grenzende Gebrechen derart darzustellen. Unsere jungen Männer humpeln fröhlich, aber im Alter … Vielleicht ist es gut, dass man sie trotz »Staatstrauer« im Glauben lässt, das Leben beginne morgen. Wie viele Beinamputierte es in Europa gibt und noch geben wird. Nicht nur Soldaten, die Zivilbevölkerung ist in gleichem Maße geschädigt […]. Überhaupt denke ich viel über unsere Schützlinge nach, mein Verhältnis zu ihnen klärt sich. […] Es gibt keinen Grund, sie zu Helden zu verklären. Oder Großes von ihnen zu erwarten. Jemand kann aus Zufall den Gipfel der Hingabe fürs Vaterland erklommen haben, ebenso wie ein anderer sein Leben oder seine Gesundheit geopfert haben kann, ohne es zu wollen. Sie sind einfach ein Teil der Gesellschaft, im Guten wie im Schlechten, und entsprechend muss man sie betrachten. Zufall oder Schicksal wollten es, dass ausgerechnet ich, die Pazifistin, ihnen ein wenig Hilfe bringe.
Der Fall Julia Dickstein-Wieleżyńskas, ihre Verhaftung. Sie sitzt in ihrem Zimmer, in das man nur über das Vorzimmer, das Esszimmer und den Flur gelangt. Drei Männer kommen herein, zwei in Zivil, einer von der Gestapo. »Warum haben Sie nicht angeklopft, was wollen Sie hier?« »Wir haben geklopft, aber mit den Handschuhen hört man das nicht.« […] Sie hatten die Tür mit einem Dietrich geöffnet. »Sie werden gleich erfahren, was wir wollen.« Sie dürfe hier nicht wohnen, sie trage teuren Schmuck, es folgt eine Durchsuchung des zweiten Zimmers mit besonderem Augenmerk auf den Strumpfbandgürtel. Sie durchkämmen die ganze Wohnung, plündern, was geht […]. Die Papiere rühren sie nicht an, wohl um den Schein zu wahren. Am Morgen soll sie verschwunden sein. Ein »guter« Bandit bietet ihr Hilfe an, obwohl die Delinquentin einräumt, sie habe kein Geld. »Das macht nichts.« Sie waren offensichtlich gut über den Schnitt der Wohnung und die Bewohnerin informiert. »Sie sind eine mutige Frau und werden nicht den Kopf verlieren.« Trotz weiterer Bemühungen der Polizei war nichts zu machen. Vielleicht, weil presser l’affaire nicht in Frage kam, damit nicht andere Dinge in den Vordergrund rückten.
Gestern habe ich im Krankenhaus einem Patienten aus einem Dorf bei Żółkiew einen Brief seiner Frau vorgelesen, sie hatte auf Polnisch geschrieben. Ohne Absätze, wie alle Bäuerinnen oder wie Proust. […] Sie schrieb von ihren Sorgen und der Arbeit, reihte falsch geschriebene Namen aneinander, der Kranke musste sie mir soufflieren. Ukrainische und polnische gleichermaßen. Gerührt hörte der Bauer, wie wacker sich seine Bäuerin schlägt. […] Wenn der Hund bellt, schrieb sie, laufen alle vors Haus, weil sie seine Rückkehr erwarten. Nur das achtmonatige Kind, das nach seiner Abreise geboren wurde, weiß nichts von seinem Vater. Doch es schickt »tausend süße Küsse«, zusammen mit der »wohlmeinenden Frau«. Der Brief kam an Heiligabend, der Kranke hat vor Freude stundenlang geweint. Er hat kein Geld für die Antwort, er musste die Kollegen fragen. Ich habe ihm 50 Groschen gegeben, die listigen schwarzen Augen haben sehr gelacht.
14. Januar Drei Stunden im Krankenhaus. Manchmal ist das Herz robuster, manchmal stark angefasst. Die armen Schlucker überhäufen einen mit schlechten Nachrichten. Einer erhielt einen Brief aus Nowogródek, die Familie ist umgesiedelt worden […]. Ein Oberst weint, man hat seine Tochter verhaftet. Einer hatte einen Passierschein und eine wichtige Sache in Czerniaków, er war schnell wieder da, weil es eine Razzia gab. Etwas Erfreulicheres, ein Schützling […] ist aus Żelechów zurück, wo er die Feiertage verbracht hat. Im letzten Augenblick hatte er die nötige Ausrüstung zusammenbekommen, die Hosen gab ihm eine Betreuerin, Skihosen ihres Sohnes, der in Gefangenschaft ist (sie hätte sie gut verkaufen können, sie ist in einer schwierigen Lage). Der Junge nahm sie unter Tränen entgegen. So konnte er drei Wochen »wie zu Hause« verbringen. […] Sie fertigen Ringe mit kleinen Adlern. Die Adler sind unterschiedlich gestaltet. Sie glauben, dass sie eines Tages fliegen werden.
Als ich gestern aus der überfüllten Tram stieg, half mir ein Flieger, der aus dem Waggon springen musste, weil man anders nicht herauskam […]. Ich sagte »Danke«. Ich weiß nicht, was das bedeuten soll, was das Schicksal mir damit sagen will […]. Ich komme nicht mit Deutschen in Kontakt und sehe im Verhältnis zu meiner Betriebsamkeit und Neugier sogar nur wenige Fälle, in denen sie ihre Macht missbrauchen. In Wielgolas habe ich mich mit dem Landwirtschaftsstarosten unterhalten, der sich entschuldigte, dass er kein Polnisch sprach, und der überhaupt sehr höflich war und ist. Das ist alles. Manchmal dringt etwas unmittelbar zu mir durch, etwa die Stimme eines hysterischen Weibsbilds, das in der Tram den Zugang zum deutschen Teil verteidigt.
18. Januar Gestern den ganzen Tag ein unruhiges Herz wegen Julia gehabt. Sie wollte mich für den Fall ihres Todes zu ihrer Bevollmächtigten machen. Der Tod ist heute weniger leicht zu haben als Folter, die leider wohl den Stärksten brechen kann. Ich bin bereit, diese Welt zu verlassen, aber ich weiß nicht, wie ich mich angesichts der Folter verhalten würde, von der ich höre. Andere sehen sie mit eigenen Augen: auf dem Bauch kriechen unter Knüppel- und Knutenschlägen oder Tritten. Mir erspart das Schicksal solche Anblicke. Oder sollte ich unerwartet fallen? Jeder muss heute damit rechnen. […] Schließlich stehen wir alle im Dienste Polens. Ich habe mir mich Individualistin nie derart fügsam vorgestellt. […] Heute, wo ich so wenig tue, eigentlich fast nichts außer der Arbeit im Krankenhaus, fühle ich mich unter einem strengen Regiment, und dem unterwerfe ich mich bereitwillig. Was ich an Bürgerarbeit noch auf mich nehme, erfülle ich wie ein Soldat. […] Ich habe mich verändert, ja, aber andere? Es hängen weiter so viel Hass, so viele ungelöste Konflikte über Polen.
20. Januar Nachrichten aus dem Ghetto, auf der Hauptversammlung des PRK35 sprach man sich […] dafür aus, alle Einrichtungen jenseits der Mauer aufzulösen. Aus Loyalität gegenüber den Herren. Und die Loyalität gegenüber dem IRK, in dessen Auftrag sie handeln?
Nach nebulösen Gesprächen und konspirativer Korrespondenz – ein Mann bittet mich um ein sicheres Rendezvous außer Sichtweite der Gattin – soll ich mich morgen mit Irena im Gericht treffen36.
22. Januar Mich verfolgt die Szene von Julias Auszug aus dem Elternhaus, in dem die Familie 40 oder 50 Jahre lang lebte. Wenn sie nicht freiwillig ausziehen, nehmen sie es ihnen mit Gewalt. […] Ich sehe diese unsichtbare Szene, ich habe den Ablauf vor Augen. Das Haus ist längst nicht mehr das alte, die Wiege so vieler Unternehmungen, für die es offizielles Lob und Ehrungen gab, Sitz so vieler Gesellschaften in der heroischen Zeit vor dem Großen Krieg und danach. […] Die ganze Nacht war ich in Sorge um Julia, in der Frühe ein Anruf […], ob ich ihr ein Paket mit Wäsche in die Daniłowiczowska37 bringen könne. Natürlich kann ich.
Das Treffen mit Irena war das einfachste der Welt. Das große Gerichtsgebäude hat zwei Eingänge, einen für uns und einen zweiten für sie. Der Treffpunkt war perfekt gewählt, im Warschauer Saal des pas perdus kann man sich im Gewirr anderer Gespräche ruhig unterhalten. Ich habe manches über das äußere und innere Leben derer erfahren, die manche privilegiert nennen – was drohe den Itzigs schon, allenfalls Zwangsarbeit, und der Umgang mit ihnen in den Lagern oder auf der Straße unterscheide sich nicht von dem, was auch wir kennen würden. Auf dem Weg vom Pawiak ins Ghetto und zurück [üben die Spezialisten noch auf der Straße], ein Passant bekommt die Knute zu spüren, ein anderer das Bajonett, und der Herr Architekt wird mit dem eigenen Stock so verprügelt, dass er nach zwei Wochen immer noch nicht aus dem Bett kommt. Sie spielen auch mit menschlichen Gefühlen. Ein eleganter Advokat muss Pferdeäpfel vom Boden in seine Melone […] sammeln. Nebenbei befehlen sie einem Greis, einen selbst für junge Menschen zu schweren Karren zu ziehen. Irenas Vater tanzt mit seiner Tochter unter einem Regenschirm zu den Klängen des lokalen Orchesters. Man besucht keine Grippekranken, sondern Zusammengeschlagene. Der Typhus bricht aus, wo die Deutschen wollen, dann sperrt man Straßen oder Häuser und gibt sie gegen Lösegeld wieder frei. […] Es gibt Büros, in die man gegen eine »Kaution« von einigen Tausend Zloty eintreten kann, ohne später für seine Arbeit entlohnt zu werden. Aber man ist vor Zwangsarbeit geschützt. Die Reichen sind also wie immer im Vorteil. […] Überhaupt ist überall, wie auch bei uns, »des Volkes Geist vergiftet«, die Aggressoren haben großenteils erreicht, was sie wollten.
6. Februar Ein Liebesbrief von Julia. Die Verschwörerin aus russischen Zeiten schreibt ohne jede Rücksicht auf andere oder auf die Umstände. Komplimente wie beste Frau der Welt oder Freundin werfen dort, wo man die Karte zuerst liest, kein gutes Licht auf die Adressatin. Wie viel Leben in dieser Frau steckt, sie fragt nach ihren Pflanzen und Büchern und ob das Arbeitszimmer vermietet ist. Selbst hinter Gittern verschwinden die Alltagssorgen nicht.
14. Februar Literarisches Bridge, die gängige neue Form des Symposiums. Was gibt mir das? Intellektuell wenig, ästhetisch auch nicht viel, mehr Ermutigung fand ich im Gespräch mit einem Soldaten beim Grammophon. […] Vielleicht ist es nur für mich nicht der richtige Ort, ich habe mit diesen Leuten nichts gemein. […] Mir sind rein gesellschaftliche Versammlungen lieber als literarisch unterfütterte; was die Literatur betrifft, ziehe ich die existierenden Bücher denen vor, die das Heute hervorbringt.
20. Februar Vielleicht ist es nicht mehr meine Zeit, und der gesunde Lebenssinn, den ich immer hatte, bewahrt mich vor unnötigem Energieaufwand. Ich verwende heute viel mehr Kraft für fremde und allgemeine als für eigene Zwecke. Die Dinge gehen son petit train, vorläufig ohne materielle Erschütterungen, ohne Alltagssorgen. Die Anomalien indes sieht man auf Schritt und Tritt, jedes Gespräch macht sie bewusst. Derzeit ist es die Aussiedlung der Juden aus den Vororten. Die Methode ist […] immer dieselbe. Es heißt: Ihr sollt ins Warschauer Ghetto, man treibt sie aus den Häusern, die bis auf den Grund geplündert werden, anschließend badet man sie in heißem Wasser, dann steckt man sie in frisch desinfizierte Kleider. Alles ungeachtet der Außentemperaturen. Man lädt sie auf Wagen und los geht’s, inzwischen packt man sie sogar in Keller und Hauseingänge, denn es mangelt an Platz für das nicht auserwählte Volk. Am einstigen Wohnort beginnt der zweite Akt, die Bevölkerung stürzt sich auf die schon durchwühlten Häuser und sucht gründlicher nach versteckten Schätzen. Fensterrahmen werden aus den Mauern geschlagen, Türen zerstört, Fußböden herausgerissen. Der dritte Akt: An diese verpesteten Orte bringen sie die polnische Bevölkerung aus dem Reich: Wohnt nun ohne Türen und Fenster, die eure Landsleute geraubt haben. Wussten sie, wer einzieht und wem sie schaden? Bisweilen ja, bisweilen nein, ohnehin war es ihnen egal, sie brauchten Brennholz und ließen sich von der Hoffnung auf Schätze verführen […].
Näher, auf Warschauer Terrain, ereignen sich »kleine« Szenen, die Feder scheut sich, sie zu beschreiben, aber sie muss, auch wenn ich die »Stimmung« des Grenzstreifens zwischen arischem und nichtarischem Bezirk nicht wiedergebe. Eigentlich ist es kein Streifen, sondern […] viele einzelne Punkte. Jüdische Kinder schlüpfen zum Einkaufen hinaus, sie nutzen die Unachtsamkeit, bisweilen Gutmütigkeit der deutschen oder polnischen Wachen. Mit Säcken auf dem Rücken kommen sie zurück. Polnische Halbwüchsige lauern ihnen auf, um ihnen ein Bein zu stellen, wenn sie in einem günstigen Moment über die Grenze huschen wollen. Sie stürzen, was den Durchmarsch verzögert und selbst die nachsichtigsten Posten aufmerksam machen muss. Zur Demoralisierung überlassen sie die konfiszierten Lebensmittel den Verursachern des Unglücks, die doch Bewohner derselben Erde sind.
Eines weiß ich, der Geist des Volkes hat sich nicht »zum Besseren« verändert, der Antisemitismus blüht weiter […]. Was hätte sich auch ändern können, wo die Winkel der Seele mit anderem Leid gefüllt sind? Die äußere Gewalt hat nicht zur Einheit geführt. Ich sollte wohl alle Illusionen über die Menschheit endgültig aufgeben. Sind wir nicht wie Treibhauspflanzen, die nur unter bestimmten, entsprechend geschaffenen Bedingungen gedeihen?
21. Februar Ein Zyklon in Portugal, ein katastrophales Feuer in Santander (Spanien), verheerende Stürme in Bagdad. Es gäbe so viel zu tun, um die Natur zu beherrschen, die uns Böses bringt, aber die Menschen fügen sich in einem Ausmaß weiteres Leid zu, wie es die boshafteste Natur nicht erfinden könnte.
Ende Februar »Auge um Auge«, wie im Alten Testament […], so werden wir es ihnen vergelten. Müssen wir? Allenthalben hört man in Anekdoten und wahren Schilderungen derartige Drohungen. Ein Betrunkener packt in einer überfüllten Tram einen Soldaten am Kragen und macht ihm für die Zukunft undiplomatische Versprechungen von einem Messer und einer durchgeschnittenen Kehle. Schreck, Unruhe, Stille. Der Soldat nimmt die Ankündigung ruhig hin, sie ist eindeutig, auch wenn man die Sprache nicht spricht. Dann erklärt er in gebrochenem Polnisch, er sei auf das Schlimmste gefasst. Im Volk kursieren heimlich Gerüchte zu den Vorbereitungen, hier wie dort. Der Rat: Merk dir, wo dein Bauer das Benzin und die Axt hat. Der Heimweg der Gefangenen und Zwangsarbeiter, auch der Opfer von Razzien, soll vom Schein der von ihnen gelegten Brände erhellt werden. Das bislang menschliche Herz erbebt vor solchen Bildern. Wir haben in unserer Geschichte die Parole »Für unsre und eure Freiheit«38, eine andere wird hinzukommen: »Für unsre und eure Schuld.«
6. März Gespräch zwischen Mutter und Sohn vor Gästen (wie sie privat reden, weiß ich nicht): »Es wird gewiss alles gut.« Sohn: »Gewiss ist nichts, aber man kann immer hoffen.« Er wirkte nie wie einer, der von der Hoffnung lebt. Aktuell arbeitet er im Hotel Bristol, die Mutter sagt: »Man muss sich an das neue Leben anpassen, soll er die Hotellerie lernen.« Zuvor machte er im Landwirtschaftsministerium Karriere, wurde wegen seiner Sprachkenntnisse zu vielen Kongressen geschickt. Im Hotelgeschäft braucht er sie sogar, obwohl im heutigen, neuen Europa eine Sprache genügt.
Aus »hygienischen« Gründen – Tausende Menschen betrachten Bücher und verbreiten dadurch »Krankheitserreger« – soll der Straßenverkauf von Büchern verboten werden. Die Bouquinisten in Paris schaden den deutschen Soldaten nicht, die Brötchen auf der Straße sind nicht einmal, wie es in guten polnischen Zeiten die Hygiene verlangte, mit Musselin abgedeckt. Es ist sicher illegaler Handel, also werden ihm keine Regeln auferlegt. Man drückt ein Auge zu.
10. März Eine Karte von Julia. Sie lebt offensichtlich noch immer nur im Umkreis der Marszałkowska. Was anderen geschieht, berührt sie nicht. Sie bittet, ich solle mich um ihre Bücher, Manuskripte, ja Pflanzen kümmern. Wie die Ärmste gehungert haben muss, um von ihren Rationen Mehl, Zucker usw. aufzusparen. Mehr denn je gilt heute die Maxime carpe diem, vor allem wenn es ums Geldausgeben, das Verteilen von Habe und Essen geht […]. Ein »kleiner Vorrat« muss aber bleiben, das ist mein Grundsatz. Umso mehr, als es nicht auf Kosten des Heute geschieht, sondern vom superflu abgeht.
21. März Begebenheiten von gestern: Ich steige am Plac Narutowicza in die Tram 27. Ins Abteil für Deutsche kommt eine Bekannte der dort sitzenden Flieger. Sie scherzen: »Auch nach Palästina?« Wir fahren. Der Grenzübertritt, wie üblich mit Geschrei, Angst, Wartezeit […]. Zum ersten Mal sehe ich eine Tram mit […] Davidstern. Für die Fahrt braucht man wohl eine Erlaubnis, zudem ist sie sehr teuer. Ich steige […] in der Chłodna aus, nehme den schon vertrauten Weg. Er ist weiß, die Häuser gehören zum Ghetto, ebenso das Trottoir, die Fahrbahn ist »unsere«, ein recht hoher Zaun trennt die beiden Interessenssphären, doch durch die Bretter hindurch kann man Kontakt halten. Ein Polizist wendet dem Austausch von Geld, Briefen und sogar Waren den Rücken zu, ein anderer schreit: »Abstand vom Zaun!« Stoff für wenigstens eine Novelle: Die Menschen hinter dem Zaun – nur kann ich mir heute nichts ausdenken. Ich versetze mich in Situationen und Bekannte hinein, bin aber nicht – mehr – imstande, das in »literarische Werte« zu überführen. Als ich das schöne Gerichtsgebäude betrete […], sehe ich an den Wänden des nun nichtarischen Nachbarhauses ein großes Kreuz, hoch aufgehängt, wie es bei uns häufig vorkommt, wenn die Erbauer oder Handwerksmeister fromme Leute waren. Heute ist dieses Kreuz ein Symbol für, wirklich, ich weiß nicht was, wohl für unendliches menschliches Leid. Im dritten Stock setze ich mich hin und warte. Anwälte und Anwältinnen spazieren vorbei, ihre Mandanten und solche wie ich, die Justitias Haus aus anderen Gründen anzieht. Ich sehe einen älteren Herrn, gut gekleidet, die Kleidung freilich verschlissen. Er tritt näher: »Frau Wyleżyńska?« »Ja.« Es ist der Vater von Irena, mit der ich mich gleich treffen soll. Er macht nicht den Eindruck, als ob er es eilig hätte. […] Offenbar ist der [Aufenthalt in] diesem neutralen Gebäude für die [jüdische] Bevölkerung eine Art geistige Erholung. Wie sich herausstellt, hat er nämlich nicht [geplant oder] erwartet, jemanden zu treffen. Er freut sich […], küsst mir die Hand und bedankt sich: »Sie sind so gut zu uns.« [Dann] setzt er seinen Spaziergang fort und lässt mich mit Irena allein. Anschließend kommt Ludwika Kramsztyk dazu, die ich seit Ende Oktober nicht mehr gesehen habe. Sie freut [sich über meinen] Anblick, als wäre ich ein Teil ihres früheren Lebens. Dabei kennen wir uns kaum. Wie ein beschenktes Kind nimmt sie die Süßigkeiten dankbar an. Irena […] packt den Käse in ihre Tasche, in der sie das Werkzeug ihrer jetzigen Arbeit als Manikeurin transportiert – früher war sie Fremdsprachenkorrespondentin einer großen Firma in Łódź, eine ausgezeichnete Stellung.
Nachmittags in Ritas schöner Wohnung, der Tee wird auf alte Art serviert, wenn auch »kein echter«, das Gespräch ist oft akademisch. Nur die Karte von Konstancja Hojnacka aus Lwów, an mich adressiert, zeigt eindeutig, dass es drastische Veränderungen gegeben hat. Ich soll ihr schreiben, aber bitte ohne die Anrede »Pani«, und als Adresse nicht Ulica Listopada, sondern Ulica Engelsa angeben. Es ist aber zu sehen, dass diese Frau sich wie immer über Wasser zu halten vermag.
26. März Julia hat die mit dem Lebensmittelpaket geschickten Medikamente nicht erhalten. Vielleicht, weil die Ampullen nicht mit einem Rezept versehen waren und für Gift gehalten werden konnten. Die Rezepte hatte ich zerrissen, die ausstellende Ärztin bestand auf derartiger »Diskretion«. Die Leute fürchten sich vor allem. […] Ich gehe zum Patronat und frage, ob sie helfen können. […] Wie langsam sind doch wir, die wir noch in scheinbarer Freiheit leben, in unserem Handeln. Obwohl meine Schwester stichelt, ich ließe mich von allen »ausnutzen«. Ich empfinde es nicht als unwichtig, was ich tue, es hält mich im Gleichgewicht und lässt mich glauben, dass mein Leben zu etwas nütze ist.
2. April Gestern Morgen war ich in der Daniłowiczowska, um ein mit vereinten Kräften gekauftes Lebensmittelpaket für Julia abzuliefern. Hinterher der normale Kreuzweg über den Platz Teatralny zum Lesesaal in die Mazowiecka. Mit einem Halt am Grab des Unbekannten Soldaten. Deutsche Soldaten traten heran, salutierten, lasen die noch vorhandene Aufschrift auf der roten Tafel von 1863. Zur neuen Saison neue Kränze, Weidenkätzchen mit Bändern in den Nationalfarben. Wie früher brannte ein ewiges Licht […]. Der Plac Marszałkowski war von Lastwagen zugestellt. […] Mehr zum Gruß gereckte Arme als anderswo. Offenbar der Sitz der treu Ergebenen. An anderen Orten grüßen sie sich mit gewöhnlicher militärischer Verbeugung. Zwei Wagen mit Schulbänken fuhren vorbei, die Schulen ziehen auf der Suche nach einem Obdach durch Warschau. Manche haben schon drei Mal den Ort gewechselt. Die Kinder schleppen die Möbel, die […] Erwachsenen organisieren wohin. In der Mazowiecka eine Überraschung, das Pariser Magazin »La Gerbe« […]. Vor Rührung konnte ich kaum lesen.
23. April Ich lese Lion Feuchtwangers Geschwister Oppenheim. Europa, wie unbedacht wir waren. Was in Deutschland 1933 mit den inneren Feinden geschah, wurde auch auf die äußeren angewandt. Alles deutete darauf hin, dass die auf dem heimischen Markt erprobte neue Ordnung auf weiterem Terrain etabliert werden würde. Die rechten Schriftsteller waren wohl doch weitsichtiger. Ich denke da etwa an Henri Berauds Ce que j’ai vu à Berlin (1926) oder an Jacques Bainville, der im »Gringoire« regelmäßig warnte. Die Demokratie glaubte an ihre Kraft, andere Demokraten anzuziehen. Aber wie sollten sie zu Wort kommen, wenn sie unterdrückt wurden?
30. April Welche Wonne muss es sein, sich in so stürmischen Zeiten zu lieben … Die Stimme der früheren Aurelia Wyleżyńska beim Anblick eines einander sehr zugetanen Paares in der Tram.
»Wenn sie nur auf die Sowjets losgehen würden« – so »träumen« manche in der Hoffnung auf neue Posten, die derzeit immer penibler an Ukrainer, Russen und Volksdeutsche vergeben werden, so dass nur schlechtbezahlte körperliche Arbeit übrigbleibt. Die Intelligenzler leisten sie nicht auf höheren Befehl oder weil sie sich selbst nicht mehr achten, sondern für das tägliche Brot, erbärmliches trockenes Brot, das heute der höchste Luxus ist. Der Preis ist von zwei auf acht, neun, zehn Zloty gestiegen.
7. Mai Ein Erkundungsgang über die Krakowskie Przedmieście. Wendes Apotheke heißt jetzt »Deutsche Apotheke«. Das Schloss zeigt immer größere Teile seines Skeletts. […] Ich wollte zum Plac Teatralny zur Tram 27, doch ich beschloss, in die Daniłowiczowska abzubiegen, weil ich dachte, dass in dieser stillen Straße selbst Schritte, die man oben hört, Zeichen eines anderen, echten Lebens sein könnten. Oder wurden sie vielleicht von Schreien, Streit, dem Lärm der Frauenstimmen in der Abteilung der armen Julia übertönt? Ich wollte kurz stehenbleiben, aber aus einer Nische kam ein Wachmann in grüner Uniform. Ich trat vorschriftsgemäß auf das Trottoir gegenüber der Gefängnismauer zurück. Vielleicht hat mich jemand gesehen, mich erkannt und sich über den gleichsam abstrakten Besuch gefreut.
Früher, das heißt vor dem Krieg, musste jeder […] von seinem oft uninteressanten Leben wie von etwas höchst Aufregendem erzählen. Der gewöhnliche Alltag lieferte Material für stundenlange Gespräche. Jetzt reden die Leute lieber nicht darüber. Wem es besser geht, der hält es für sicherer, keinen Neid zu wecken. Und wer abgestiegen ist, der will sein Elend nicht offenlegen. […] Ich habe Irena im Gericht getroffen, auch sie erzählt ungern von sich und ihrer häuslichen Situation. […] Als ich 1939 für einen Vortrag in Łódź war, wohnte ich bei ihr in einem eleganten Zimmer, auch der Rest des Hauses war auf einem hohen kulturellen Niveau. Jetzt höre ich, dass in einer Vierzimmerwohnung schon zwölf Personen leben, was dem Quartieramt immer noch zu wenig ist. […] Sie hatte nie Kontakt zu den Menschen, die jetzt ihre Brüder sein sollen, kannte ihre Lebensweise nicht, als Europäerin, der die jüdische Mentalität fremd war. Jetzt ist sie unter schlimmsten Umständen mit ihnen zusammengepfercht, und ein Teil ihres Schmerzes verwandelt sich in Abneigung gegen die unfreiwilligen Verursacher ihres Schicksals. Die ursprünglichen Einwohner von Nalewki ertragen das gewiss anders als die Hinzugekommenen. Irena sieht die Widerstandskraft der an die Armut Gewöhnten und sie quält der Gedanke, dass diese unversehrt aus der Bedrängnis kommen, die Intelligenzler aber zusammenbrechen könnten. Weil wir uns recht oft treffen und offenbar manche Gerichtsdiener auf Personen achten sollen, die nur zum Reden herkommen, fragt wieder ein […] Ordnungshüter, worauf wir warten. Wir […] weichen in einen Sitzungssaal aus. Dort wird ein banaler, öder Fall um unbezahlte Rechnungen eines Hausbesitzers verhandelt, Fragen und Antworten, wir flüstern uns politische und gesellschaftliche Neuigkeiten ins Ohr. Sie glaubt contra spem spero? Soll sie ruhig. Das hält einen aufrecht. […] Vor dem Hintergrund des drögen Gerichtsverfahrens umreißen wir knapp die Lage »bei uns« und »bei euch«. Zuerst natürlich die Versorgung: Was kosten Brot und Kartoffeln? Bei ihnen ist es teurer, ein Kilo Kartoffeln kostet bei uns zwei Zloty, bei ihnen drei. »Die Leute brechen vor Hunger auf der Straße zusammen.« »Das passiert auch auf der Marszałkowska«, betone ich rasch unsere Gleichheit. In Belgien verhungern die Leute in großer Zahl auf der Straße. Erst gestern hat mir jemand erzählt, wie Passanten zur Hilfe eilten. »Und wie reagiert man bei euch?« »Unterschiedlich, der Tote bleibt liegen, manchmal legt ihm jemand eine Zeitung aufs Gesicht.« Wie kann man auch an die Toten denken, wenn die Lebenden in ständiger Gefahr sind? »Die Gestapo schießt aus dem Auto nach rechts und nach links, sie feuern aufs Geratewohl in die Leute.« Das höre ich in einem Raum, der Justitia geweiht ist! Wo hart bestraft wird, wer seine Pflichten als Hausbesitzer oder Mieter vernachlässigt.
Wielgolas, 9. Juni Gestern haben wir zum Valse Brillant Mittag gegessen. Aus der Stille des von den Deutschen okkupierten Salons klang plötzlich die von unsichtbarer Hand gespielte Melodie herüber. Manchmal genügt der Klang eines Liedes, und diese Menschen sind für mich keine Feinde mehr. Zwischen den weißen Fliederbäumen trocknet nicht allerweißeste Soldatenunterwäsche, es gibt in Wielgolas keine Ecke ohne eine Spur ihrer Anwesenheit.
Ein Offizier kommt in die Eingangshalle. Er sieht sich neugierig um. Bohdan sagt für alle Fälle rasch: »Das ist ein Teil unserer Wohnung.« »Ich schaue nur. Schöne Möbel und noch unbeschädigt … Das sieht man selten.«
Gespräch der Schwester mit einem Unteroffizier auf Französisch, er hatte sie um Vermittlung im Tauschhandel gebeten, denn anderen gibt es nicht. Brot gegen Eier. […] Er bedauerte unsere bombardierte Hauptstadt, das Ghetto, er fürchtete, von dort könnte eine Seuche ausgehen. Er sagte, in Deutschland würden alle jungen Männer eingezogen. Er beteuerte, plötzlich erregt und nun in seiner Sprache: »Ich bin nicht schuld am Krieg!«
22. Juni Beim Frühstück höre ich die Neuigkeiten. Jemand hat die Nachricht von irgendwo mitgebracht. Heute Morgen hat es begonnen. Ist das wahr? […] Der 22. Juni, ein historisches Datum. 1812 machte sich Napoleon ebenfalls auf den Weg nach Moskau.
Ich beobachte die Deutschen. […] Sie sind stark, wie von Anfang an. Wir sind sogar geistig schwach. Empfänglich für ihre Güte oder Höflichkeit. Ist sie zufällig oder berechnet? Einmal haben sie bei Regen die Hühner in ihre Baracken genommen. Wie rührend! Den herumstreunenden Kindern schenken sie Brot. […] Alten Frauen, jungen nicht, helfen sie bei der Arbeit! Der Tauschhandel […] verstärkt die Verbindungen zwischen den Völkern.
Am Morgen sind sie weggefahren, Erleichterung, nachmittags Motorenlärm.
Ich höre merkwürdige Stimmen, die Bauern folgen den Deutschen, sie plappern ihnen nach, die Juden hätten den Krieg gebracht.
23. Juni Gestern wollte ich gesund sein, heute zeigt sich, dass es schlimmer ist als gedacht. Das schwache Herz hilft der Lunge nicht. Liegen, sich auskurieren – der Arzt, ein hier gestrandeter Russe […], alle sind sehr gut zu mir. Mein Bruder gibt mir drei Mal am Tag eine Spritze. Ringsum ist es still […], von weitem hört man vereinzelte Schüsse. Also sind die Deutschen ohne Widerstand vorgerückt. Dennoch besteht weiter die Sorge vor einer Evakuierung. Ich weiß, dass ich in jedem Fall bleibe. Ich habe nicht die Kraft oder den Willen, nicht einmal das Bedürfnis, das Bett zu verlassen.
Ich soll so viel wie möglich allein sein. Nicht sprechen.
1. Juli Eine neue Teilung Polens steht bevor. Wie wird man sie nennen? Welche »Privilegien« wird die östlichste Mark erhalten?
6. Juli Gestern war der Hof voll von Soldaten verschiedener Formationen. Die Infanteristen waren müde, wie einst unsere. Sie haben nachts […] 50 Kilometer gemacht und weitere 50 vor sich. Zum Ausruhen warfen sie sich auf die vom ausgiebigen Regen ausgewaschene Erde. […] Beneiden uns vielleicht manche der Sieger? Eingeigelt in den größten Teil des Wielgolaser Hofs […] leben sie wie in der Einöde, am Rande der Normalität. Wir dagegen, in ein paar Zimmer gezwängt, sind zu Hause. Wir arbeiten, wir reden und – trotz allem – wir lachen, auch über sie. Nur im Garten wird ein Soldat von den unkrautjätenden Mädchen freundlich empfangen. […] Als ich auf altpolnische Art vorüberspaziere, flüchtet er verschreckt hinter den Zaun.
9. Juli Ein Zug von Juden, sie fliehen aus dem Ghetto, wandern vor sich hin. Sie kommen in die Küche. »Gelobt sei Jesus Christus.« Sie bitten um ein Stück Brot. Die Haushälterin sagt, an einem einzigen Nachmittag hätte sie 30 Bittsteller gezählt – Juden, Intelligenzler und gewöhnliche Bettler. Alle haben Bettelsäckchen bei sich. Auf dem Tisch steht eine Schüssel mit Mehl. Jeder bekommt eine Handvoll. Das Brot reicht nicht aus, aber sie wissen, was sie mit dem Mehl anfangen.
11. Juli Ich liege am offenen Fenster, nicht mehr im Bett, sondern auf dem Sofa. Der Körper träge und starr. Ich wünschte, mich trügen irgendwelche Geister – und sei’s in den Himmel. Das Herz ist immer noch sehr schwach.
Es heißt, die Bolschewiken hätten sich ausgezeichnet verteidigt, die Deutschen seien auf einen verzweifelten Gegner gestoßen, manche sagen »auf Schufte gleichen Kalibers«.
Ein Offizier hatte meine Schwägerin gefragt, ob man sich hier mit ungekochtem Wasser die Zähne putzen könne. »Marta, Marta, du machst dir viele Sorgen.« Mich treibt die Frage um, ob dieser Offizier noch lebt.
15. Juli Alle sind in die Waldkapelle gegangen, die Frauen aus den Gesindehäusern haben eine Messe bestellt, um für Regen zu beten. Wenn ihn das Feuer der schwersten Geschütze nicht herbeirufen konnte, wie sollte es dann Gott aus der Höhe gelingen? (Nachtrag: Die Messe muss allzu gut gewirkt haben, es hat geregnet und regnet bis jetzt, Anfang September.)
1. August Vor der Abreise aus Warschau ging meine Schreibmaschine kaputt, die ich einst liebte wie ein Kind. Hier fiel mir gleich nach der Ankunft die Uhr auf den Boden und hat bis jetzt keinen Arzt gefunden. […] Heute habe ich den kürzlich bekommenen Füllfederhalter zerbrochen. Ich denke: »Warum bin ich nicht gestorben?« […] Aber ich lebe. Und genese sogar mit Appetit. Die Freude an der Luft, dem Park, den Feldern. Selbst an der Hausarbeit, am Erbsenschälen oder Kirschenentkernen.
Der Bruder lässt einen Polizisten aus Latowicz holen, weil immer wieder Kartoffeln gestohlen werden. »Das wird noch schlimmer«, sagt der nicht gleich am Tatort erschienene Beamte. In der Tat, jeden Tag kommen neue Vergehen hinzu, man muss Nachtwachen aufstellen, nicht nur die Ärmsten stehlen, auch Flüchtlinge und sogar Bauern. Bisweilen wird jemand »in Krawatte« erwischt, was die Stallknechte verwundert.
10. August Es ist, als schriebe ich damals, als die Unordnung der kleinen Welt so viele Schwierigkeiten machte! Nach Paris frappierten mich die provinziellen Verhältnisse. Großen Anteil daran hatte die Kirche, insbesondere ihre Vertreter. Sie haben sich kein bisschen geändert! Der Pfarrer trinkt bis heute echten Tee und raucht gute Zigaretten. Nach der Kirchweih gibt er einen Empfang. Bohdan hat die Einladung nicht angenommen, er fragt den Vikar nach Einzelheiten. Der vorherige Pfarrer, ein Asket und großer Patriot, hatte gesagt: »Ich bin in erster Linie Pole und erst dann Geistlicher.« Ein abgebranntes Gehöft baute er im Nu so auf, dass er ein Dach über dem Kopf hatte. Der jetzige hatte noch keine Zeit, sich fest einzuquartieren, also nutzte er das warme Wetter, um sich ein Esszimmer im Freien einzurichten. Sorgt das unter den Bewohnern des Weilers, unter denen auch viele Ausgesiedelte sind, nicht für Empörung? Das üppige Mittagessen wie auch die Pokerrunden mit Einsätzen um die 500 Zloty? »Nein«, sagt das Priesterlein treuherzig, »wir haben den Platz mit einem Sichtschutz aus Teppichen versehen und mit Ästen überdacht – im Kriegsstil! Und wir haben einen Mann angestellt, der mit dem Knüppel herumgeht und neugierige Späher und Lauscher verjagt.«
Nachtrag beim Abtippen Ende August: Ein Vorfall, der beide Seiten bewegte, unsere wie auch ihre. Eine Einheit hatte für eine Nacht Station gemacht. […] Sie schlossen sich im Esszimmer ein, um Kriegsrat zu halten, darum speisten sie nicht im Salon, der »Restaurant Casino Wielgolas« hieß, sondern baten, unser Esszimmer weiter nutzen zu dürfen. Hier aßen sie nach uns zu Abend und nahmen vor uns das erste Frühstück, Kaffee und weiche Eier. Am nächsten Tag fuhr einer der Offiziere mit […] Motorrad im Hof vor und erzählte meinem Bruder und der Schwägerin etwas, das zunächst ohne Zusammenhang schien. Er sei hier gewesen und habe seinen Ehering verloren. Wie sich herausstellte, hatte er ihn als Untersetzer für die Eier benutzt. Gestern sei der Namenstag seiner Frau gewesen und er habe plötzlich bemerkt, dass der Ring fehlte, den er seit zehn Jahren mit großer Liebe trage: »Ich habe auch Kinder, ich habe Kinder.« Der Verlust sei das schlimmste Omen für die ja keineswegs klare Zukunft. »Ich nehme den Ring nie ab, nicht einmal zum Waschen, warum habe ich ihn da abgenommen?« Er sitzt auf dem erstbesten Stuhl, erschöpft vom Weg (sie stehen schon am Bug), betrübt wie ein sentimentaler Liebhaber. Man versucht, die Szene zu rekonstruieren. Sie waren von Ordonnanzen bedient worden. Ja, aber in der Eile des Aufbruchs hatten nicht sie den Tisch abgeräumt, sondern unser Diener Józef und das Zimmermädchen Marysia. Sie gehen ins Esszimmer, er zeigt, wo er saß, verspricht der Dame des Hauses eine Belohnung, ruft wie in derlei Fällen üblich den hl. Antonius an und schlägt vor, im Müll zu suchen, vielleicht gebe es ja noch Abfälle der letzten Tage. Die ganze Kommission zieht los. Marysia, die mit einem Stöckchen herumstochert, entdeckt als Erste den goldenen Ring auf einem Stück Eierschale. Der Offizier wird rot vor Freude. Er will Marysia 20 Zloty geben, sie lehnt mehrfach ab, er notiert ihren Namen, will ihr ein Andenken schicken. Wir triumphieren, nicht nur weil der Ring sich gefunden hat, sondern auch weil die junge Polin die Belohnung des Deutschen zurückwies. »Ein Andenken, das ist etwas anderes«, sagte sie. Nicht nur bei uns wuchs sie zum Ideal der Uneigennützigkeit auf, der Offizier, der sich zuvor von den Kameraden ferngehalten hatte, eilte flugs ins Casino, um die Geschichte zu erzählen. Dann, o Wunder, verabschiedete er sich mit einem Handkuss von der Dame des Hauses, schüttelte Józef und Marysia die Hand, setzte sich aufs Motorrad und brauste davon. Der Vorfall wurde noch einige Tage lang von beiden Seiten kommentiert. Für mich war es die polnische Vergeltung für die Mädchen, die den Soldaten schöne Augen machen.
(Nachtrag: Ich weiß nicht, ob ich schon erwähnte, dass der Offizier kein Andenken schickte. Er kam nicht dazu, warum auch immer, denn ich bezweifle, dass er es vergaß. Wirkte vielleicht der Talisman bei den Sowjets nicht? Als klar war, dass keine Post von ihm kommen würde, habe ich Marysia einen Ring von unseren Soldaten im Krankenhaus gegeben. Sie soll ihr Andenken haben – ein besseres.)
Warschau, 19. August Theater mit den Trams. Weil das Personal nur sechs Zloty bekommt, was allgemein als ausreichender Arbeitslohn gilt, hat es – ich weiß nicht, auf welchem Weg – einen ungeschriebenen Pakt mit den Fahrgästen geschlossen: Du gibst die Fahrkarte zurück, und ich verkaufe sie ein zweites und drittes Mal. Als die Behörden per Bekanntmachung an den Wagenfenstern warnten, dass dieser Betrug mit Gefängnis bestraft werde, erfuhren auch die Ahnungslosesten von der Aktion, die daraufhin allgemeines Ausmaß annahm. Angeblich hat aber der listige Feind einen anderen Weg gefunden. Er drohte den Straßenbahnern mit Verhaftung, sollten ihre Tageseinnahmen geringer ausfallen als vor Beginn der Sabotage.
5. September Eine neue Sicht auf die Deutschen: Sie sitzen in Waggons, die an die Front fahren oder mit Verwundeten und Gefangenen zurückkehren. In Krakau haben sie die Mützen geschwenkt und mit leicht erhobenen bandagierten Händen die polnische Bevölkerung als verlässliche und vertraute gegrüßt – nach der Bekanntschaft mit den Bolschewiken. Angeblich sah man auch Hände in Handschellen, die sich verstohlen durch Waggongitter schoben und symbolische Zeichen machten. Man redet auch davon, dass Schwerverwundete an der Front eingeschläfert werden, damit sie leichter zu transportieren sind.
6. September Ein anderer […] Gedanke: Das Hitlerchen auf einen Spaziergang durch Warschau mitnehmen, irgendwo in der Gegend des Bahnhofs, wenn ein Zug ankommt. Wie die mit Säcken beladenen Personen herausstürzen, wie die Kartoffeln in kleinere Portionen aufgeteilt werden, in welcher Hast das geschieht, wie viel Staub auf die Lebensmittel fällt. Gut, wenn es nur Kartoffeln sind und nicht Fleisch, auf dem im Waggon ohnehin schon jemand saß, andere standen, fast tropfte ihr Schweiß auf das Fett. Schmutz und Staub – das sind die Folgen der deutschen Wirtschaft in der einstigen Stadt der Blumen.
Gestern brachte eine unbekannte junge Frau einen Brief aus Lwów. […] Auf dem Umschlag die vertraute Schrift einer sorgfältigen Maschine und die noch zu polnischen Zeiten aufgedruckte Adresse: Konstancja Hojnacka, ul. Listopada 28 m 6. Später hieß die Straße Ulica Engelsa, hat sie ihren alten Namen zurückbekommen? Sie schreibt […]: »Ich habe diese entsetzliche Zeit der bolschewistischen Herrschaft überlebt, aber ich bin nicht mehr dieselbe […] wie vor zwei Jahren! Vieles ist schwer aus dem Gedächtnis zu löschen, die Ohnmacht beim Anblick der Folterqualen anderer, selbst völlig fremder Menschen. Und […] das Warten auf die Deportation in eisigen Nächten, in Kleidern, mit einem kleinen Bündel unter dem Arm. […] Alles, was ihr in den Zeitungen gelesen habt, liefert nur ein blasses Bild unseres Lebens und des satanischen Mordens bei ihrer Flucht aus der Stadt. […] Von Dresdner weiß ich nichts.«
11. September Erst jetzt sehe ich, wie leidenschaftlich ich Zeitschriften gelesen habe. Ich suchte nach der Wahrheit zwischen den Zeilen. Erst in »L’Indépendence Roumaine«, dann in italienischen Zeitungen, vorübergehend glaubte ich dem Brüsseler Organ des russischen Exils, das aktuelle Schmierblatt kaufe ich nicht, in der Mazowiecka habe ich nicht einmal nach deutschen Illustrierten gefragt.
»Wir wollen, dass die Deutschen verschwinden, die Bolschewiken wegbleiben und die Emigrierten nicht heimkehren« – so schildert mir jemand die vorherrschende Meinung.
16. September Gestern war ich »betteln«, ich habe Lebensmittel für Julia gesammelt. Mit meinem Beitrag bringe ich sie in die Daniłowiczowska. Ich habe die Päckchen »hübsch« eingewickelt, damit schon ihr Anblick Freude bereitet. Wie sehnlich muss die Arme solche Boten aus der Welt erwarten.
3. Oktober Ich beende meine Lektüre von Kisielewskis39 Ziemia gromadzi prochy. Unsere Propaganda soll die erste Auflage aufgekauft haben, weil die Beziehungen zu den Deutschen damals gerade gut waren. Die zweite Auflage haben sie gekauft, als im Frühjahr 39 das Klima umschlug. So wurde mir gesagt. Aus historischer Perspektive ist das Buch weniger interessant […]. Dafür vergegenwärtigt es noch einmal die deutschen Methoden, die sie jetzt an uns praktizieren. […] Gut und objektiv herausgearbeitet ist auch das Wesen der Hitler’schen Reformen vor dem Hintergrund des Nationalcharakters. Früher sagte man: der Preuße, heute gilt das leider für alle Deutschen. Wie soll man mit ihnen weiterleben, mit Barbaren im Herzen Europas?
6. Oktober Das Gespräch als Überbietungswettbewerb: Die einen erzählen von den Qualen in bolschewistischer Haft, die anderen von deutschen Gefängnissen. Mir fehlte schon immer der Glaube an die bessernde Wirkung des Gefängnisses wie auch an die Verbesserung der Institution an sich. […] Doch was man hört, übersteigt jeden menschlichen Begriff – so hätte man früher gesagt. Heute hat sich der menschliche Begriff unendlich geweitet. In Bolschewien brachte man jemanden in einem Schrank zum Verhör, diese Schränke standen, einer neben dem anderen, auf einem Lastwagen – für einen Menschen zu klein zum Stehen, das war der Clou, man rechnete damit, dass er sich bewegen, seine Position ändern, den Kopf drehen wollte. Für einen Yogi wäre es vielleicht ein Klacks gewesen, aber für einen durchschnittlichen Erwachsenen … Apropos Yogi […]: In den Warschauer Straßen bietet sich häufig ein Anblick, den man unter dem Titel: »Hunger in Indien« aus Zeitschriften kennt. […] Nackte, abgemagerte Körper. Und ich und alle gehen an ihnen vorüber … Nachdem das für den Tag vorgesehene Quantum an Barmherzigkeit und Geld aufgebraucht ist.
11. Oktober »Mögest du während des Kriegs Beefsteaks herumtragen« – ein Aphorismus voller Selbstverdammung einer Architektin, die in einem eleganten Restaurant neuen Typs, in einer Privatwohnung, als Kellnerin arbeitet. Sie bekommt ein Gehalt und Suppe und dazu den Geruch des servierten Fleischs.
Nicht durchs Schlüsselloch und keine skandalösen erotischen Szenen, sondern von einem Dachboden aus und durch ein Fernglas beobachtet jemand das Lager der bolschewistischen Kriegsgefangenen, die vor einigen Tagen in die Ställe einer Tschenstochauer Kaserne einquartiert wurden. Sie kamen schwankend vor Hunger an, rissen Gras aus, um es zu essen, gute Seelen sorgten sich um ihre Nichtpferdemägen und schütteten Kalk über die Reste der Weide. Sterbt gesund! In der Mitte der Umzäunung entsteht ein Wachturm mit einem MG-Posten. Vive le progrès!
28. Oktober Es wiederholen sich die Nachrichten von Massakern an Juden in Litauen, in Kowno. Man bestimmte ein Golgota, befahl ihnen, Gräben auszuheben und sich an den Rand zu stellen, damit die Leichen problemlos hineinfielen. Dann schüttete man Kalk darüber und Schluss. […] Der Rabbiner hielt den Verurteilten eine Predigt, zeigte ihnen ihre Fehler auf, ihre Vergehen, deutete die Ereignisse als Strafe für den schlechten Umgang mit anderen Menschen, als sie in dieser Welt dank der Bolschwiken eine gewisse Macht hatten. Die »gerührten« Deutschen wollten ihn freilassen, doch er entschied sich gegen das Leben und ging mit »seinem Volk«.
31. Oktober Anordnung zu Allerseelen: Der 1. November wird als Feiertag gestrichen, jede Familie erhält eine Kerze, die bis vier Uhr nachmittags auf dem Grab brennen darf. Wegen der Verdunklung, aber sicher auch aus Spargründen. Die Gleichschaltung der Toten. […] Ich empfinde Lethargie. Erschöpfung der Seele. Ich bewundere die Haltung mancher Menschen, etwa den Heroismus des Doktors. […] Obwohl er seine Nerven nicht mit Kartenspielen oder Zigaretten beruhigt, zeigt er unter den traurigsten inneren und äußeren Umständen eine bewundernswerte Stärke. Von Weisheit erfüllte Güte, einen hellen, von Verbitterung freien Blick auf die Wahrheit. Meine geistigen Ressourcen sind erschöpft. Ich kann nicht länger Mut machen, mir jede Sorge, jedes Problem zu Herzen nehmen, selbst Rat zu geben fällt mir zusehends schwer, und nicht nur meine materielle Hilfe, auch die moralische wird jeden Tag schlechter. Ich freue mich immer noch sehr, wenn ich für jemanden Kontingentschuhe bekomme, ein Kinderkleid gebe ich weiter, als würde ich selbst beschenkt, aber meist ist mir alles egal. Sogar ich selbst …
Es ist schon Winter, eine böse Überraschung für alle ohne Brennmaterial, ohne Nahrung und nun teils auch ohne Licht. Nicht nur die Straße ist dunkel, sondern […] jetzt auch das Haus. Das Haus, das mir mitunter allein, weil Licht brannte, wenn ich heimkam, wie ein Glück erschien. Jetzt fällt der Strom aus, er bleibt den ganzen Tag weg, kommt abends kurz zurück und verschwindet wieder, zu unsrer Verzweiflung. Das Spiel geht schon seit Wochen so, unser Viertel darf großzügig daran teilhaben. Im Ghetto soll es tagsüber weder Strom noch Gas geben, manche Fabriken arbeiten nachts. Auch bei uns wird in vielen »Branchen« die normale Arbeit von den vorgesehenen Stunden in eine unpassendere Tageszeit verlegt werden.
12. November Ein Abenteuer in Warschau, möglich heute in jeder »europäischen« Stadt. Meine Schwester war gestern Abend auf dem Weg nach Hause. Ein Mann schlich um sie herum. Früher hätte sie es als Zudringlichkeit aufgefasst, jetzt ignorierte sie ihn, erst post factum begriff sie den Zusammenhang. Denn plötzlich trat ihr ein Polizist in den Weg, aber keiner in blauer Uniform […], die einzige Farbe, die sie mit polnischen »Ordnungshütern« verband. Sie tat, als spreche sie kein Deutsch, aber der Mann redete sie auf Polnisch an: »Sie kommen mit mir aufs Kommissariat.« Das unschuldige Wesen wäre tapfer mitgegangen, doch da war die Sorge: Habe ich meinen Ausweis aus der Handtasche genommen und in den Muff gesteckt? Wohl eher nicht. Sie fing ein Gespräch an. Warum aufs Kommissariat? »Weil Sie Jüdin sind.« Dass man aber auch aus den Kresy stammt und sein Lebtag leicht östliche Züge hat! Sie lachte und widersprach. Der Polizist fragte nach Namen und Adresse, sie sagte ihm alles, aber er beharrte: »Man hat mir gesagt, Sie sind Jüdin.« Dieses Mal glaubte er aber offensichtlich dem Opfer, nicht dem Denunzianten; er riet ihr: »Setzen Sie sich in die Tram und fahren Sie nach Hause.« Ich hatte gleich die Lösung für dieses deutsche Rätsel, das jedem begegnen kann – mir und dir und einem Dritten. Die jüngste Erinnerung an eine alte Verordnung trägt Früchte: Wer einen Juden oder eine Jüdin meldet, die sich auf unserem Terrain aufhalten, erhält nämlich 200 Zloty. Der herumschleichende Herr, der ihr in die Augen geschaut hatte, wartete sicher auf dem Kommissariat auf seine Belohnung. Diesmal bekam er sie nicht. Mit Schrecken denke ich an die vielen Menschen, denen das gleiche Abenteuer widerfahren kann – mit schlechterem Ende …
18. November In Warschau türmen sich die Leichen. An erster Stelle im Ghetto. Ein Bekannter sieht jeden Morgen die auf die Straße gelegten, mit Zeitung bedeckten sterblichen Überreste gewesener Menschen. Ein anderer erzählt, man trüge sie manchmal schon vor dem Tod aus den Häusern, um die Desinfektion zu vermeiden, mit der Durchsuchungen und Diebstähle einhergehen. […] Ich habe früher schon von Irena gehört, dass die dort geschaffene Miliz an Eifer selbst die Deutschen übertrifft. Letztlich weiß man im Voraus, was für Leute es sind, die sich freiwillig zur Gestapo melden, und was man von ihnen erwarten kann. Unsere Fanatiker sind nicht besser, und es gibt auch, wie ich selbst sehe, genug Polen, die sogar die Lage ihrer jüdischen Freunde ausnutzen. Ich denke dabei an eigenmächtigen Umgang mit zur Aufbewahrung anvertrauten Gegenständen, überhöhte Provisionen bei Verkäufen usw.
29. November Deutsche Kulturträger: Die Stadt liegt in Trümmern, die Bevölkerung hungert, der Lesesaal-Katalog ist auf die Hälfte zusammengestrichen, die Nächte sind dunkel, auf der Straße mischt sich Gesang mit dem Jammern der Bettler. Der Geist ist zu träge, um weiter aufzuzählen, was die Träger der neuen Ordnung bei uns vollbracht haben.
Vorweihnachtszeit Der Inhalt der Feiertagspäckchen für die kranken und verwundeten Soldaten im Ujazdowski-Krankenhaus: 15 dag Wurst oder Fleisch, 25 dag Kuchen, 10 dag Zucker oder Süßigkeiten, 1 Päckchen Streichhölzer, 20 Zigaretten, 1 Stück Seife, 1 Oblate, 1 Tannenzweig. Kleine Abweichungen gegenüber dem Vorjahr, mehr noch: ein Taschentuch als Geschenk ist heute undenkbar […], und Süßigkeiten sind momentan schwer zu bekommen.
21. Dezember Ich habe auf der Straße einem jüdischen Betteljungen etwas gegeben, er war halb nackt und sichtlich ausgehungert. Ein üppig gekleideter Herr kam näher und wollte mich tadeln: »Haben Sie nicht gesehen, das war ein Jude. Morgen steht er nackt hier.« Ich erwiderte ihm: »Geben Sie Almosen, wem Sie wollen, aber lassen Sie mich bitte in Ruhe.« Viele Leute machen solche Bemerkungen. Die Herzen der Menschen sind kein bisschen weicher geworden, obwohl ich auch Vorkriegsantisemiten begegne, die heute christlich gestimmt sind. Wahrhaft christlich.
Wie wird das künftige Polen aussehen? Ständig wird diese Frage gestellt und jede Partei antwortet voller Gewissheit: »So, wie wir es uns vorstellen.« […] Kinder, lasst Polen sein, wie es will, solange es existiert und wir uns seiner würdig erweisen! In dieser Hinsicht wachsen die Zweifel, die moralischen Hemmschwellen sind gesunken, einst unerlaubte, aber als Sabotage oder Protest gebotene Praktiken werden zum eigenen Vorteil genutzt, die Opportunisten stopfen sich die Taschen voll. Ein Anwalt sagte mir: »Ich ersticke in Geld, die Kinder laufen durch die Straßen und werfen ungestraft Steine auf alles und jeden, die Jugend ist demoralisiert, weil sie nichts zu tun hat, die Frauen geben sich hin, weil sie wissen, wie leicht sich abtreiben lässt.« Den letzten Punkt beklage ich nicht, ich war immer der Ansicht, dass man frei ist, sein Leben und eines, das man im Schoß trägt, zu beenden. Aber es sind typische Zeichen der Zeit, also notiere ich sie.
Weihnachten Heiligabend im Krankenhaus mit den Offizieren, letztes Jahr war ich demokratischer eingestellt und habe ihn bei den Soldaten verbracht. Eigentlich muss man die Reste der Armee eher symbolisch betrachten, der größte Teil wird der Republik keine Dienste mehr leisten können. Die Kinder glauben weiter an die Vertreter unserer Streitkräfte, das ist rührend.
Am 15. Januar wird Julia aus der Daniłowiczowska entlassen. Was steht ihr bevor? Ich kann nicht […] beim Patronat nachfragen, weil sie vor den Feiertagen beschäftigt sind, sie haben tausend Päckchen nach Oświęcim40 geschickt und wer weiß wie viele in den Pawiak und überallhin, wo politische Häftlinge sitzen.
Eine […] Reihe interessanter Geschichten handelt von Sabotage, wie unsere Eisenbahner Militärtransporte verzögern oder gar stoppen, indem sie Waggons mit eiliger Fracht auf Nebengleise stellen oder ihnen falsche Marschrouten anheften […]. Ein anderer Trost, keineswegs für Sadisten: Das Innere der Krankenwaggons zeugt beredt von der Versorgung der Verwundeten. Aus schlecht angelegten Verbänden rinnt Blut auf die Kissen. Wenn derartige Züge durch die Bahnhöfe rollen, Waggon um Waggon, schaut angeblich eine Menge schweigend in die Fenster, um dort Trost zu finden. Obwohl es momentan auch besorgte Stimmen gibt: »Wenn nur die Bolschewiken nicht kommen.« In der Tat, man muss sich entscheiden, wer Feind Nummer eins ist und wer den niedrigeren Rang einnimmt.
Ich habe wieder festgestellt, dass ich das mondäne Leben doch mag, einen schön gedeckten Tisch, die gute Stimmung bei einem schmackhaften Essen mit einem netten, […] intelligenten Tischnachbarn. Der Tee beim Doktor am zweiten Feiertag, gleichsam als Ersatz für das Café, war ebenfalls wunderbar. Ich brauche den Umgang mit lebendig denkenden Menschen, das Gespräch hat mir immer so viel gegeben.
Dieser Krieg hält viele Überraschungen parat, und sei es die von Hitler geteilte sowjetische. Wenn man sich über den Westen und das arme Polen empörte, weil sie das geheime Treiben des Nachbarn nicht durchschauten, nicht sahen, wie die Aufrüstung Deutschlands tatsächlich aussah, so haben sich die Bolschewiken den Augen der Welt komplett entzogen und ihre ganze Industrie auf Kriegsproduktion umgestellt. Niemand hatte mit der mentalen Reaktion dieses Volks ohne Liebe zu Boden und Vaterland auf den Widerstand zur Verteidigung der Einheit des Staates gerechnet. Kurzum: Stalin hat Hitler ausgetrickst.