J ack hielt am Straßenrand vor dem bescheidenen einstöckigen, weiß gestrichenen Einfamilienhaus an und schaltete den Motor aus. Erinnerungen stürmten auf ihn ein. In seinem ersten Jahr im College war er zum ersten Mal hier gewesen – damals hatte Corys Mum den beiden Collegestudenten einen schmackhaften Rinderbraten vorgesetzt. »Damit ihr groß und stark werdet«, hatte sie gesagt. »Greift zu, ihr werdet es brauchen, wenn ihr heute hinausrudern wollt.« Mit dem Ruderboot, das Corys Dad selbst gebaut hatte, waren sie auf den Daugherty Creek hinausgerudert. Die Rudertour war eine der schönsten Erinnerungen, die ihn mit Cory verbanden.
Corys Familie gehörte zu dem, was man untere Mittelschicht nennt, und passte genau zu dem kleinen Haus, in dem sie wohnte – solide, zuverlässig, robust und alles andere als trendy oder elegant. Cory war ein guter Freund gewesen, und die Erinnerung an ihren gemeinsamen Roadtrip im zweiten Studienjahr, bei dem sie auch ein paar Viertausender in Colorado bestiegen hatten, brachte ihn noch heute zum Schmunzeln.
Jack fühlte sich unbehaglich, als er auf die Haustür zuging; zu viele Jahre waren vergangen, seit er und Cory sich zuletzt gesehen hatten. Geplant hatten sie es mehrmals, aber immer war etwas dazwischengekommen. Cory war erst im fünften Semester gewesen, als sein Vater starb. Er hatte seinen Traum vom Jurastudium aufgeben müssen und stattdessen den kleinen Baumarkt seines Vaters übernommen, um sich auch um seine kranke Mutter kümmern zu können. Damals hatte Jack ihn ein paar Mal besucht, aber Cory war so beschäftigt gewesen, dass sie nur bei einem Kaffee im Laden ein wenig hatten plaudern können. Nach seinem erfolgreich abgeschlossenen Studium hatte Jack zielstrebig seine Karriere weiterverfolgt, während Cory … Nein, es gab keine Missgunst, keinen Neid. Damals waren sie an einer Weggabelung angekommen und hatten unterschiedliche Lebenswege eingeschlagen.
Jack hatte seinen Traumjob bei Hendley Associates und beim Campus gefunden.
Und Cory füllte Baumarktregale mit Holzschrauben und Vogelfutter.
Corys Mutter war vor ein paar Jahren gestorben, aber Jack hatte die Beerdigung verpasst – er hatte sogar erst ein gutes Jahr danach von ihrem Tod erfahren. Eigentlich hatte er Cory damals anrufen wollen, um ihm sein Beileid auszusprechen, aber weil seit ihrem Tod schon so viel Zeit verstrichen war, war es ihm einfach zu peinlich gewesen.
Peinlich, in der Tat.
Bist schon ein wahrer Freund, Arschloch.
Jack drückte auf den Klingelknopf. Kurz darauf öffnete eine Pflegerin mittleren Alters in makelloser Krankenhauskleidung die Tür. Jacks Blick fiel auf ihr Namensschild am Kragenaufschlag: Mary Francis war Krankenschwester – und Nonne. Sie lächelte.
»Sie müssen Jack sein. Cory erwartet Sie schon.«
»Danke, Schwester.«
Jack folgte ihr durch den schmalen, sauberen Flur. Die alten Dielen knarrten unter seinem muskulösen Hundert-Kilo-Körper.
»Wie geht es ihm?«, fragte Jack leise, als seien sie in einer Kirche.
»Den Umständen entsprechend«, antwortete sie in normaler Lautstärke. »Er wird nicht mehr lange leiden müssen.«
An den Flurwänden hing ein Dutzend Familienfotos in einfachen, billigen Rahmen. Ein Foto zeigte Jack und Cory neben dem Ruderboot. So viele Jahre war das her.
»Hier hinein, bitte.« Die Nonne öffnete eine der Türen und trat zurück. Eine Aufforderung, allein einzutreten.
Jack zögerte eine Sekunde. Im Moment wäre er lieber mit ungeladener Pistole in eine afghanische Tora-Bora-Höhle gestürmt, als sich dem zu stellen, was ihn vermutlich in diesem Zimmer erwartete.
»Jack. Da bist du ja.«
Cory lächelte breit und ließ das Kopfteil des Bettes hochfahren, sodass er fast aufrecht saß. Er streckte Jack die Hand entgegen. Er war stark abgemagert, strahlte aber trotz seiner blassen Gesichtsfarbe Wärme und Freundlichkeit aus.
Jack seufzte innerlich erleichtert auf. Rasch trat er neben das Bett und nahm Corys kraftlose Hand. Jack war über 1,80 Meter groß, stark und muskulös, jetzt noch mehr als damals, als sie noch Schulkameraden gewesen waren. Aber Cory war damals 1,85 Meter groß gewesen und hatte hundertzehn Kilo gewogen. Hatte mit seinem Lacrosse-Team sogar einmal die Meisterschaft in seinem Bundesstaat gewonnen. Ein richtiger Draufgänger. Kaum zu glauben, dass diese gebrechliche Erscheinung in dem Krankenbett derselbe Mann war, der den damals neunzig Kilo schweren Jack auf dem Rücken über zweieinhalb Kilometer einen Berghang in Colorado hinuntergetragen hatte, nachdem sich Jack den Knöchel verstaucht hatte. Jetzt wog Cory sicherlich weit weniger als die Hälfte seines damaligen Gewichts und war so schwach, dass er kaum noch den Arm heben konnte.
»Schön, dich wiederzusehen, Cory.«
»Tut mir leid, dass du so weit fahren musstest. Ich weiß doch, wie beschäftigt du bist.«
Cory sah, dass Jack verlegen das Gesicht verzog. »Tut mir leid, ich hab’s nicht so gemeint. Aber ich kann mir denken, dass man bei einer Firma wie Hendley Associates locker auf eine Achtzigstundenwoche kommt.«
»Stimmt. Manchmal stelle ich ein Feldbett im Büro auf, um mir das Pendeln zu ersparen.«
»Glaube ich dir aufs Wort.« Cory ließ sich wieder zurücksinken, offenbar strengte ihn das Gespräch stark an.
Jack blickte sich im Zimmer um, während Cory versuchte, eine bequemere Position zu finden und die Befestigung der IV -Kanüle auf dem Rücken seiner blutunterlaufenen, mageren Hand wieder festzudrücken. An der Wand gegenüber hing ein großes Kruzifix, daneben das Hochzeitsfoto seiner Eltern. Cory war ein Einzelkind.
Auf dem Nachttisch, neben Medizinfläschchen und Medikamenten, stand eine gerahmte Gebetstafel, eine Novene zur »Mutter der Immerwährenden Hilfe«. Auf der anderen Seite des Bettes stand ein fahrbares IV -Gestell, an dem ein Tropfenbeutel hing.
»Gefällt mir, wie du dich hier eingerichtet hast«, sagte Jack.
»Meine Innenarchitektin nennt es Medical Modern Style. So ähnlich wie in Mad Men , nur gibt’s hier Pillen statt Alk.«
»Ich sollte sie dringend mal anrufen.«
»Warte noch ein paar Wochen. Ich weiß, wo du dann das ganze Zeug hier zum Schnäppchenpreis bekommen kannst«, sagte Cory augenzwinkernd.
Jack schmunzelte. Er kannte niemanden, der so witzig sein konnte wie Cory. Oder so furchteinflößend, wenn er dann doch mal zuschlagen musste. Fäuste wie Vorschlaghämmer an einem mächtigen Baumstamm. Zwei Biker in einer Bar im Jackson Hole hatten Corys robuste Seite auf äußerst schmerzhafte Weise kennengelernt.
Jack fühlte sich plötzlich unsicher; sein Vollbart und der dichte Haarschopf waren das absolute Kontrastprogramm zu Corys kahlem Schädel. Die Chemotherapien mochten Cory das dichte blonde Lockenhaar geraubt haben, aber das Feuer in seinen braunen Augen hatten sie ihm nicht nehmen können.
Cory versuchte, den Plastikbecher mit Eiswasser vom Nachttisch zu nehmen, konnte ihn aber nicht erreichen. Jack füllte den Becher noch weiter auf und reichte ihn Cory.
»Danke.« Cory sog das kühle Wasser mit einem Strohhalm ein.
Jacks Blick schweifte noch einmal zu der gerahmten Gebetstafel: O Mutter von der Immerwährenden Hilfe, gewähre mir, dass ich immerfort deinen mächtigsten Namen anzurufen vermöge; denn dein Name ist der Schutz der Gläubigen im Leben und ihr Heil im Sterben …
»Besuchst du oft den Gottesdienst, Jack?«
»Ich? Nicht oft genug. Und du?«
»Wäre ein bisschen schwierig, das Bett in die Kirche zu bugsieren. Wozu habe ich eine eigene Nonne?«
Jack blickte noch einmal zu dem großen Kruzifix hinüber. Er erinnerte sich daran, wie die Mädchen in der Klasse auf Cory geflogen waren und wie viele Bierkrüge er hatte leeren können, ohne betrunken zu werden. »Ich sehe, dass du zum Glauben gefunden hast.«
»Der Krebs hat mich zuerst gefunden, den Glauben bekam ich umsonst dazu.«
»Gut zu hören«, sagte Jack.
Cory war der leichte Zynismus in Jacks Stimme nicht entgangen. »Ja, schon gut, ich weiß. Schnell noch gläubig werden, dann ist man auf der sicheren Seite. Aber mir ist es wirklich ernst damit. Wenn einem die eigene Sterblichkeit bewusst wird, fängt man an, über die Ewigkeit nachzudenken.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen.« Jack erwähnte nicht, dass er selbst in den letzten Jahren oft genug dem Tod ins Auge geblickt hatte. Aber der Blick in den schwarzen Abgrund einer Pistolenmündung hatte ihn nicht zu einem gläubigen Menschen gemacht.
»Mach es besser als ich, Jack. Warte nicht, bis dich so etwas aufweckt.«
»Jetzt klingst du genau wie meine Schwester.«
»Ich mochte deine Schwester. Wie geht’s ihr?«
»Sie ist Ärztin geworden, genau wie unsere Mom. Arbeitet sogar im selben Krankenhaus. Hat einen guten Burschen geheiratet.«
»Freut mich für sie. Und deine Familie – sind alle okay? Ich schaue in letzter Zeit kaum noch Nachrichten.«
»Es geht allen gut. Danke, dass du fragst.«
Cory hustete heftig. Kämpfte dicke Schleimpfropfen in seiner Kehle hinunter. Plötzlich verkrümmte er sich, schnappte heftig nach Atem, und sein Gesicht lief vor Anstrengung rot an.
Jack nahm rasch die Nierenschale vom Nachttisch und hielt sie Cory vor den Mund, während er gleichzeitig Corys knochigen Rücken stützte. Nach mehrmaligem Husten spuckte Cory endlich einen Klumpen gelblichen Schleim in die rosa Plastikschale.
Die Krankenschwester stürzte ins Zimmer.
»Cory?« Rasch trat sie ans Bett, während Jack Cory langsam wieder zurückgleiten ließ. Sie nahm Jack die Schale aus der Hand. »Könnten Sie einen Moment draußen warten, Jack?«, fragte sie, während sie Cory den Mund abwischte.
»Kein Problem.«
Cory schüttelte den Kopf und hob schwach die Hand. »Nein, warte, Jack. Es geht mir schon wieder besser.«
»Bist du sicher? Ich habe genug Zeit.«
Die Nonne hielt ihm den Becher an die Lippen, und Cory trank noch einen weiteren Schluck Wasser. Entsetzt sah Jack, wie viel Mühe es Cory kostete, bevor er sich wieder auf das Kissen zurücksinken ließ und erschöpft seufzte.
»Ich bin direkt vor der Tür«, sagte die Nonne. »Aber ruf mich bitte, bevor du mich brauchst, nicht erst hinterher, okay?«
Cory lächelte. »Versprochen.«
Sie zog die Tür leise hinter sich zu.
»Also, Jack … Erinnerst du dich noch an die Viertausender, die wir in Colorado erstiegen haben?«
»Selbstverständlich. Auf der Fahrt hierher musste ich wieder daran denken.«
»Waren gute Zeiten, Mann. Kann dir gar nicht sagen, wie oft ich daran zurückgedacht habe, während ich Zementsäcke und Dachlatten zählte. Hat mir durch manche schlimme Zeit geholfen.«
Schuldbewusst wich Jack Corys Blick aus.
» Tut mir echt leid, Cory. Ich hätte schon längst mal …«
»Oh, Mann, nein! Das wollte ich damit nicht sagen. Nur, dass es mir eine Menge bedeutet, damals diese Berge bestiegen zu haben. So hoch hinauf! Die saubere Luft. Die Stille.«
»Ja, das waren gute Zeiten damals.«
»Ich hatte viel Zeit, über mein Leben nachzudenken, während ich hier lag, verstehst du? Was ich getan habe, was ich nicht getan habe. Und um ehrlich zu sein, ich würde nicht viel ändern wollen. Verstehe mich bitte nicht falsch. Einen wirklich wichtigen Fall vor dem Obersten Gerichtshof zu vertreten, wäre natürlich fantastisch gewesen, aber es hat eben nicht sein sollen.«
»Es muss schwer für dich gewesen sein.«
»War es manchmal, aber meistens war es ganz okay. Ich habe getan, was ich tun musste, und das hieß, dass ich mich um meine Familie gekümmert habe. Du hättest für deine Familie dasselbe getan. Das weiß ich mit Sicherheit.«
Jack nickte. Natürlich hätte er das. Es gab nichts, was er für seine Familie nicht tun würde.
»Und deshalb – ich bedaure nichts. Außer vielleicht einer einzigen Sache. Davon habe ich dir noch nie erzählt, aber ich habe meinem Dad zwei Dinge versprochen, als er auf dem Sterbebett lag. Ich bin stolz darauf, dass ich ein Versprechen halten konnte – ich habe letztes Jahr endlich mein Jurastudium an der Georgetown University abgeschlossen.«
»Das ist absolut super! Gratuliere!«
Jack streckte ihm die Hand hin. Cory schüttelte sie, so gut er konnte.
»Danke, Mann. Und übrigens summa cum laude .«
»Habe von dir nichts anderes erwartet.« Und das stimmte: Cory hatte schon immer einen messerscharfen Verstand gehabt.
»Aber das andere Versprechen habe ich nicht gehalten. Und das bringt mich um.«
»Du siehst tatsächlich beschissen aus. Aber ich dachte, das sei der Krebs«, witzelte Jack und hoffte, Cory ein wenig zum Lachen zu bringen.
Das gelang ihm auch.
»Autsch, Mann«, sagte Cory und rieb sich den Bauch, »mach das nicht noch mal. Tut echt weh.«
»Tut mir leid.«
»Ist gelogen.«
»Ja, stimmt.«
Sie stießen die Fäuste zusammen. Wieder Freunde. Fürs Leben.
Solange es noch dauern mochte.
»Also – welches Versprechen hast du nicht gehalten?«
Und Cory erzählte es ihm.
Jack zuckte mit keiner Wimper.
»Das ist viel verlangt«, gab Cory am Ende zu. »Aber es fiel mir sonst niemand ein, den ich hätte fragen können. Und erst recht niemand sonst, der es durchziehen könnte. Aber ich hasse es, meinen Dad zu enttäuschen, verstehst du?«
»Yeah , verstehe ich gut. Aber ich denke, dass auch er es verstehen würde.«
»Würde er wahrscheinlich. Aber es geht dabei um mich. Ich will mein Versprechen halten. Und du bist meine einzige Chance.«
Jack kämpfte die Tränen zurück, die sich plötzlich in seine Augen drängten.
»Es wird mir eine Ehre sein.«
Schwester Mary Francis brachte eine Flasche zwölfjährigen Macallan-Whisky und zwei Gläser herein. Cory hatte die Flasche eigens für diesen Moment gekauft. Der kranke Mann trank ein paar Schlucke Wasser aus seinem Glas, während sich Jack durch ein paar Fingerbreit Whisky kämpfte. Sie lachten zusammen, erzählten sich Erinnerungen, wie es alte Schulkameraden tun, aber als es draußen allmählich dunkelte, fielen Cory vor Erschöpfung immer häufiger die Augen zu.
Als Cory sanft zu schnarchen begann, verließ Jack leise das Zimmer.
Schwester Mary Francis brachte ihn zur Haustür.
»Rufen Sie mich bitte an, wenn er irgendetwas braucht«, sagte Jack und gab ihr seine Visitenkarte. Sie gab ihm ihre Karte.
»Das mache ich. Gute Heimreise, Jack. Und Gott segne Sie dafür, dass Sie gekommen sind.«
Nur dreieinhalb Stunden später, als Jack an seinem Schreibtisch saß und über einer Konzernbilanz brütete, klingelte sein Telefon. Überrascht und bestürzt nahm er den Anruf entgegen.
Cory Chase war gestorben.