Der Mensch ist kein Held

Vorwort

Im August 1939 machte Aurelia Wyleżyńska Urlaub in Horodnica, nahe der rumänischen Grenze. Dort, fern der Hauptstadt, mochte die sich immer klarer abzeichnende Möglichkeit eines Krieges unwirklich erscheinen. Als die Nachricht vom deutschen Angriff auf Polen Horodnica erreichte, traf Aurelia Wyleżyńska eine schicksalhafte Entscheidung: Sie beschloss, in ihre Wohnung in Warschau zurückzukehren. Die Züge, in denen sie reiste, waren leer. Dafür platzten die Waggons in die Gegenrichtung aus allen Nähten: Nach dem Angriff des Dritten Reiches flüchtete die Bevölkerung massenweise in den Osten. Doch spätestens am 17. September, als die Sowjetunion von Osten her in Polen einmarschierte und das Land in den mörderischen Zangengriff der totalitären Nachbarn geriet, gab es in Polen keine Fluchtmöglichkeit mehr.

Wyleżyńska kam allein in der Hauptstadt an, ohne Ehemann oder Kinder, lediglich begleitet von einer Freundin; seit dem Scheitern ihrer Ehe mit dem Schriftsteller und Übersetzer Jan Parandowski – dessen meisterhafte Darstellung der griechischen Mythologie später ein breites Publikum in Polen fand – war sie keine feste Beziehung mehr eingegangen. Sie hatte lange im Ausland gelebt und sich ein Leben als Reporterin und Schriftstellerin aufgebaut, war unabhängig und weltgewandt, eine Frau – wie man heute sagen würde – in ihren besten Jahren. Sie genoss das Alleinsein, was nicht heißt, dass sie kein geselliger Mensch war. Sie schätzte die Kontakte zu ihrer Familie und pflegte Freundschaften, auch in literarischen Kreisen.

Eine Nachbarin aus ihrem Haus fragte sie unverblümt, warum sie zurückgekehrt sei, und brach in Gelächter aus, als sie die Antwort hörte: »Ich bin nach Hause gekommen.« Was suchte eine alleinstehende Frau in einer von feindlichen Soldaten belagerten Stadt? Was trieb sie an? Die Neugier der Reporterin? Fatalismus? Demonstrativer Patriotismus – wollte sie sich im Epizentrum der Ereignisse befinden, die Stellung halten, nachdem die polnische Regierung ins Ausland geflohen war? Ein Vorbild sein? Letzteres ist wohl auszuschließen, denn aus ihren Aufzeichnungen geht klar hervor, dass Wyleżyńska patriotische Demonstrationen und Pathos fernlagen. Man könnte daher annehmen, dass ihre aus rationaler Sicht irrsinnig anmutende Entscheidung von journalistischem Pflichtgefühl, vom moralischen Imperativ des Berichterstattens, diktiert wurde. Schon in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft in Warschau machte sie es sich zur Aufgabe, eine persönliche Kriegschronik zu erstellen, und führte diese bis zum Ende gewissenhaft aus. Das Beobachten und Aufschreiben dessen, was sie sah, war ihre Waffe gegen die Entmenschlichung im Krieg: »Ich schütze mich mit der altbewährten Methode: Beobachten, was um mich herum passiert«, notierte sie am 9. September 1939. Diese Form der Verteidigung wurde zu ihrem täglichen Ritual.

Aurelia – »Aura« – Wyleżyńska kannte Warschau von früher; in der Teilungszeit hatte sie ein renommiertes Mädcheninternat besucht, dessen Absolventinnen nach der Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit im Jahr 1918 ihren Beitrag zum künstlerischen und wissenschaftlichen Leben im wiedererstandenen Polen leisteten. Doch sie gab selbst zu, dass sie sich seinerzeit nicht für die Hauptstadt hatte begeistern können – die südlichen Landschaften und die üppige Flora ihrer Heimat Podolien waren ihr vertrauter und lieber gewesen.

Als begeisterte Wanderin ist sie meist zu Fuß in Warschau unterwegs. Bis vor kurzem noch ein Flaneur in der »Zauberstadt«, wie sie Paris zu nennen pflegte, wo sie insgesamt mehr als zehn Jahre lang lebte, navigiert sie im von Luftangriffen zerstörten Warschau durch die Trümmer und das Labyrinth der Barrikaden, obwohl »die Beine […] sich über die Unebenheit des Pflasters [wundern]«. Sie wird aber auch oft gezwungen, zu Fuß zu gehen: Radfahren ist verboten, viele Straßenbahnlinien sind eingestellt worden, und in den Trams, die noch verkehren, organisieren die Deutschen Razzien. Und Wyleżyńska hat einiges zu verbergen. Sie verteilt Untergrundzeitungen, in denen sie selbst antideutsche Artikel veröffentlicht. »Es hat eine gewisse Pikanterie«, notiert sie am 14. Januar 1941, »wenn ich mit Untergrunddrucken in der Tasche neben einem SS-Mann an der Tramhaltestelle stehe.«

Mit dem scharfen Blick der Chronistin dokumentiert sie den Besatzungsalltag in seinen mannigfaltigen Ausprägungen: dass der Brotpreis von zwei auf zehn Zloty steigt, dass man Wasser vom Brunnen holen muss, dass alle Radiogeräte beschlagnahmt werden, dass es an Gas und Brennholz mangelt, dass die Dunkelheit in den Wohnungen infolge von Verdunkelungszwang und Stromausfällen schwer zu ertragen ist. Sie beschreibt die erschreckende Metamorphose Warschaus, das sich unter der Besatzung von einer blühenden und noch von der Freude über die erst zwanzig Jahre zuvor wiedergewonnene Unabhängigkeit trunkenen Stadt mit jedem Monat mehr in ein bedrohliches, fremdes, vom Verfall gezeichnetes Wesen verwandelt: »Die Backsteine der Häuser liegen auf der Fahrbahn wie aus dem Sack geschüttelte Kartoffeln. […] Weiter unten sind auf beiden Seiten der Straße ganze Häuserreihen in Trümmern. […] Um das Eckhaus, in dem die Konditorei Szwajcarska war, schlingen sich seltsame Eisenspiralen. Ich habe nie bemerkt, wie viel Draht über unseren Köpfen schwebt, der nun, herabgefallen, ein schwer zu durchdringendes Geflecht bildet.« Wie eine Ethnologin betrachtet die Autorin die sich verändernde Physiognomie der Warschauer. Sie konstatiert ein nachlassendes Interesse am äußeren Erscheinungsbild: »Die Frauen tragen Kopftücher, das ist der Stil der Kriegsmode«, gestandene Männer schlurfen durch die Straßen wie Greise. Bei den Menschen, denen sie begegnet, bemerkt sie einen Gewichtsverlust, eine Schärfung der nun fast räuberisch wirkenden Gesichtszüge. In ihren Augen erscheint Warschau als zunehmend tote Stadt, voller Risse, zerstörter Kulturgüter und Leerstellen, die von Getöteten und Deportierten bleiben.

Wyleżyńska mag »nach Hause« gekommen sein, aber es ist unmöglich, sich in einer von Wehrmacht, SS, Gestapo und deutschen Zivilbeamten bevölkerten Stadt »zu Hause« zu fühlen. Die Autorin betrachtet die Deutschen, die den Tod nach Warschau brachten, der die Passanten von unten durch die Trümmer angrinst, der über der Stadt schwebt und dessen süßer Verwesungsgeruch jeden Winkel durchdringt. Am 18. November 1941 notiert sie: »In Warschau türmen sich die Leichen. An erster Stelle im Ghetto«, und ein paar Tage später resümiert sie: »Deutsche Kulturträger: Die Stadt liegt in Trümmern, die Bevölkerung hungert, der Katalog im Lesesaal ist auf die Hälfte zusammengestrichen, die Nächte sind dunkel, auf der Straße mischt sich Gesang mit dem Jammern der Bettler. Der Geist ist zu träge, um weiter aufzuzählen, was die Träger der neuen Ordnung bei uns vollbracht haben.« Sie schreibt über die stickige, angsterfüllte Atmosphäre der Luftschutzkeller, den Terror der Razzien und Erschießungen, die Spirale der Verbote und Demütigungen, die Segregationspolitik gegenüber der polnischen und jüdischen Bevölkerung. Sie schildert Genreszenen aus der Hauptstadt: Ein deutscher Soldat ohrfeigt einen Passanten; eine Gruppe von Deutschen zwingt unter dem Gelächter der Kameraden einen alten Juden, einen Karren zu ziehen; die »nach Feierabend« zu Touristen gewordenen Besatzer kaufen Postkarten in einer Buchhandlung. Zutiefst erstaunt stellt sie fest, dass ein deutscher »Flieger« ihr die Hand reicht und ihr aus einer überfüllten Straßenbahn hilft.

Der Zugang zu Nachrichten von der Front und aus der Welt ist in der mit einer Nachrichtensperre belegten Stadt sehr eingeschränkt, doch der Informationshunger ist groß. Zur Beschreibung der politischen Situation ist Wyleżyńska auf Informationen angewiesen, die sie zwischen den Zeilen der deutschen Propagandapresse oder in fremdsprachigen Zeitschriften (die bald verboten werden) findet. Die einzige andere Quelle sind auf der Straße aufgeschnappte Gespräche und Gerüchte, wie das vom September 1943, wonach »über Berlin ein künstliches Dach, bemalt mit Wiesen und Wäldern« aufgespannt worden sei, um die alliierten Flugzeuge zu verwirren. In einer Wirklichkeit, in der Konzentrationslager existieren, scheint kein Gerücht mehr zu weit hergeholt.

Die deutsche Politik gegenüber den polnischen Juden, von den ersten Anzeichen der Ausgrenzung (»Eine Preisliste für Begräbnisse wurde ausgehängt. Sie gilt nicht für Juden.«) über die Isolierung im Ghetto bis hin zur völligen Vernichtung, verfolgt sie zunächst ungläubig, dann mit wachsendem Entsetzen. Ihre Aufzeichnungen spiegeln alle Verbrechen wider, die an der jüdischen Bevölkerung in Warschau begangen wurden: das Pogrom im Frühjahr 1940, die Einrichtung des Ghettos, die Große Aktion im Sommer 1942, der Aufstand im Ghetto im Frühjahr 1943 und die Ergreifung und Ermordung der letzten jüdischen Überlebenden, die sich noch in den Ghettoruinen versteckten. Im August 1942 notiert sie: »Keine Naturkatastrophe, keine ägyptische Plage kommt dieser massenhaften Vernichtung gleich.« Zur gleichen Zeit notiert in Szczebrzeszyn im Osten Polens der Arzt und Krankenhausdirektor Zygmunt Klukowski in sein Tagebuch: »Etwas vergleichbar Entsetzliches, Furchtbares hatte nie jemand gesehen und von etwas Ähnlichem nie gehört.«1

Wyleżyńska ist zu einer nüchternen Einschätzung der Realität in der Lage. Sie weiß, dass der Antisemitismus nicht erst mit den Deutschen nach Polen kam, sondern auf fruchtbaren Boden fiel. Nicht nur bei den Bauern, von denen manche die Behauptung der Besatzer teilten, die Juden hätten den Krieg herbeigeführt, und nicht nur bei den Szmalcowniks, die untergetauchte Juden und ihre polnischen Helfer ausfindig machten und erpressten. Auch bei Teilen der Elite beobachtet sie wenn nicht offenen Antisemitismus, so doch eine erschreckende Gleichgültigkeit gegenüber dem Holocaust. Entsetzt zitiert sie eine Aussage des Philosophen Władysław Tatarkiewicz (1886–1980), eines Vertreters der Lemberg-Warschauer Schule, wonach im gegenwärtigen historischen Moment nicht das Schicksal der Juden, sondern die Bewahrung der polnischen Kultur das Entscheidende sei. Mit dem Antisemitismus der besseren Gesellschaft wird Wyleżyńska schon in den ersten Kriegsmonaten konfrontiert: Ihre Nachbarinnen ächten sie, weil sie ihren Platz im Luftschutzkeller mit zwei jüdischen Freundinnen teilt.

Juden zu helfen, wird im besetzten Polen mit dem Tod bestraft. Wyleżyńska hilft und riskiert dabei alles. Sie gibt Geld und Unterkunft, lagert Dinge, organisiert Medikamente. Viele handeln wie sie, aber es gibt auch »genug Polen, die sogar die Lage ihrer jüdischen Freunde ausnutzen. Ich denke dabei an eigenmächtigen Umgang mit zur Aufbewahrung anvertrauten Gegenständen, übertrieben hohe Provisionen bei Verkäufen usw.« Wyleżyńska hält fest: »Eines weiß ich, der Geist des Volkes hat sich nicht zum ›Besseren‹ verändert, der Antisemitismus blüht weiter.« Kurz vor Ostern 1940 notiert sie: »In der Universitätskirche St. Anna das Grab Christi: Das Kreuz ist zerbrochen, eine Atmosphäre des Grauens, Feuer erhellt die Sterbeszene. Das fromme Volk schaut mit schmerzendem Herzen zu – während in diesen Tagen die Jungen, getrieben von Raubgier oder Furcht, den Einflüsterungen ›Los, auf die Juden‹ erliegen und Jagd auf die leichten, sich versteckenden Opfer einer doppelten Bestialität machen.« Keine anderen Memoiren aus der Besatzungszeit widmen sich so ausführlich den polnisch-jüdischen Beziehungen und dem Thema des Antisemitismus in Polen, das bis heute heftige Emotionen weckt.

Wyleżyńska pflegt Kontakte zum literarischen Milieu, das sich am Sitz des aufgelösten polnischen Schriftstellerverbandes und des PEN-Clubs versammelt. Dort befindet sich während des Kriegs die »Literarische Küche«, der einzige Ort, an dem sich Kulturschaffende legal treffen können. Sie bietet ein günstiges Mittagessen, für viele die einzige warme Mahlzeit des Tages. Aurelia Wyleżyńska fühlt sich jedoch auch intellektuell unterfordert und beklagt, dass die Themen, die in der Literaturküche diskutiert werden, selten über Fragen der Nahrungsmittelbeschaffung hinausgehen. Die ihrer Beschäftigung und ihrer Verdienstmöglichkeiten beraubten Kulturschaffenden müssen sich mit Gelegenheitsjobs durchschlagen, um zu überleben. Die Schriftstellerin beklagt die Verarmung der Intelligenz und ihr Schweigen zu wichtigen Themen, doch sie räumt objektiv ein, dass sie selbst es leichter habe, weil sie »vom Kapital« lebe. Sie muss nicht als Garderobiere oder Putzfrau arbeiten, sondern erhält Geld und Lebensmittel aus Wielgolas, dem Landgut ihres Bruders. Diese Finanzspritzen sowie regelmäßige Aufenthalte in Wielgolas ermöglichen es ihr, sowohl Aufzeichnungen zu führen als auch anderen beizustehen. Von Kriegsbeginn an hilft sie nicht nur jüdischen und nichtjüdischen Freunden, sondern besucht auch kranke und sterbende Soldaten im Krankenhaus, schreibt in deren Namen Briefe, liest ihnen vor und hält sie bei Laune. Es gibt Zeiten, in denen sie sich weigert zu helfen, entweder weil sie aufgrund von Depressionen keine Kraft mehr hat oder weil sie um ihr eigenes Leben fürchtet. Dabei scheut sie nicht die Wahrheit über sich selbst: »In den Warschauer Straßen bietet sich häufig ein Anblick, den man unter dem Titel ›Hunger in Indien‹ aus Zeitschriften kennt. [...] Nackte, abgemagerte Körper. Und ich und alle gehen an ihnen vorüber … Nachdem das für den Tag vorgesehene Quantum an Barmherzigkeit und Geld aufgebraucht ist.« Sie ertappt sich auch bei einer in der Besatzungsrealität unerwarteten Emotion – Mitgefühl für den Feind. Beim Anblick von verwundeten deutschen Soldaten in einer Straßenbahn stellt sie fest: »Zum ersten Mal flüsterte etwas in der Tiefe des Herzens: ›Arme Menschen!‹«

Wyleżyńska beobachtet die polnische Gesellschaft und die individuellen Überlebensstrategien unter dem Besatzungsregime, die zwischen Heldentum und Niedertracht schwanken. Sie macht keinen Hehl aus ihrer Bewunderung für diejenigen, die jeden Tag ihr Leben riskieren: »So viel Material für einen Dokumentarfilm zum Thema: ›Wettbewerb der Mutigen‹. Zum Beispiel eine Reihe von Menschen, die ohne Armbinden in der Stadt unterwegs sind. Andere wieder, mit neuen Namen ausgestattet, tragen illegale Drucke, Taten, Pläne mit sich herum.« Sie verzeichnet auch Ausdrücke von Bigotterie und Feigheit und schreibt von Damen der guten Gesellschaft, die sich nicht scheuen, ihre Dienstmädchen nach draußen zu schicken, um ihre Hunde auszuführen, obwohl Luftangriffe drohen. Die Tragödie des Krieges sieht sie darin, dass alle Seiten Schuld auf sich laden, sowohl die Täter als auch die Opfer: »Wir haben in unserer Geschichte die Parole ›Für unsre und eure Freiheit‹, eine andere wird hinzukommen: ›Für unsre und eure Schuld‹.« Wenn man diese Worte liest, denkt man unweigerlich an die berühmten Worte des seiner Zeit vorausgehenden Briefs der polnischen Bischöfe an die deutschen Bischöfe aus dem Jahr 1965, der in Polen von der kommunistischen Partei heftig kritisiert wurde und in Deutschland weitgehend unbemerkt blieb: »Wir vergeben und bitten um Vergebung.«

Wyleżyńska stellt hohe moralische Ansprüche an sich und die polnische Gesellschaft, obwohl sie nicht glaubt, dass der Mensch unter allen Umständen moralisch handeln kann: »Sind wir nicht wie Treibhauspflanzen, die nur unter bestimmten, entsprechend geschaffenen Bedingungen gedeihen?« Sie denkt über die Zukunft nach, fragt, was aus den Polen wird, denen der Krieg das Rückgrat brach und die er Trickserei, Betrug, Profitgier, Arbeitsverweigerung, Denunziantentum und Korruption lehrte. Wie kann der Wiederaufbau gelingen, wenn sich derartige Verhaltensweisen verfestigen und zum Modus Vivendi der neuen Gesellschaft werden?

Im gequälten und verwundeten Warschau saugt Wyleżyńska begierig jedes Zeichen von Schönheit auf, selbst wenn es die Schönheit der Ruinen, eine Schönheit im Zeichen der Vanitas ist. Eine zerbombte evangelische Kirche vergleicht sie mit dem Kolosseum. Im Herbst 1939 notiert sie: »Zinnen an unpassenden Orten. Für unsere Breiten unübliche Attiken und Ajours«, »Ein offenes Zimmer mit Rückwand gibt durch den Farbkontrast ein futuristisches Bild ab.« In diesen Notizen wird die Kunstkennerin, Weltbürgerin und Sinnsucherin erkennbar. Wyleżyńska erfreut sich am Wechsel der Jahreszeiten, an den bunten Farben des Himmels, am ersten Frühlingssturm (»Wie angenehm, natürlichen Donner zu hören«), an auf wundersame Weise erworbenen Kosmetika oder an blühenden Akazien, deren Gelb sie an die Farbe der Handschuhe eines Dandys aus dem 19. Jahrhundert erinnert. Die Sehnsucht nach der alten Welt, nach Freiheit und Reisen, führt sie ins Fotoplastikon: »[Ich war] für einen Zloty in Griechenland.« In ihren Aufzeichnungen finden wir den Nachhall von Debatten über Kunst, Literatur oder die künftige Gestalt Polens, die im Untergrund weitergeführt werden, aber nie ganz verstummen, auch nicht während des Krieges.

»Von Horaz bis Puschkin wollte jeder Schriftsteller sich selbst ein Denkmal setzen. […] Mein Wunsch ist, dass dieses Tagebuch veröffentlicht wird«, schreibt Wyleżyńska am 7. April 1943. »Zu Lebzeiten oder posthum.« Sie ist sich des Wertes ihrer Aufzeichnungen für künftige Generationen bewusst. Ihre Anfertigung war aus drei Gründen keine leichte Aufgabe. Erstens verboten die Deutschen gleich zu Beginn der Besatzung den Besitz nicht registrierter Schreibmaschinen. Wyleżyńska musste ihre Schreibmaschine verstecken, auch aus Angst vor Denunziation durch die Nachbarn. Zweitens musste sie die Regeln der Konspiration einhalten. Wären die Notizen in falsche Hände gelangt, hätten sie vielen Freunden und Bekannten, Untergrundaktivisten und untergetauchten Juden Unglück gebracht. Aus diesem Grund war sie insbesondere in den ersten beiden Kriegsjahren sehr zurückhaltend mit Informationen, die es ermöglicht hätten, für den Widerstand wichtige Personen zu identifizieren. Das stellte Forscher bei der späteren Exegese des Textes vor erhebliche Schwierigkeiten. Drittens war Aurelia Wyleżyńska immer wieder krank, sie litt unter wiederholten Anfällen von halbseitiger Lähmung sowie unter Augenproblemen, weshalb sie die mühsame Schreibarbeit ihrer kaum leserlichen Aufzeichnungen ihrer Schwester Felicja anvertraute.

Die polnische Erinnerungsliteratur über den Zweiten Weltkrieg ist umfangreich. Auch Maria Dąbrowska, Zofia Nałkowska oder Jarosław Iwaszkiewicz, kanonische Autoren der polnischen Literatur, beobachten aufmerksam Krieg und Besatzung, die Unruhen im Ghetto und den Warschauer Aufstand. Nałkowskas 1970 erschienene Kriegstagebücher gelten wegen ihrer durchdachten Komposition als die ›literarischsten‹, Dąbrowskas und Iwaszkiewiczs Aufzeichnungen sind in lakonischerem Ton gehalten. In den 1960er Jahren entstanden Miron Białoszewskis Erinnerungen aus dem Warschauer Aufstand, die frei von Pathos und Opferkult in knappen, der Umgangssprache angenäherten Sätzen den Besatzungsalltag aus Sicht eines Durchschnittsmenschen schildern. Der in Grodzisk Mazowiecki lebende Stanisław Rembek beschrieb den Alltag von Bahnarbeitern, Bauern und Magistratsangestellten in der masowischen Provinz. Der schon erwähnte Arzt und Historiker Zygmunt Klukowski verzeichnete in seinem Tagebuch ausführlich das Geschehen in Szczebrzeszyn und der Region um Zamość, die im Rahmen des sogenannten Generalplans Ost zuerst von Deutschen besiedelt wurde. Der Maler Józef Czapski lieferte mit Unmenschliche Erde ein erschütterndes Dokument der Wirklichkeit in den Kriegsgefangenenlagern des sowjetischen NKWD.

Alle genannten Autorinnen und Autoren hatten die Möglichkeit, nach dem Krieg ihre Aufzeichnungen mit zeitlichem Abstand zu betrachten und zu bearbeiten. Wyleżyńska hatte diese Möglichkeit nicht. Am zweiten Tag des Warschauer Aufstands wurde sie auf dem Heimweg vom Dienst im Krankenhaus wenige Meter vor ihrem Haus von einer Kugel getroffen. Sie starb am Morgen des 3. August 1944.

Das Manuskript, das von Wyleżyńskas Schwester Felicja aus einem Versteck in der Wohnung geborgen wurde und sich heute im Zentralarchiv für Moderne Akten und in der polnischen Nationalbibliothek befindet, wurde 1957 von Lucjan Dobroszycki vom Institut für Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften entdeckt. In den 1960er Jahren verwendeten Mitarbeiter des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau die Aufzeichnungen für ihre Forschung. Der breiten Öffentlichkeit blieben sie jedoch unbekannt; Auszüge erschienen nur in wissenschaftlichen Zeitschriften. Die Kulturpolitik der Volksrepublik Polen betrachtete Aurelia Wyleżyńska als bürgerliche Autorin. Es ist anzunehmen, dass ihre Ansichten als zu liberal galten, zu wenig Hurrapatriotismus und zu viel Kritik an der polnischen Gesellschaft enthielten und dass man deshalb beschloss, sie zu vergessen. Das ging so weit, dass selbst diejenigen, denen der Name Wyleżyńska etwas sagte, davon überzeugt waren, sie lebe noch im Pariser Exil.

In den letzten Jahren haben immer mehr Forscher den Text für ihre Arbeit genutzt, was nicht zuletzt mit einer Wende in der Forschung zum Zweiten Weltkrieg zusammenhängt: der Abkehr von der rein politisch verstandenen ›großen‹ Geschichte hin zum Besatzungsalltag, zu den konkreten Lebensbedingungen und zum Geistes- und Kulturleben der Zivilbevölkerung. Zudem wandte sich die Forschung verstärkt den polnisch-jüdischen Beziehungen zu und verlor die Scheu vor unbequemen Themen wie dem polnischen Antisemitismus (ein Vorläufer dieser Wende war Tomasz Gross’ Buch Nachbarn über das von Polen verübte Massaker an Juden in Jedwabne). Gleichwohl blieben die Versuche von Dr. Marcin Urynowicz vom Institut für Nationales Gedenken und Dr. Grażyna Pawlak vom Institut für Literaturforschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften, eine Gesamtausgabe von Aurelia Wyleżyńskas Aufzeichnungen herauszugeben, lange erfolglos. Anfang 2011 stellte das Institut für Nationales Gedenken ein bereits angestoßenes Publikationsprojekt ein, später lehnten mehrere Institutionen und Verlage das Projekt aus Angst vor dem unbekannten und schwer zu bearbeitenden Text ab. Erst 2022 erschienen als Resultat der großartigen editorischen Arbeit von Urynowicz und Pawlak im staatlichen Verlag PIW in Warschau Aurelia Wyleżyńskas Kroniki wojenne in einer ausführlich kommentierten, zweibändigen Ausgabe.

In Deutschland bemühten sich der Journalist Martin Sander, Professor Stephan Lehnstaedt vom Touro College Berlin, Professor Igor Kąkolewski vom Zentrum für Historische Forschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Berlin und nicht zuletzt der Übersetzer Bernhard Hartmann um eine Veröffentlichung von Wyleżyńskas Tagebuch.

Gerade in der heutigen Zeit, in der die russische Aggression in der Ukraine anhält, die Gewalt zwischen Israel und Palästina eskaliert und rechtsextreme Parteien auf dem Vormarsch sind, kann Aurelia Wyleżyńskas Tagebuch als Zeugnis der Menschlichkeit gelesen werden, das mit bewundernswerter Konsequenz im Epizentrum des Völkermords geschaffen wurde. Im Warschauer Aufstand – der letzten, tödlichen Erhebung Warschaus gegen die deutschen Besatzer – starb mit Krzysztof Kamil Baczyński auch ein hochbegabter Dichter der jungen Generation. Der etwas ältere Schriftsteller und Literaturhistoriker Stanisław Pigoń soll auf die Nachricht von diesem Verlust gesagt haben: »Wir haben das Pech, einer Nation anzugehören, die mit Juwelen auf den Feind schießt.« Ich freue mich, dass die deutschen Leser mit Aurelia Wyleżyńskas Kriegsaufzeichnungen ein Juwel in die Hand bekommen. Allen, die geholfen haben, es zu schleifen, gebührt höchste Anerkennung.

Karolina Kuszyk, Brandenburg an der Havel, Juni 2024