Warschau, 1. Januar Die Modische Gattin53 ist heute eine junge Frau, die noch fast ein Mädchen war, als ihr Mann sie zurückließ. Er ging in den Krieg, landete dann im Oflag.54 Im Laufe von drei Jahren ist sie gereift und selbständig geworden. Sie arbeitet, ernährt oft eine Familie, trifft alle Entscheidungen. Was wird aus einer solchen Ehe, wenn er nervlich erschöpft zurückkehrt, lange isoliert vom aktiven Leben? Im konkreten Fall, von dem ich spreche, wahrt sie den Schein der Abhängigkeit. Als es ihr gelang, ein Telefon zu bekommen, ließ sie es auf seinen Vornamen registrieren. […] Ich verstehe zwar diese scheinbare délicatesse des sentiments nicht, aber im besagten Fall sehe ich […] den Wunsch, den fernen Gatten mit der Nachricht zu erfreuen: »Du hast ein Telefon.« Ob sie ihn tatsächlich zum Lächeln brachte, den jungen, etwas über dreißigjährigen Mann, der für die letzten zwei Tage der Verteidigung Warschaus zum Vegetieren hinter Stacheldraht verurteilt wurde? Wer weiß für wie lange? Auf dem Foto presst er die Lippen zusammen, die Augen schauen traurig. Auch ihr Gesicht wechselt den Ausdruck, wenn sie an ihn denkt, aber sonst ist sie heiter, beschäftigt mit ihrer Arbeit und dringenden Alltagsgeschäften.
5. Januar Élie Faure schreibt über die Schönheit des Skeletts, seine Klarheit und Zweckmäßigkeit. Seine vollendete Gestalt. Sicher, nur denken wir eben lieber über das Fundament des Körpers nach, als ein Gerippe in Reinform anzuschauen. Ähnlich ist es mit dem Umriss eines Gebäudes, seine charpente bildet die Stütze, aber erst umgeben von Materie erfüllt sie ihre Bestimmung. Das denke ich, während ich auf die Ruine des Königsschlosses schaue. Das kläglich in den Himmel ragende Dachgewölbe und die Seitenmauern bieten unverhüllt einen schmerzlichen Anblick. Aus den nicht von Haut überzogenen Knochen entflieht das Leben, ohne die schützende Hülle entschwindet der Geist aus dem Gebäude.
Konspirative Besuche; jemand klopft, ich öffne. »Ist Frau Soundso zu Hause? Ich bringe den neuen Mantel.« Man braucht Geistesgegenwart, darf sich über nichts wundern, muss alles für selbstverständlich nehmen. […] »Mantel« bedeutete in diesem Fall »Papiere«. […] Ein anderer fragt wieder: »Ist Frau Soundso da?« Der Hund begrüßt ihn, er tut so, als kenne er ihn depuis toujours. Als Empfehlung drückt er der Dame ein Kärtchen mit ihrer Adresse in die Hand, sie ist teilweise falsch. Wer nicht pfiffig ist und die Tricks nicht kennt, die man heute braucht, würde sich wundern: »Wie haben Sie mich gefunden, Haus- und Wohnungsnummer stimmen doch nicht?« Jeder hat eine eigene Methode, das Gedächtnis zu schulen. Einer addiert drei zur realen Zahl, ein anderer subtrahiert. […] Viele Notizbücher enthalten auch Listen – Kartenrationen kaufen, Schuhe abholen usw. –, hinter denen sich ganz andere Aufträge verbergen. Über gewöhnlichen Namen oder Alltagsdingen liegt ein kunstvoller und scheinbar irrationaler Überbau, der aber einer ganz eigenen Logik folgt.
Zum vierten Mal Banditen in Wielgolas! Das Haus ist befestigt worden: Die Fenster sind vergittert, die Türen verriegelt, Nachtwachen alarmieren mit einem Pfiff die Bewohner, die wissen, was zu tun ist, und ins Obergeschoss flüchten. Der Forstgehilfe besitzt mit behördlicher Genehmigung Gewehr und Revolver, auch der junge Gutsherr hat eine legale Doppelbüchse. Sie kamen um sieben Uhr abends, überwältigten den Forstgehilfen, gelangten aber nicht in Haus; womöglich auch abgeschreckt durch die anhaltenden Schüsse aus immer wieder anderen Fenstern und scheinbar von mehreren Schützen, raubten sie laut dem ersten telefonischen Bericht drei Paar Pferde aus dem Stall, ein Geschirr und eine Kutsche. Heute weiß man von einem Paar, das von allein zurückkam, das zweite gehörte dem Nachbarn, der zu Besuch gekommen war, das dritte wiederum war vielleicht rein fiktiv. Wie viel Angst und schlimme Momente aber alle durchlebten! Die Eltern, während der Sohn unter Lebensgefahr Schuss um Schuss abfeuerte, die Angreifer schossen zurück, die Kugeln schwirrten über die Köpfe, mein armer Bruder stieß im Dunkeln mit dem Diener Józef zusammen, er hat ein dickes blaues Auge … Tags darauf eine erfolglose Fahndung in der Umgebung, aber – »zum Glück« – wurden wieder Soldaten zum Schutz geschickt. In dieser Gegend ist es üblich, sich zu verteidigen, die Gutshöfe sind Festungen. In anderen Regionen herrschen geregelte Verhältnisse zwischen Gutsherren und Banditen. Sie kommen regelmäßig, um den vorab geforderten Tribut abzuholen, und setzen sich bei der Gelegenheit an einen reich gedeckten Tisch.
24. Januar Besuch bei einem Höhlenmenschen anno 1942.
Ich rufe St. P. Koczorowski an, ich will ihn in seinem neuen locum besuchen. »Sehr gern, aber ich muss Sie warnen, ich lebe wie ein Höhlenmensch.« Umso mehr zieht es mich hin. Er beschreibt den Weg: »Von der Graniczna links abbiegen. Bei den Trümmern beginnt meine Straße. Es gibt kein Namensschild. Ich habe kein Gas, keinen Strom, kein Wasser. Durch die Toilette, leider, kommt man in das einzige bewohnte der vier Zimmer.« […] Ich folge den Anweisungen, das Haus steht aber außergewöhnlich gut da, die Bewohner waren offenbar reiche Leute, sie mussten die Türen und Rahmen nicht verheizen … Koczorowski hat seine Lage übertrieben dramatisch dargestellt. Die von seiner Persönlichkeit und seinen Büchern geprägte Atmosphäre, die er aus Paris nach Warschau mitbrachte, erfüllt auch die neue Wohnung. Weil es mein erster Besuch ist, bittet er mich nach alter Sitte, die er wiederbeleben will, um einen Eintrag in sein Gästeheft. Er freut sich sehr, als ich die Stimmung so fasse: »In der Grzybkowska 9 fand ich Licht in einer Ruine.« Ringsum ist nämlich alles verfallen. Die Fenster im Parterre sind zugemauert (so konnte man sich im Ghetto länger verteidigen), die oberen sind leer, offen oder haben keine Scheiben. Vor der Grzybkowska türmt sich Schutt, aus dem hier und da eine zufällige Mauerformation herausragt. […] Aber es regt sich auch neues Leben, selbst am Sonntag hört man in der stillen Einöde Werkzeuge klappern, sieht eine vielleicht erst gestern geklebte Anzeige: »Tapeziere, streiche«.
25. Januar Ich vergaß zu notieren, dass das literarische Treffen, das seit zwei Jahren durch Warschau wandert, am Samstag bei mir stattfand. Der Referent Gralewski kam nicht, weil es – was sonst – Razzien gab, seinen Essay las Łaszkowski vor, der anschließend ein Kapitel aus seinem eigenen Roman Die Sänger von Nürnberg gab, eines, das man sorglos bei sich tragen kann, apolitisch, aber sehr erotisch. Unangenehm. Freilich galt mein Augenmerk weniger der Kritik als meinen Pflichten als Gastgeberin. Leckerer Barschtsch, roter Salat, grüne Schnittchen mit einem morgens zubereiteten raffinierten Aufstrich, andere mit Käse, als Gipfel der Vollkommenheit auf Brot. […] Clou des Treffens war die Nachricht von der Einnahme von Tripolis.
Ich schreibe ein Feuilleton für »Nowy Dzień«, der Titel: »Der Mensch, der Zeitung liest«. Mit dem Erscheinen einer Tageszeitung ändert sich vieles im Leben. Normalisiert sich. […] Wie ich gehört habe, wird die Zeitung nicht von Profis gemacht, sondern von Menschen guten Willens. Gedichte voller erhabener Ideen, aber in alter, manierierter Form, platte Karikaturen. Man schlägt einen Keil in Hitlers Seite, Generäle sitzen im Kessel. Der Ton ist sehr kämpferisch […], aber in Bezug auf den Feind in seiner gehässigen Vulgarität mitunter abstoßend. Dennoch sehe ich die große Bedeutung einer Tageszeitung, und die Reaktion der Leute, die sie dank mir lesen, macht mir bewusst, was sie für die breite Masse darstellt. Man könnte ihr noch die mangelnde Abstimmung der verschiedenen Meinungen innerhalb des Blattes vorwerfen, die sicher dem fehlenden persönlichen Kontakt zum Redakteur geschuldet ist, aber diese Gedankenvielfalt hat den Vorteil einer freien Tribüne.
26. Januar Ich habe jetzt eine Sekretärin, sie […] hilft mir beim Abgleich der von Fela abgetippten Tagebucheinträge mit dem Original, was meine Augen schont. Mit dem Ohr erfasse ich zudem stilistische Fehler besser, es geht nicht um die Klarheit des Stils, sondern um die Ordnung und deutliche Artikulation der Gedanken.
27. Januar Deutsche Frauen sollen Polen vor Straßenrazzien gewarnt haben; Tatsache ist, dass ein Soldat meiner Nichte sagte: »Lauf weg, da vorn ist es gefährlich.«
Das Ghetto hatte komplett liquidiert werden sollen, sie beschränkten sich auf 13 000, den Rest – 20 000 – ließen sie am Leben. Sie verzichteten sogar auf Vergeltung für die Tötung von Soldaten und Gendarmen. Wenn diejenigen, die heldenhaft gestorben sind, ihr Schicksal hätten wählen können, hätten sie dann womöglich gezögert und wieder abgewartet?
3. Februar Als ich gestern gegen sechs über den Plac Trzech Krzyży ging, dachte ich an den Friedhof zurück, der kurzzeitig unsere Helden barg. Die Stimme des Lautsprechers drang an mein Ohr, die letzten Meldungen aus Stalingrad. Sie stehen im Nahkampf, bisweilen stürzen sich zehn Bolschewiken auf einen tapferen Deutschen, wo sie bisher hinter einer Eisenmauer Mut zeigten, gehen sie jetzt mit bloßen Händen auf Panzer los. Ich kenne das. Polen, September 39. Steht ihr also schon so schlecht da wie wir damals? Wilde Freude ergreift das Herz …
4. Februar Gestern zwei Freuden – ein Brief von Rysio Łonżyński, dem Jungen droht keine Gefahr, es geht ihm sogar gut! […] Der Kleine bedankt sich in seinem sehr schön und korrekt geschriebenen Brief für das Geschenk und die Aufmerksamkeit, er fragt besorgt nach dem Doktor, von dem er seit mehreren Monaten nichts gehört hat. Er bittet um einen Besuch.
Die zweite Freude – eine meiner ganz eigenen, sie resultiert eher aus meinem persönlichen Empfinden denn aus Fakten. Żyranik kam zum Mittagessen. Er sagte gleich: »Ich fühle mich nirgends so frei wie bei Ihnen.« Das genügte, um mich in gute Stimmung zu versetzen. Es ist wieder wie früher. Die Pariser Patronin so vieler Polen breitet ihre Fittiche auch über Warschau aus.
5. Februar Ein Virtuti Militari55 und eine Medaille mit der Aufschrift »Dem Verteidiger des Vaterlands 1918–1921«. Sie gehören dem Doktor. Von der Uniform getrennt, gelangten die Auszeichnungen in die Lipowa. Er hatte mir auch seinen Wehrpass geben wollen, den ich einmal gesehen habe. Als verletzter Legionär zog er freiwillig in den Krieg gegen die Bolschewiken56, und auch am 1. September 39 meldete er sich unaufgefordert zum Appell. Das muss man in Erinnerung behalten.
6. Februar Wieder fremde Sachen im Haus. Zunächst verbindet sich damit die technische Frage des Transports. Die Person, die den ihr überlassenen Korb in neue Obhut gibt, will gleich die Verantwortung für alle Verluste abwälzen, sie verlangt eine Unterschrift. In ihrer Sorge geht sie zu weit, hegt selbst für den Weg diverse Befürchtungen […]. Sie übertreibt die Gefahr […], meine Nerven sind in den letzten Tagen nicht die besten, sie bringt mich zum Zittern. Mit der Rikscha, wie sonst, komme ich unbehelligt nach Hause, wenn auch zu einem überhöhten Preis. Nun folgt der zweite Akt, ich muss die fremde Habe legalisieren, sie in die eigene integrieren, beides miteinander verschmelzen lassen. Das ist eine noch eher äußerliche Operation, erfordert aber schon ein genaueres Durchsehen, Taxieren der Dinge, die für jemand anderen einen besonderen Wert hatten. Die Kleider verbinden sich mit Erlebnissen, die Kristallkaraffe – mit welchen Getränken war sie gefüllt? Wie viele Regungen hat wohl das Aufziehauto des Sohnes im Herz der Eltern geweckt? Wenn es einen Platz unter den Gegenständen fand, die der Vernichtung entrissen worden sind, um die Möglichkeit zum Leben zu erkaufen. Es ist peinlich und schmerzhaft, in all diesen Dingen zu wühlen, die nicht nur nicht mein sind, sondern auch nie für meine Hände bestimmt waren. Selbst Briefe enthält die »Sammlung«, ein unbewusster Leichtsinn, in der Hand von Nichtadressaten bekommt fremde Korrespondenz gefährliche Züge.
9. Februar Und sie bewegt sich doch: In Warschau häufen sich die Morde, unsere Leute vollstrecken Urteile des Geheimgerichts der Leitung des Zivilen Kampfes57. Fast öffentlich, nämlich vor den Augen seiner Familie, wurde der Verräter getötet, der Ing. Honowski wegen konspirativer Tätigkeit an die deutsche Polizei ausgeliefert hat.
12. Februar In die Aleje Ujazdowskie, zur Abteilung des Fürsorgerats, der für die Kinder von Armeeangehörigen zuständig ist. Die Leiterin hat ihre Sprechstunde für heute von 12 bis 15 Uhr angesetzt. Ich will über den Jungen sprechen, der bis jetzt glücklich in Konstancin versteckt ist. Ich fürchte mich vor dem Treffen […], sie wird dasselbe sagen wie vor einigen Monaten: »Bitte machen Sie etwas mit ihm.« Ich treffe die Amtsträgerin nicht an, obwohl es erst viertel nach 12 ist. Es ist unklar, wann sie wieder im Büro sein wird […]. Das unangenehme Gespräch fällt aus, so kann ich wieder auf Zeit spielen und mich über eine solche Amtsführung und die Missachtung von Kunden empören. Mir tut auch der Kleine leid, dem ich für nächsten Sonntag leichtsinnig einen Besuch versprochen habe. Er hat sehr darum gebeten: »Zu den anderen Kindern kommen die Eltern, zu mir niemand.«
Zu Hause finde ich einen sehr traurigen Brief vom Doktor. Er dankt für Rysio, für meine Güte, lobt sogar, was er nie tut, meine »Freundlichkeit und Wohlwollen« ihm gegenüber. Vielleicht lohnt es sich, wenigstens für einen Menschen der Glaube an die Menschheit zu sein.
14. Februar Ein Brief von Konstancja Hojnacka. Sie schreibt, dass Karol Lwów verlassen hat. »Die Bekannten zweifeln nicht daran, dass er zurechtkommen wird. Hoffen wir also das Beste.« Eine schöne, heute oft verwendete Phrase.
Anschläge, nicht nur bei uns. Überall – in Holland, Belgien, Frankreich. Wir kennen diese Methoden aus der Zeit der russischen Unfreiheit. Wir wissen, was folgt. Die Eliminierung unmittelbar schädlicher Individuen führt zur Notwendigkeit des Kampfs gegen das System […], das sie repräsentieren. Den polnischen Aufständen gingen ähnliche Taten voraus. Die Rationalisten fragten schon damals: »Ist es das wert?« Die Opfer, welche die Tötung eines Einzelnen nach sich zieht.
19. Februar Mir war immer ein bestimmter Prozentsatz von Dingen gleichgültig. Das erlaubte mir, meine Leidenschaft anderen zu widmen. Gerade kümmert es mich nicht, dass einer der Weihnachtsschuhe schon abgewetzt ist und die mühsam für 400 Zloty erworbene Uhr nicht geht. Dafür gebe ich mich jeder Art von Schreiben hin. […] Gerade habe ich für »Nowy Dzień« ein humoristisches Stück […], ein moralisches […] und einen in hohem Ton gehaltenen Appell […] fertiggestellt. Außerdem ist ständig Aktuelles zu notieren, ich denke auf verschiedenen Ebenen, Karten und Zettel lassen sich oft nicht entziffern. Typisch für mich. Der Gedanke fliegt weiter, saß nur wie ein Schmetterling auf einer weißen Blume … Komisch, manchmal brauchen wir eine angegraute Form, um eigene Erlebnisse zu beschreiben.
20. Februar Bei Julia im Sterbehaus, wie sie ihr Asyl nennt, finde ich Leben. Sie gibt einer jungen Frau Englischstunden – gratis. Sie ist nicht nur voller Pläne für sich selbst, sondern denkt auch an andere. Wie in alten Zeiten.
21. Februar Die Deutschen haben uns wieder einen Teil von Warschau genommen, sie haben ihren Wohnbezirk vergrößert.
22. Februar Gestern war eine ehemalige, aktuelle und künftige Amtsträgerin hier und hat geheime Rechnungen getippt. Eigentlich sollte jemand wie sie eine eigene Maschine haben. Sie hatte ihre »Adjutantin« geschickt, die erst meine ausleihen wollte, dann wurde es ihr wegen einer Durchsuchung in ihrem Haus zu riskant, ein fremdes Arbeitsgerät an sich zu nehmen. […] Also hat sie ein paar Stunden hier gesessen. Zuerst gefiel ihr die seltsame Anordnung der Buchstaben nicht (tatsächlich habe ich mir die Tastatur so einrichten lassen, dass sie für polnische und französische Texte taugt), dann beklagte sie, dass ich keine Fachkraft sei, ihr nicht sagen könne, wie man Ziffern schreibt, und überhaupt auf der Maschine bloß … Ihr fiel kein passendes Wort ein, ich half ihr: »improvisiere.« Was der Wahrheit entspricht, ich schreibe oder vielmehr wüte auf der Tastatur, und hinterher bringt jemand anderes mein Geschmiere in eine anständige Form. Ich habe mir alles angehört, als wäre ich schuldig, aber nicht lange, dann bin ich aus dem Haus geflüchtet.
»NOWY DZIEŃ« Warschau, 2. März 1943
Liebe Frau (?) Li!
Wir danken herzlich für die Feuilletons »Bote wider Willen« und »Wir und sie«. Nachdem Sie sich schon zu einem so schönen Beginn entschlossen haben, würden wir uns sehr freuen, die Zusammenarbeit mit Ihnen verstetigen zu können.
Weil aber jede regelmäßige Arbeit gewisse feste Normen erfordert, schlagen wir vor, dass Sie sich zu drei Feuilletons oder Artikeln wöchentlich verpflichten, aus eigener oder von Ihnen angeworbener Feder. Die Themen – Gesellschaftliches oder Propagandistisches aus dem Gebiet des Kampfs gegen den Feind. Ein festes Pseudonym wäre uns lieb.
Was die Übermittlung des Materials betrifft, überlassen wir Ihnen die Entscheidung – entweder auf bisherigem Wege oder durch den Boten, der die Zeitungen liefert.
Wir hoffen sehr, dass Sie unser Angebot annehmen und regelmäßig unsere Zeitung mit wertvollen Artikeln versorgen.
Mit kollegialem Gruß
Der Redakteur des »Nowy Dzień«
/–/ Witold
4. März und später Familiäre Geldzwistigkeiten. Gespräch mit meinem Bruder. Alte Vorwürfe. Ich habe ihn ratlos unterbrochen: Sollen wir mit einem Bein im Grab und in diesen Zeiten darüber streiten? Wie ein Alptraum verfolgen mich seine Worte … Und ich dachte ganz naiv, er hätte alles gestrichen, so wie ich es tat … […] In Wielgolas waren für einen Monat Gendarmen einquartiert. Abends saßen sie mit Zigarren im Foyer und wetteiferten, wer wie viele Banditen »zur Strecke gebracht« hatte. In diese Kategorie fällt für sie alles. Die dauerhaft stationierten Soldaten mieden ihre Gesellschaft. »Gute Deutsche«, und irgendwer glaubt das auch noch …
13. März
Lieber Herr Wi!
Vielen Dank, entschuldigen Sie, dass ich nicht geantwortet habe, seit dem 4. muss ich das Bett hüten. Ich kann ihre Bedingungen nicht zu 100% annehmen. Ich könnte mich zu keiner Regelmäßigkeit oder Artikelzahl verpflichten, auch wenn ich sehr wohl weiß, wie wichtig das für den Verlag ist. Ein festes Pseudonym halte ich nicht für angeraten. Man sollte besser die Aufmerksamkeit zerstreuen …
In jedem Fall bräuchte ich freie Hand in Themenwahl und Gestaltung, obwohl ich natürlich die lokale Zensur akzeptiere, die das Wohl der Zeitung wahrt, wenn ich es übersehen sollte. Einer Zeitung, für die ich als Leserin wirklich Dankbarkeit empfinde.
Ich versuche, in diesen Tagen etwas über eine frisch erschienene Anekdotensammlung zu liefern, aus der sich viel aufbauendes Material ziehen lässt. Ich denke nämlich, unser Kampf gegen den Feind darf nicht nur auf seiner Diskreditierung beruhen, die leicht ist, weil er viele Anlässe dazu bietet, sondern er muss auch die Gesellschaft aufrichten, den Glauben der Menschen an sich selbst wecken. Wir sehen, wie dieser Glaube schwindet.
Mit herzlichen kollegialen Grüßen
15. März Gestern hörte ich in einem schon halbdunklen Zimmer die entsetzlichste Geschichte, die mir im Verlauf dieser Jahre in die weit geöffneten Ohren gekommen ist. […] Ein Bandit ermordet einen Flüchtling auf dem Weg zur versprochenen Zuflucht in einem Bauernhaus, eine junge Frau, gefesselt im Dickicht, kann sich befreien, sie flieht, eine schreckliche Flucht ins Unbekannte, auf einem Weg, der sie zu Menschen führt, an Bahngleisen entlang, Bahngleisen bis zu einer Hütte, wo sie erschöpft zusammenbricht, zu viel Blut fließt aus der offenen Wunde am Bauch. Krankenhaus, Untersuchung, erneute Flucht, denn die Unschuldige und Verletzte ist auch – schuldig. Weil sie existiert, weil sie sich erkühnte zu leben. Sie erzählte gefasst, ohne Pathos, ohne Tränen in der Stimme. »Du wirst weiterleben, wer einem solchen Tod entging, der …« Ich fand keine weiteren Argumente, sicher hat sie Recht, wenn alle Überlegungen versagen, die sich auf die Normen der Gerechtigkeit stützen.
An diesem Tag war sie mir sehr nahe. […] Als ich sie unbekannterweise zum ersten Mal in meine Obhut nahm, wusste ich nichts von all dem. Jetzt verstehe ich viele Dinge besser. War ich vielleicht nicht gut genug?
Warschau, 16.III.43
Liebe Pani Aura!
Am Sonntag, dem 21. März, wird um zwölf Uhr mittags bei mir ein Bridge stattfinden. Ich lade Sie sehr herzlich dazu ein, mir ist sehr daran gelegen, dass Sie kommen. […] Ich rechne deshalb mit Ihnen und bitte um pünktliches Erscheinen.
Mit herzlichen Grüßen
Rita Rey
17. März Ich war draußen, nachdem ich zwei Wochen im Haus verbringen musste. Ein erbaulicher neuer Anblick. In den Höfen sammelt man Altkleider, Eisen und Glas – unser Zwangsbeitrag für den deutschen Sieg. […] Ich selbst habe wenig zur Rohstoffversorgung der Fabriken beigetragen, ich habe betrogen, so gut es ging … In die Lumpen habe ich schwerere Gegenstände gewickelt […], habe alles diskret mit Wasser eingesprüht, […] mehr neue Wege gefunden als je zuvor, um meine Plicht möglichst schmerzlos für mich und möglichst unvorteilhaft für sie zu erfüllen. Ich könnte mir die Methoden patentieren lassen oder wenigstens im »Nowy Dzień« beschreiben, aber wozu dem Dieb den Weg weisen?
20. März Gestern war das Treffen bei Rita, Władysław Heller las Stellen aus seiner Philosophie des einfachen Verstandes (nicht des gesunden, was dasselbe wäre, er bevorzugt diesen Begriff) […], eine groß angelegte Arbeit, ein Kompendium ökonomischer Weisheiten. […] Nachdem er einen Abschnitt gelesen hatte, die kurze Zusammenfassung eines großen Kapitels, fiel der Aeropag über ihn her, bestehend aus Irzykowski, Łaszowski und Bąk […], die ihre eigene Klugheit zur Schau stellten und den Autor auf unkultivierte Weise fast als Dummkopf beschimpften. Zumindest nannte der Professor dies und jenes Unsinn, der eingebildete Łaszowski zeterte, warum man das habe schreiben müssen; er wisse alles und könne, wenn er nur wolle … […] Dieser Mangel an Kultur, diese Galle, die sie anderswo nicht verspritzen können, aber offenbar kübelweise mit sich herumtragen, verdarben allen die Stimmung […], und als ich ging, schwor ich mir nicht zum ersten, aber wohl zum letzten Mal, mich von diesem Kreis künftig fernzuhalten.
22. März Ich hatte Besuch, einen Menschen, den ich fast 40 Jahre nicht gesehen habe. Seine ersten Worte: »Ich war in Sie verliebt.« »Ich weiß. Bitte setzen Sie sich. Ich bringe gleich Tee«, erwiderte ich ungerührt. Natürlich, unser ganzes Podolien wusste damals, dass Jan Mioduszewski, Student der Universität Kiew, in Aura verliebt war. Er schrieb ihr Gedichte, artikulierte seine Begeisterung auch in Prosa und lehrte sie außerdem die Grundsätze des Sozialismus. Später setzten andere diese Erziehung fort, vor allem ich selbst legte Hand an meine Überzeugungen. Er sagte noch: »Wie ich die anderen beneidet habe, Sie haben drei Mal den Namen gewechselt.« Ich versicherte ihm, dass ich immer ich selbst geblieben bin. Das ist für mich das Wichtigste, sich selbst treu zu bleiben und in diesem Geiste … Ich wurde unterbrochen, habe den Faden verloren.
3. April In den Schmierblättern zeichnen sie mit Kryptonymen oder Pseudonymen, weil sie sich ihrer Kollaboration schämen, auch wir verbergen unsere Namen, obwohl wir uns eines Tages vielleicht rühmen können, für das dunkle Heute und nicht nur für das helle Morgen geschrieben zu haben. Die Korrespondenz mit dem Doktor hat lustige Formen angenommen, wenn man es angesichts der tragischen Umstände so ausdrücken kann. Wir tragen beide Masken und haben obendrein die Rollen getauscht, er gibt sich als Frau aus, oft als meine Schülerin, ich als Mann. Neuerdings übermäßig dankbar, schreibt er wie eine Freundin […] an eine andere Frau. Dabei kommen sogar papierne Küsse heraus.
Die stille Ela hat mit einem netten Lächeln die Decke zurückgebracht, die ich ihr im Herbst geliehen habe. Sie hat sich ebenso selbstverständlich und natürlich bedankt, wie sie damals das Stück Stoff entgegennahm. Nur ich mit meiner dummen Phantasie witterte Gefahr: Wanzen, die mit der Leihgabe zurückkommen würden […]. Jetzt schäme ich mich umso mehr, als ich seinerzeit so ausführlich darüber geschrieben habe. Zur Strafe streiche ich diese Spur von Kleinmut nicht.
4. April Ich bin bei meiner Cousine, es erscheint eine »Weibsperson«, die mit Nahrungsmitteln handelt. Sie erzählt dies und das. Speck ist teurer geworden, seit dem 1. April dürfen keine Lebensmittelpakete mehr verschickt werden. Gleichzeitig zeigt sie ihre Ware, nennt den letzten Mehlpreis, kurzum – Markt im Esszimmer. Rasch ist eine schön geräucherte Schwarte gefunden. »Nein, das Stück kann ich nicht verkaufen. Auf keinen Fall. Weil Dienstag ist der Buchstabe Z dran. Ich hab’s ihnen versprochen, jeder Anfangsbuchstabe vom Nachnamen hat seinen Tag, an dem man Lebensmittel im Pawiak abgeben kann.« Auf diese Weise erfährt die Dame des Hauses, dass der Mann ihrer Bekannten und sein Sohn verhaftet wurden. Man hatte sie nachts aus dem Haus geholt. Die Frau erklärt: »Ich weiß nicht warum. Aber ich denke, irgendwie war das Vaterland im Spiel, Sie verstehen. Konspiration!«
7. April Ich gehe in die Buchhandlung, auf der Suche nach Pan Tadeusz58 für Zuza Rabska. Sie hatte eine reiche Bibliothek, jetzt ist sie mit einer Volksausgabe zufrieden. Aber Bücher sind sehr teuer geworden, zudem ist das Buch, das in jedem Haus steht, in der Hauptstadt nicht aufzutreiben … Ich frage die Besitzerin: »Sind Ihre Fensterscheiben nicht gesprungen?« »Neulich? Nein, das war ein Stück weiter.« Tatsächlich, am Arsenal sind an der Ecke Długa und Nalewki die Insassen eines Transporters befreit worden,59 an die zwanzig Gefangene, die nach dem Verhör in der Szucha60 zum Pawiak zurückgebracht werden sollten, darunter angeblich ein Oberst, an dem ihnen sehr gelegen war. […] Ihn hatte die Gestapo derart zu Brei geschlagen, dass er nicht mehr laufen konnte, sie mussten ihn auf einer (improvisierten?) Trage wegschaffen. Es gelang ihnen. Der Ort des Angriffs war gut gewählt, neben einer Ruine, sie konnten leicht einzeln verschwinden und ihre Spuren verwischen.
In solchen Fällen laufen die Blauen immer als Erste davon. Die Deutschen erscheinen manchmal erst nach Stunden. In Saska Kępa lag ein Polizist, an dem ein Urteil vollstreckt worden war, einen halben Tag lang auf der Straße … […] Momentan rechnen wir vor allem mit Polen ab, die – so niederträchtig – den Besatzern dienen. Denn sie ermöglichen die Razzien, denunzieren andere und schnüffeln herum. […] Die Spitzel sollten zuerst sterben, wir müssen uns von ihnen befreien, bevor wir unmittelbar gegen den Feind vorgehen. Langsam fängt es schon an. Immer wieder wird die Zahl 70 genannt, die sich auf höhere Amtsträger des GG61 bezieht, gegen die sozusagen vorab Urteile verhängt worden sind: Wenn ihr dies und jenes tut, werdet ihr mit euren Köpfen dafür bezahlen. Eine andere Liste umfasst 150 polnische Namen, mit denen unwiderruflich abgerechnet wird: Erwartet den Tod! Bisher haben wir alle unter einem ungeschriebenen Todesurteil gelebt, jetzt läuft die Sache in Bezug auf alle Schuldigen formell ab.
Mein Testament … Mitnichten in poetische Worte gefasst. Ich will es wirklich. Die Herausgabe dieses letzten Kindes meines Denkens und Fühlens. Von Horaz bis Puschkin wollte jeder Schriftsteller sich selbst ein Denkmal setzen. Nach Maß und Möglichkeit. Mein Wunsch ist, dass dieses Tagebuch veröffentlicht wird. Zu Lebzeiten oder posthum. Deshalb möchte ich das testamentarisch verfügen, seit zwei Monaten will ich zu meinem Cousin, damit er mir als Anwalt sagt, wie ich diesen Wunsch juristisch formulieren kann. Ich treibe die Sache nicht allzu eilig voran, wie man sieht, dabei wäre Eile geboten, heute mehr denn je, wo man weder Tag noch Stunde kennt.
Wichtig ist mir auch der Vorbehalt, dass niemand es wagen soll, auch nur das Geringste zu verändern, zu streichen oder ad usum der Familie zu bearbeiten. Ich erwähne hier gelegentlich die Haltung der Verwandten zu meiner Arbeit, also muss ich befürchten, dass sie, da sie zu meinen Lebzeiten Gleichgültigkeit gezeigt haben, nach meinem Tod dieses Material nach eigenem Gutdünken nutzen werden.
Gestern bin ich aus der Śniadeckich nach Hause gelaufen, es war unmöglich, in die Tram zu kommen, es gab Schlangen, die nur die Metro ungestraft hätte schlucken können. Auf dem Hinweg war ich zufällig ins deutsche Abteil geraten. Ich schämte mich vor mir selbst, fast wäre ich noch vor der ersten Haltestelle abgesprungen. Doch es gibt Leute, die sich als Deutsche ausgeben und das sogar als zulässiges Verhalten betrachten. Es ist kurz vor sechs, ich habe jüdische Kolonnen auf dem Rückweg von der Arbeit gesehen, die letzten Überlebenden. Es sind sicher keine bekannten Gesichter mehr darunter, und selbst wenn, wären sie so ausgemergelt, dass ein hiesiges Auge das frühere Gesicht nicht erkennen würde …
14. April Gestern habe ich einen Ausflug nach Żoliborz gemacht, versuchsweise, eher in Vertretung der Cousine. Es mussten in Zloty umgetauschte Dollars überbracht werden, für einen Kollegen ihres Mannes namens Robert. »Wir wären dir wirklich dankbar. Wenn du nicht willst, sage es bitte ehrlich.« Ich erklärte mich bereit. Alles ging gut, es war ein schöner Tag, die Hälfte des Wegs ging ich zu Fuß, weil ich nicht in die Tram kam. Ich suchte in einem großen Wohnblock, wie man mir gesagt hatte, die Heißmangel, und stieg durchs Fenster ein, über kleine Stufen ins Innere, so macht man es dort. Ich fragte nach der Besitzerin des Betriebs, dann vertraulich nach Pan Robert. Sie zog mich durch den Flur in ein natürlich reich, aber geschmacklos möbliertes Zimmer, das ebenfalls im Souterrain lag. Dann das Verhör: »Es war jemand anderes angekündigt, haben Sie unterwegs nach diesem Herrn gefragt« usw. Ich bestand die Diskretionsprüfung. Sie ging hinaus, ich hörte dreimaliges Türklopfen, offensichtlich verabredet, sie kam wieder zurück und führte mich in ein leeres Zimmer, aus dem es mir feucht entgegenschlug. Hinter der Tür beugte sich ein Mann vor. »Kennen Sie diese Frau?« »Nein, aber das macht nichts.« Er fasste sofort Vertrauen. Die Alte ließ uns allein, nachdem sie gefragt hatte, wie lange ich bleiben würde. »Zehn Minuten.« Der Besuch bei einem echten Höhlenmenschen neuen Typs, so leben die Ghettoflüchtlinge jetzt, dauerte etwas länger. Ich gab ihm das Geld, bat ihn, wie man mir aufgetragen hatte, um Vorsicht bei möglichen künftigen Telefonaten. Er begann seine Gehenna62 zu erzählen. Ich kenne das alles, habe es schon oft gehört – Erpressung, Denunziation, Einziehung des Vermögens, Flucht, Angst und permanente Anspannung … […] Wie immer in solchen Fällen, wenn jeder sich selbst für den am schlimmsten Geschädigten hält, verwies ich dezent auf das Schicksal anderer und die allgemeine Unsicherheit. Ich nannte den Fall K. »Ja, aber ihn ziehen sie vielleicht zum Arbeitsdienst ein. Ich, mit meinem jüdischen Blut, bin sofort dran. Erledigt, wie man so sagt.« Mir rutschte die naive Frage heraus: »Sie würden gern noch leben?« »Ich habe bis jetzt nicht gelebt, ich habe studiert, dann gearbeitet, aber leben könnte ich erst heute. Nach all dem.« Ich betrachtete die hübsche Stirn, die noch jung wirkte, obwohl er sicher schon über 40 war, das sorgfältig gelegte dunkle Haar, das glattrasierte Gesicht. Mit dieser Ausstattung könnte er jederzeit in die Welt hinaus. Nur fürchtet er sich. Die Angst hält ihn in Schach. Sichtbar geblieben sind die, so resümiere ich im Nachhinein, die keine Dollars oder Gold im Rücken haben, die arbeiten gehen müssen, um Geld zu verdienen. Sie müssen das Risiko eingehen, sonst verurteilen sie sich selbst zum Tod, zu einem raschen Ende. Die Reichen können in der Deckung verharren.
Mein Doktor fragt immer, was ich glaube, wie lange seine Ressourcen noch reichen. Robert erzählte weiter, er habe einen »Schutzraum« für Kollegen gebaut, ich verstand nicht gleich, was er meinte, der technische Begriff bedeutet heute noch etwas anderes: »Ein Dienstzimmer zumauern. Es musste ein geheimer Eingang errichtet werden. Keine große Arbeit, 150 Zloty wert, verlangt wurden 1500. Und es wurde nichts draus, weil ich von dort verduften musste.« […] Er änderte plötzlich den Tonfall, sprach nicht mehr von sich, das besorgte Zittern verschwand aus seiner Stimme; jetzt klang sie sanft, voller Dankbarkeit: für den Herrn Doktor und seine Frau. »Warum sind Sie zu mir gekommen? Sie hatten keine Angst. Welch eine Tat!« Ich lachte, als hätte ich ganz andere Heldentaten auf meinem Konto. Erst dann fiel mir wieder ein, wie es mir kalt den Rücken herablief, als die Besitzerin der Heißmangel mich durch den dunklen Flur führte.
Mein Doktor sagt treffend: Mut ist nur kontrollierte Furcht. »Warum der Herr Doktor und seine Frau Ihnen helfen, warum ich zu Ihnen komme? Um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Sie haben so viele Beispiele für die Verletzung der grundlegendsten moralischen Gebote genannt, dem müssen wir entgegenwirken.«
Er fragte noch, wer ich sei, ich wollte meinen Namen nicht nennen, doch als er darauf beharrte, verriet ich unnötigerweise meinen Beruf. Er wunderte sich, war erfreut. Er bedankte sich und küsste mir die Hände – in die er sogleich ein kleines, aber schweres Köfferchen legte. Ich nahm es mit, obwohl ich mich innerlich dagegen sträubte. Jedoch war ich später sehr zufrieden, als ich den Inhalt entdeckte: eine medizinische Gummimatratze und ein passendes Kopfkissen. Das wird sein Budget um einen Monat verlängern, und in dieser Zeit wird, wie ich versprochen habe, das Ende kommen!
Vor dem Zubettgehen habe ich einen Tee mit Phenin getrunken, danach fröstelte es mich wie vor einer Krankheit. Bei Robert war es kalt und feucht, und ich war aufgewärmt von der Straße in den Keller gestiegen. Beim Einschlafen dachte ich: »Noch ein Alb, der mich nicht ruhig wird schlafen lassen.« Einen Schnupfen habe ich aber nicht bekommen.
18. April Palmsonntag, die Atmosphäre eines Wohltätigkeitsfests. Als ich den Stift für Notizen hervorhole, komme ich mir vor wie […] ein polnischer Proust, der für den hiesigen »Figaro« schreibt. Ein erlesenes Publikum. Diese Welt existiert noch? Unberührt vom Zahn, mehr noch, vom Pflug der Kriegsjahre. Vornehm gekleidete ältere Herren, die jüngeren etwas extravaganter, aber die Jacketts Ton in Ton mit den Hosen, die Hemden impeccables, alles assorti, nicht wie die mageren Literaten, in deren Aufzug kein Detail zum anderen passt. Die Damen – nannte man das einst elegant gekleidet? Sommerpelze umschmeicheln ihre Figuren. […] Selbst Trauer trägt man hier kokett. Ich war immer sehr sensibel für die äußere Erscheinung von Menschen, ich beurteilte niemanden danach, aber das Auge erfreute sich an ästhetischen Eindrücken. Heute ist es entwöhnt, das alles liegt weit zurück, nicht Jahre, sondern eine ganze Epoche. […] Die Unterschrift des Grafen Tarnowski hatte vorgeblich zu einem Konzert »zugunsten der Häftlingsfürsorge« eingeladen, aber tatsächlich ist es ein Aristokratentreffen, in dessen Rahmen ein »geladener« (gut bezahlter) Meister einige Klavierstücke spielen wird. Aus Höflichkeit werden ein paar Leute ihm zuhören … Nein, ich habe das Programm in der Hand, gestaltet von einem unbekannten Künstler, es zeigt eine Gefängniskarte und ringsum Schatten. Auf der schön mit Kunstblumen geschmückten Bühne […] steht ein schwarzes, zweiköpfiges Monster. Zwei miteinander verwachsene Instrumente, die Beine unter sich eingezogen, ich weiß nicht, wie viele es sind. Die lackierte Kiste, deren Inneres man nicht sieht, sendet ein wortloses Duett aus. Es spielen Zbigniew Drzewiecki und Jerzy Lefeld, Debussys La danse profane et la danse sacrée verschmelzen zu einem eher in der Farbe sacrée gehaltenen Lied. Langer, ehrlicher oder höflicher Applaus. […] Einer der Organisatoren bittet zum Buffet, der gesamte Erlös … wir wissen schon. Er findet es witzig, musikalische Begriffe einzustreuen: Das Präludium vor der Fuge, der Auftakt zu festtäglichen Wonnen. Es bedarf der Ermutigung durch die Damen der Gesellschaft, die als Kellnerinnen fungieren. Vielmehr die jeunes filles de la maison. Sie haben sich […] bunte Bänder über den Arm geworfen, auf dem sie Tabletts mit Wein und Kuchen balancieren […]. Sie bewegen sich durch den Saal wie im eigenen Salon, ihr besonderer Eifer gilt einsamen älteren Herren. Einer von ihnen hat morgen sicher eine Leberkolik, ständig erliegt er dem Charme der reizenden Schnütchen! […] Alle amüsieren sich aufs Beste, unterhalten sich unbekümmert, ohne zu erwähnen, dass sie es zugunsten der Eingesperrten tun. Diese Stimmung hat etwas zutiefst Ironisches im Verhältnis zum Hunger und zur Not im Pawiak. […] Die Pause dauert […] länger als das Konzert, weil der Kuchen nur sehr langsam weniger wird. Sind alle satt gekommen, ist noch nicht Vesperzeit? Die Damen werden aufdringlicher, sie senken den Weinpreis, kündigen das Ende des Buffets an, um auf diese Weise noch zehn Zloty oder einen Hunderter lockerzumachen. Als ich nach dem zweiten Teil des Programms gehe, höre ich Rufe: Versteigerung! Ich habe es eilig. Aus Erfahrung, die Männer gehören zum eleganten Publikum, in der Garderobe stoßen sie eine einzelne Frau gern zur Seite.
19. April Uns weckten Detonationen, MG-Feuer. Eine Frau brachte Weißbrot, natürlich für Frau M., wir essen derlei nicht jeden Tag, selbst an Feiertagen kaum; sie sagte: »Das ist im Ghetto.« Jetzt bestätigt das Dienstmädchen: Sie sprengen Häuser. Tapfer noch wehrt sich das Volk von Granada63, doch allen ist der Tod schon sicher.
Ich war beim Verwalter, Lebensmittelkarten abholen, denn auf dieser Welt laufen die Dinge seltsam parallel … Wir mussten zwei Zloty pro Kopf für die Müllabfuhr zahlen, Lumpen extra, Metall extra. Das machte für unser Haus rund 250 Zloty.
21 Uhr. Es hieß, die Juden hätten den Pawiak erobert, Gefangene befreit, Unterstützung für sich gewonnen. Dem ist nicht so, das Gefängnis ist zu gut bewacht. Sie kamen weder über noch unter der Erde nahe genug heran.
Noch im Morgengrauen hatten uns zwei Explosionen geweckt. Dann spielte ein MG mit Kugeln, als hämmerten die Finger eines Riesen auf einem Klavier eine höllische Melodie. Ich döste noch ein bisschen, bis es Zeit zum Aufstehen war. Wie früher oft, ja fast immer, wenn ich wie in Trance schrieb, hatte ich beim Erwachen den gestern noch bloß vage umrissenen Artikel über Napoleon und Hitler fertig im Kopf. […] Ich will ihn zu Napoleons Todestag einreichen, ich war mir des Datums sicher, doch ohne Handbibliothek kommt man immer ins Zweifeln. […] Ich war überzeugt, dass es der 5. Mai war. Fela tendierte zum 6., also fragte ich Allan; stolz über mein Vertrauen in sein Gedächtnis bestätigte er meine Vermutung.
Ich hielt vor Angst die Augen geschlossen. Etwas Furchtbares war geschehen, ein Alptraum für das Gehör. Im Zimmer fuhr unablässig ein Zug hin und her, sein Donnern drang durchs Fenster herein. Ich kann das Gefühl, diese absolut physische Qual nicht beschreiben. Mir ist der Zusammenhang mit den vorangegangenen Eindrücken nicht klar, vielleicht das Symbol einer gescheiterten Flucht? Nach der sich, so muss man jetzt sagen, die Geister von bisher Lebenden an mein Kopfende gesetzt haben? Die außerhalb des Schlachtfelds stehen und doch dorthin gehören. Ich habe seit einigen Tagen gespürt, dass sie mich plagen werden als Boten der Sterbenden.
Gestern war Halszka B. da, meine zeitweilige Sekretärin, die mir abgesehen von der Hilfe bei der Arbeit viel gegeben hat. Für mich verkörpert sie das Gewissen der Jugend. Sie sagt: »Man muss abwägen, ob es sich lohnt, seine Kräfte […] für Menschen einzusetzen, die es nicht wert sind. Nicht, weil sie es uns nicht vergelten würden, sondern weil sie Polen nichts zurückgeben.« Etwas anderes seien zuträgliche Individuen, die heute und morgen gebraucht würden. Man müsse sich gegen die Tränen und Bitten der einen panzern, um mehr für die anderen tun zu können. Ich reiße mich zusammen, es kann sein, dass wir einem Schwachen die Hand zur Rettung reichen, der unter entsprechenden Umständen zu einem Gewinn für die Nation wird. Wieder das nietzscheanische »Sei hart«, ich, eine Atheistin, aber aus der alten Schule des Herzens, erwidere mit einem christlichen Bekenntnis. Andererseits hat sie in gewisser Weise recht, man muss die letzten Energiereserven klug einsetzen, nicht mehr für sich, sondern für die anderen in einem weiten Sinne.
21. April Der Kampf im Ghetto dauert an. Für unsere und eure Freiheit? Karfreitag. […] Der Kampf dauert an, doch angeblich halten sich nur noch letzte Widerstandsnester. Morgens nehme ich daran teil. Ich höre mit, bin unmittelbar im Gefecht, im Laufe des Tages sammle ich Informationen. Mir berichtet jemand, der ins Innere der inzwischen arg mitgenommenen Mauern vorgedrungen ist. Per Megafon wurde das Frontbulletin […] verkündet. Fort Muranowski ist gefallen. Der Feind steht auf Linie der Gęsia. […] Die Juden haben dem deutschen Stab über Kurzwelle eine Nachricht geschickt: Sie könnten sich noch zwei Wochen lang verteidigen, sie hätten genug Munition und Lebensmittel. Leute auch? Die Frauen sind gleichberechtigt mit den Männern in den bewaffneten Kampf gezogen. Judit war immer unerbittlich, der Kopf des Holofernes beweist es … Zum letzten Mal sehe ich Irena Friedman deutlich vor mir … Seit vielen Monaten verschollen und, ich muss es zugeben, fast vergessen. Selbst die Totgeglaubten reiten schnell … Nun ist die Erinnerung an sie zurück, äußerlich lebendig. […] Wie viel Schmerz und Tragik in diesem Gesicht. Heute ist es für mich das Symbol eines verzweifelten Hasses …
Wehe den deutschen Soldaten, die ihnen in die Hände fallen. Solche Qualen musste noch kein Kriegsgefangener ertragen … Einer stellvertretend für alle. Sollen sie wenigstens per procura leiden! Die Besatzer bekommen es mit der Angst zu tun, sie sehen die Generalprobe für einen möglichen polnischen Aufstand, und sei es nur in den Warschauer Stadtgrenzen. Wie leicht unsere Leute mit ihnen fertigwürden. Warum schicken die Deutschen keine Flugzeuge? Die in den Untergrund zurückweichenden Kämpfer setzen Häuser in Brand, stetiger Feuerschein über der Stadt, angeblich steht die Bonifraterska in Flammen. Es gibt Opfer unter den Neutralen, wir sind heute neutral … Die direkten Anwohner leiden unter der Nähe zur Front, aber auch sie zeigen, was sie von dieser Art Kampf halten. Sicher hält es ganz Europa so. Heute ist der fünfte Tag … Hitler muss vor Wut schäumen, dieser Feind schien der schwächste zu sein, obwohl er ihn als Nummer eins betrachtete. Jetzt konnte er sich davon überzeugen, dass er Recht hatte.
Ich muss noch einige Meinungen ergänzen. Oder eher Gerüchte: Die Juden hätten Waffen gegen uns gesammelt, sie erwarteten die Ankunft der Bolschewiken, um mit uns abzurechnen … Es sei besser, dass sie den Pawiak nicht befreiten, sonst wären sie stolz darauf … Diesen Schafsköpfen ist alles recht, was ihrer Meinung nach das ewige Bild vom Juden bestätigt.
Doch zurück zu den Deutschen: Sie haben nicht nur in den Augen der Freta und der Bonifraterska unermessliche Schande auf sich geladen, sondern in der ganzen Welt.
24. April, Karsamstag Um noch einmal auf Donnerstag zurückzukommen, ich bin um eins aus dem Haus und um acht zurückgekommen, im letzten Moment und sehr müde. Ich hatte viele fremde, aber mir wichtige Angelegenheiten zu erledigen, dazu den Einkauf von Kleinigkeiten für die Feiertage etc. Zuerst in die Aleje Ujazdowskie, zum Fürsorgerat, um ein Päckchen für Rysio abzugeben und vor allem um herauszufinden, ob … Ich war nicht sicher, ob sie es annehmen würden. Sie nahmen es an, versprachen, es vor Ostern zu schicken, und dankten. Erleichterung, als hätte ich den unbekannten Jungen gerettet.
Meine Schwester empfing mich damit, dass ich mir zu viel zumute, ich versprach, einige Tage kürzerzutreten […]. Indes, ich kann nur so altmodisch beginnen: Eine Frau aus dem Asyl brachte die Nachricht, dass Julia sehr krank sei, sie müsse ins Krankenhaus etc. Ich bin gleich hingelaufen […]. Julia hat eine lokale Infektion im Gesicht, es ist stark deformiert. Die Augen glänzen fiebrig und fleckig. Sie will ihr Testament diktieren, was sie schon lange vorhatte. Ich hole den Stift heraus, schreibe ohne Einwände mit. […] Julias posthume Pläne klingen in der Kürze ihrer verworrenen Worte so unrealistisch wie die meisten ihren irdischen. […] Anschließend hält sie mir einen Vortrag buchstäblich über den Anfang der Welt, sie argumentiert nämlich, dass vor Verb und Substantiv das Partizip war. […] Ich höre mir diese, wie mir jetzt scheint, absurden Ausführungen geduldig an. Kein Wunder, hat sie doch der Arzt zu Operation oder Tod verurteilt, während sie einen zweitrangigen französischen Dichter aus einer Anthologie übersetzt. Ich kenne ihn nicht, was sie erstaunt und fast empört. »Es sind schöne Gedichte«, versichert sie. Diese Frau wird in der Fülle ihrer geistigen Kräfte sterben, mit einem Kopf voller zwar unausführbarer Projekte, aber mit einem Blick für das Ganze, die Idee, nicht nur für sich … Ich bin freilich optimistisch, ich gehe zur Oberin, um zu hören, was das Asyl mit der Kranken anzufangen gedenkt. Die junge runde Visage […] lächelt und zeigt fromm ihre weißen Zähne: »Gott, unser Herr, weiß, was er tut, wenn er Schwäche auf einen Menschen herabsendet. Wenn es ihm gefällt, wird er ihn retten. Die Ärzte nutzen die Menschen nur aus.«
Nachmittags ein geistiger »Leckerbissen«. Ich erwartete Bogdan Żyranik, seine gutmütige, sanfte Person wirkt seltsam beruhigend auf meine Nerven. Zuvor erschien aber noch Jan Mioduszewski, der wieder sein Lied über den Liebreiz Podoliens und der Podolierinnen anstimmte; ich lenkte das Gespräch auf ein aktuelleres Thema – die Kämpfe in der Stadt. Er verspeiste nicht die ganze für den Gast vorbereitete Vesper, verabschiedete sich aber vor dessen Ankunft. Bogdan war außer Atem, kein Wunder, er kam zu Fuß von Żoliborz. Die Trams fahren nicht. Es gibt zwar einen neumodischen Nahverkehr […] mit Fahrzeugen oder vielmehr Fuhrwerken, doch er kann sich die Nutzung einer solchen Equipage nicht leisten.
Ich liege seit vier Uhr morgens wach, dem Beginn der Schlacht, oder ist die Müdigkeit nicht mehr da? Eine stille Stunde ist ein Moment der größten Unruhe. Später dämpft das Rauschen der erwachenden Stadt den Lärm der Geschütze, übertönt die kleinen Gewehrschüsse.
Am späten Nachmittag großer Tumult in der Küche – die Hölle der Frauen! Der Herd wird befeuert, um Essen für zwei Tage zu kochen. Wir müssen Gas sparen. Alle Weiber – natürlich auch ich – sind wütend. […] Nur Fela bewahrt ihre übliche (innere) Ruhe. Wie gut, dass wir nicht jeden Mittag den Herd mit anderen Köchinnen teilen müssen! Es würde einem die schönsten Leckereien verleiden. Und erst die dünnen Suppen!
25. April, Ostersonntag Oft höre ich die dümmste Frage, die man einem Menschen stellen kann: Was würden Sie an meiner Stelle tun? Wie viele Male verkneife ich mir die einzig vernünftige Antwort: Ich würde längst nicht mehr leben!
Um sieben Uhr morgens kam Maria Mirska angelaufen, unter anderem mit dieser Frage. Sie hat Pillen, ist also abgesichert. Doch jeder will leben – über das Ende der Qual hinaus. Sie sagt: Ich muss für sie leben. Sie bat mich, zu einer Beratung zu gehen […]. Ich sagte zu, ohne den Protest meiner Schwester abzuwarten, und es wäre sicher ein starker gewesen! Maria schlug mir vor, etwas aus ihrem Haus zu nehmen, es sei ohnehin alles der Vernichtung geweiht, doch als ich ihre Chopiniana sichern wollte […] und versprach, Koczorowski zu kontaktieren, ob man sie nicht in die Nationalbibliothek bringen könne, da wandte sie ein, »dann wird noch jemand davon wissen«. Es ist wahrlich ein peinliches Unglück, vor dem man sich schützen will, selbst um den Preis geliebter Objekte, die zugleich als polnischer Kulturschatz gelten können. So viel Widersprüchliches ist in jedem von uns, und umso mehr in einem Menschen, der zum Schlimmsten verurteilt ist. […] Soweit ich weiß, wurden Mirski und Marias Schwester Luna […] infolge einer Denunziation verhaftet. Mein starker Verdacht richtet sich gegen […] einen ehemaligen Beamten des Bildungsministeriums, damals Mirskis Untergebener […]. Das sind rein private Vermutungen auf Grundlage dessen, was ich über diesen Menschen gehört habe. Er soll ein Dummkopf, ein Säufer und ein Nichtstuer sein. Gleich nach der Verhaftung versetzte er Maria, obwohl er versprochen hatte, mit ihr in die Skaryszewska zu gehen. Anschließend ließ er sich am Telefon von seiner Frau vertreten und stürzte die arme Seele noch mehr in Panik – ihr Mann habe eine Rechnung nicht bezahlt, sie forderten hohe Summen. Was für Summen konnten das sein, höchstens 2000, die hatte er bei der Verhaftung sicher bei sich. »Sie wissen doch, wie rechtschaffen er ist.« Ich weiß es, ich hatte nie den geringsten Zweifel an der Rechtschaffenheit dieses Menschen.
Unwillkürlich vergleiche ich zweierlei Leid, ohne nach Herkunft zu klassifizieren, sondern als Ausdruck individueller Charakterzüge. Frau Stawińska64 reagiert anders auf ihr Unglück als Maria. Sie sagt nicht, dass es ihr widerfuhr, sondern dass ihren Mann großes Leid traf. […] Sie gibt niemandem die Schuld, hegt gegen niemanden Groll, macht nicht in Worten rückgängig, was nicht rückgängig zu machen ist, sucht nicht in anderen seelischen Halt – sie ringt allein mit dem ungeheuren Verlust. Maria fängt an: »Warum dies, warum das? Hätte man bloß nicht …« Keiner weiß, wovor man sich hüten muss, wo Gefahr lauert. […] Die arme Luna fühlte sich außerhalb ihrer Wohnung überall in Warschau sicher! Die bei mir verbrachten Nächte gaben ihr das Gefühl, es werde nichts Schlimmes passieren, die Straße war gastlich, Zalesie65 ein sicheres Asyl. Doch der Feind lauerte im überraschendsten Versteck, fasste sie dort, wo er wollte. Das ist die Moral, du entkommst deinem Schicksal nicht, ich sage es immer wieder. Manche haben angesichts des Ausmaßes der Verfolgung ihre emotionale Haltung gegenüber den Juden geändert; mehr noch, ich kenne sicher die edelsten Seelen, in denen sich jetzt die Solidarität der Herkunft regt, obwohl sie früher mental gegen das »Judentum« ankämpften und die Blutsbande leugneten, weil Kultur und Lebensumstände die letztlich künstliche Verwandtschaftsbeziehung zu ihrem Volk gekappt hatten. Maria gehört nicht dazu, im Gegenteil, sie empfindet kein Mitleid, sondern vielmehr Groll, dass sie ihretwegen leidet. […] Auch den Aufstand im Ghetto betrachtet sie allein aus Sicht ihres eigenen, durch ihn bedrohten Interesses, die Nähe des Pawiak zum Kampfplatz könnte den Gefangenen schaden. Anknüpfend an den Gedanken meiner jungen Freundin, man müsse seine Kräfte einteilen und sie für eigene Zwecke oder für wertvolle Menschen einsetzen, überlege ich, ob ich die Arme aus meiner Interessenssphäre verbannen soll, ob ich ihr – natürlich auf sanfte, wenn auch hinterlistige Weise (»Ich bin krank«) – das bisschen Wärme entziehen soll, das […] zusätzliche Kraft im Überlebenskampf gibt. Sicher, in der Theorie komme ich zu einem anderen, positiveren Ergebnis, als wenn ich tatsächlich damit beginne, meine Kräfte zu sparen … Obwohl es nötig wäre, weil sonst der Antrieb fehlt, wenn es um eine wichtigere, allgemeine Sache geht …
Gestern beschloss ich, das Fenster vor den Schüssen im Ghetto zu schließen. Es half nichts, der Geschützlärm drang durch die gläsernen Tore, ich zählte eine Serie bis 15! Stille – und wieder von vorn. Paradox aus Sicht der Gesetze des Krieges! Das hatten wir noch nie! Straßenkämpfe teilen die Stadt manchmal in zwei Lager, aber es gab wohl noch nicht die Konstellation, dass der äußere Feind die einen angreift und währenddessen die anderen in Ruhe lässt. Solange sie dort beschäftigt sind, haben sie keine Zeit für uns! Der deutsche Stab befindet sich in der Leszno, der gegnerische Stab hingegen ist mobil, angeblich schrumpft das Terrain immer mehr, was für die Juden ein Vorteil ist. Per Megafon verbreiten sie Kommunikate […]; angeblich haben sie den Deutschen auch über Kurzwelle gedroht: »Wir fürchten euch nicht, wir können bis zu zwei Wochen aushalten.« Und danach? Der Tod! Die löbliche Tugend des durch die Kriegsumstände bedingten persönlichen Kampfesmutes muss unter den Umständen des Krieges selbst von Pazifisten als die schönste anerkannt werden […]. Die Verteidiger des Alcázars oder der Westerplatte haben Konkurrenz bekommen …
Unsere Bulletins beschreiben die Lage: Es hat ein Grabenkrieg begonnen, den die gegenwärtigen Deutschen nicht mögen. Alles zusammen macht Hitler vor den Augen Europas lächerlich, es fand sich eine Handvoll Menschen, mit denen man schwer fertigwird. Sie rechtfertigen sich angeblich damit, dass die Bedingungen andere seien als an der Front, man könne Flugzeuge und andere Waffen nicht wie gewöhnlich einsetzen, und zwar aus Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Hoppla, Herr H., seit wann lässt du deine Soldaten auf die Zivilbevölkerung Rücksicht nehmen …? […] Unterdessen nimmt das Osterfest seinen Lauf, das Festtagsbigos duftet, die Kinder werfen Böller, als gäbe es nicht schon genug bedrohliche Geräusche. […] Ela war da, sie brachte selbstverzierte Ostereier, Allan grüne Zweige. Sie sind jung. Ich beneide sie nicht, denn ich habe diese Zeiten lange hinter mir, ich stelle nur fest, dass man in diesem Alter alles leichter erträgt.
6 Uhr abends. Die Erkältung wird schlimmer, hoffentlich ist es keine Grippe! Fela ist vom Spaziergang zurück, sie war auch bei Julia. Sie hat ihr etwas von ihren Osterspeisen gebracht und erfahren, dass es ihr besser geht. Dafür bringt sie eine andere schlechte Nachricht, so ein Feuer hatten wir die ganze Woche nicht. Ich sehe die Rauchschwaden durchs Fenster. […] Die Kinder spielen auf der Straße, die Erwachsenen gehen spazieren, ich decke den Tisch und bespreche mit Fela, wie wir die Ostereier anrichten. Plötzlich wird mir wie während des spanischen Bürgerkriegs […] die Kluft zwischen jenem Leben und der Pariser Normalität bewusst. Man las im Café Zeitung. Als ob nichts wäre. Kein Wunder also, wenn jetzt … Der Alltag triumphiert immer …
7 Uhr. Eine abendliche Serie dumpfer Kanonenschüsse in der Nähe der Żelazna. Also außerhalb der früheren Grenzen des Ghettos. Die gestern geklebten Plakate nennen diesen isolierten Teil der Stadt schon gar nicht mehr so. Sie sprechen vom ehemaligen jüdischen Wohnbezirk und warnen davor, den Bewohnern Unterschlupf zu gewähren. Unter Androhung der Todesstrafe natürlich, darunter tun sie es nie! Wenn das Feuer auf Bereiche übergreift, die nicht von Kampfhandlungen erfasst sind, gibt es einen neuen Grund, sich über die Juden zu empören; sie haben das Unglück herbeigeführt …
26. April Morgens. Kaum ein paar Schüsse. Nur Flugzeuge in der Luft. Machen sie Fotos von ihrem Werk, verewigen sie die Zerstörung?
5 Uhr nachmittags. Am Himmel türmen sich wieder künstliche Wolken auf. Sie wehen ins Zimmer, ich muss die Fenster schließen. Ich gehe auf den Balkon. Der Rauchschleier hängt schon ganz nah, über dem Universitätsgarten. Ein Bekannter […] erzählt, er habe Feuerberge gesehen. Es hat die Runde gemacht, die Juden brennen selbst das Ghetto nieder, lassen die Feuerwehr nicht löschen, was ohnehin schwerfallen würde, das Wasser ist abgestellt – sie wollen alles deutsche Gut zerstören. Schon an einem der ersten Kampftage traf es die Trikotagefabrik, das Uniformlager. Die Leute haben ihr diesjähriges Osterprogramm um ein Schauspiel ergänzt, das Nero vor Neid hätte erblassen lassen. Sie gehen so nah wie möglich heran, um den Kampf und seine Resultate zu sehen. Ich würde auch hinlaufen, wenn ich nicht so stark erkältet wäre. Jemand berichtet: »Ich habe einen Panzer gesehen, einen lahmgelegten Panzer, am Plac Krasińskich, tiefe Bombenkrater.«
27. April Maria war da. Sie erzählt, dass ihre Schwester zusammen mit dreißig Jüdinnen erschossen worden ist. Von ihrem Mann gibt es keine Nachricht. Sie löst die Wohnung auf, sie will leben – fliehen, vorerst sucht sie eine Zuflucht für ein paar Nächte. […] Ich kann ihr nicht einmal eine Übernachtung anbieten, sie hat gestern einen gefährlichen Vortrag gehalten … »Und von Ihren Bekannten, niemand?« […] Zur Verteidigung anderer, die sich nicht in Gefahr bringen wollen oder können, führe ich eine Tatsache an. Im Herbst […] hatte ich – für Lunas Übernachtungen – um eine Revanche gebeten: »Ich habe hier bei mir eine andere Obdachlose.« Sie hatten abgelehnt …
Ich frage nach den Chopiniana, die ich retten möchte, aber ich erfahre nichts, alle Liebe zu Dingen oder selbst zu Menschen steht hintan, Maria ist ausschließlich mit ihrem Schicksal beschäftigt. […] Alleine leben, aber leben, das ist für sie in diesem Moment wichtiger als der Tod der Schwester – der vermeintliche, denn ich tröstete sie, es gebe derzeit keine Verbindung zum Pawiak – und das Fehlen jeglicher Nachricht von ihrem Mann. Hätte er, hätten sie genauso reagiert? Und ich? Ich verliere mich in der Wahrheit der Argumente, ich finde keinen Ausweg, letztlich bleibt wohl nur – Nachsicht. Das ist das Einzige, was wir für jeden empfinden sollten.
5 Uhr nachmittags. Nach drei Tagen Abwesenheit aus der Welt bin ich spazieren gegangen. Ich habe herrliches Grün gesehen, die Obstbäume blühten schon, doch man konnte nicht atmen. Die Luft war rauchgeschwängert, das Denken fand keinen Halt; im Gegenteil, ich bin zu der schrecklichen Gewissheit gelangt: Im Grunde liebt jeder, nicht nur angesichts des drohenden Todes, am meisten sich selbst. So viel fremdes Unglück ist seit Kriegsbeginn schon durch meine Hände gegangen. Ich könnte Belege für diese Wahrheit anführen. In allen Schichten ist es dasselbe. Man vergisst sogar, die Toten zu beweinen, wenn das Morgen unsicher ist. Der jüdische Schindelmacher in Wielgolas war ebenso wenig um Frau und Kind bekümmert, wie der studierte Doktor an sie denkt. Sich selbst zu retten ist das Wichtigste. Obwohl, ein Gegenbeispiel, wenn vielleicht auch nur scheinbar: Zuza sorgt sich ständig um ihre Familie, doch wenn sie vor die Wahl gestellt würde … Extreme Alternativen waren immer ein gefährlicher Prüfstein für die Gefühle, heute mehr denn je.
28. April Keine Schüsse. Manchmal Geräusche – von einstürzenden brennenden Häusern? Die Ruhe – schon Grabesstille? Gestern bin ich am frühen Abend mit Ela spazieren gegangen. Sie war den ganzen Nachmittag bei uns […]. Die Oboźna hinauf zur Krakowskie Przedmieście. Rauch, Sonnenuntergang, merkwürdige Effekte. Auf freiem Feld unweit des Sächsischen Gartens zeigte sich die Sonne, aber so terrorisiert von irdischen Lichtern, dass sie wie aus Metall wirkte, künstlich leuchtend in fremdem Glanz. Ich lauschte, was die Leute in dieser Schreckensatmosphäre redeten. Dies und jenes, Alltagsangelegenheiten. Kaum jemand beachtete die Veränderungen in der Umgebung. Ich hörte keine Klagen, dabei war der Rauch erstickend, die Augen tränten vom Brandstaub in der Luft wie während der Bombardierung Warschaus. […] Auch wir sprachen über entlegene Themen, die aber in der Wirklichkeit um uns herum wurzelten; wir betrachteten den Himmel, Straßen und Häuser und suchten Analogien zum Schaffen berühmter Künstler. »Goya mochte solche verblüffenden Kontraste«, sagte die Malerin. Die Laiin fragte: »Dieses plötzlich aufflammende Licht lässt sich wohl nicht auf die Leinwand bringen?« Als sich die Malereivergleiche erschöpften, betrachteten wir die Stadt mit filmisch geschultem Auge. […] Wir liefen durch Warschau wie durch ein Reservoir unbekannter Zukunftsszenen. Die Erinnerung jedoch kann sie nicht festhalten, ein Regisseur wird falsch wiedergeben, was wir heute sehen. Stärker noch entstellt das Wort den Eindruck. Und doch scheint mir, dass nicht nur der Literat, sondern jeder denkende Mensch heute schreiben muss, reflektieren muss über das, was geschieht, und damit – über sich selbst. Die Haltung zu den gegenwärtigen Ereignissen ist ein Prüfstein für jeden von uns. Schreiben, der beste Gewissensspiegel.
2. Mai Maria war da mit der Nachricht: Ihr Mann ist seit einigen Tagen tot … Die Anklage: Er sei nicht ins Ghetto gegangen, habe Wertpapiere zu konspirativen Zwecken verkauft. […] Die Information soll verlässlich sein. Auch die Schwester wurde erschossen. Was müssen sie durchgemacht haben, sie eine Woche, er zwei. Er war nie stark … Seine Frau ist es nur heute, sie denkt an sich, sucht einen sicheren Unterschlupf, agil und unternehmerisch wie in Friedenszeiten, als sie Reisen plante, Konzerte organisierte … Sie verkauft manche Sachen, andere gibt sie zur Aufbewahrung weg. Die Chopiniana zu den Nachbarn, die gegebenenfalls mich rufen sollen. Hilfsbereite Nachbarn haben sich nicht immer als ehrlich erwiesen, von diesen höre ich nur Gutes, aber so viele haben enttäuscht! […] Maria weint erst, dann verflucht sie sowohl die Verursacher ihres Unglücks als auch ihre erbliche Belastung, sie hat sich nie mit ihrer Herkunft verbunden gefühlt, wegen der sie heute leidet … Sie will leben. Nicht nur, weil sie das Medikament nicht mehr hat, das ihr den Tod bringen sollte – sie ist unterwegs überfallen worden, und der Räuber hat ihr sowohl das Geld als auch das Medikament abgenommen. Nein, ich sehe es deutlich – sie will leben. Andere auch, das konstatiere ich nicht zum ersten Mal. Zur Erklärung füge ich immer hinzu, wer weiß, vielleicht hinge sogar ich an diesem Leben als gehetztes Tier im Dschungel der Stadt …
4. Mai Noch vor kurzem […] brachte das Schreiben für Gegenwartsleser so viel Gutes. Zum einen sprach man zu Menschen, die heute leben, und schickte keine Wörter in eine dunkle Zukunft, und zum anderen hat die journalistische oder eher literarische Arbeit es an sich, den Geist auch darüber hinaus zu beschäftigen. Man denkt ständig an schlecht gebaute Sätze, ein falsch formulierter Gedanke sucht nach einer besseren Form […]. Ich fühlte mich bisweilen fast frei. Jetzt befinde ich mich wieder in der Tretmühle von Unglück und Leid, mit zusätzlicher neuer Verzweiflung.
Vor gar nicht allzu langer Zeit hieß es in Polen, jeder Schlachtschitz66 habe seinen Juden, der ihn betrüge, wo er nur könne. […] Heute übertreffen die Polen die Juden, die Gemeinheit ihres Tuns liegt darin, dass sie Wehrlose ausnutzen. Schuldnerinnen des Doktors wollen nicht nur das fällige Geld nicht zurückzahlen, sondern bringen auch eine Advokatin ins niederträchtige Spiel, von der sie hoffen, dass sie gegen ein Schmiergeld die Schuld streicht. Doch da irren sie sich.
6. Mai
Liebe und unartige Dame! Ich verstehe, dass sich Feiertage ungünstig auf das literarische und journalistische Schaffen auswirken, aber die Feiertage sind längst vorbei und ich warte weiter vergeblich auf ebenso gute und zahlreiche Feuilletons wie die vorherigen. Und Material, vor allem leichteres, wird jetzt dringend gebraucht, wie Sie selbst an der Zeitung sehen. Und wie steht es um die Regelmäßigkeit? Es wäre eine wirklich große Leistung, wenn in der Untergrundpresse erstmals ein Fortsetzungsroman erschiene. Ich denke, dafür ließen sich sogar gewisse Mittel finden.
Ich grüße herzlich und warte geduldig auf Antwort!
Witold
4.5.1943
7. Mai Einen Nachruf auf Józef Mirski schreiben … Man müsste, aber es fällt so schwer! Denn dieser Mann, den man nicht krank sah und nicht mit zu Grabe trug – ist einfach noch lebendig. Also eher eine Reminiszenz an die Arbeit in Lwów, im Schriftstellerverband. Wir hoben ihn gemeinsam aus der lokalen Wiege, aus der eine vielköpfige Hydra erwuchs, die sich über ganz Polen verteilte. Es war fast unser alleiniges Werk, von Lwów aus schickten wir Briefe ins Land, luden Referenten ein oder arbeiteten mit einheimischen. […] Ich sehe, ich schweife ab, weil ich nicht unmittelbar über den von uns Gegangenen schreiben kann. Die Kriegsjahre schweißten uns in Freundschaft und Sorge zusammen, wie viele gemeinsam verplauderte Sonntage, wie viele strategische Pläne, aus denen nichts wurde, wie viele – für ihn – begrabene Hoffnungen für die Zukunft. Ade, guter Freund!
Jetzt, wo die Fenster offen sind, lebe ich wieder, wie letztes Jahr im Sommer, in der Atmosphäre gregorianischer Gesänge. Die Jungen aus dem Salesianerheim wecken mich, tagsüber markieren sie die Stunden mit Melodien.
8. Mai Gestern Abend musste ich die Fenster schließen. Es wehte dichter, schwerer fetter Rauch hinein – von Leichen? Von Lumpen? […] Man kann die Fenster nicht putzen, obwohl der Frühling es verlangt. Denn noch immer steigen jeden Abend Wolken über dem Ghetto auf, die Brände reichen bis in die nächste Umgebung, etwa ans Evangelische Krankenhaus. An einem Tag war das Gericht in der Leszno bedroht, wo ich mich mit Irena getroffen habe! Das waren sorglose Zeiten!
Ich schreibe an den Witold, den Redakteur, und schlage ihm vor, das Visier zu lüften. Wir sollten uns treffen und die Zusammenarbeit unter grundsätzlichen und finanziellen Aspekten besprechen.
9. Mai Material zum Film Das Judenkind: Ein kleines Mädchen irrt den ganzen Sommer und den ganzen Herbst umher und findet im Winter Zuflucht bei einer guten Frau. Die tauft sie kurzerhand um und macht sie zu einer Hania aus dem Osten. So überwintert sie im Versteck eines Dienstzimmers; ein wildes Tierchen, das sich langsam an unsere Kultur gewöhnt. Das siebenjährige Köpfchen voller Erinnerungen an die Gebräuche des Elternhauses und die Namen der Menschen dort. Sie darf nicht aus dem Fenster schauen, sie darf nichts von dem, wozu sie ihr Alter privilegiert. Das Mäuschen muss still und unsichtbar werden, jederzeit bereit, im Versteck unter dem Fußboden zu verschwinden. Doch die Zeiten werden – für sie – immer schlimmer, die Gefahr lauert über dem ständig beschatteten Haus. Man muss den Aufenthalt der Kleinen legalisieren, sie wird als kleine Gräfin ausgegeben, die ab und zu mit ihren Eltern in die Stadt kommt. Also folgt die nächste Umerziehung, jetzt mit nächtlichen Prüfungen, sie wird geweckt – weiß sie, wie sie heißt? Man muss den äußeren Schein von Kultur und Wohlstand wecken. Hübsche Kleider und passende Unterwäsche finden, ein Köfferchen ins Zimmer stellen, damit die Dinge die Wahrheit bezeugen … Das Judenkind ist mit seinem Selbsterhaltungsinstinkt sur ses gardes, es erinnert sich nicht laut an alte Familienbräuche, Brüder und Schwestern, die kompromittierenden Joseks und Chajas sind aus seinem Kopf verschwunden, der Samstag ist kein heiliger Tag mehr, weil es ohnehin jeden Tag faulenzen muss. In diesem Dämmerzustand bewahrt sich die Kleine für die Zukunft. Für welche? Die nächste, in der man sie ruckzuck ein für alle Mal erledigt, oder schafft sie es als eine der letzten Mohikaner ins neue Polen? Was wird sie mitbringen, was beitragen? Dank oder Widerstand gegen die neu erworbene Kultur? Doch das Herz der guten Frau wägt nicht ab, sondern tut, was es kann, solange es geht.
Der vierte Kriegsnamenstag von St. P. Koczorowski. Gestern bin ich, wie von den vorigen, aufgekratzt nach Hause gekommen. Es ist der einzige Tag im Jahr, an dem ich mich wieder als Literatin fühle! […] Koczorowski wird in die polnische Sittengeschichte eingehen als ein Mann, der es geschickt verstanden hat, Arbeiter der Feder und Künstler zusammenzubringen. Nichts hat sich daran geändert. In der engen Stube in der rue du Sommerard, in der modernen Villa in der Chocimska und heute, in der geräumigen, bourgeois-bequemen Wohnung in der Grzybowska, stand und steht die Bibliothek im Mittelpunkt und daneben, mit großem Abstand, die Menschen, die er liebt und denen er vertraut. Das Fest war nicht nur geistiger Art, die Gäste hatten diverse Spezialitäten mitgebracht, Selbstgebackenes und Alkohol […]. Mein Tischnachbar war ein notorischer Nationaldemokrat, aber wozu sich das Abendessen mit politischen Diskussionen verderben, wenn man über Bücher sprechen kann!
11. Mai Das Marktweib, die Näherin, selbst die Intelligenzlerin sagt, wenn sie ihr Mitgefühl mit den Juden ausdrückt: »Es sind doch auch Menschen.« Entsetzlich, dass sie diese Rechtfertigung brauchen. Andere Personen machen es anders, wie die Schuldnerinnen des Doktors! Gestern haben die Advokatin und ich uns einen neuen Kniff ausgedacht, ob er funktioniert? Ich soll dem Armen einen stilistisch komplizierten Brief schreiben, der ihm alles erklärt, aber nichts explizit sagt. Es lebe die Gebrauchsliteratur! Meine Phantasie hat sich natürlich gleich in Bewegung gesetzt. Auf dem Weg nach Neapel – ich war im ORBIS-Kriegsfotoplastikon – habe ich den kompletten Text entworfen, witzig und beredt.
13. Mai 2 Uhr nachmittags. Die Stadt wird wieder unschuldig bombardiert. Ich bin über Glas gelaufen, wie im September. Die Leute interessieren sich immer noch für die Breschen, die heute ein anderer Feind schlägt.
15. Mai Die Schlacht tobt jetzt in den Straßen Warschaus, sie hat sich vom Ghetto auf ein breiteres Terrain verlagert. Der letzte Luftangriff hat vielen Bewaffneten die Flucht ermöglicht. Sie verteidigen sich heute mit Schüssen und eröffnen manchmal auch selbst den Kampf. Sie haben nichts zu verlieren außer dem ohnehin bedrohten Leben. Gestern wurde der Universitätsgarten von Soldaten besetzt, die sich nach allen Regeln der Kriegskunst im Grünen versteckten und darauf lauerten, dass der Feind in die Falle tappt. Doch trotz seiner Unerfahrenheit umging dieser den Hinterhalt, der Instinkt führte ihn auf andere Wege. Ich sage es noch einmal, sie verteidigen sich nicht nur, sondern attackieren sowohl die Deutschen als auch die blaue Polizei.
16. Mai 4 Uhr nachmittags. Ein Sonntag wie in Paris. Allein. Niemand zu Hause.
Ich lese und lese, nur … Immer wieder unterbrechen mich Detonationen, was sprengen sie? Ich weiß nur, dass die Explosionen Wohlstand und Kultur zerstören, dass der Kriegslärm nicht zur Maistimmung passt, zum schönen Buch, zum Stadtleben. Aber wir sind an der Front, kann eine Oase wie mein Zimmer vielleicht sogar etwas gegen das allgemeine Ungleichgewicht bewirken?
Ich frage mich ständig, ob die Literaten angesichts dessen, was vor sich geht, nicht das Bedürfnis verspüren, für andere zu schreiben. […] Nie haben die polnischen Literaten so lange geschwiegen; wenn es nicht möglich war, offen zu sprechen, haben sie ihre Gedanken in Symbolen ausgedrückt. […] Heute – nichts. […] Noch zehren wir nur von der Vergangenheit. […] Nie fehlte den Polen das lebendige Wort des Schönen mehr als heute, die Untergrundpresse kann in dieser Hinsicht zwangsläufig nur Surrogate bieten. Unsere natürliche Aufgabe, ja unser natürliches Bedürfnis ist es, für die Öffentlichkeit zu sprechen. Das ist gewiss keine Rechtfertigung der Kollaborateure der Propagandapresse, wohl nur wenige folgen dem angeborenen Schaffensdrang, hier spielt der Verdienst eine Rolle. Ihr künftiges Schicksal ist besiegelt. […] Es besteht kein Zweifel, dass die Kollegen schreiben, ich weiß auch von einigen Fällen […]. Mit Mühe und Geschick verstecken sie ihre Arbeiten zu Hause oder außerhalb. […] Und ich gelange zur immer gleichen Frage – selbst wenn sie nicht in der Lage, nicht willens oder zu ängstlich sind, auch nur einen Teil ihrer Anstrengungen zu veröffentlichen, haben sie dann nicht auch den Antrieb verloren, zu den Menschen zu sprechen? […] Sie […] waren daran gewohnt, Artikel zu vorab bestimmten Zwecken zu schreiben […], weshalb ihnen die heutigen, wenig greifbaren Kontakte nicht gefallen. Man kann auch der Redaktion nicht seinen Willen aufzwingen, gegen telefonisch geäußerte Zweifel nicht auf gleichem Weg Argumente abfeuern, Ultimaten stellen oder […] mit Abbruch der Beziehungen drohen. Heute muss man sich dem Gebot der Stunde unterwerfen, sich den Bedürfnissen der Leser anpassen, den Ausdruck vereinfachen und zum demütigen Diener der Rezipienten werden, die nach Worten der Ermutigung und des Trosts verlangen.
Der erste Monat mit eingeschränktem Gas ist glücklich überstanden. Infolge meiner Umsicht und auch dank Felas Reise […] haben wir weniger als 30 Kubikmeter verbraucht. Ich habe den Inkassenten gebeten, das Eingesparte mit auf die Rechnung zu setzen, so haben wir im nächsten Monat etwas mehr Spielraum. Neben dem üblichen pourboire, über das ich mich anfangs empörte […], gewährte ich dem armen Beamten noch einen Zuverdienst, indem ich ihm Baumwolle zum Stopfen und […] Vorkriegsglycerin abkaufte. Nur zu Saccharin und Seife ließ ich mich nicht überreden, ich habe Vorräte und eine bessere Quelle. Es klingt komisch, solcherart Handel zu treiben, aber diese Leute wollen auch leben! Alle machen es so wie ich, es geht um die guten Beziehungen, die man sich mit dem monatlichen Schutzgeld erkauft. Ohne dieses »Zeichen des Wohlwollens« für den Menschen, der ständig sein Schicksal bejammert, würde ich die Wahrheit des Gaszählers mehr fürchten.
17. Mai Der an Paris erinnernde, arbeitsame Sonntag wurde von Detonationen gestört, heute erfahre ich, dass die Synagoge in der Tłomackie gesprengt wurde. Ich suche das Gebäude, das ich übrigens auch vor dem inneren Auge habe, auf einem Stadtplan, auf dem die Warschauer Denkmäler verzeichnet sind. Da ist es, classé comme monument historique. Gestern habe ich Nationalisten getroffen, die sagten: »Die Methoden sind nicht gut, sicher, aber sie beseitigen die Juden.« Diese dummen Christen werden es nie begreifen.
18. Mai Wieder eine Wanderung durch das frisch bombardierte, reduzierte Warschau. Man hört die Empörung derselben Leute, die sich freuen, wenn alliierte Flugzeuge Frankreich oder Belgien verwüsten. Die Unlogik des Kriegs unter diesen Umständen ist gewiss entsetzlich. Doch wenn es anders nicht sein kann – ich höre auf, als von den Luftangriffen bisher nicht Geschädigte.
Ich trage Verpasstes nach, mache aus flüchtig auf Zetteln notierten Gedankenfetzen fast schon richtige Artikel. Derzeit ohne Auftrag. Denn seit ich Witold schrieb, dass ich ein Honorar für meine Mitarbeit möchte, hat er sich nicht mehr gemeldet. […] Alle nehmen Geld für ihr konspiratives Wirken, und das ist gut so, nur ich bin naiv wie immer! Ich hielt meine Forderung für umso berechtigter, als der Redakteur bei der Anfrage nach einem Roman geschrieben hatte, es ließen sich »Mittel finden«. Nur nicht für mich? […] Ein unangenehmes Gefühl der Enttäuschung. Über Witold? Vielleicht muss man es anders nennen. Eher ein innerer Groll gegen mich selbst […], weil ich in meinen Augen eine weitere ideelle Institution auf die Probe gestellt habe, und die Konsequenz war der Verlust eines Organs, das mir lieb geworden war. Mit der Zahl öffentlicher Wortmeldungen wuchs mein Mitteilungsbedürfnis, jetzt muss ich mich wieder auf diese Seiten beschränken, die vielleicht nie zu den Menschen gelangen. Traurig.
Eine Richtigstellung: Der Hinterhalt im Universitätsgarten galt Banditen, die eine Bank überfallen hatten. Bis jetzt konnten die Banden ungestraft auf dem Land operieren, jetzt treiben sie ihr Unwesen auch im Stadtgebiet. Jemand erzählte, dass im Zentrum, in der Hoża, der Befehl ertönt sei: »Das Tor schließen!« Auf diese Weise muss man sich am helllichten Tag schützen […].
19. Mai Der Doktor schreibt oft – mit Anweisungen. Dies verkaufen, jenes ihm schicken. Er rät, die Sache mit seinen Schuldnerinnen zu beenden, wir würden sie sehr gern abschließen. Die Advokatin, weil sie die entsprechenden Dokumente nicht bei sich haben möchte, ich, weil ich das Geld abholen soll, aber alles verzögert sich durch die Böswilligkeit jener Damen.
20. Mai Das Schreiben für die Zukunft geschieht nahezu unkontrolliert, nur manchmal ändere oder ergänze ich einzelne Punkte anhand neuer Informationen. Die äußere Form der Aussage fließt aus den Fingern. Beim Schreiben für andere muss man an den Leser denken, der die Worte abwägen und ermessen muss; daraus ergibt sich […] die Pflicht, einen Artikel zwei- oder dreimal auf die Werkbank zu legen, nicht nur Überflüssiges zu streichen, sondern auch unklare Ausdrücke zu finden und an ihrer Stelle passendere zu suchen. Durchsieben, ergänzen, streichen, bis alles à point ist.
27. Mai Morgens. Ein ruinenkundlicher Ausflug … Ich war gestern in der Stadt der Toten. Ich bin nicht tief hinein, das ist verboten, sondern habe nur vom Rand aus einen gründlichen Blick in die Leszno geworfen, die Gotteshäuser sind ummauert, versengt, zerstört. Der Rauch hängt noch in den Ecken, immer wieder weht er auf und brennt in den Augen. Ich wollte die Synagoge sehen, den Schlussakkord der Vernichtung. Eher symbolischer Art, denn die Tłomackie lag die ganze Zeit außerhalb der Demarkationslinie. Schutt, ein großer Haufen schaumbedeckter Ziegel, Steine, Glassplitter, festgehalten von Teilen des zerbrochenen Dachs. Nur die siebenarmigen Leuchter, vermutlich aus Bronze, halten weiter Wacht, sie sind unangetastet geblieben. […] Wenn die Sprengung ein symbolischer Akt sein sollte, dann kann man auch die Beständigkeit der Lichtquellen als mystischen Beweis ansehen – für die Unbeugsamkeit des Volkes, die Unzerstörbarkeit ihrer bleibenden Werte. Ich ging durch die Bielańska am Arsenal vorbei, um den Schauplatz der Gefangenenbefreiung auf dem Weg zum Pawiak zu besichtigen, und weiter – was für ein Eindruck von Leere und Verlassenheit! Denn nur meine Schritte hallten – wegen der Makrameeschuhe – leise auf dem Pflaster wider. Dazu das Zwitschern der Vögel […], von weitem signalisierten rhythmische Hammerschläge, dass die Arbeit sich diesem ausgestorbenen Winkel näherte, und der weitreichende, angenehme Klang eines Grammophons verhieß noch die Rückkehr zu normalen Verhältnissen, das heißt Lenz und Liebe. Plötzlich dröhnte es, ein bewaffneter Gendarm fuhr auf seinem Motorrad an mir vorbei. Ich sah meinen Weg enden und kehrte um, nicht ohne einen Blick in den Krasiński-Garten zu werfen, zu dem wir keinen Zutritt haben. […] Heute Morgen führte der Frühling mich an die Weichsel, ich will jeden Tag dorthin, um frische Luft zu schnappen, eine große offene Fläche, der Fluss fließt weiter nach Gdańsk. In der Freiheit seiner ewigen Bewegung liegt ein Trost für die Zukunft, wenn nicht für mich, dann für andere.
28. Mai 5 Uhr nachmittags. Das erste Gewitter dieses Frühjahrs. Wie angenehm, natürlichen Donner zu hören.
30. Mai Aus dem kleinen Umfeld meiner traurigen Erfahrungen habe ich drei schwarze Charakter notiert: Jerzy Dylion, der seinen Kollegen denunzierte, Mieczysław Jaworski, der mutmaßliche Verantwortliche für die Verhaftung und den Tod Józef Mirskis, und den Lumpen Wieczorkiewicz, der bis jetzt einer naiven Frau etwas vorgaukelt. Nicht aus Mitleid, nein, sondern für ein paar erbärmliche Silberlinge. Dazu all die Schurken und Schufte, denen der Untergrundstaat noch keine Gerechtigkeit widerfahren ließ, die noch keiner persönlichen Rache anheimfielen – was auch oft vorkommt, obwohl unsere Organe vor Selbstjustiz warnen. Wie groß ist der Anteil unredlicher Menschen, die jede Gelegenheit nutzen, um ein Vermögen zu machen? […] Man bekommt es mit der Angst zu tun, wie soll man mit ihnen leben? […] Es sei denn, man hielte sich an die Worte der Bibel oder der Dichtung, dass ein Gerechter mehr wiegt als hundert Verbrecher … Eine Illusion … Eine gesunde Gesellschaft wird nicht von ausgewählten Individuen gebildet, sondern von der solide arbeitenden, rechtschaffen denkenden Allgemeinheit.
31. Mai Die große Wochenbilanz der Vergeltungsanschläge, die Quittung für die Verhaftungen der letzten Tage. Die Deutschen verwenden jetzt eine andere Taktik als bisher. Um sich für die Zukunft abzusichern, behaupten sie offiziell, dass die Judenkommune gegen sie kämpft. […] Sie haben Angst […]. Ich stelle mir die Situation der Besatzer vor wie die eines Verbrechers, der plötzlich fürchtet, dass eine Tat ihn mit allen anderen Schandtaten belasten könnte. […] Sie sind kurzsichtig, waren es immer, aber sie spüren offensichtlich, dass das Ende ihrer Allherrschaft naht. Sie verwischen hektisch die Spuren ihrer Gräueltaten, doch es sind inzwischen so viele, dass sie der Situation nervlich und auch formell nicht mehr gewachsen sind. Ein kleines Beispiel: In der Lipowa spielen die Kinder ohne Rücksicht auf die Sperrstunde bis halb zehn. Solange es hell ist! Vor einem Jahr war es unvorstellbar, dass ein solches Vergehen ungestraft bleibt. Jemand aus Żoliborz sagt: »Zu uns traut sich so spät kein Deutscher mehr hin, allenfalls eine blaue Patrouille, aber auch die nur selten und mit Verstärkung.« Die Phantasie macht gern wilde Sprünge, ich sehe die Deutschen schon eingesperrt – von sich selbst – in den engen Umkreis weniger Straßen, nur dort sind sie sicher, überall sonst herrschen die Polen. Der Gedanke ist gar nicht so abwegig, auf dem Land passiert das schon, abgesehen von eigens besetzten Orten (wie etwa momentan Wielgolas) ist die Provinz exterritorial.
2. Juni Konstancja Hojnacka wurde verhaftet. Rita Rey erhielt einen Anruf von einer Person, die aus Lwów kam: »Sie ist wieder im Sanatorium, man weiß nicht, in welchem.«
4. Juni Furchtbar! In der Lwowska 6 tauchte morgens um zehn die Gestapo auf: Alle in den Hof, Wohnungen und Schränke offenlassen. Durchsuchung. Sie haben zwei Nichtgemeldete mitgenommen und auch – so erzählt man zum Trost – einen deutschen Offizier, der sich in Zivil dort versteckte.
Ich habe es! Der Doktor hat sein Versprechen gebrochen und mir kein Gift besorgt. Jetzt fragt er ständig, wann wir Champagner trinken, möglicherweise nie, das wäre dann meine Schuld, nicht seine. Ich werde im Strychnin Trost suchen müssen. Nur wirkt es nicht so schnell wie Zyankali. Das ist für die dicken Fische, kleine Fische wie ich können vor dem Tod ruhig leiden! Hauptsache tapfer! Und immer in Sorge, man könnte »in der Zwischenzeit« etwas Dummes, Unwiderrufliches sagen.
8. Juni Gestern kamen zwei Frauen aus dem Nachbarhaus, um Briefe aus Oświęcim vorzulesen. Es schreiben ein Sohn und ein Vater von vier Kindern. Beide loben »zuallererst« ihren Aufenthalt im Lager. Der Sohn schreibt ohne Rücksicht darauf, dass er das Herz des »lieben Muttchens« verletzt, es gehe ihm besser als bei ihr. »Das müssen sie ihm befohlen haben«, beruhige ich sie. Sicher ein Befehl oder der Eifer des Schreibers, beide Briefe wurden von der gleichen Hand verfasst. Obwohl sie nicht zusammen verhaftet worden waren, landeten die zwei Männer aus derselben Straße, demselben Haus, beide in Block 280. Der Junge nach einer Razzia, der Polizist wegen »krummer Dinger« mit Juden oder weil etwas schieflief und die Komplizen ihn bei der Gestapo denunzierten. Beide bitten […] inständig um Fett, um Brot, um alles.
11. Juni Die Furcht vor einer Blockade geht um. Tatsächlich, die Ausfalladern der Stadt wurden mit Stacheldraht versperrt, die Stadttore wurden wieder in ihr mittelalterliches Recht gesetzt. Wovon die Schieber profitieren, die Lebensmittelpreise steigen, Spekulanten prophezeien Hunger. Doch nicht die Versorgung mit Nahrungsmitteln soll gebremst werden, die jetzt per Eisenbahn kommen, es geht um die Kontrolle von Autos und Motorrädern. Naiv könnte man fragen: Haben nicht einzig und allein die Deutschen Kraftfahrzeuge? Oder eben jene, die sich zeitweilig als Besatzer ausgeben. Viele Anschläge des Widerstands geben sich heute den Anschein der legalen Form. Das Auto passiert den Grenzposten, ohne auf die Wachen zu achten, doch die Drahtverhaue bremsen den Schwung, dann kann man durchsuchen, Papiere prüfen …
Unsere Leute benutzen nicht nur Uniformen, sondern auch Stempel des Feindes, sie stellen normale Quittungen für Kontingentweizen oder Vieh aus, sofern sie keine anderen Kunststücke vollbringen, wie ich gestern von einem hörte – in der Kielcer Gegend kamen sie auf einen Hof, ließen den eigens herbeigeholten Metzger ein paar Schweine schlachten und zerlegen, Blutwurst und Würstchen machen … Dafür bekam er 500 Zloty und eine Zulage in Naturalien. Die Ohrmarken schickten sie ans zuständige Amt, damit der Gutsherr den Diebstahl ohne Probleme nachweisen konnte.
Das »Biuletyn Informacyjny«67 berichtet auf der ersten Seite von einem Massaker, Ende Mai wurden rund 600 Pawiak-Gefangene (Männer und Frauen) ermordet. Zuvor wurden sie in der Gefängniskapelle »verhört«, das heißt gefoltert. Um die Spuren zu verwischen, verbrannte man die Leichen in Ghettokellern.
Ich war in der Aleja Niepodległości. In den Kriegsjahren bin ich oft diese Treppe hinaufgestiegen. So viele Illusionen und Hoffnungen habe ich mit den Mirskis geteilt! Die Wohnung ist verkauft, damit ist Maria vorerst abgesichert. Lebt sie im Glauben, dass Mann und Schwester zurückkehren? Vielleicht sucht sie Trost, ich sage immer, die Menschen suchen einen Grund zum Leben … Nur sollen sie andere in Ruhe lassen, ihnen nicht die ohnehin schweren Tage vergällen! Ihre Rastlosigkeit, ihre Vitalität, ihre Unfähigkeit, sich den Umständen anzupassen, ist für uns einfach schrecklich! […] Gegenüber dieser Familie habe ich ein reines Gewissen. Ich habe geholfen, solange ich konnte, mich sogar in Gefahr gebracht, aber ich kann nichts hinzufügen, es würde auch nichts nützen. Ich habe keine Kraft, mir Marias phantastische Pläne anzuhören, unter allzu gefährlichen Umständen, ich habe weder die Kraft noch die Nerven. […] So wenig Kraft! Ich spare sie, um diese Arbeit zu vollenden, sie für die Zukunft vorzubereiten, ich muss sie nur noch ins Reine schreiben, meine Abkürzungen und Wortphantasien auf der Maschine sind selbst für die geschulte Fela nicht zu entziffern, darum muss ich Ordnung schaffen, alles aufgeräumt hinterlassen. Selbst wenn es eines Tages im Müll oder im Ofen landen und vernichtet werden sollte. Ich glaube an die früh gelernte Maxime: Du gehst ins Grab, nicht dein Werk. Das ist meine mickrige Form der Unsterblichkeit, aber sie gibt mir einen Anreiz zu leben. Diese Arbeit, in der – meine Schwester moniert es zu Recht – zu viel von mir steckt, die aber doch allgemeinen Wert für den Historiker hat, in ihrer Unmittelbarkeit trotz aller Mängel vielleicht wertvolles Material sein kann. Darauf vertraue ich, diesen Glauben brauche ich, um die Unordnung des häuslichen Lebens zu ertragen […], die materiellen Sorgen, die Küchenprobleme.
12. Juni Bis Dienstagmorgen soll jeder, der keine Kennkarte oder keinen Nachweis für eine Beantragung hat, in die Ulica Przebieg überstellt werden – die Verteilstelle für ungemeldete Bettler. […] Die arme Julia ist wieder in der Bredouille, jemand hat ihr längst eine Karte besorgen wollen, aber seit einiger Zeit nichts von sich hören lassen. Telefonische Nachforschungen, Sorge. […] Ich muss zum Magistrat … […] Manchmal komme ich mir vor wie eine philanthropische Institution, eine Fürsorgeabteilung für …
Überall in der Lipowa krähen Hähne. Unser »liebes« Proletariat bereitet sich ein Pfingsten, von dem es früher nicht einmal hätte träumen können.
Als ich gestern mehr zickzacklaufende Menschen als je zuvor gesehen habe, dachte ich, dass ich hier ein aktuelles Übel noch gar nicht erwähnt habe – die Trinkerei. Sie nimmt umso üblere Ausmaße an, als sie die einzige jedermann zugängliche Unterhaltung ist und der Fusel, der den Wodka ersetzt, viele noch unbekannte schlechte Eigenschaften besitzt. Er schädigt nicht nur langfristig die Gesundheit, schon sein Genuss verursacht viele unschöne Symptome.
13. Juni, Pfingsten Es ist warm, allein die Luft an meiner Haut zu spüren bereitet viel Freude, die Möglichkeit, so weit zu schauen, wie der Blick reicht … Zum Glück kommt die Phantasie hinzu, und so kann ich vom Aussichtspunkt auf Höhe der Aleja Na Skarpie, wo ich stehe, über die Dynasy auf die andere Seite der Weichsel fliegen … Nur nicht auf die Erde schauen, dort ist nichts als Schmutz und Papier! […] Auch sonst fehlt der Stadt jede äußere Disziplin. Junge Männer prügeln sich auf der Straße, und wenn sie Lust bekommen, schieben sie einem auf der Krakowskie Przedmieście mit dem Fuß einen brennenden Lumpen zwischen die Beine. Niemand interveniert. Wenn die Obrigkeit alle Gemeinheiten duldet … Der verängstigte Passant meidet Szenen, in denen ein unerwünschter Konflikt Aufmerksamkeit wecken könnte … Zumal in diesen Tagen, in denen die Gendarmen Papiere kontrollieren und alle auf dem Kieker haben …
Fela schreibt aus Wielgolas: »Ich erlebe meine sicherlich letzte Liebe – ›frei von Stürmen und frei von Begier‹68 –, der ich bis ans Lebensende treu bleiben werde: ›die Liebe zum polnischen Lande – sie ist es, die mich am stärksten hier hält‹69.«
Julias Problem ist gelöst. Ich hatte ein gutes Händchen, will sagen ein erfolgreiches Telefonat. Die Papiere sind da, ich kam auf dem Luftweg dorthin, wo ich hinmusste! Was für eine Erleichterung!
14. Juni Nach einem mit Schreiben und Lesen verbrachten Tag mache ich einen Vorabendspaziergang. Erst die übliche Trasse an der Weichsel, aber wer verbietet einem, die Kierbedź-Brücke zu überqueren? Ich laufe am rechten Ufer entlang, betrachte die Stadt und den schönen Sonnenuntergang, dann biege ich ab in den Zoo. Ein merkwürdiger Anblick. […] In den abgelassenen Zementbassins unterschiedlichster Gestalt […] spielen Kinder und Jugendliche. Nur im Nilpferdgehege ist ein Wasserkreis geblieben, ein Sportler führt seine Sprünge vor. […] Gemüsegärten nutzen jede zugängliche Fläche. Das Ziergebüsch ist von Vorstadtbesuchern okkupiert. Aus dem Dickicht dringt hysterisches Frauengekreisch, das Grün deckt die mannigfaltigsten physiologischen Funktionen. […] Ich erinnere mich an frühere Ausflüge, Pfingsten 39 liefen Irena und ich durch die gepflegten Alleen und verglichen diese Stadt der Tiere mit anderen, die wir in der Welt gesehen hatten. Ich spüre sie neben mir […]. Dann im Juli der Ausflug des Schriftstellerverbands. Der weitsichtige Janusz Stępowski fragte den Direktor: »Und wenn es Krieg gibt … Was geschieht mit den Löwen, mit Jasiek und Kasia?« Die gutmütigen Elefanten, Warschaus Lieblinge, sollten noch vorher sterben …
20. Juni Paradox, ein leeres Zimmer, während so viele eine Zuflucht für wenigstens eine Nacht suchen … Ich stelle es fest, und zugleich spüre ich, dass das Fassungsvermögen meines Herzens stark geschrumpft ist. Es ist kein Platz mehr darin für viele der Gefühle, um die ich während des Kriegs reicher wurde. Gleichgültigkeit gegenüber fast allem, was nicht diese – letzte – Arbeit ist.
22. Juni »Ich will, dass sie überlebt«, dachte ich sehr intensiv, als ich vom Balkon auf Ela herabblickte. Sie ging mit jungem, freiem Schritt. Die anderen haben das Ihre getan, unbestreitbare Verdienste erworben, so viel erlebt – wenn es also sein müsste … Für mich gilt dasselbe … Aber dieses Mädchen, das auf seinen Stern und die Zukunft vertraut, soll überleben.
»Falsch!«, sagen sie bei jeder Kennkarte. Man darf sich nicht beunruhigen lassen, vor allem nicht, wenn das Dokument tatsächlich nicht einwandfrei ist.
Der achte Himmel, so heißt Zuzas Terrasse, wo die Duftwicken blühen, die Sonne auf- und untergeht. Wir saßen dort und unterhielten uns. Man fragte, ob ich empfehlen würde, Russisch zu lernen, jemand biete Unterricht an, sogar uneigennützig. Es lohnt sich immer, etwas zu lernen, zumal das bei Einsamkeit und ständiger, anstrengender Arbeit sogar der Entspannung dienen kann. Zuza ist übrigens in ihre gegenwärtige Rolle »hineingewachsen«. Sie spielt sie nicht, sondern füllt sie aus. […] Letztes Jahr hing sie noch sehr an ihrem früheren Leben oder eher an der Erinnerung daran, jetzt schaut sie auf die Vergangenheit, wie man auf die Zukunft schauen sollte. Dem Gestern nicht seine Rechte absprechen, aber das Heute für wichtiger nehmen. Das eigene Foto im »Tygodnik Ilustrowany«70 von 1911 milde und freundlich betrachten, doch ohne Neid und Groll. Vielleicht hat sie noch nicht den Gipfel der Selbstentsagung erreicht, vielleicht flüchtet sie sich im Traum in jene Zeiten und zu jenen Menschen zurück, aber tagsüber ist sie nicht die schöne Frau im blauen Kleid, sondern das, was ein Mensch sein sollte, der würdig für den ruhmvollen Namen seines Vaters leidet …
24. Juni Gestern war einer unserer Schützlinge da, der an Weihnachten 1941 […] zu den Betreuerinnen, Ärzten und der Verwaltung des Krankenhauses gesprochen hatte. […] Er arbeitet im Untergrund. Sicher gut. Er redet gescheit, aber das Gedicht, das er mir zum Abtippen brachte, ist blanker Unsinn. So muss man es sagen. Mit einem nationalen Beigeschmack, jedes dritte Wort ist »Barrikade«71. Es wimmelt von Lechiten72 und Slawen, und Polens künftige Grenze ist die uralte Chrobry-Linie73. Ich bin so tolerant, dass ich nicht nur die Überzeugung nicht in Frage stelle, sondern auch die Ausdrucksform nicht kritisiere. Er ist ein netter Junge, voller Elan, und seine Haltung ist logisch und literarisch wenig erstaunlich. Viele denken so, nur frage ich mich, wie es sein kann, dass dieser Mensch in Prosa durchaus sinnvolle Sätze äußert, in gebundener Rede […] aber notorische Dummheiten fabriziert.
25. Juni Religion und Ethik lehrten uns über Generationen den Fluch der bösen Tat. Heute wird das Gute verfolgt. Einem Kind Zuneigung erweisen – dafür gibt es eine Kugel in den Kopf! Die Tragödie der Überlebenden wird eines Tages – vielleicht – in Büchern für Erwachsene beschrieben. Niemand wird die Kleinen mit solchen Abscheulichkeiten füttern. Realen. Mit acht umherzuirren, jeden fürchten zu müssen, der Menschensprache spricht, hilflos von Mächtigen verfolgt zu werden, nein, das wäre bisher keinem Märchen eingefallen. Und warum? Weil die Riesen in dem Winzling eine Gefahr sehen. Eine mutige Person hat ihn schon unter ihre Obhut genommen, man kann sie leicht […] »Tante« nennen und sich als Nichte fühlen. Doch nur einmal leichtsinnig hinaus in den Hof, und – »Halt!« Wie viele Gefahren über dem kleinen Köpfchen lauern. Und über dem Kopf der Helferin! Das ganze Haus ruft mit einer Stimme – sie ist gefährlich, sie wird uns ins Verderben stürzen! Der Hauswart und später der Verwalter verkünden im Namen aller: »Wenn Sie die Verdächtige (sie formulieren es so zurückhaltend, obwohl sie sicher sind, Nase und Haar verraten es …) nicht bis morgen fortschaffen, dann melden wir, dass Sie ein unerlaubtes (wieder, welch subtile Ausdrucksweise) Kind bei sich verstecken!« So geh also, streune durch die Stadt, flieh, gejagtes Tier, schleiche dich durch die Reihen der Feinde zu einer anderen Frau, die das arme Köpfchen schon mehrfach aufnahm. Doch was unterscheidet Hania von einer Katze, selbst wenn man sie fortbringt, findet sie fast mit geschlossenen Augen dahin zurück, wo es ihr am besten ging. Zur Tante, die mit jedem erlittenen Unrecht echter wird. Und wieder dasselbe, nur diesmal in einem bedrohlicheren Ton, wieder wird dieses Wesen, das normal betrachtet den Lauf der Welt nicht beeinflusst, zum Symbol der Macht. Die Deutschen müssen es beseitigen, damit im Staat der Hitlerfurcht alles glattläuft …
»Ich weiß, sie war seit dem Herbst bei dir, in deiner Obhut.« »Ja, aber als das Haus zu gefährlich wurde, musste ich sie fortschaffen. Um ihret- und um meinetwillen. Wir sind zu viert … wir nehmen die Bürde reihum für einige Tage auf uns. Heute Nacht bin ich dran … Ich gehe draußen nachschauen. Sie soll auf der Straße warten.« Meine Gastgeberin kommt lange nicht zurück. Ich werde unruhig. Die Vordertür, die in Kriegszeiten verriegelt ist, geht auf. Beide sind außer Atem, die Kleine war sich nicht sicher, ob der Termin bereits verstrichen war, und wollte schon zum gestrigen Unterschlupf flüchten. »Ich habe sie gerade noch erwischt! Und sicher hergebracht. Niemand hat uns gesehen.« Was ich vor ein paar Tagen über Ela sagte, höre ich auch hier, nur als an Gott gerichtete Bitte: »Lass sie überleben.« Gott soll, kann helfen, aber es ist auch ein Spiel mit dem Schicksal. Ein Wettlauf zwischen Gut und Böse … Wer wird siegen? […] Man kämpft übrigens nicht nur für Hania, sondern auch für sich selbst. Denn es ist klar, dass sie nicht standhalten wird, wo sollte so viel Heroismus in dem nervlich erschöpften Wesen herkommen? Wenn sie gefasst wird, wird sie verhört werden und alle verraten. All ihre Tanten … Im Kampf um das Leben der Kleinen kämpfen sie auch darum, ihr möglichst wenig Zuneigung zu zeigen. »Wenn sie mich liebgewinnt, ist es für uns beide umso schlimmer.« Ein Paradox, man muss seine guten Taten unter den Scheffel stellen, das menschlichste aller Gefühle vor dem Kind verbergen, für das man sich aufopfert. Das Mitleid unterdrücken …
27. Juni Ein normales Kind ist heute eines, das, obwohl es keine Eltern hat und unter sozialer Obhut steht, dennoch nicht gejagt und seiner Herkunft wegen verfolgt wird, sondern in einer freundlichen und sicheren Umgebung lebt. Diesen Eindruck bekam ich gestern bei […] Rysios Erstkommunion in Konstancin. Sauber, ja hübsch gekleidet für diesen, wie er in der Einladung geschrieben hatte, »feierlichen« Tag, wirkte er zufrieden wie die anderen Kinder. Ich war natürlich nicht so heldenhaft, mich zu sehr früher Stunde in der Kirche einzufinden, doch ich erschien ex machina, als man sich zum Frühstück setzte, so dass er, der niemanden hat, die versprochene Gesellschaft der Betreuerin erhielt.
3. Juli Halb zwölf. Ich bin an der Weichsel. Der Fluss ist Leben. Er fließt in die Welt, obwohl wir hier eingesperrt sind. Plötzlich ertönt das Krakauer Turmlied74, wie in alten Zeiten fliegt das Radiosignal über die Stadt. Ich wurde wehmütig bei dem Gedanken … Doch es ist das vom »Nowy Dzień« vorhergesehene Signal: Blockade. […] Straßensperren und Durchsuchungen. Razzien in größerem Ausmaß als bisher … Ich komme nach Hause, Fela empfängt mich. Die Lipowa wurde schon … Von der Ecke Dobra kamen vier Gendarmen, hielten die Passanten an, kontrollierten die Papiere und nahmen zwei junge Leute mit. Sie hat es von meinem Balkon aus gesehen.
5. Juli 8 Uhr abends. Der Lautsprecher hat als gesicherte Tatsache verkündet, dass General Sikorski75 bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen sei. Die Maschine sei in Gibraltar an einem Felsen zerschellt. Mit ihm starben seine Tochter und sein Stabschef Klimecki. Es wurde um vier Uhr gemeldet und um sechs Uhr wiederholt. Die Männer nahmen ihre Hüte und Mützen ab, eine Frau weinte laut, ich bin betroffen, habe aber noch einen Rest Hoffnung – es könnte eine Lüge sein. Schon einmal wurde eine ähnlich schlechte Nachricht in unser Jammertal gesendet …
Maria ist im siebten Stock gefangen, sie fürchtet sich vor Luftangriffen, derzeit ist das für sie die gefährlichste Bedrohung. Den alten Sorgen fügt sie freiwillig neue hinzu. Sie ist allein, eingesperrt in einer kleinen Wohnung, eine christliche Seele besucht sie und leistet Samariterdienste. Die gröbsten. Weil sie nicht einmal auf den Flur darf […], trägt Janina […] heimlich den Kübel hinaus … Tapfer und schlicht verrichtet sie diesen Dienst, während ihre vor Sorge zitternde Mutter die Zeit im Gebet verbringt. Ich habe sie heute begleitet, natürlich nur bis zum Haus […], um zu hören, in welchem Zustand sie die Arme angetroffen hat. So viele Verstecke hat sie schon gesehen! […] Ich habe wohl schon davon geschrieben, die Phantasie kreist um diese freiwilligen Märtyrerinnen, ich sage freiwillig, weil sie alles höher schätzen als den Tod. Sie zieren sich immer noch mit ihren Groschen, vielleicht lohnt es sich nicht, der Asylunterkunft 10 000 Zloty als Garantie bis zum Kriegsende zu geben? Was, wenn der Krieg in einem Monat vorbei ist?
6. Juli Ich glaube es nicht … […] Hoffen lässt mich, dass der Lautsprecher schon einmal etwas gemeldet hat, was das Schmierblatt dann nachdruckte: einen Unfall, nicht den Tod, auf einem Luftschiff. Eine offenkundige Lüge, warum hätte er so reisen sollen, wenn ihm ein Bomber zur Verfügung stand? Jetzt klingt die Lüge wahrscheinlicher. Warum? Der Nervenkrieg dauert an … Seit einer Woche quälende Luftangriffe auf Berlin, da ist es gut, das GG in Verzweiflung zu stürzen.
Das Toto … Pferderennen sind nicht nur ein erlaubter, sondern sogar ein gebotener Zeitvertreib. Selbst der Totalisator wird protegiert. Nahe beim Plac Unii, auf der Marszałkowska, haben sich Kramhändler breitgemacht, die Lose verkaufen. Um es der Öffentlichkeit bequemer zu machen – welch plötzliche Fürsorge! –, wurden Bänke aufgestellt. Zahlreiche Plakate informieren über den Wert der Pferde. Das Glücksspiel hat immer schon die Kleinsten wie die Großen angezogen. Unter deutschen Auspizien blüht es jetzt wie nie zuvor. Alles Ungesunde und Schlechte, was den Charakter deformiert und dem Geldbeutel schadet, ist für sie ein Sieg über die polnischen Seelen.
7. Juli Seit dem Frühjahr lebte ich im Schatten singender Jungen. Heute höre ich Männerstimmen, gleichmäßig, getragen, von Trauer erfüllt. Exequien … Sie dauern gewöhnlich drei Tage.
Heute wird die Wahrheit von keiner Hoffnung mehr angezweifelt. Noch gestern um diese Zeit konnte ich mir Illusionen machen. Das nachmittags gekaufte Schmierblatt bestätigte die Meldung vom Montag durch eine detaillierte Schilderung der Katastrophe. […] Später hörte ich »unsere« Version, leider ganz ähnlich lautend. Der Major verlas sie, ein Mann wie ein Stier, dessen Stimme man die Tränen anhörte. Abends wiederholte Fela den Bericht – mit nichtrhetorischen Pausen. Ich war schon ruhig, hatte mich innerlich ausgeweint …
8. Juli Ich bedauere sehr, dass ich heute nicht öffentlich sprechen kann, und sei es leise und anonym. Ich habe der Untergrundpresse meine Feder angeboten, über mir bekannte Aktivisten, womöglich künftige Amtsträger. […] Doch obwohl sie zuvor die mangelnde Unterstützung der Literaten beklagt hatten […], wurde das Angebot […] zurückgewiesen … Der »Nowy Dzień« entglitt mir aus eigener Schuld … Im Übermaß der Emotionen, die Sikorskis Tod auslöste, muss ich mich darauf beschränken, meine Gedanken für mich selbst zu notieren.
Liberator76 … Der hoffnungsvolle Name wird verflucht … »Die Maschine hasst den Menschen«, sagt eine Frau mit zornigem Blick in den Himmel. […] Andere Reaktionen auf die tragische Nachricht sind schlichter: Schmerz, ja Tränen. Die Sorge, dass unsere ohnehin lose innere Disziplin weiter nachlässt. Stimmen der Empörung über England, über Russland, die Suche nach den Ursachen der Katastrophe, als wäre das jetzt das Wichtigste. Und auch die Frage, wie er starb – elend, schön. In jedem Fall nutzlos für sich und für uns … Das ist das Schrecklichste … Ich sehe auch Gleichgültigkeit. Eine Dichterin sagt: Ich habe keine Kraft mehr, mich für was auch immer zu interessieren …
Mein Leiden ließe sich am besten in der Ansprache an andere lindern, aber so, wie es ist, muss ich kleine Hilfsdienste leisten … Gestern war ich bei Julia, ich wusste, dass sie über das schmerzliche Thema würde sprechen müssen. Sie war wie immer beschäftigt, stopfte ein aufgerissenes Hemd, vorher hatte sie einer armen Mitbewohnerin Unterricht gegeben. »Wir haben Schillers Jungfrau von Orleans gelesen, die Odyniec-Übersetzung. Es hat ihr sehr gefallen. Sag, denkst du, dass Johanna …« Ich denke nichts, ich sehe den Platz in Rouen, auf dem sie verbrannt wurde. Zuerst also dies … Das eigentliche Thema muss warten. Ihre Zimmergenossin macht sich ans Essen, nach Art des Alters und dieses Asyls und aus lebenslanger Gewohnheit bekreuzigt sie sich. Julia spottet (auf Französisch): »Sie nimmt Gott als Aperitif, vor jeder Mahlzeit.« […] Wir diskutieren den Tod des Generals, ehe wir zur Beruhigung der Nerven zu konkreten Fragen zurückkehren. Der Fürsorgerat verteilt Arbeit, das Auftrennen alter Pullover, für ein Kilo der so gewonnenen Wolle zahlt er 40 Zloty. Ist das viel oder wenig? Das läuft über Julias Vermittlung und sie möchte, dass nicht nur Bewohner des Asyls von der Wohltat des Verdiensts profitieren, sondern auch Literatinnen. Sie überträgt mir die Sache, die Suche nach Bedürftigen, und betont wie früher in der Marszałkowska: »Ich möchte nützlich sein.« Das ist schön, und ich bestärke sie!
10. Juli Das letzte Liebe und Schöne … Warschau. Die Vielfalt der Stadtlandschaft, in der Belwederska ist sie ganz anders als in Powiśle. Der Reichtum an frischem und jungem Grün. Jeder Baum des Universitätsgartens erfreut das Auge. Trotzdem …
11. Juli Weiterhin Anschläge. Aber ist es nicht so, dass auf einen von uns getöteten Deutschen 100 von ihnen getötete Polen kommen? Im heutigen Evangelium stehen die Worte Jesu zu Petrus: »Von jetzt an wirst du Menschen fangen.« Auch in der Gegenwart fangen sie Menschen … Für den Tod, nicht für das Leben. Ich zitiere das Evangelium, weil ich gerade aus der Messe komme. Ich war in der Kapelle der Ursulinen, um Jan Zieja predigen zu hören, von dem ich so viel Gutes weiß. […] Ich wurde insofern enttäuscht, als er heute, an einem Tag, an dem man viel pro domo nostra hätte sagen können, die Sache rein religiös anging … Offenbar musste es aus diplomatischen Gründen so sein. Ich betrachtete die Person im grünen Ornat. Ein unerträgliches Grasgrün, eine Qual für die Augen. Die Stimme – moderat, ohne Effekte, aber auch ohne künstliche Schlichtheit. So muss dieser Mensch sein. Mutig, da er über Maria sagte: »Gewährt ihr Unterschlupf, sie ist meine Cousine.« Eine schön archaisierte Sprache, nicht übertrieben, gerade genug, um die eigenen Worte dem Ton des Evangeliums anzunähern. Zu dessen Lektüre er rät. In dem er das Licht findet. Jederzeit könne ein Wunder geschehen – für die Armen, die Geplagten! Ein Wunder? Vor ein paar Tagen versicherte eine Zahnärztin, allein einem Wunder verdanke sie die Rückkehr ihres Mannes aus dem Oflag, ihres Pflegekinds aus dem Lager. Solche Wunder geschehen noch … Und wenn es hilft, darf man ruhig Wunder nennen, was ich als Glück bezeichne.
12. Juli Es hieß, in der Stadt hingen Totenzettel: Władysław Sikorski, Waffengeneral … […] Ich habe in Powiśle vergeblich danach gesucht, fand nicht einmal die Spur einer zerrissenen Anzeige. Ich war an den hiesigen Kirchen. Allerdings erst gegen Abend. Den ganzen Sonntag war Ela bei uns. Sie kam zum Mittagessen, danach sind wir gleich am Tisch sitzen geblieben – zur Vesper. Das geht heutzutage! Wir bedauerten die zerstörten Kunstdenkmäler, sie betonte zu Recht den Verlust von Werken, die in normalen Zeiten hätten entstehen können, aber nicht entstanden sind. […] Etwas nicht Wiedergutzumachendes […], nicht nur wegen der verlorenen Zeit, hinzu kommt auch die Erschöpfung des physischen wie des mentalen Organismus, die sich gleichfalls nicht kompensieren lässt. […] Fela sagt über Ela, sie sei de tout repos. In der Tat, sie hat so viele Schläge eingesteckt, noch einmal so viel Unglück mag auf sie warten, sie bleibt beherrscht. […] »Ich habe keine Angst vor Bombardements, ich habe Angst vor bösen Menschen«, bekennt sie wie ein Kind. Jeder von uns hat Angst vor bösen Menschen, in erster Linie vor »ihnen«, danach vor denen, die in ihrem Dienst stehen, ihnen unterstellt sind.
15. Juli Ich sorge mich um den Doktor. Es kommt keine Nachricht von ihm. Jemand schreibt aus Tschenstochau: »Tag und Nacht wird gejagt.«
Es gab einen Bombenanschlag im Café Club77, angeblich mit mehreren Toten. Als im Herbst dort eine Granate geworfen wurde, haben die Deutschen – obwohl allgemein bekannt war, dass es ein Streit ihrer eigenen Leute war – uns eine der wenigen Tagstunden genommen. Jetzt hätten wir keine Minute mehr, wenn die Bevölkerung weiter so für Gewalt gegen den Feind bestraft würde. Der Terror wächst. Sicher, es gibt zahlreiche Opfer auf unserer Seite, die Furchtsamen fragen: »Ist es das wert?«, doch wir sind Soldaten. An vorderster Front, wie das Exil sagt. Mit blutigen Taten bahnen wir uns den Weg zur Herrschaft. Denn ja, wir sind – oder werden allmählich – Herren der Lage. Sie verstecken sich immer öfter hinter Stacheldraht. Ich empfehle einen Beobachtungsgang durch Warschau …
Allan verbreitet Wissen auf dem Land – die Schüler sind nicht einfach, und obendrein hilft er bei der Ernte: »Vous vous imaginez!«
18 Juli Wieder eine Nachricht von Verhaftungen in Tschenstochau, sie durchkämmen die Stadt … Immer weniger Hoffnung, dass … Da hilft es auch nicht, mich daran zu erinnern, dass ich schon oft das Gefühl hatte, mit dem Schicksal zu spielen: Was wird siegen, mein Wunsch, diesen Menschen zu retten, oder die Vorsehung? Ich habe so viel Sorge in sein armes Leben gelegt, dass ich die Freundschaft stärker empfinde, als sie eigentlich ist. So tut es mir um jeden leid, dem ich mitunter die Hand reichte und der am Ufer untergeht.
Ich muss einen langen Spaziergang machen, um die Angst abzuschütteln, dass ein neuer Toter sich an mein Bett setzt … Ich fürchte ihn nicht, ich werde ihm kühn in die traurigen Augen schauen, nur will ich es nicht, ich will es nicht … Es sind einfach schon zu viele … Sie umkreisen mich, ohne Ausweg! Sie ziehen mich ins Dunkel … Karol, Józef, und jetzt Lucjan?
21. Juli In ländlichem Ton. Die Bauern lassen sich jetzt gern fotografieren. An den Wochenenden fahren viele professionelle »Photographisten« und Amateure in der Hoffnung, etwas Geld zu verdienen, in die Warschauer Vororte. Sie finden immer Kundschaft. Einer dieser Herren, der in diesem Tagebuch schon Erwähnung fand, von Beruf Architekt, im September 39 Oberleutnant Zbyszek, berichtet von seinem letzten Ausflug. Wir diskutieren die Gründe für dieses freiwillige, aber recht kostspielige »Sichverewigen«. Sicher, emotionale Aspekte spielen eine Rolle, er möchte sie in dieser oder jener Pose haben, sie möchte ihren Freund ständig sehen … Das Übliche. Abgesehen davon gehen die Fotos in den Export, zur Familie ins Reich, an Verwandte in unbekannten Ländern, ein Bauernknecht schreibt von der französischen Grenze: »Wojtek soll sich fotografiern lassen, schickt ne Karte, aber unbedingt aufm Pferd. Die Strolche solln wissen, dass wir mit Gäulen ackern, nich wie sie, die mit Ochsen pflügen.« Also Stolz auf die Familie, Lob des eigenen Landes.
24. Juli Die Menschen erfasst eine Psychose der Hoffnung. Das Ende ist nah. Wie viele werden es erleben? […] Gestern war Żyranik da, er nahm seine Last vom Rücken und ließ sich auf den Stuhl im Flur fallen. Fela gab ihm zu essen. Heute ist ein Stück Brot in jedem Haus obligatorisch, wo früher ein freundliches Wort zur Begrüßung reichte. Bei den einen fragt man sich also, wie sie dem neuen Morgen begegnen, bei den anderen – ob überhaupt? Viele fielen im ungleichen Kampf mit dem Schicksal! […] Alle stehen noch unter dem Eindruck von General Sikorskis Tod […], und es wurde bekannt, was maßgebliche Instanzen verheimlichen wollten – General Grot-Rowiecki78 ist verschwunden! Verhaftet! Jemand klagt, er sei schlecht geschützt worden, ein anderer empört sich, man habe ihn bei einer Frau gefunden. Als sei das verdammenswert, außerdem war es vielleicht in einem der sicher zahlreichen Verstecke. Auch er war am Ende nicht sicher …
Die Wichtigsten gehen von uns, die Besten verkümmern … Deshalb schäme ich mich fast, dass ich bisher frei atmen kann, arbeiten, André Gide lesen, der den gleichen Gedanken treffender in Worte fassen kann als ich … Ein geistiger Doppelgänger. Chacun ainsi doit toujours un peu de soi-même à quelquʼun dʼautre.79 Es geht mir weiter gut, ich kann notieren, was mir in den Sinn kommt, während ich gesunden Schritts durch die Aleje laufe. […] Ich kann noch schreiben – wenngleich nur für mich. Ich versuche, Władysław Sikorski öffentlich zu verabschieden … Plötzlich habe ich die Erklärung für das Verhalten von Witold Wolff. Als ich das Tagebuch vom Mai für Fela zum Abtippen vorbereitete, überraschte mich mein Vorschlag zu einem Treffen mit dem mysteriösen Redakteur. Ich habe ihn einfach und offen zu mir eingeladen wie einen Pariser Flirt zum Rendezvous! Heute, wo jeder den anderen fürchtet!
Trost aus Todesanzeigen … Dieses Thema wäre etwas für eine längere Abhandlung über den Sadismus, dem alle ein wenig verfallen sind. Wer sich in den »Beobachter« vertieft, studiert und vergleicht Tenor und Ton der schwarz umrandeten Anzeigen. So gibt eine Mutter bekannt: Ihr Mann ist gestorben, wie auch ihre vier Söhne tapfer ihr Leben gaben für Führer und Vaterland … Eine Ehefrau verabschiedet den frisch geehelichten Gatten, »drei Tage nach der Trauung auf dem Schlachtfeld gefallen« … Eine Familie wurde unter Trümmern verschüttet, die einzige Hinterbliebene vermeldet den Schicksalsschlag, ebenfalls als Opfer auf dem Altar der Pflicht …
26. Juli Maria Mirska, die wir vor einer Woche – reinen Gewissens, aber auch sehr erleichtert – nach Celestynów verabschiedet haben, ist wieder da. Sie hat Angst bekommen, sicher, alles ist sehr gefährlich, aber dort hatte sie ein Dach über dem Kopf, sie hätte nur so tun müssen, als ob nichts wäre … Das sagt sich leicht, aber im Kampf ums Leben geht es nicht anders. Entweder man gibt auf oder man kontrolliert die Lage, solange es geht. »Der Priester sagt auch, ich muss tapfer sein …« Jetzt zieht sie wieder durch die Stadt, huscht durch die Straßen und kommt in befreundete Häuser, wohl wissend, dass man sie mit immer weniger Mitgefühl aufnimmt. Es ist unendlich traurig, das zu schreiben, aber ich muss hier die Wahrheit sagen. Die Einstellung des Menschen zum eigenen Unglück ist die einzige Garantie sowohl für seine Rettung als auch für das Verhalten der anderen. Wenn jemand ständig betont, es gebe keinen unglücklicheren Menschen als ihn – dann wird selbst die christlichste Seele ihm das kaum abnehmen. Theoretisch wissen wir es gut, wir können uns sogar in die schlimmsten heutigen Qualen einfühlen, aber wir haben nicht die Nerven, es dauernd zu hören, vor allem, wenn sich noch Klagen über das Essen in der Unterkunft, über den Mangel an Komfort dazugesellen. »Wir haben in Menton80 gewohnt …« Im Geiste kommen wir alle aus Menton, aber heute sind wir zu Posemuckel verurteilt. Et encore … Nebenbei bemerkt, wenn das Schicksal mir noch einen Wunsch gestattet, dann würde ich meinen Lebensabend gern in warmen Gefilden verbringen. Wo immer die Sonne scheint, wo man nicht den Winter und die Dunkelheit zu fürchten braucht, nicht tausend warme Sachen tragen und die Beine mit Wollstrümpfen vor der Kälte schützen muss. Ich bereue nicht, dass ich in Polens schlimmsten Tagen im Land war, warum sollte ich also nicht wünschen dürfen, es in besseren zu verlassen?
1. August Während es in der Provinz immer gefährlicher wird, ist es in Warschau vergleichsweise ruhig … Geradezu erstaunlich … Wir leben, tragen helle Kleider, die Herren Sommerkleidung, wir sitzen an einem üppig gedeckten Tisch. […] Das Gespräch: Rekapitulation der Wochenereignisse, psychologische und politische Schlussfolgerungen. Italien und mit ihm Europa, wenn nicht die Welt, erwartet die Revolution. Das Gespenst des Kommunismus steigt über der Torte auf … […] Dann das ewige Thema, was besser sei, der schnelle Katyner Tod81 oder die sich auf Umwegen annähernde deutsche Methode. Man erinnert an die reichen Juden aus dem Westen, die in bequemen Zügen nach Polen gebracht wurden, mit eleganten Koffern voller Geld und Schmuck. Man ließ sie glauben, sie würden die neu eroberten Gebiete besiedeln, empfing sie in Treblinka mit Musik, tags darauf starben sie auf fortschrittliche Weise in den Gaskammern. Das heißt, der Staat plant diese Art der Bereicherung, denn abgesehen vom »Nutzen« der Beseitigung des Staatsfeinds Nummer eins ist der »Erwerb« von Gütern ein wichtiger Faktor. Der Gendarm, der unter Waren versteckt ein gut bezahlendes Opfer für ein kurzes Weiterleben aus dem Ghetto schmuggelte, tat das auf eigene Faust, doch die Züge, der ganze Pomp, wurden nicht von profitgierigen Einzelnen geplant, sondern von einem Teil der Beamtenschaft, der dem allgemeinen Verwaltungsapparat dient und untersteht.
2. August Ich erfahre, dass am 31. Juli das Mittagsprogramm des Lautsprechers unterbrochen wurde, statt Krakau meldete sich ein anderer Sender. Untergrundpolen zeigte sich in Gestalt seiner Stimme. Zu Beginn und zum Schluss erklang Dąbrowskis Mazurka82. Noch sei es nicht so weit … […] Warnungen vor der kommunistischen Arbeiterpartei, die auf Seiten der Sowjets stehe und den Ausbruch des Aufstands beschleunigen wolle. »Das Signal wird kommen. Wartet ab.« Das alles in hohem Ton, aber am meisten bewegte die Sorge um das Heute: »Geht ruhig auseinander, schaut euch um, gebt acht auf der Straße.« Die Verbindung war so effektiv gestört worden, dass an diesem Tag der Lautsprecher auch nachmittags stumm blieb.
Ich habe mich um das Vaterland und den »Nowy Dzień« verdient gemacht! Ich habe geschrieben, Beiträge bezahlt und von anderen eingesammelt, seit dem 1. wird er nicht mehr geliefert. Anfangs war ich wie immer besorgt, ich dachte, der Zeitung oder dem Boten sei etwas Schlimmes widerfahren. Der Lohn für treue Dienste, einmal mehr.
11. August Wäre es doch endlich zu Ende! Schon allein, damit jeder wieder tun kann, was er mag! Heute ist die Malerin nicht mit dem Skizzenblock unterwegs, nein, wenn es nicht sein muss, geht sie nicht aus dem Haus, nimmt den Augen die einzig verbliebene Nahrung – den Anblick der Straße, der Motive für eine Zeichnung liefern könnte. Das Fräulein ohne Papiere meidet Flirts, die Sportlerin den Strand. Um nicht dem Zufall in die Hände zu fallen, um sich für das Morgen zu bewahren. Die Ehefrau wohnt weiter bei der Mutter, sie meidet den Namen ihres Mannes, mit dem sie selten verkehrt, und wenn, dann in größerer Furcht, als wenn er ihr Geliebter wäre. Die Tochter sieht den Vater nicht, er hatte sich nicht rechtzeitig als Offizier der Reserve gemeldet, Monate vergingen, dann Jahre, nun muss er sich vor den eigenen Kindern verstecken – wie vor den deutschen Behörden. O Augenblick, wenn alle heute verschlossenen Türen weit aufgehen und jeder sicher seiner Wege gehen kann. Wenn alle in ihre Häuser zurückkehren, selbst wenn sie für immer leer bleiben, weil nicht alle überlebten, wenn die Hände der Freundschaft sich nicht in Briefen, sondern in der Wirklichkeit begegnen … Wenn wir nachts die Fenster enthüllen, alle Lampen anzünden, wenn wir wollen, o Augenblick, bist du schon nah?
16. August Die Deutschen haben Vorrang. So steht es um die Anwendungskultur in Busko-Zdrój83: Eine Frau kommt um sieben für ein Kohlensäurebad, sie ist die Zweite in der Reihe, man darf eine Viertelstunde in der Wanne sitzen, also sollte sie um halb acht fertig sein. Sie wartet bis elf. Denn immer wenn sie dran ist, muss sie zurücktreten. Für einen Deutschen. Das geht vier Stunden lang so. Vergeblich alarmiert sie den sehr korrekten leitenden Arzt – er kann nichts tun, am Ende erbarmt sich ein eleganter Oberleutnant und überlässt ihr seinen Platz. Ich stelle mir vor, wie gut ein solches Bad meinen Nerven getan hätte!
Eine Karte von Maria. Unverwüstlichkeit des Individuums oder der Rasse? Sie kommt zurecht … Aus der eigenen Wohnung vertrieben, schlief sie eine Zeitlang in der Waschküche ihres Hauses, nachts schaffte sie einen Strohsack hinein, vor fünf musste sie schon wieder hinaus … Dann war sie in einer Pension für 200 Zloty am Tag, schaffte es schließlich bis zum Bischof Bukraba, der freilich nichts für sie tat, jetzt ist sie in der »Dźwignia« untergekommen, einer Einrichtung für Näherinnen. Jeder muss heute flexibel sein, sie erst recht. Um à la page zu sein, begeistert sie sich für die Offenbarung des Johannes. Der gesunde Instinkt lässt den Menschen sogar seine Lektüreneigungen ändern, wenn die Situation es erfordert. Womöglich findet sie eine gemeinsame Sprache mit den kleinen Leuten, unter denen sie sich jetzt aufhält, so wie sie sich in Paris ohne Französisch verständigte, als es darum ging, Werbung für ihr Konzert zu machen.
17. August Warum müssen wir die Überzeugungen der Gläubigen achten, sie aber nicht unsere? Jemand berichtet von einer Predigt, der Priester habe von göttlicher Strafe für große Sünden gesprochen, die die Menschen zu Recht getroffen habe. Der gesunde Menschenverstand belächelt diese Antwort auf brennende Fragen, eine fromme Dame empört sich: »Wie können Sie nur …«
18. August Julia ist sehr krank, sie muss ins Krankenhaus gebracht werden!
19. August Ich habe Julia ins Heiliggeist-Krankenhaus gebracht, auf dem vertrauten Terrain von Ujazdów. Zuvor habe ich eine Auswahl aus ihrer armseligen Habe getroffen, die Leute haben ihr viel Wäsche und Kleider gespendet. Ich habe Manuskripte mitgenommen, Übersetzungen, Gedichte, die undeutlich, bisweilen auf die Rückseite bunter Pulvertütchen geschrieben waren.
23. August Ich sehe, dass im Tagebuch das Privatleben zunimmt. Meines und das von anderen Leuten. Mir ist heute klar geworden: Am Beginn des Kriegs, als wir dachten, er würde nicht lange dauern, reduzierten sich die menschlichen Sehnsüchte, es ging nur ums Überleben, doch je länger sich das Ende hinauszögert, desto größer werden die Bedürfnisse des Tages und des Herzens.
24. August Meine Rundreise oder vielmehr Hirtenrunde. Zuerst zu Julia. Sie ist sehr krank, die Schwester sagt: unheilbar. Die Arme spricht gelassen vom Tod. Nur sucht sie einen Weg ins gemeinsame Grab mit dem Bruder. »Sonst begraben sie mich in Bródno.« »Das will ich nicht.« »Es sei denn, ihr überführt mich später nach Powązki.« Ihr Leben lang hatte sie einen esprit fort, noch jetzt widersetzt sie sich der aufgedrängten Religion, und gleichzeitig möchte sie genau diese und keine andere Ruhestätte – für den verwesenden Körper! Ich verspreche zu tun, was ich kann! … Man muss Herz und Geist bis ans Lebensende aufrechterhalten … Danach bin ich zu nichts verpflichtet. […] Die zweite Hitlermärtyrerin treffe ich in einem besseren, ja guten Zustand an. […] Zuza findet Trost im Glauben, in der »Nachahmung«. Die Blümlein des heiligen Franziskus lindern ihren Schmerz. Auch andere mussten das Kreuz tragen.
25. August Żyranik hatte per Karte seine Ankunft vom Land für den 10. oder 11. August angekündigt. Er ist nicht gekommen. Hat nicht geschrieben.
Auf dem Platz Trzech Krzyży begegnete Ela ein Mann, der sie gründlich taxierte. Folgte er einer Frau, die ihm gefiel, oder einem Opfer, das Einkünfte verhieß? Mal ging sie langsamer, mal er, der Abstand schrumpfte und wurde wieder größer. Schließlich näherte er sich ihr und flüsterte vertraulich: »Sie werden beobachtet.« Sie solle ihm ihr Problem anvertrauen, es ließe sich bestimmt etwas machen, schlug er ihr vor wie ein anständiger Pole. »Kommen Sie mit in den Hauseingang.« »Nein!« »Auch gut, dann bringe ich Sie aufs Kommissariat.« »Gerne.« Er drehte sich um und – verschwand in der nächsten Seitenstraße.
Der »Nowy Dzień« schreibt zum dritten Mal seit Januar seinen Titel mit neuen Lettern. Offenbar geht bei jeder Abspaltung das Firmensignet mit.
29. August Ich war bei Julia. Es geht ihr zusehends schlechter. Sie nähert sich dem Ende, das sich hinziehen könnte … Zeitweilig steht sie an der Grenze zweier Welten, verliert den Kontakt zur Wirklichkeit, ohne zu fiebern. Sie halluziniert, nein – sie plant, wie sie es ihr Leben lang machte. »Mir ist eine Insel zugewiesen worden, ich möchte sie bestmöglich nutzen. Damit möglichst viele Personen etwas davon haben.« Plötzlich richtet sie den Blick auf mich: »Sag mir, wie ich das anfange.«
1. September Wieder September. Wer hätte gedacht, dass uns der Atem für vier Jahre reicht und dem Himmel das – schöne? – Wetter? Wie damals ist er eintönig blau.
Ich war bei Julia. Neben dem schlichten Mitgefühl für die Kranke arbeiten in mir auch – ganz normal – der Geschichtssinn, der Hang zum Psychologisieren, die Suche nach Verallgemeinerungen. Der Mensch ist ein beständiges Wesen, dachte ich, als ich das Krankenhaus verließ. Ich fühlte mich – geistig – sehr müde, musste alle Gedanken auf später verschieben, mich erholen. Im Ujazdowski-Park dominierten blasslila Blumen, wären es rote wie im September 39, könnte man hoffen – aufs Ende. Der Lautsprecher unterbrach meine Kontemplation mit der Meldung vom Rückzug von Taganrog84, derzeit suchen die Deutschen Ruhm in der gekonnten Flucht vor dem Feind.
Wir bekommen größere Hungerrationen. Die Lebensmittelkarten erfüllen zum Teil ihren Zweck. Es wurde doppelt so viel Brot versprochen … Aber das heißt nicht, dass wir mit ihnen gegen die Bolschewiken ziehen!
Ich war bei Maria. Sie mietet – ganz normal – ein Zimmer bei anständigen Leuten, die ihr nicht das Fell über die Ohren ziehen. Das ist eher – nicht normal.
5. September Seit einigen Tagen kommt der »Nowy Dzień« nicht mehr. Wieder eine Abspaltung? Erst ging die Rechte, dann die Linke, die Mitte hält für gewöhnlich zusammen. Oder doch nicht?
Ein im Hof aufgeschnappter Ausdruck – »schlimmer als eine alte Jungfer« – trifft auch auf Maria zu, die in ihren Papieren jetzt in den ersten Familienstand zurückversetzt wurde, den ganzen Tag Handarbeiten macht und noch eine Eigenschaft alter Jungfern besitzt – sie ist fromm. Fela sieht darin den Einfluss des Priesters, ihres Wohltäters und Betreuers – weil er ihr zum Teil das Leben rettete, verwandelte sich ihre Dankbarkeit unbewusst in den Kult seines Glaubens. Auch seine Person spielt eindeutig eine Rolle bei dieser Bekehrung. Dennoch scheint er ein vernünftiger Mann zu sein, der sich – zu Recht – vor […] Frömmlerinnen hütet. Soweit ich verstanden habe, riet er ihr zur Beichte, aber nicht in seinem Beichtstuhl! »Ich habe ein zweites Mal gebeichtet […], aber das war lange nicht mehr so nett.« […] Sie umarmt ein Büchlein, dass sie gerade bekommen hat. Sie hatte nach Kommentaren zur Offenbarung des Johannes gesucht, dem flammendsten der Evangelisten […]. »Der Priester wollte mir nur keine Widmung hineinschreiben.« Ich erkläre, er habe nichts riskieren wollen, nur um jemandem eine Freude zu machen. […] »Er hat heute so schön gepredigt, direkt in die Seele. Warum gehen Sie nicht zur Kirche? Ich wollte ihm Blumen schenken … Ich habe mich nicht getraut.« Dafür habe ich ihr ordentlich den Kopf gewaschen, ist er ein Schauspieler, den man für eine gute Darbietung mit Blumen überhäuft? Fela fragt naiv, ob sie immer religiös und fromm gewesen sei. »Nein, ich hatte die Musik, meinen Mann, das Haus.«
7. September Gestern Vormittag war ich im Asyl in der Solec, um auf Julias Bitte Zucker aus ihrem Koffer zu holen. Ich bereue, dass ich den Koffer nicht bei mir aufbewahre, wie sie es gewollt hatte. Lohnt sich der Aufwand, hatte ich gefragt, ich habe schon so viele fremde Sachen im Haus! Jetzt hätte ich die armseligen Schätze lieber bei mir, die Gaben freundlicher Spender, um die Wäsche an Bedürftige zu verteilen, denn so fallen sie in die Hand des Molochs, das heißt der Barmherzigen Schwestern, was die Arme am meisten gefürchtet hat! Dann fuhr ich nach Grochów, ins Krankenhaus für Schwindsüchtige. Das wievielte Krankenhaus ist es, in dem ich sie besuche? Dieses wird sicher ihr letztes sein. Ich fand sie in einem frisch gemachten Bett liegend, umgeben von sorgfältiger Pflege. Endlich gute Seelen, freut sie sich, nicht diese scheußlichen »Bajaderen«, die unter der steifen Haube kein Hirn haben, während ihre Herzen … Sie hat immer noch ihren kämpferischen Ton, obwohl sie insgesamt anders wirkt. […] Während sie sich vor zwei Wochen noch selbst bemitleidete […], könnte man jetzt, auch wenn es zynisch klingt, beinahe sagen, dass sie gelassen in die Zukunft blickt. Die Schwester bezeichnet ihren Zustand als Wohlbefinden, ein Wonnegefühl, das Sterbenskranke oft in den letzten Tagen empfänden. Julia war gestern – schön. Sie präsentierte sich nach alter Mode. Die Augenbrauen geschwungen, die Lippen – vom Fieber – sehr rot, die Wangen lebhaft gerötet, die Augen matt.
Es heißt – die Front ist elastisch.
Über Italien angeblich ein Schirm von Flugzeugen, über Berlin hängt ein künstliches Dach, bemalt mit Wiesen und Wäldern. Um die Navigation zu erschweren … Was für neue literarische Metaphern, was für Theatertricks – nutzlose Mittel zur Selbstverteidigung.
8. September Ich fühle mich nervlich sehr schlecht, das merke ich daran, dass nicht ich die Zeit kontrolliere, sondern sie mich, ich bin ihren Anforderungen nicht gewachsen. Dafür verstärken sich die Geräusche der Welt in gigantischem Ausmaß, je näher sie dem Ohr kommen. Ich muss etwas unternehmen – verreisen, aber wie und wohin? Die Arbeit fällt schwer, die Gedanken verschwinden in einem Nebel, durch den ich nicht zu der Sache durchdringe, die mich vor einem Moment noch beschäftigt hat. Das Karussell in meinem Kopf …
Ich habe keine Kraft, Julia die freudige Nachricht [vom Waffenstillstand zwischen Italien und den Alliierten] zu überbringen, der Weg ist so weit und ich bin so müde. Ich fahre morgen nach Grochów. Es heißt, heute Nacht hätte halb Warschau getrunken, die Telefone seien übergequollen von kaum codierten Nachrichten, in denen das Wort Makkaroni omnipräsent war.
Ich weiß nicht, ob sich die Italiener […] ihren früheren Verbündeten gegenüber loyal verhalten haben. Die List, vielmehr die Überraschung, besteht darin, dass der am 3. geschlossene Waffenstillstand erst am 8. bekanntgemacht wurde. […] Die Deutschen schäumen über die Italiener, sie nennen Badoglia und den König Verräter. […] Beiderseitige Verlogenheit. Man verspricht, aus dem Krieg werde eine Welt der Wahrheit und der Güte hervorgehen, doch vorerst kämpft man mit den alten Mitteln der List und der Täuschung. Das ist alles kein Trost für die Seele.
Unterdessen müssen wir […] uns mit der Bestattung der noch lebenden Julia beschäftigen. Vorausschauend, damit uns der Tod nicht unvorbereitet antrifft – in finanzieller Hinsicht. Übernimmt vielleicht die Sozialfürsorge, die Julia ins Krankenhaus überwiesen hat, wenn nicht die Arbeit, dann die Kosten? Ich schreibe fast ruhig über Julias nahenden Tod. Ich bin klugen Menschen begegnet, die wie ich der Auffassung sind, wenn Heilung unmöglich ist, soll man das Leiden durch Betäubungsmittel lindern. Was die Mediziner nicht immer für richtig halten. Uneigennützig verwahren sie sich gegen die Vereinfachung des Umgangs mit den Kranken.
Ganz Warschau liest Fiedler. Ein Märchen in Buchform. Angeblich war die Ausgabe, die ins Land kam, mit vielen Photos illustriert. Deshalb kosten unsere Kopien 250 Zloty. Von wegen. Staffel 303, Verlag Miecz i Pług, Warschau 1943, hat keine Illustrationen. Ich kenne den Verkaufspreis nicht, weil uns die 72 Seiten für zwei Tage ausgeliehen wurden, großes Format, kleine Schrift. An zwei Abenden schaffen Fela und ich es nicht gemeinsam, deshalb brechen wir ab, jede liest einen Teil für sich. Ein faszinierendes Thema, korrekt dargestellt, aber es reißt nicht mit. Es geht um den September und August 1940, als das Schicksal Englands und damit unseres und das der Welt von der Zielgenauigkeit der deutschen Bomben abhing. Churchill hat kürzlich gesagt, dass Großbritannien zusammengebrochen wäre, wenn die Angriffe länger gedauert hätten. Es war noch nicht zum Kampf bereit. Die polnischen Jagdflieger haben sich in der Verteidigung der Insel schön hervorgetan. Die Luftwaffe, schreibt der Autor, ist die Waffengattung, die dem polnischen Wesen am besten entspricht. In ihr lebt die Tradition […] des furchtlosen Ulanen wieder auf. Die Rolle des Schlachtrosses übernimmt das stählerne Pferd mit der Kraft vieler Pferde. Doch der Mensch verwächst mit der Maschine wie einst mit dem Tier.
13. September Aus dem heute wenig fruchtbaren Feld der Witze […]: Ein Pessimist und ein Optimist im Pawiak. Der Erste sieht das nahe Ende, keine Hoffnung. Der Zweite wartet weiter auf Rettung. Die Gestapo entscheidet ihr Schicksal: Beide werden zum Tod verurteilt. Auf dem Weg zur Hinrichtung können sie kurz ein paar Worte wechseln: »Und, habe ich es nicht gesagt, es wird traurig enden.« »Warum denn traurig? Sie werden uns hängen. Offenbar geht ihnen die Munition aus.«
Am Schloss Belvedere ist es herrlich … Der Salbei blüht, ein roter Pfad umrundet das Hofkarree. Vor dieser Kulisse steht das Schloss – restauriert und voller Erwartung.
Julia war überrascht, dass ich um diese Uhrzeit komme. Es war drei Uhr nachmittags. »Es ist doch Morgen.« Sie hatte nicht mitbekommen, dass seit meinem letzten Besuch neben ihr zwei Personen gestorben waren […]. Stattdessen rief sie sich nach der Gewohnheit dieser Monate, in denen sie von der Welt isoliert war, ihre Aufträge für mich ins Gedächtnis. Ich saß starr da, da kehrte sie gleichsam in die Wirklichkeit zurück; die gewohnten Floskeln des sozialen Alltags, das ist mir schon öfter aufgefallen, kommen den Schwerkranken zuletzt abhanden. Sie fing ein Gespräch an: »Was gibt’s Neues?« Sie wusste von der Einnahme Roms, jemand hatte es ihr gesagt, ich verstärkte die Trauer nicht durch die neueste Nachricht: Mussolini aus Badoglios Hand befreit. »Ich glaube, ihre Herrschaft wird keine hundert Tage dauern, trotzdem ist es eine schlimme Sache. Wenn die Alliierten die Deutschen schon ›überlisten‹, hätten sie es schlau anfangen und die Zeit nutzen müssen, um das Terrain zu säubern …« In einem Gedächtnisreflex erinnerte sie sich an den nahenden Venti Settembre, die Einnahme Roms durch Garibaldi85. Sie suchte vergeblich nach einer zeitgenössischen Strophe, die damals Polen und Italiener verband. Niedergeschlagen und deprimiert ging ich hinaus in den sehr schönen, sonnigen Tag.
Placówka86, 18. September Zu Fuß von der Tram nach Placówka auf einem von Königspappeln umsäumten Weg: »Es erfreute sich meine Seele am leisen Rauschen der Bäume.«87
19. September Die Atmosphäre hier hat etwas von der Provinz fernab der Hauptstadt, obwohl man sie am Horizont sieht und nachts die Großstadtlichter leuchten. In normalen Zeiten … Sie hat auch etwas vom Süden. Der Horizont zieht einen weiten blaugrauen Kreis, und darin ich, ein kleiner, warmer Punkt, fast pflanzenhaft lebend.
20. September Fela schreibt: »Julia ist heute Nacht gestorben.« Ich hatte sie am Freitag noch besuchen wollen, wirklich, ich hatte keine Kraft. Fela beschwichtigte: »Sie wartet ja nicht auf dich.« Sicher, als ich am Dienstag zum letzten Mal bei ihr war, wunderte sie sich, dass ich zu so früher Stunde komme, obwohl es schon nach drei war. Das Zeitgefühl war früh in ihr gestorben. Also wartete sie nicht. Wusste sie, dass Mussolini wieder frei ist? Selbst wenn es ihr jemand gesagt hatte, war es ihr vielleicht gleichgültig. Jedenfalls zeigte sie, wie ich jetzt sehe, große Lebenskraft angesichts einer unausweichlich zum Tode führenden Krankheit. Also hat sie nicht auf mich gewartet. Dennoch bedaure ich es heute sehr …
Ich bin zufällig nach Laski gekommen, das Dorf, das durch seine scheinbare Einsamkeit immer wieder abschreckt. Wie Katherine Mansfield, deren Briefe ich gerade lese, erfreue ich mich an jedem Blick, sammle die Details des Lebens.
22. September Frühstück im Bett, das heißt, ich gönne mir etwas für die 70 Zloty, die ich der Cousine zahlen soll! Ich zuckere den Kaffee – übermäßig – und schmiere mir dick Butter und Marmelade aufs Brot. Als wäre ich in der Schweiz. Und dann schiebe ich es mir in den Mund […]. Allerdings habe ich keinen Bruder, »der aus lauter Güte für sein Pferd ihm das Heu mit Butter bestrich«. Das geht in König Lear, für Kriegszeiten taugt es nicht.
Heute wird sicher Julia begraben. Bei meiner Abfahrt habe ich Fela gesagt, ich würde im Falle ihres Todes nicht kommen und ihr »den letzten Dienst erweisen«. Ich sehe das mitnichten als einen Dienst an. Für die Lebenden kann man etwas tun, aber … Ich habe meinen Standpunkt mehrfach erläutert. Sollte jedoch eines Tages ihr Andenken auf würdige und dauerhafte Weise geehrt werden, werde ich dazu beitragen.
Katherine Mansfield ermutigt mich, weiter von mir zu schreiben, entgegen Felas Kritik finde ich am interessantesten, was ein Mensch von sich bekennt. […] Katherine Mansfield wollte ein kleines Stück ihrer Wahrheit bewahren – und das will auch ich. Ihr Tagebuch und sicher auch ihre Briefe wurden hart kritisiert. […] Na und? Jeder Mensch muss seine von Fiktion unverfälschte Spur hinterlassen.
25. September Ich kehre nach Warschau zurück… Vorzeitig. Die Phantasie ist mit mir durchgegangen … Auf der inneren Leinwand ballten sich die Bilder eines Krimis: Das »Geheimnis des Türbriefkastens« ist enthüllt. Er ist übervoll mit Untergrunddrucken […]. Nach einigen Tagen entsteht ein Stau, neue Lieferungen lassen sich kaum noch hineinstopfen, bis am Ende […] die Klappe bricht und die Last mit Schwung auf den Boden fällt. Die sorgfältig in Papier gewickelten Päckchen mit der Signatur »Li« als Adresse zeugen von regelmäßigen Lieferungen […]. Hier ist eine Hand am Werk, die kein neues Terrain sondiert, sondern in bewusster Freundschaft täglich Gaben bringt. Der vom plötzlichen Getöse überraschte Hund beginnt zu bellen, die Hausbewohner laufen zusammen […]. Erstaunen, Empörung, Entsetzen. »Sie bringen Unglück über das Haus«, schreit unsere Vermieterin, eine Walküre mit zerzaustem Haar, im Nachthemd statt Morgenrock. Sie stößt Verwünschungen aus und schließt mit den Worten: »Jetzt müssen sie nachgeben, wenn ich ihnen die Zimmer kündige. Und dann vermiete ich jedes für 500 Zloty und habe ordentliche Mieter.« Tableau.
In einer anderen Version nimmt die Szene einen glücklichen Verlauf, sowohl die Arbeit der Botin als auch unsere Verbindung mit ihr waren ein offenes Geheimnis. Der Hund, dem der Instinkt sagt, dass sie kein Einbrecher ist, bellt die hereinschleichende Person längst nicht mehr an, die Mitbewohnerinnen drücken beide Augen zu […]. Der Hauswart […] lächelt vielsagend und brummt: »Was will denn dieses Fräulein immer hier?« Aus diesen widersprüchlichen Streichen der Phantasie geht hervor, dass ich zurückmuss, obwohl die Landschaft meinen wunden Nerven weiter guttut. Fela ist zur Silberhochzeit unseres Bruders nach Wielgolas gefahren, das Haus braucht mich, ich muss den Briefkasten hüten.
Der letzte Vorabendspaziergang. Herbstarbeiten. Die Dorfleute ernten Kartoffeln, pflügen. Wenn man hier übers Land läuft, könnte man meinen, es wäre ein Paradies ohne Deutsche. Jedenfalls ist von ihrer Ordnung nichts zu sehen.
Warschau, 28. September Noch vor einigen Monaten war ich, wie mein ganzes Leben lang, risikobereit, entscheidungsschnell und kompromisslos. Heute bleibt mir nur noch die letzte Eigenschaft. Ich bin sehr müde.
Bei Julias Beerdigung waren sieben Personen, manche Freundinnen haben sie in den Jahren nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis nicht besucht oder es nur einmal gewagt. Jetzt werden sie sagen: Wir waren beim Begräbnis. Ich gehe heute noch einmal ins Asyl, um Julias Besitz aufzulösen. Weil sie mir die Schlüssel für den Schrank und den Koffer überlassen hat, muss ich dieses traurige Ritual vollziehen, das recht unangenehm ist, denn sicher wird es hinterher Streit geben, dass die Sachen nicht gerecht unter den Bedürftigsten verteilt wurden. So ist es immer.
Julia hat bei Bewusstsein keine Beichte abgelegt, kein Zwang konnte sie von ihren Überzeugungen abbringen. In Heiliggeist gab es einen Priester, aber, wie sie sagte: »Das Gespräch mit ihm war keine Beichte, sondern sehr angenehm, er war intelligent und hat meine Klagen über Gott angehört.« Ich wüsste nicht, dass es in Grochów entsprechende Versuche gab, auch wenn ich einen Priester gesehen habe, der in den Saal kam und seinen Beistand anbot. Er wurde sicher in der Todesstunde gerufen, aber da war sie schon wehrlos, also ist sie ihrem Lebensgrundsatz treu geblieben, hat nicht einen Augenblick geschwankt.
Julia hat gelassen vom Tod gesprochen, sie wollte nur nicht von deutscher Hand sterben. Diesen einen Wunsch haben sie ihr erfüllt.
1. Oktober Ich dachte, ich würde heute in der Arbeit zurückgehen, ältere Abschnitte ordnen, aber nach diversen Begegnungen hat sich einiges Material angesammelt, das ich wirklich nur aus Chronistenpflicht notieren muss. Manchmal scheint das Schreiben sinnlos. Das letzte »Biuletyn« raubt einem alle Hoffnung. Die Alliierten zögern, der Konflikt mit den siegreichen Sowjets verschärft sich.
Eine Untergrundlotterie. Der »Nowy Dzień« ist in Finanznöten und tatsächlich auch schwer zu lesen. Auf manchen Seiten sind die Buchstaben kaum zu erkennen. Er bittet die Leser um Hilfe. In einem humorvollen Leserbrief bietet Pani Felicja (nicht meine Schwester) »die Reste meines Magnatenvermögens« in Gestalt eines Silbertabletts an und schlägt vor, es zu verlosen. 100 Lose zu je 20 Zloty. Der Losverkauf und später die Aushändigung des Tabletts an den Gewinner sollen auf normalem konspirativem Weg erfolgen, das heißt durch die Boten.
3. Oktober Il faut s’installer dans l’hiver. Vielleicht verreise ich noch für zehn Tage, um Kraft für den Winter zu sammeln, aber man muss schon jetzt an ihn denken wie an ein potenzielles Übel. Unsere Verhältnisse gestalten sich in diesem Jahr etwas freundlicher, weil wir für 50 Zloty pro Monat den ganzen Tag Strom haben werden. Die Menge ist begrenzt, aber wir werden uns weder mit Lampen – Öl kostet jetzt 60 Zloty – noch mit Kerzen behelfen müssen. Trotzdem habe ich beim Küster von nebenan für 80 Zloty ein Kilo halbwächserne gekauft. Er bekommt eine Zuteilung für die Kirche, aber einen Teil verkauft er schwarz. […] Außerdem will ich den Winter regeln, was Gäste betrifft. Ungeladene, die einfach so hereinschneien. Wenn wir darauf eingestellt sind, empfangen wir jeden Besucher gern, doch unschönerweise hat es sich eingebürgert zu sagen: »Die Damen sind morgens zu Hause«, und dann kommt jeder mit seinem Anliegen genau dann, wenn ich am besten arbeiten kann. Ich habe vor, einen Nachmittag für Interessenten zu bestimmen. Ich will eine Vorleserin finden, die zweimal die Woche kommt. […] Ich sehe, wie wenig Kontakt ich mit Büchern habe, den Augen ist schon das Schreiben fast zu viel, das Lesen strengt sie noch sehr viel mehr an. So für den Winter abgesichert, werde ich ihn hinnehmen – für mich persönlich als eine weitere Plage des Teufels.
6. Oktober Zu Recht argumentiert Hitler in Mein Kampf, dass die Propaganda durch ständige Wiederholung selbst die größten Niederträchtigkeiten in die Köpfe der Menschen zu pflanzen vermag. Nicht nur in die deutschen, die ihrem Wesen nach zum Gehorsam neigen, sondern auch in unsere – rebellischen, furchtlosen. Viele nazistische Wahrheiten sind in unser Denken eingesickert, so der Antisemitismus, der sich in eindeutigen Hass verwandelt hat, gegründet nicht nur auf – angeblich – ökonomischer Notwendigkeit, sondern auch auf »Belegen« für den Verrat der Juden an den Polen in Bolschewien wie in der ganzen Welt! Ihr »wissenschaftliches« Fundament erhalten diese Theorien durch die gerade erschienene Broschüre Die Protokolle der Weisen von Zion, ein Nachdruck der Erstausgabe von 1937. […] Sie kostet rekordverdächtig wenig, fünf Zloty, was bei den heutigen Buchpreisen offensichtlich den Erwerb erleichtern soll.
Tee vom Himmel! Es heißt, am frühen Morgen hätten kleine Beutelchen in den Straßen der Stadt gelegen – ein Deka Tee, wie sich zeigen sollte, ausgezeichneter aromatisierter. Mit einem Gruß von Roosevelt: Haltet durch, das Ende ist nah etc. – ein Knüller! Sie sollen von einem Flugzeug abgeworfen worden sein, das vor einigen Tagen über Warschau kreiste. Es sank tief herab und stieg dann wieder steil in die Höhe. Heil und unbeschadet, obwohl die Flugabwehrgeschütze in der Luft nach ihm suchten.
Späterer Nachtrag: Aromatisierter Tee, Amerika – bloß eine Erfindung!
8. oder 9. Oktober Mittagessen in der Pierackiego mit Halina Dąbrowolska, Maria Dąbrowska und Karol Irzykowski. »Die liebe Julia ist tot? Ich dachte, sie sei schon vor längerem gestorben!« […] Er hatte nicht versucht, das irgendwo aufgeschnappte Gerücht zu überprüfen, obwohl er gewusst hätte, wo – bei mir. Er erinnert an die linguistischen Sitzungen in der Marszałkowska 119, Telefon 519. Julia sagte früher immer, man müsse bloß diese Nummer in ihren Grabstein meißeln, dann wisse ganz Warschau, wer dort liege. […] Sie fragen, ob sie während der Kriegsjahre über ihre Zeit im Gefängnis und die anschließende Odyssee geschrieben habe. Nein, manchmal verrät ein Gelegenheitsgedicht, wo sie war und was sie gesehen hat. Aber wie sie es sah …? Sie hatte ja nie […] einen Sinn für die Wirklichkeit. Sie schwebte in Ideen. Ich beneidete sie um den Kontakt mit den unterschiedlichen Frauen, denen sie in der Daniłowiczowska begegnete, dort waren Prostituierte und Diebinnen. […] Sie aber konnte ihn nicht einmal sprachlich nutzen. Abweichungen von der literarischen oder wenigstens alltäglichen Norm interessierten sie nicht. Sie erklärte, wie es korrekt heißen müsse, und verdarb es sich so mit den Frauen, die gewohnheitsmäßig ihre kleinen Gedanken in drastische und vulgäre Worte fassten. […] Auch die diversen Krankenhäuser, in denen sie war, boten ihr kein Material für neues Schaffen, sie suchte die höheren Geister […]. Andererseits blieb sie unbeugsam, sie selbst. Auch das ist eine große Stärke. […] Halina betont zu Recht: Alle, die starben, sollten von den Kollegen umfassend gewürdigt werden. Und Irzykowski hat es eilig, seine Stenographieklasse wartet.
Konstancin, 19. Oktober Ich habe mich so weit erholt, dass ich mich imstande fühlte, etwas zu geben. Ich wollte Rysio besuchen. Er ist seit einem Monat nicht mehr hier, man hat ihn in einer anderen Einrichtung des Fürsorgerats untergebracht. Er hat nicht einmal geschrieben. Kinder sind undankbar. Ich werde ihm trotzdem eine Karte schicken, nein, lieber einen verschlossenen Umschlag mit Briefmarken.
Wieder furchtbare Nachrichten aus Warschau. Es mehren sich die Märtyrerfriedhöfe. In der Piusa werden Blumen und Kränze abgelegt, vergebens zertrampeln preußische Stiefel die Ehrbezeugungen. Weil man Repressionen gegen die Älteren fürchtet, zünden kleine Mädchen die Grabkerzen an. Dem Tagebuch entgingen »spektakuläre« Szenen, aber das Schicksal schonte die Augen und das Herz. Wieder bin ich über die schrecklichen Tage verreist …
Ein zweiter Altweibersommer. Meine Freude über die Sonne und die Wärme beweist mir, dass ich – auf neue Weise – noch glücklich sein könnte. Gut schreiben. […] Ich lese den Anfang des Tagebuchs und sehe, wie blass der September 39 geraten ist. […] Aber ich schreibe nicht für Schöngeister. Ich möchte den Historikern Material aus der Zeit der Verachtung liefern, selbst aus diesem Tagebuch können sie Wahrheit ziehen.
24. Oktober
Warschau, 18.10.1943
Sehr geehrte und liebe Dame.
Viele unerfreuliche Ereignisse, von denen einige im »Nowy Dzień« ihren Ausdruck fanden, haben mich trotz bester Absichten daran gehindert, auf Ihre freundliche Einladung von vor einigen Monaten zu reagieren. Wenn Sie Ihre wohlwollende Haltung gegenüber der Zeitung und natürlich auch mir nicht geändert haben, würde ich mich unermesslich freuen, wenn das seinerzeit von Ihnen vorgeschlagene Treffen nun zustande käme. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir einen recht baldigen Termin nennen könnten, an dem ich mich bei Ihnen melden kann.
Ich möchte auch darum bitten, einen Nachmittagstermin ab 17 Uhr festzulegen.
Ich hoffe sehr, dass Sie »trotz allem« weder uns noch mir böse sind.
Mit aufrichtiger Hochachtung und herzlichen Grüßen.
Witold Wajsyn
30. Oktober Es war schön hier. In der künstlichen Abgeschiedenheit konnte ich die ruhebedürftigen Nerven täuschen. Ich musste kaum sprechen, niemandem zuhören. Nachrichten kamen durch einen fernen Lautsprecher, beinahe irreal […], entfärbt von der teuflischen Macht der Wahrheit. Dort werde ich immer daran denken müssen, dass Warschau zum Schlachtfeld geworden ist, dass man seine Position einnehmen muss. […] Es sind keine mehrtägigen Exzesse mehr, sondern die seit zwei Wochen fest etablierte Methode blutiger Razzien.
31. Oktober Die letzten Worte in Konstancin. Wir haben uns über die Passivität der Juden entrüstet. Haben gedroht. Und übernehmen jetzt die Initiative. Der Terror ist in unserer Hand. Die Deutschen beginnen die Polen zu fürchten … Nicht mehr mit Blick auf die Zukunft, sondern unmittelbar. Anschläge ohne Vergeltung und Strafe. Gerade haben sie wieder Oberwasser … […] Man braucht einen sicheren Unterschlupf in allen Stadtbezirken, denn sie gehen jetzt systematisch vor, zur Abschreckung, überall, damit Warschau ein einziger Friedhof wird. Deshalb gebe ich unsere Adresse Halina Gąsiorowska, die in Powiśle keine Bekannten hat.
Morgen reise ich ab. Die drei Wochen waren eine wichtige Erholung von Warschau, nun kehre ich – wie früher – zur Wintersaison in die Stadt zurück. Ich plane gewisse Änderungen, neue Freuden und neue Pflichten. Von Letzteren nicht viele … Ich habe keinen Groschen Altruismus mehr übrig. Nicht aus Enttäuschung über die Personen, denen ich half, sondern weil das Gründungskapital aufgebraucht ist. Lange habe ich jedes Jahr den Saisonwechsel […] als möglichen Anlass für neue Überraschungen begrüßt. Ich wurde nicht enttäuscht, auch wenn es manchmal andere waren, als ich erhofft hatte. Doch ob bitter oder süß – es waren Früchte des Lebens. Jetzt genügt mir das Projekt einer Vorleserin, die Suche nach geistigen Impulsen, die fremdes Wissen uns liefert. Es sind so wenige, der Kopf arbeitet nicht, er rostet ein im Alltagsbetrieb, während früher Gymnastik die angeborene geistige Mobilität stimulierte.
Frau Gąsiorowska […] arbeitet offiziell bis heute im Lesesaal des bis vor kurzem von Professor Henryk Mościcki geleiteten Ateneum (in der Aleja Niepodległości). […] Sie berichtet von der »Säuberung« der Bibliotheken. Sie hat den Glauben an die Methodik der Deutschen verloren. Sie hätten die Sache chaotisch und unsinnig betrieben. […] Es gab keine allgemeine Liste von Werken, die zur Vernichtung bestimmt waren. In jedem Einzelfall, jedem Lesesaal wurde individuell vorgegangen. Je nach Gutdünken oder Intelligenz des Zensors wurde dieses oder jenes Buch aus dem Verkehr gezogen. Aus manchen wurden nur einzelne Seiten »entfernt«. […] Dabei übersahen sie mitunter die – wie man hätte meinen können – brisantesten Stellen. […] Die gewitzten Betreiber des Lesesaals verfielen auf die List, keine Bücher zur Kontrolle einzuschicken, sondern eine Liste mit vermeintlich zur Anschaffung vorgesehenen Titeln. Die verbotenen Werke wurden aus dem Katalog gestrichen und an einem sicheren Ort versteckt.
Ich füge eine in zweifachem Sinne historische Notiz hinzu. Prof. Mościcki führt neben dem Lesesaal eine Bar. Mit der Menge des dort getrunkenen Wodkas hat er einen guten Gradmesser für die Stimmung in der Hauptstadt. Wenn mit den Gläsern angestoßen wird, ist das ein Zeichen aufkeimender Hoffnung. Anlässe gab es schon viele … Andere betrinken sich besinnungslos, wenn es schlecht steht … Stagniert die politische und militärische Lage, fällt das Einnahmenbarometer auf Null …
Warschau, 5. November Nachmittag. Ich schalte alle Lampen ein, denn es ist ein großer Feiertag, der Abschied von der Elektrizität. Er verheißt unfreiwilliges Heldentum, das bis an mein Lebensende andauern kann. Nur bei ausgewählten Doktoren, die zu Seelen- und Augenärzten werden, werde ich gelegentlich noch solch helles Licht sehen … Unterdessen müssen wir, poetisch gesprochen, zurück zu den Fackeln, will sagen zur perfektionierten Henneberg-Karbidlampe … Wie viel Geld und Nerven diese Art von Beleuchtung kosten wird … […] Ich habe dem Arbeiter zugesehen, der am Stromverteiler herumwerkelte, ihn einen Volksfeind genannt. Der Schmerz erwacht mit dem aufziehenden Leid. Wenn es da ist, explodiert die Wut. In einer harmonischen Familie geht man sich an die Gurgel, sobald die Karbidlampe zu flackern beginnt, einer gibt dem anderen die Schuld. In größerem Maßstab geschieht das auch in der Gesellschaft. Doch lasst uns nicht aufgeben, lasst uns die Liebe bewahren und durchhalten. Diese dummen Worte schreibe ich am Rande der Verzweiflung. Noch brennt das Licht.
6. November Gestern hätte ich unter dem Eindruck der Stromsperre ein wahres Drama geschrieben, wenn ich nur das geringste Talent dazu hätte. Heute […] sage ich: Il faut s’installer dans la misère. Es wird ja auch kein pures Elend, sondern ein beglücktes, weil man sich zumindest teilweise behelfen kann. Also primo, nicht an Karbid und Kerzen sparen, solange es geht. Heizen, bis die Kohlen ausgehen. […] Sich wieder an die Arbeit machen, wieder sagen: »Du gehst ins Grab, nicht dein Werk.« Und selbst wenn das eine wie das andere woanders hingehen sollte, will ich nicht daran denken.
7. November Gestern war ich bei Zuza. Den Hinweg habe ich vom Plac Trzech Krzyży zu Fuß zurückgelegt, nach Hause bin ich den ganzen Weg marschiert. Es war unmöglich, in die Tram zu kommen. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass ich unterwegs Eindrücke sammeln würde. Natürlich negative. […] Zuza empfing mich in ihrer Einsamkeit voller Freude. Sie hat im Moment selten Besuch, die Tochter kommt seit drei Wochen nicht wegen der Razzien. […] Es geht ihr wieder schlechter, sie wiederholte die Frage, die sie auf einer Karte gestellt hatte: »Wird es für mich einen Platz bei euch geben?« Das fragt sie alle … Eine ehrliche Antwort wäre herzlos, doch ich habe ernste Bedenken … Sie leidet, weil sie unter Todeskandidaten lebt, die Menschen stürben vor Hunger, am Morgen habe sie im Garten vier Leichen »lagern« gesehen. Bei den Kindern spare der Fürsorgerat nicht … In diesen Worten lag Bitternis.
Kiew ist erobert. Die Bolschewiken kommen immer schneller voran. Die Alliierten sind ihnen weiter einen halben Schritt voraus. Wir hatten den leidenschaftlichen Tango Notturno, heute summt Warschau den Tango Volturno.88 Die Deutschen versichern: Den können auch die Kriegsmüdesten tanzen. Ich glaube inzwischen, es wird ein kurzer Tanz. Denn nicht nur die deutschen Hoffnungen haben sich erschöpft, sondern auch ihre Optionen. Marche en arrière, dazu auf fremdes Terrain.
Ich bin um halb sieben aufgestanden, mit dem Morgengrauen. Zuerst beschäftige ich mich mit Dingen, die ein Minimum an Licht erfordern, so sitze ich schon um acht, nach dem Frühstück, an der Maschine. Bis jetzt, weil ich in guter Form bin, aber auch wegen des Mangels an Licht und der Gewöhnung an einen neuen Lebensrhythmus. Früh ins Bett. Im Warmen noch ein wenig nachdenken, dann schlafen. Ich kehre oft in die Vergangenheit zurück, was ich früher, vor 39, nicht brauchte. […] Es ist eine Kompensation für den Mangel an Eindrücken.
Beim Durchsehen des Tagebuchs von 40 bin ich zu einigen Schlussfolgerungen gelangt […]. Mich frappieren die Zaghaftigkeit der Äußerungen, das Chronistische und die Kargheit der Sprache, die wenig Einblick in viele Dinge ermöglicht. Doch das entspricht der damaligen Stimmung. Alles geschah en sourdine89. Jeder verbarg vor dem anderen, dass er etwas tat, sich nicht nur den Alltagssorgen widmete. Es drohten nicht nur Straßenrazzien, sondern auch Hausdurchsuchungen. Wenn unsere patronne erfahren hätte, dass ich Tagebuch führe, hätte sie uns wohl aus der Wohnung geworfen. […] Man musste sein Schreiben vor dem Dienstmädchen, vor Gästen verbergen. Ausgenommen waren Menschen, die konspirativ arbeiteten und dies selbst vor ihrer Familie geheim halten mussten. Daher die, wie ich heute sehe, unbedachte Knappheit dieser Notizen – wenn man schon etwas riskierte, hätte es mehr als weniger sein sollen. Auch das hätte einen nicht gerettet. Das Problem der Gefährdung von nahestehenden Menschen wurde noch breit diskutiert, eine moralische carte blanche bekam ich für meine Arbeit eigentlich erst, als ich meine Schwester einbezog … Heute gibt es fast kein Haus, in dem niemand am Aufbau des künftigen Polen mitwirkt, doch es gibt auch fast keine Familien ohne Opfer …
10. November Als Ela gestern erzählte, dass sie wieder die Wohnung wechseln muss, sagte sie leise: »Alle meine Bekannten sind erledigt …« […] Ich tröstete sie: »Kind, das Schicksal wird dich am Leben lassen.« Sie ist wiederholt demselben Jäger ins Netz gegangen. […] Er wollte als »anständiger Pole« vorgehen, die Sache unter der Hand regeln, ohne die Polizei einzubeziehen. Als sie sich bereit zeigte, zum Kommissariat mitzukommen, zog er ab, um einige Wochen später bei passender Gelegenheit in einer anderen Straße wieder aufzutauchen. Sie wollte sich verstecken, er erspähte sie, sie trat in einen Hauseingang, er hinterher: »Jetzt habe ich Sie. Dass wir uns in einem fremden Haus treffen, ist der beste Beweis. Was suchen Sie hier? Schutz vor mir?« »Nein, eine Toilette.« Beschämt ließ er sie auch diesmal in Frieden und streckte ihr zur Entschuldigung die schmutzige Pfote hin … Ein illegaler Spitzel, nicht einmal ein offizieller, ohne jedes Talent für dieses Geschäft. Gefordert sind vor allem ein gutes Gedächtnis und ein scharfer Blick, er aber sprach die schöne Brünette nach einer gewissen Zeit ein zweites Mal an – weil sie brünett war … Und wieder gingen sie in einem Pseudoeinvernehmen auseinander … Eines Tages wird sie nicht heil davonkommen …
Die »Herbstmanöver« sind in eine neue Phase getreten. Vorgestern gab es eine Razzia, in Praga haben sie aus der Tram heraus jeden verhaftet, den sie zu fassen bekamen. Nicht nur Männer, auch Alte, Frauen und Kinder. Gestern dann neue Exekutionen. Die genaue Zahl ist unbekannt.
12. November Hitler hat in München eine Rede gehalten, in der er sagte, Deutschland werde siegen, doch im Falle einer Niederlage würde er keine Träne vergießen. Denn es sei die Schuld des deutschen Volkes, wenn es an der Prüfung zerbräche. Er […] bündelte Millionen in sich, sein Wille sollte stärker sein als das Kollektiv, doch jetzt, wo das Ende bevorsteht, weist er die Verantwortung für das Unglück von sich. Die Enttäuschung unter den Deutschen soll ungeheuer sein, kein Wunder. Die Ausgabe der »Warschauer Zeitung« mit der Zusammenfassung der Rede wurde konfisziert.
14. November Gestern Abend wollte ich bei samstäglichem Gas Brot backen. Es gab nicht einmal welches, um die Hirsegrütze fürs Abendessen aufzuwärmen. Angesichts dessen legte ich mich hin, um zu warten und ins Nirvana abzutauchen. […] Doch als mich das Dunkel der Ottomane umfing, kamen mir jäh traurige Gedanken. Auslöser war wohl der morgens gelesene Brief des Doktors, über den ich erst jetzt nachdenken konnte. Wieder eine Reihe von Bitten, die meine Zeit, meine schwachen Hände und mein müdes Herz beanspruchen. Ihm Sachen schicken, dies und das und jenes … Ich weiß, dass es niemand sonst tun kann, zumal er schon vor langem schrieb, alle Freunde hätten ihn im Stich gelassen, aber ich habe jetzt so wenig Lebenskraft, dass ich sie nicht auch noch für technische Dinge aufbrauchen kann. Man fährt nicht Tram, aus bekannten Gründen, und mit einem Paket die Oboźna hochzulaufen ist schwer. Dann Schlangestehen, um am Schalter zu erfahren, dass neue Vorschriften eine andere Verpackung verlangen als noch wenige Wochen zuvor. Wenn ich wenigstens wüsste, dass es wirklich um Überlebenswichtiges geht […], aber es vergehen manchmal Monate, in denen er zurechtkommt, dann hagelt es plötzlich neue Bitten.
15. November Ich höre mich um, versuche herauszufinden, nach welcher Methode die Deutschen öffentlich morden. Mich interessieren die Zuschauer der Exekutionen: Rufen sie sie eigens zusammen, um ein Exempel zu statuieren – so werdet auch ihr sterben –, oder geschieht es verdeckt wie in der Ordynacka? Es scheint von Fall zu Fall unterschiedlich, weshalb man die Reaktion der Verurteilten nicht allgemein beschreiben kann. Es ist von Knebeln die Rede, dann von zum Schrei aufgerissenen Mündern, von offenen Augen oder vorab schon für immer verschlossenen. Ich habe von Versuchen des Widerstands gehört wie auch von großer Apathie […]. In der Towarowa, sagt ein Beobachter, hätten die zehn verurteilten Männer gerufen: »Lang lebe Polen!«, eine Frau habe gezetert. Sie habe sich an die Henker gewandt: »Ich bin Mutter von vier Kindern …« Darauf sollen die Soldaten den Befehl verweigert haben. In der Piusa stürzten sich die Wehrlosen wütend auf die Bewaffneten und traten um sich […]. Das Reservebataillon konnte nicht schießen, sie hätten Kameraden treffen können. Kurzum, es gibt widersprüchliche Versionen, schwer zu überprüfen, aber generell scheint die Reaktion passiv auszufallen. Mögen die Versionen sich widersprechen, jeder sollte les ont-dit notieren, damit die historische Wahrheit ans Licht kommen kann. […] Immer öfter hört man: Meine Bekannte hat den Verstand verloren, sie ist zufällig auf den Balkon gelaufen und hat einen Nervenschock bekommen … Und all die, die fast täglich auf den ebenso fast täglich neu in der Stadt ausgehängten Listen nach ihren Angehörigen suchen. Eine Liste nennt die Getöteten, eine die nächsten Kandidaten.
Und die Polen sind doch solidarisch … Es gibt ganz im Verborgenen wirkende Komitees90, die monatliche Hilfszahlungen an Juden leisten. Die Mitglieder, Unterstützer oder Menschen, die den Kontakt zu ihnen fanden, kommen aus allen früheren politischen Parteien, ihre Arbeit soll denjenigen das Leben ein wenig erleichtern, die nicht einmal Geld verdienen dürfen.
16. November Er ist wieder aufgetaucht. Er kam ganz normal vorbei. Er setzte sich in den Sessel, als wäre er gestern hier gewesen. Erst nach einer längeren Pause erzählte er bruchstückhaft die Geschichte der drei Monate, die seit seinem per Karte angekündigten und ausgefallenen Besuch vergangen sind. Er hat seine Papiere verloren, das passiert heute vielen, vermutlich wurden sie ihm gestohlen, Papiere sind heute sehr begehrt – sie lassen sich gut verkaufen. Er musste sich deshalb im Wald verstecken, einmal wurde er von Gendarmen gefasst, einer führte ihn zur Exekution – er entkam. Man kann es sich kaum vorstellen, der schwächliche Bodan Żyranik, der sich unter der Last des Rucksacks krümmt, lief so schnell und flink davon, dass sie ihm außer ein paar Kugeln auch ein ehrenvolles Schimpfwort hinterherschickten: Seiltänzer. […] Derzeit wohnt der arme Gelehrte im Asyl des Fürsorgerats in der Senatorska, in einem Saal zusammen mit Ausgesiedelten und deren Hauswirtschaft (Hühner). »Man kann nicht lesen in dem Lärm, geschweige denn arbeiten.« Wir haben vereinbart, dass er jeden Montag zu uns kommt.
Ich habe bisweilen intensiv an ihn gedacht. Noch gestern haben Fela, Ela und ich uns beim Abendessen gefragt, wie es ihm geht. […] Die Sorge ist ein allgegenwärtiges Gefühl, ich bange wieder um Allan, der lange nicht geschrieben hat, und auch um Zbyszek. Der tapfere Oberleutnant aus der Zeit der Belagerung, der jahrelang völlig unbekümmert lebte – das wird schon werden, sie werden mich nicht kriegen –, ist seit einiger Zeit furchtsam geworden. Das Schlimmste, was einem jungen Menschen in der heutigen Lage passieren kann. Die Furcht ist eine Defensivwaffe in ihren Händen. Doch dagegen kann man nichts machen. Die Nerven verweigern den Gehorsam, der Untergehende, bis dahin stark, verliert die Kontrolle über sich. Er kommt um.
17. November Ich habe kürzlich unsere Niedertracht angesprochen. Jemand anderes stellte dem reichhaltigen Material zu Recht die gewiss große Zahl unbekannter großer Taten entgegen. Beim Verhör, im Gefängnis. Gestern erzählte man vom Tod einer Siebzehnjährigen, die der Folter erlag. Wegen des Verteilens von Untergrundzeitungen war sie vor zwei Jahren zusammen mit Kameradinnen verhaftet worden. Eine von ihnen kam frei, sie schilderte das Verhalten der jungen Heldinnen: Nackt ausgezogen, mit dem Gesicht an die Wand gestellt und mit Ruten gepeitscht, verrieten sie niemanden, gaben keinen Laut von sich … […] Von wie vielen Martern bleibt keine Spur, obwohl sie ans Licht gebracht werden müssen, schon um sie dem Bösen entgegenzustellen, als Demonstration für den Abschaum. Ihr herrscht hier nicht …
20. November Die Stadt ist wieder rot von Berichtslisten: Standgerichte, Anschläge. Die Strafe wird vollstreckt, wo das Verbrechen begangen wurde … Wo zuletzt deutsche Soldaten oder Beamte oder auch blaue Polizisten ruchlos ermordet wurden. […] Bald ist kein Platz mehr, denn die alten Plakate bleiben hängen – zum Vergleich? […] Ob alle aufgelisteten Kandidaten en bloc zu tatsächlichen Delinquenten avanciert sind? Größtenteils ja, manchmal taucht unerwartet ein neuer Name auf, bisweilen fehlt ein genannter. Das komme sehr selten vor, in kaum einer Handvoll Fälle, sagt jemand, der eine Gedächtnisstatistik führt. Es geht auch schriftlich, vor den Säulen stehen Passanten und notieren die noch blutenden Buchstaben … Diese Todeszeichen stehen da, sie stehen neben Prophezeiungen des Lebens. […] Heute mischt sich alles durcheinander. Die Mauern der Hauptstadt sind wie ein großes Palimpsest, unter der weißen, schwarzen oder farbigen Tünche wölben sich die Schriftzüge des Blindenalphabets. POLEN, der Rest fehlt, doch auf einem anderen Stein zeigt sich unter der deutschen Flechte das treue Wort: LEBT.
22. November Gestern war ich bei meiner Schwägerin. […] Ihre erste Frage lautete: »Weißt du mehr über die Bombardierung Berlins?« Ich wusste überhaupt nicht, dass »die Reichshauptstadt in der Nacht vom 18. auf den 19. das Ziel des größten Luftangriffs in diesem Krieg« geworden war. Noch am 20. meldete Stockholm: Die Stadt brennt. Bevor wir weiter Neuigkeiten austauschten, hielten wir inne, aus Verzweiflung, dass man sich über derartige Verbrechen freuen muss. […] Als wir zum Konkreten übergingen, erfuhr ich viel Schlechtes. Die Banditenüberfälle auf der anderen Seite der Weichsel stehen nicht mehr im Zeichen materieller Beute, zwar ist das Ziel dasselbe, aber die Parole eine andere: Weg mit den Herren! Und auch was ich für Weibergeschwätz hielt, die bevorstehende Evakuierung, ist eine Tatsache. Am 20. traf Himmlers Befehl ein: Vor allem die berufliche Intelligenz soll evakuiert, das heißt liquidiert werden – Techniker, Ingenieure, Apotheker, Ärzte, der Sanitätsdienst.
23. November Weil mich die »Interessenten« zur Unzeit aufsuchen, wenn ich schreibe oder wirtschafte […], habe ich einen Nachmittag ausschließlich für Besucher bestimmt. Gestern war Premiere. Themen waren der faktische Stand der bolschewistischen Bewegungen, das Grauen der hiesigen Lage, die Sorge um die Zukunft: Himmler will die Intelligenz auslöschen […]. Sie fürchten weiterhin einen Aufstand. Glauben sie, dass die Kommunisten Unruhen provozieren werden? […] Die Anschläge, auf die so zahlreiche und willkürliche Opfer folgen … Das Gespenst der Bolschewiken nimmt für die bürgerlichsten Seelen rosige Farben an. Im Vergleich zur aktuellen Situation …
26. November Durch die Tür höre ich morgens eine Mutter ihren Sohn verabschieden: »Komm heil zurück.« Am Nachmittag sprengt die Freude der Begrüßung die Wände der Nachbarwohnung. War der Junge auf einem Kreuzzug? Kehrte er lebend von der Verfolgung der Türken zurück? Brachte er den Triumph des napoleonischen Heeres nach Hause? Nein, er war nur in der Marszałkowska, vielleicht in der Leszno, in der Towarowa. Das Kommando der Heimatarmee hat die Nationalen Streitkräfte verurteilt. Was sind das für Nachrichten? Fangen wir nach jugoslawischem Vorbild heute schon an, uns zu spalten?
Ich frage mich immer öfter, was die Juden im künftigen Polen erwartet. Nicht ökonomisch, sondern was ihre Rolle in der Gesellschaft betrifft. Mir scheint, dass diejenigen, die im Verborgenen überleben, sich ungewollt aus dem Kreis unserer Sorgen lösen. Gewiss, ihr Unglück ist groß, aber anders, isoliert vom Leiden der Allgemeinheit, die sich jeden Tag offen dem Kampf stellt […]. Ich fürchte, das könnte zu einer Belastung werden. Es geht ja nicht um ein passives Überdauern, sondern um eine aktive Haltung. […] Andererseits heißt es, der »Nowy Demokrata«91 sei ihr Organ oder immerhin von ihnen finanziert, und auch in den Wäldern fehle es nicht an Juden. Was weiß ich, ich bin ratlos, ich habe niemanden […], mit dem ich diese Fragen erörtern könnte. Doch ich höre von allen Seiten unwillige Stimmen gegen die Juden, ich sehe, wie schwer es für sie sein wird, an ihre alten Stellen zurückzukehren oder wenigstens neue Positionen zu besetzen.
29. November Ich lese die Seiten dieses Tagebuchs … In ein paar Tagen ist die neue carcasse fertig … Außer ihr wartet nichts auf meine Worte … Denn auch wenn die Freunde bitten, etwas lesen zu dürfen … Ich zeige es niemandem. Ich habe Ungedrucktes nie gern fremden Augen anvertraut.
30. November Die Anomalien des heutigen Lebens: Im Gebäude einer staatlichen Grundschule findet illegaler Unterricht statt, aber auf normale Weise, in Klassen, mit Büchern und Heften. Alle arbeiten, wie es sich gehört. »Haben sie keine Angst?«, frage ich. Sie haben ja keine Zeit, darüber nachzudenken.
2. Dezember Eine junge Frau hat eine schöne Vorkriegswohnung in Żoliborz. […] Sie arbeitet im Untergrund. Sie lebt. Dann: Hausdurchsuchung. Feldgendarmerie. Die wohlwollende Nachbarin hat rechtzeitig gewarnt, die kompromittierenden Papiere wurden vernichtet, doch es blieben die Armeestrümpfe, mit denen sie handelt. Statt zu sagen: Die habe ich gekauft, um aus der Wolle einen Pullover zu stricken, gerät sie bei der Aussage ins Stocken. Man lässt sie vorerst in Ruhe, doch einige Tage später bekommt sie eine Vorladung ins Brühlsche Palais92. Die Hamletfrage: Hingehen oder […] untertauchen? Ich weiß nicht, wie man nennen soll, was siegte: Feigheit oder Mut? Sie gab die Wohnung auf, mithin auch die Arbeit. Sie muss ihre äußere Erscheinung ändern, die neuen Papiere müssen bei der Rückkehr zur Parteizelle kontrolliert werden. Vor allem aber muss sie herumziehen, Hilfe suchen bei Menschen, die des Helfens schon müde sind, weil alle es schwer haben. Wäre es in diesem Fall nicht besser gewesen, das Risiko einzugehen? Die Sache hätte sich vielleicht noch klären lassen, und selbst wenn nicht, so der Erzählende, steht auf ein Vergehen wie dieses eine milde Strafe, will sagen das Gefängnis Mokotów. Dort zu sitzen, vielleicht ein paar Monate, schützt auch davor, im Pawiak zu landen, und bis dahin ist der Krieg vielleicht vorbei.
3. Dezember Ich bin sowohl Chronist als auch Historiker der Gegenwart, für meine Arbeit sammle ich Material aus widersprüchlichen Quellen, und weil die Informationen oft unsicher sind, befrage ich zur Kontrolle verschiedene Personen, bevor ich auswähle, was mir, ganz subjektiv gesehen, der Wahrheit zu entsprechen scheint. Deshalb gibt es bestimmt große Fehler, ganz zu schweigen von großen Lücken. Die Synthese wird ein anderer Autor leisten, er wird meine Erkundungen und Geschichtssplitter nutzen, um aus ihnen ein blutiges Panorama des Ganzen zu schaffen.
Gerade hat es angefangen zu schneien, der erste Schnee des Jahres. Er fällt und macht das rote Pflaster weiß … gros flocons … Ich könnte heute wohl keine andere Sprache sprechen als meine, doch zugleich kommen mir seltsamerweise immer wieder fremdsprachige Ausdrücke in den Sinn. So schlüpfen französische oder russische Wörter hinein, weil ich erst nach einer Weile die fremde Farbe erkenne.
6. Dezember Die Stammbesucherin europäischer Theater war in der Freta, bei einer Pfarraufführung des Leidens der hl. Barbara. Das Altstadtpublikum benahm sich beim Betreten des Saals so, dass der Ordnungsdienst – nette junge Männer mit breiten Schultern, möge das Schicksal sie verschonen – schreien musste: »Ihr wärt gern Herrschaften, wisst aber nicht, wie sich Herrschaften benehmen.« Dafür waren die Leute überaus gut – warm und neu – gekleidet. Den Kleinbürgern dieses Viertels geht es offenbar glänzend. Das fromme Stück war eine entsetzliche Schmiere, dazu erbärmlich gespielt.
Auf dem Hinweg war ich an fast jedem Kiosk stehengeblieben und hatte die blutbefleckten karamellfarbenen Plakate vom 2. und 3. Dezember betrachtet. Manchmal fühle ich mich wie ein Funkempfänger, der unterschiedliche Wellen einfängt, manchmal wie ein Schwarzhörer, der fremde Wellen stiehlt. In meinem Kopf und in meinem Herzen kreuzen sich die Worte, Empfindungen, ja Gedanken derer, die neben mir das Urteil lesen, das vielleicht einen Angehörigen trifft […]. Der Kampf ist entflammt, eine Riposte folgt auf die andere. Die Wirkung folgt der Ursache auf dem Fuß … Das zeigen die ersten Sätze der Verordnungen: Es gab neue Anschläge, es folgen die uns schon bekannten Orte. Anfangs dachte man, selbst von offizieller Seite, es handele sich um Provokationen oder erfundene Vorwände für neue Verbrechen. Jetzt folgen Strafe und Schuld schnell aufeinander, und was für die einen Strafe ist, ist für die anderen Schuld […]. So war die Exekution in der Solec die Vergeltung für ein von unseren Leuten verursachtes Zugunglück; die Hinrichtung in der Nowy Świat die Antwort auf den Überfall auf einen Transporter des Ordnungsdiensts in der Vorwoche. Unmittelbar auf dem Fuß folgte die Reaktion auf die Tötung der – von der Arbeit heimkehrenden – Gendarmen. Die Exekution fand ungefähr an der gleichen Stelle statt, nahe Puławska und Rakowiecka. Die Liste nennt die Namen, es ist von fast 200 Opfern die Rede. So wird es weitergehen, in immer rascherer Folge, mit erweiterten Kontingenten – an Menschenleben. Nichts scheint die in Gang gebrachte Maschinerie stoppen zu können […]. Das ist das neue Gesicht unseres Kampfes, fast die Vorstufe zum Aufstand. Es hat unschuldig angefangen. Mit kleinen Sabotageakten, dann die Phase der Diversion, Frühjahr und Sommer standen im Zeichen unseres Terrors, jetzt hat der Krieg die normale Form von Angriff und Abwehr angenommen, wenngleich noch nicht auf offenem Feld. Aber mit dem ganzen Zynismus der anderen Seite und schrecklichen Qualen auf unserer. Schon die Tatsache, dass erst die Todeskandidaten bekanntgemacht werden und später der Vollzug, zehrt an den Nerven von Abertausenden Menschen, selbst wenn sie keine bekannten Namen entdecken. Bisweilen verschwindet ein Verurteilter und fehlt auf der folgenden Liste.
So war es bei Vater und Sohn Schiele, mit Millionen soll der Alte den Jungen freigekauft haben, der nach Oświęcim deportiert wurde, er selbst erklärte sich nach vier Jahren Widerstand zum Volksdeutschen. So heißt es. Daraus folgt, dass Oświęcim heute ein refuge ist, vielleicht nur vorübergehend, aber es gibt Hoffnung, das Ende zu erleben. […] Damit muss sich auch die Frau von Prof. Drewnowski trösten, mit der ich gestern telefonierte. Sie sagte, dass er erst in Majdanek war und jetzt seit drei Monaten in Dachau ist. Warum dieses Hin und Her, haben sie wirklich die Zeit und die Leute, vor allem aber den Kopf für komplizierte Transporte? Die arme Pani Hela fühlt sich sehr schwach, sie hat es am Herzen, eine erfahrene Reisende, die ihren Mann auf gelehrte Kongresse begleitete, sie prahlte mit dem Empfang im Elysée-Palast oder am schwedischen Hof. Das alles ist heute weit weg, belanglos. Wert hat allein die Rettung jedes einzelnen Menschen, es ist offensichtlich, dass sie die Polen vernichten wollen, vor allem die Intelligenz. Und danach den Rest. Wenn die Zeit es ihnen erlaubt … Die Juden waren der Feind Nummer eins, wir standen an zweiter Stelle. Jetzt, wo sie fort sind, wo sie nach der stets perfekten deutschen Statistik offiziell nicht mehr existieren, haben wir den Spitzenplatz übernommen. Die polnische Intelligenz, ja, aber auch die Bauern und Arbeiter, die jetzt noch als Zugtiere und zur Lebensmittelproduktion gebraucht werden, könnten sich als unnütz für die neue Ordnung erweisen. Zumal man von dem großen Eindruck hört, den die öffentlichen »Standgerichte« auf alle Schichten machen. Personen, die am Stadtrand leben, beobachten eine Zunahme des patriotischen Geists in bisher gleichgültigen Milieus. Der Hass wächst und mit ihm der Wunsch nach Rache.
Heiligabend In der Stadt patrouillieren Soldaten, die Gewehre entsichert. Die Leute sind so mit ihren Tagesgeschäften beschäftigt, dass sie sie nicht einmal beachten. Und noch viel weniger die neue Liste der öffentlich Hingerichteten. Sie bleiben kaum stehen, um zu schauen, ob Bekannte darunter sind. Guarda e passa.
27. Dezember Ich habe […] einen Brief vom Doktor bekommen […]. Er trifft Anordnungen, schreibt für den Fall der Fälle ein kompliziertes Testament, ich werde die Korrespondenz der letzten Wochen studieren müssen, um seinen letzten Willen zu erfüllen, Personen und Gaben zuzuordnen … Ich wurde natürlich übergangen … Ich bin der – nützliche – Mohr … Traurig. Nicht weil ich mir Hoffnungen gemacht hätte, ich messe dem letzten Willen wenig Bedeutung bei, er lässt sich abändern, ich habe gesehen, wie die Dinge bei der armen Julia gelaufen sind. […] Es ist nicht das Materielle, sondern das Vergessenwerden – von einem Menschen, der immer betont, dass ich als Einzige seiner Freunde übriggeblieben bin. Freunde nicht des Lebens, nur der letzten Kriegsjahre. Der Dank für treue Dienste … Ich werde sie weiter leisten, mir weiter sagen: Mich bindet mein Handeln, die andere Person muss sich vor sich selbst verantworten.
28. Dezember Ein Kreis von klugen Frauen und zwei Männern war um den runden Tisch versammelt. Sie aßen meine phantasievoll geplanten und schlecht ausgeführten kulinarischen Werke und diskutierten – fast heiter – das aktuelle Geschehen …
Der Linksschwenk der Regierung angesichts eines möglichen Abkommens mit den Sowjets. Es ist uns nämlich für die Zukunft an einem Pakt mit ihnen gelegen, wie ihn Edvard Beneš geschlossen hat.93 Sikorskis – und meine – Idee einer europäischen Staatenkonföderation ist im Sande verlaufen. Sie hat sich aufgelöst, bevor man ihre Umsetzung versuchen konnte. Deshalb müssen wir uns jetzt bemühen … Wieder ist alles so traurig und hoffnungslos.
Ein Rätsel: Was haben unsere Offiziere in den Oflags zu Heiligabend gegessen. Sie schreiben nämlich, sie würden dank der Amerikaner jetzt ausgezeichnet verpflegt. Ihre Frauen bitten, ihnen keine Pakete mehr zu schicken. Überhaupt hatte ein großer Teil Warschaus üppige Feiertage, jemand scherzte, wenn der Krieg weitergehe, werde nächstes Jahr jeder ein Ferkel schlachten. Ich dachte naiv, wenn man solidarisch wäre, hätte man einen gemeinsamen nationalen Trauertag ausrufen können … und ihn mit dem Verzicht auf das Heiligabendmahl begehen. Aber wie hätte das gelingen können!
29. Dezember Ich verstehe, dass Rysios Betreuer nicht wollen, dass er Kontakte zur Außenwelt pflegt, sie haben ihm wohl meine Briefe nicht gegeben. Sonst hätte er sicher geantwortet, die Erzieherin sagte mir, mein Besuch bei seiner Erstkommunion habe ihn sehr stolz gemacht – eine Dame, die für Kinder schreibt …
Die »Rzeczpospolita« beschreibt die Mordmethoden bei den öffentlichen Hinrichtungen, […] man verklebt den Delinquenten mit Gipsbinden den Mund, bindet ihnen die Hände mit Draht auf den Rücken und injiziert ihnen Betäubungsmittel, damit sie als Todesroboter, als ahnungslose Märtyrer ein letztes Mal dem Feind gegenübertreten. […] Nach der Salve prüft ein Offizier mit dem Fuß das Resultat, wenn sich ein Opfer noch bewegt, gibt er ihm persönlich den Gnadenschuss; den Revolver bekommt er von einem Polizisten, dem er für diese Zeit seinen anvertraut. Der Tausch erfolgt zusammen mit dem »feierlichen« Ablegen der weißen Handschuhe, die zum Schutz der verbrecherischen Hände dienten. Der Henker trug ebenfalls Handschuhe.
31. Dezember Silvester. Ich habe 39 Grad Fieber. Allan kam mit guten Wünschen vorbei, er will Ela als Hilfe mobilisieren. Meine Schwester ist in Wielgolas, ich will nicht, dass man sie beunruhigt. Der Arzt sagt: Bronchitis.
Krankheit ist Gleichgültigkeit.
Detonationen aus dem Ghetto. Jemand sagt: Sie wollen ein repräsentatives Viertel errichten. Wie alle Geräusche schmerzen. Die Bolschewiken haben unsere Grenze überschritten.
Starke Lungenentzündung.
Alle Plagen brechen über uns herein, als Strafmaßnahme wurde der Strom abgestellt, es gibt kein Gas. Fela ist zurück. Sie sucht nach einer Haushaltshilfe. Sie sagt: In der Literatur gibt es die Verschwörung der Männer, in der Realität – die Verschwörung der Dienstmädchen.
Die dankbare Ela kommt oft, sie heizt den Ofen ein, fegt, liest Józef Mirskis Seele des Theaters.