6

Berlin, Deutschland

D ieter Hansemann kam aus der U-Bahn-Station Blissestraße. Es war spät; er hatte den letzten Zug genommen. Er schob die Hände tief in die Manteltaschen, als ihm der kalte Nachtwind entgegenschlug, und ging in südlicher Richtung los, bis er das mexikanische Restaurant an der Ecke erreichte, wo er nach links in seine Straße abbog.

Die Buchprüfungen, über denen er seit einem Monat brütete, hatten sich zu wahren Marathonsitzungen entwickelt, die bis spät in die Nacht dauerten, und hatten dem fünfunddreißigjährigen Banker alles abverlangt. Aber sie waren die Mühe wert gewesen. Er stand kurz davor, das Projekt, mit dem er beauftragt worden war, endlich festzuklopfen.

Sehr kurz davor.

Alte Ulmen säumten die schmale Straße auf beiden Seiten, die Stämme leicht zur Straße hin geneigt, und reckten ihre dicht belaubten Äste hoch und weit über den Asphalt, sodass sie sich in der Straßenmitte berührten, wie die Flügel der beiden Cherubim auf der Bundeslade.

Wohnblocks säumten die Straße auf der rechten Seite; links führte sie an einem kleinen, eingezäunten Park entlang, durch den er gerne joggte, wenn er tatsächlich einmal die Zeit dafür freimachen konnte. Er freute sich schon auf den Tag, an dem er seine Laufroutine wieder aufnehmen konnte. Er hoffte, dass das schon bald der Fall sein würde, bevor in einem oder zwei Monaten der erste Schnee fiel.

Als er an einem der Parkeingänge vorbeiging, hörte er aufgeregte Stimmen. Eine Frau schrie, deutlich zu hören über einer rauen, tiefen Männerstimme mit schwerem Akzent. Dieter blieb wie angewurzelt stehen und spähte in den nachtdunklen Park hinein. Vage konnte er in einiger Entfernung ein Paar ausmachen, von Dieters Standpunkt aus halb hinter den Büschen verborgen. Ein groß gewachsener Mann, der den Arm hob und, laut in einer Sprache fluchend, die Dieter für Arabisch hielt, auf die Frau einschlug.

Dieter zögerte. Nichts durfte seine Arbeit gefährden. Aber schon nach einem Atemzug verdrängte sein Ehrgefühl alle anderen Bedenken, und der sportliche, kräftige Banker stürmte auf das miteinander streitende Paar zu.

Als er näher kam, brüllte er »Aufhören!« und rannte, ohne seinen Lauf zu verlangsamen, geradewegs auf den Mann zu, der jedoch größer und kräftiger gebaut war als er selbst. Die Frau schrie »Hilfe!«, doch der bärtige Mann versetzte ihr mit dem Handrücken einen brutalen Schlag ins Gesicht. Sie stürzte wimmernd zu Boden, während der Bärtige herumwirbelte und sich Dieter entgegenstellte, ein schiefes Grinsen im Gesicht – und ein scharfes Messer in der Hand.

Der Banker ließ sich davon nicht aufhalten. Er duckte sich kurz nach links, dann nach rechts und zwang so den Bärtigen, das Standbein zu wechseln. Noch einmal duckte er sich nach links, und in dem Moment, als sein Gegner erneut das Standbein wechselte, griff er ihn blitzschnell an, blockte mit dem linken Unterarm den schwachen Abwehrschlag des anderen und ließ den rechten Ellbogen gegen die Schläfe des Bärtigen krachen.

Dieters wuchtiger Schlag und der ungestüme Aufprall brachten den Bärtigen aus dem Gleichgewicht. Er stürzte rücklings zu Boden; das Messer wurde ihm aus der Hand geschleudert. Bei dem Deutschen hatte inzwischen seine Nahkampfausbildung die Regie übernommen. Er warf sich auf den Bärtigen, klemmte dessen Brustkorb zwischen die Schenkel, hielt seinen Hals mit dem linken Oberarm auf den Boden gepresst und ließ eine Serie harter Schläge mit dem rechten Ellbogen direkt in das Gesicht des Bärtigen krachen, die dieser allerdings teilweise abschwächen konnte.

Hansemanns wütender Angriff endete abrupt, als ein glühend heißer Schmerz durch seinen Rücken zuckte. Instinktiv richtete er sich auf und versuchte, die Wunde zu erreichen, doch schon wurde ihm die scharfe Messerklinge ein zweites Mal zwischen die Schulterblätter getrieben – dieses Mal jedoch durchtrennte sie das Halsmark. Er war tot, bevor er mit dem Gesicht auf dem Boden aufschlug.

»Wurde auch höchste Zeit!«, stieß der Bärtige wütend hervor und rieb sich das anschwellende Gesicht.

Die Frau hielt ihm die Hand hin, um ihm beim Aufstehen zu helfen.

»Ich nehme ihm sein Scheißzeug ab«, sagte sie und wischte die blutige Klinge an Dieters Tweedmantel sauber.

Sie durchsuchte seine Taschen und nahm die Wertgegenstände an sich – Geldbörse, iWatch, iPhone und ein goldenes Kettchen mit Kreuz, das er um den Hals trug.

Sie blieb noch einen Moment neben ihm in der Hocke und betrachtete den Toten. »Schade«, sagte sie mit leichtem Bedauern, »er sieht gut aus. Ein sehr schöner Mann.«

»Los, verschwinden wir.« Der Mann strich sich über das schmerzende Gesicht.

»Warte.« Sie rollte Dieter mit der Spitze ihres Stiefels auf den Rücken und fotografierte sein lebloses Gesicht mehrmals mit ihrem Galaxy-Handy.

»Okay. Jetzt können wir gehen.«

Sie gingen schnell quer durch den Park, aber sie rannten nicht, um nicht unnötig Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. An einem der nördlichen Parkausgänge stiegen sie in einen dort geparkten silbernen 5er-BMW , Baujahr 2018, und fuhren davon, wobei sie sich streng an die Geschwindigkeitsregeln hielten.

Das Paar wusste, dass die Berliner Polizei zu der Folgerung gelangen würde, Hansemann sei Opfer eines Raubüberfalls mit Todesfolge geworden. Die nächsten Überwachungskameras befanden sich weit vom Tatort entfernt, und es gab keine Augenzeugen. Erst wenn die Kripo erfuhr, dass Hansemann als verdeckter Ermittler für das Bundeskriminalamt (BKA ) gearbeitet hatte, würde man schlussfolgern, dass er gezielt ermordet worden war – aber das hieß noch lange nicht, dass die Kripo auch den Grund für den Mord erfahren würde.

Hansemanns Leiche: Konzeptbeweis Nummer zwei.