J acks Gehirn fühlte sich an wie Watte.
Nachdem er zehn Stunden ununterbrochen über den umfangreichen Ergebnissen seiner Suche in den LexisNexis-Datenbanken gebrütet hatte, wozu Geschäftsberichte, Pfandrechte, Lizenzen und sogar Registrationsdaten von Schiffen und Flugzeugen gehörten, konnte er kaum noch aus den geschwollenen Augen schauen. Es war ungeheuer frustrierend: Aaron Gages geschäftliche Weste war makellos sauber.
Das hatte Jack zwar von Anfang an vermutet, aber er musste bei allem, was er tat, mit höchster Sorgfalt vorgehen. Jack wusste, dass Gage nicht nur smart, sondern auch äußerst vorsichtig war, und er wusste auch, dass Gage die meisten seiner geschäftlichen Aktivitäten im Rahmen seiner Beteiligungsgesellschaft Gage Capital Partners durchführte. Diese Transaktionen mussten nach den für Private-Equity-Gesellschaften geltenden gesetzlichen Bestimmungen nicht in allen Einzelheiten offengelegt werden, gleichgültig, ob die Firmen im In- oder im Ausland tätig waren. Zwielichtigen Akteuren an den Finanzmärkten boten Private-Equity-Gesellschaften wie GCP daher perfekte Möglichkeiten, ihre Aktivitäten zu verschleiern, wenn sie es für nötig hielten.
Jack sah seine einzige Rettung im OSINT – der sogenannten Open Source Intelligence, besser bekannt als Internet. Aber auch das erwies sich als hirnvernebelnde Übung, wie er feststellen musste. Aaron Gage und seine GCP tauchten seit Jahrzehnten oft in den Nachrichten auf, was einer sorgfältig orchestrierten PR -Kampagne zu verdanken war, die sich bis zu Ronald Reagans Präsidentschaft zurückverfolgen ließ.
In den letzten zehn Jahren hatte sich der Schwerpunkt der PR -Arbeit auf sozialverantwortliche Aktivitäten wie den Dixon-Gage Charitable Trust verlagert, eine wohltätige Stiftung, die vor allem Frauenhäuser, Symphonieorchester, Schwerpunktschulen, Forschungsprojekte zur Brust- und Eileiterkrebsbehandlung und eine Reihe anderer Programme förderte, die sich auch für Senatorin Dixons politische Agenda nutzen ließen. Die Stiftung hatte auch den Zweck, das Image der GCP als sozialverantwortliches Privatunternehmen noch heller strahlen zu lassen. Seit ungefähr fünf Jahren weitete die Dixon-Gage-Stiftung ihre Hilfsprogramme auch nach Afrika aus, wo sie den Bau von Schulen, die Erschließung von Trinkwasserquellen und Mikrobanking förderte.
Gerry Hendley hatte Jack jedoch in eine andere Richtung gewiesen: die China-Verbindung. Deshalb richtete Jack nun seine Recherchen auf diesen Aspekt. Um die Dinge in einen breiteren Kontext einordnen zu können, musste er zunächst einmal sein eigenes Wissen über die Handelsbeziehungen zwischen China und den Vereinigten Staaten auffrischen, vor allem für die Zeit seit 2001, als China in die Welthandelsorganisation WTO aufgenommen wurde. Das war auch teilweise der starken Fürsprache seitens der damaligen Kongressabgeordneten Dixon zu verdanken gewesen, die sich sicher gewesen war, dass der Kapitalismus die Volksrepublik China demokratisieren würde. Das Gegenteil war eingetreten. Der »Rote Kapitalismus« hatte vielmehr die Macht der Kommunistischen Partei Chinas gestärkt, nicht nur in China selbst, sondern auch auf der Weltbühne. China hatte seine Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation erfolgreich genutzt, um riesige Auslandsinvestitionen anzulocken und den größten Produktions- und Exportboom in der Weltgeschichte in Gang zu setzen, der aber auf Kosten von mehr als drei Millionen Arbeitsplätzen im Produktionssektor der Vereinigten Staaten ging. Gleichzeitig nutzte China seine enormen Handelsüberschüsse mit den Vereinigten Staaten – jährlich über vierhundert Milliarden Dollar – für ein gewaltiges Aufrüstungsprogramm. Innerhalb einer einzigen Dekade war China zur zweitgrößten Weltmacht geworden, sowohl in wirtschaftlicher als auch in militärischer Hinsicht.
Es war offenkundig, dass die chinesischen Kommunisten, die »Chicoms«, die Handelspolitik einschließlich der chinesischen WTO -Mitgliedschaft und des Seidenstraße-Megaprojekts dafür nutzten, das eigene Nationalinteresse zu fördern. Viele der größten global agierenden chinesischen Konzerne waren tatsächlich staatseigene Unternehmen und somit der Kontrolle durch die Partei unterworfen. Im Unterschied dazu übten amerikanische Unternehmen offenbar nur deshalb Einfluss auf die Außenhandelspolitik der Vereinigten Staaten aus, um sich selbst zu bereichern.
Aber das alles war höhere Politik und lag weit außerhalb des Auftrags, den Jack vor sich hatte. Im Moment musste er sich mit viel kleineren Fischen beschäftigen.
Wie viele amerikanische und europäische Unternehmen hatte sich auch Gage Capital Partners um intensive Geschäftsbeziehungen zu China bemüht und zahlreiche Verträge abgeschlossen.
Warum auch nicht? Schließlich war »Business« das, was Amerika ausmachte! Trotzdem kam es Jack so vor, als würden viele Unternehmen größere Wertschätzung auf ihre Gewinne legen als auf ihren Patriotismus. Die Verlagerung von Produktionsstätten ins Ausland, der Import von Produkten, die von China subventioniert wurden und daher viel billiger waren als entsprechende amerikanische Produkte, die Verlegung von Konzernzentralen in Niedrigsteuerländer, um nicht die in den Vereinigten Staaten erhobenen Steuersätze zahlen zu müssen oder in Amerika selbst Billiglöhne zu zahlen – all das waren gängige Praktiken, um die Gewinnmargen der Unternehmen zu steigern. Und alles war vollkommen legal, weil Senatoren wie Dixon entsprechende Gesetze schrieben.
Ganz besonders ärgerte sich Jack über die Scheinheiligkeit, die dahintersteckte. Genau die Großunternehmen, die in den USA völlig legal Steuervermeidung betrieben und Arbeitsplätze ins Ausland verlagerten, waren es auch, die am lautesten nach staatlicher Unterstützung und Schutzmaßnahmen gegen feindliche Regierungen und terroristische Gruppierungen riefen – Hilfsmaßnahmen, die von den Steuern amerikanischer Arbeiter und Angestellter bezahlt werden mussten.
Könnte man dabei nicht wenigstens ein Mindestmaß an Loyalität gegenüber der einfachen Büroangestellten, dem Fließbandarbeiter, dem amerikanischen Normalbürger erwarten? Rücksichtnahme auf amerikanische Jobs? Fairness dem amerikanischen Steuerzahler gegenüber?
Anscheinend nicht.
Jack rieb sich das müde Gesicht. Er merkte, dass seine Gedanken immer häufiger in diese langen, spekulativen Seitenwege abschweiften. Er musste sich unbedingt besser konzentrieren.
Ein besonderes Ergebnis seiner OSINT -Recherche weckte sein Interesse. In einem Newsletter des Alumni-Netzwerks der Stanford Graduate School of Business wurde über die Ernennung von Christopher Gage zum CEO der Gage Group International, eines Transport- und Infrastrukturunternehmens, berichtet.
Interessant.
Jack folgte dieser Spur und entdeckte, dass es ausschließlich Christopher Gage gewesen war, der während der letzten drei Jahre nach Peking gereist war.
Was auch immer es sein mochte, das die Gages in China oder gemeinsam mit den Chinesen planten, für Jack stand jedenfalls fest, dass Christopher ganz offensichtlich als Weichensteller oder Vorreiter fungierte.
Gerry hatte Jack auch auf Chinas BRI -Megaprojekt hingewiesen. Aber er hatte auch erwähnt, dass Senatorin Dixon Präsident Ryans Deal mit Polen abgeschossen hatte – und das war der eigentliche Anlass für Jacks Ermittlungen.
Gab es irgendeine Verbindung zwischen dem Seidenstraßen-Projekt und Polen?
Jack beschloss, noch tiefer zu bohren.
Bald entdeckte er, dass die BRI im Begriff stand, in Danzig Fuß zu fassen – wo sich einer der wichtigsten Häfen der Ostsee befand.
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Die Chinesen stellten Millionenbeträge an Krediten für die nötigen Reparatur-, Umbau- und Renovierungsmaßnahmen der Hafenanlagen, Gleise und Straßen in und um den veralteten Hafen zur Verfügung. Jahrhundertelang war die Stadt eines der größten und reichsten Handelszentren Europas und der Zankapfel großer Mächte gewesen, so etwa des Deutschritterordens, der 1308 die Vorherrschaft über die Stadt erlangte. Mit der neuen Initiative richteten nun die Chinesen ihren Blick auf das Juwel an der Ostsee. Durchaus möglich, dass der Stadt eine neue Blütezeit bevorstand.
Doch dann fand Jack etwas.
Eine kleine Zeitungsnotiz verkündete, dass Christopher Gages neues Unternehmen, Baltic General Services, in Danzig nach einer Immobilie suchte.
Aber war das überhaupt wichtig? Oder war es nur ein Zufall?
Jack notierte die Sache auf einem Klebenotizzettel und heftete ihn an den Rand des Monitors, von wo ihn bereits mehrere andere Notizen anstarrten.
Er konnte nur hoffen, dass ihm eine der Notizen bald weiterhelfen würde.