F ung stand am Stehpult in seinem Büro. Seine Finger flogen über die Tastatur; er analysierte gerade einen neuen Algorithmus, als sein Telefon dudelte.
Ach du Scheiße.
»Hi, Amanda. Was geht?«
»Macht es Ihnen was aus, in mein Büro zu kommen? Dauert nur ein paar Minuten. Ich muss kurz mit Ihnen über eine Sache reden.«
»Kein Problem. Komme sofort.«
Fung legte auf und schluckte heftig. Erst vor ein paar Tagen hatte er die neuesten Daten an CHIBI gemailt. Seither kein Wort von ihm, aber das war nicht ungewöhnlich. Sobald auf Fungs Konto das Geld einging, würde er wissen, dass CHIBI mit der Lieferung zufrieden war.
Er ließ den Blick durch das Großraumbüro hinter der Glaswand schweifen. Fast alle Schreibtische waren besetzt. Er war sicher, dass ihn alle hassten. Sogar die anderen Mitglieder des Red Teams, dessen Leitung Watson ihm übertragen hatte. Natürlich waren die anderen neidisch. Er konnte sich das hämische Grinsen auf ihren Gesichtern lebhaft vorstellen, wenn das FBI in sein Büro stürmte und ihn, Fung, in Handschellen abführte. Schon der bloße Gedanke war schier unerträglich.
Der Teufel soll euch holen.
Fung zog seine Geldbörse heraus. Vier Kreditkarten. Eine war am Limit. Auf seinem Smartphone hatte er Google Pay installiert, für das er eine fünfte Kreditkarte hinterlegt hatte. In der Börse befanden sich zweihundert Dollar und ein wenig Kleingeld in bar. Er könnte sofort das Büro verlassen, nach Hause fahren, seinen Pass einstecken, ein paar Klamotten packen und verschwinden. Aber wohin könnte er fliehen? Thailand, um mit Torré zusammen zu sein? Nein, das wäre zu riskant – dort würden sie zuerst nach ihm suchen.
»Durchatmen«, mahnte er sich. Auf keinen Fall durfte er jetzt überstürzt reagieren. Watsons Anruf hatte wahrscheinlich gar nichts zu bedeuten.
Wahrscheinlich.
Zögernd näherte sich Fung Watsons Schreibtisch.
Sie telefonierte gerade. Er signalisierte ihr, dass er später wiederkommen werde, aber sie verzog nur kurz das Gesicht, schüttelte den Kopf und deutete auf einen der Besucherstühle vor ihrem Schreibtisch.
Fung ließ sich in die Sitzschale aus laminiertem, nachfederndem Sperrholz fallen. Die Aussicht von Watsons Eckbüro war etwas, wofür sich zu sterben lohnte. Natürlich hatte sie das Eckbüro, schließlich war sie Dahms Favoritin, nicht wahr?
Fick dich, Watson . Sie war einfach zu dumm, um zu merken, dass sie ihm, Fung, den Schlüssel zur IC -Cloud überlassen hatte, oder jedenfalls einen Teil davon, wodurch er einen Weg entdeckt hatte, wie er sich Zugriff auf die Daten der CIA -Kommunikationssatelliten verschaffen konnte.
Fungs Blick schweifte zu den gerahmten Fotos, die hinter ihr an der Wand hingen. Die meisten zeigten Watson mit diversen VIP s, darunter Schauspieler, Popstars und Politiker, die Hämmer oder Sägen in den Händen hielten und mit ihr gemeinsam so taten, als würden sie Häuser für die kriegsversehrten und obdachlosen Veteranen zimmern helfen, die von der gemeinnützigen Stiftung Homes for Heroes gebaut wurden, die Watson zu Ehren ihres in irgendeinem bescheuerten Krieg gefallenen Bruders gegründet hatte.
Das größte Foto zeigte Watson, Senatorin Dixon und deren Mann Aaron Gage. Alle drei trugen Schutzhelme und -brillen und strahlten breit in die Kamera. Der Dixon-Gage Charitable Trust war der größte Sponsor von Watsons Homes for Heroes, und Watson sorgte unermüdlich dafür, dass niemand diese Tatsache vergaß. Für sie, aber auch für Dixon und Gage, bedeutete das unschätzbar wertvolle Publicity. Mann, ich bin ja nicht blöd , dachte Fung. Auch er selbst hatte Geld für Watsons Stiftung gespendet. Büropolitik und so weiter.
Außerdem hing auch ein gerahmtes Sternenbanner an der Wand, das Geschenk eines Ortsvereins der Disabled American Veterans, mit einer Plakette auf dem Rahmen, wonach die Flagge einst über der USS Arizona geweht hatte, einem der Schlachtschiffe, die 1941 vor Pearl Harbor vernichtet worden waren.
Daneben hing ein Schaukasten, in dem die militärischen Abzeichen, Medaillen und Bänder ihres gefallenen Bruders präsentiert wurden, zusammen mit seinem Foto in der Uniform der U.S. Army.
Sah gut aus, der Bursche. Verdammt schade, dachte Fung.
»Tut mir leid, dass Sie warten mussten«, sagte Watson, nachdem sie das Telefonat beendet hatte. »Danke, dass Sie gleich kommen konnten.«
»Kein Problem. Was ist los?«
»Zuerst einmal – wie kommt Ihr Vater mit der Chemo zurecht?«
Wut kochte in Fung hoch. Er konnte nur hoffen, dass sie ihm nicht anzusehen war. Sein Vater hatte sich unbedingt einer experimentellen Krebsbehandlungsmethode unterziehen wollen, die jedoch von seiner Krankenversicherung nicht übernommen wurde. Natürlich hatte er erwartet, dass sein Sohn pflichtgemäß dafür bezahlen würde. Und nicht nur für die Behandlungskosten, sondern auch für eine Kreuzfahrt nach Hawaii, die seine Eltern für den kommenden Monat gebucht hatten.
»Es geht ihm gut.«
»Wenn Sie mir die Bemerkung erlauben – Ihr Gesichtsausdruck zeigte gerade das Gegenteil. Kann ich irgendwie helfen?«
»Sie könnten versuchen, meinen Vater zu überreden, mit dem Rauchen aufzuhören. Er besticht sogar seine Pflegerinnen, damit sie ihn immer wieder mit ein paar Päckchen Newports versorgen. Zwei Pflegerinnen habe ich schon feuern müssen.«
»Eltern«, seufzte Watson kopfschüttelnd. »Schwierig, sie umzuerziehen. Und noch schwieriger, sich neue zu suchen. Tut mir leid.« Sie trank einen Schluck Kräutertee aus einem Keramikbecher mit dem Homes-for-Heroes-Logo, der immer auf ihrem Schreibtisch stand.
»So ist es eben.«
»Und wie geht’s Torré?«
Fungs Miene hellte sich auf. »Ich habe gestern Abend mit ihm telefoniert. Bei ihm ist alles in Ordnung. Noch drei Monate Hormonersatztherapie, dann kann er sich operieren lassen.«
»Das klingt wunderbar. Ich freue mich so sehr für Sie beide.«
»Ich würde alles tun, um ihn glücklich zu machen. Ich wünschte nur, er wäre nicht so weit weg von hier. Aber Thailand ist für ihn wirklich die beste Wahl.«
Watson beugte sich ein wenig vor. »Sie sind ein sehr großzügiger Mensch, nicht wahr?«
Fung deutete auf die Fotos an der Wand hinter ihr. »Wir alle hier versuchen zu helfen, so gut wir können, nicht wahr?«
Watson lächelte und lehnte sich wieder zurück. »Ja, ich denke schon. Aber von Ihnen könnte ich noch viel lernen.«
»Das sagen ausgerechnet Sie? Vielleicht müssen Sie mir irgendwann zeigen, wie man eine eigene Stiftung gründet.«
»Klar doch, jederzeit.« Sie griff nach ihrer Börse und zog eine Visitenkarte heraus. »Scott Shelby ist Jurist und zertifizierter Wirtschaftsprüfer. Er hat den gesamten Papierkram für Homes for Heroes erledigt. Der perfekte Mann für solche Fragen.«
Fung betrachtete die Karte aus Höflichkeit so lange wie nötig, sagte artig »Danke« und steckte sie ein.
So weit, so gut.
»Ich habe noch nichts darüber gehört, wie Ihre Besprechung in D.C. lief«, sagte er.
»Oh, gut. Sehr gut sogar. Die IC -Cloud ist luft- und wasserdicht und läuft wie eine Schweizer Markenuhr. Und darüber wollte ich heute mit Ihnen sprechen.«
Jetzt kommt es.
»Worüber genau?«
»Über die Sicherheit der IC -Cloud. Sie ist zu gut.«
»Und das ist ein Problem?«, fragte Fung verblüfft.
»Ja. Für die IC -Community, aber auch für uns.«
»Warum denn das?«
»Ich habe allmählich das Gefühl, dass manche dieser Abteilungsleiter ein wenig zu selbstzufrieden werden. Sie müssen daran erinnert werden, dass sie genauso für ihre eigene Sicherheit verantwortlich sind wie wir.«
»Sicher, das wäre sinnvoll. Aber inwiefern betrifft das uns?«
»Wenn Foley und die Abteilungsleiter sämtlicher Geheimdienste zu glauben anfangen, dass sie unverwundbar sind, gibt es für sie keinen Grund mehr, unsere Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Oder jedenfalls nicht für die Sicherheit. Und ich muss Ihnen ja nicht erst erklären, dass wir den größten Teil unserer Gewinne mit Serviceleistungen erzielen, nicht mit dem Hardware- oder Softwareumsatz.«
»Soll heißen, wir sind wie Polizisten, die ins Büro des Bürgermeisters einbrechen, damit er merkt, dass es zu viel Kriminalität gibt und er mehr Geld einsetzen muss, um die Polizisten gut zu bezahlen?«
»Genau, oder noch besser, dass er mehr Polizisten braucht. Deshalb wollte ich mit Ihnen über den nächsten Red-Team-Angriff reden. Wie weit sind wir mit dem PassPrint-Programm?«
Watson meinte damit ein CloudServe-Forschungsprojekt, das von Fung geleitet wurde. Ziel des Projekts war es, auf der Grundlage von Fingerabdrücken, die durch künstliche Intelligenz generiert wurden, einen »PassPrint-Masterkey« zu entwickeln.
Theoretisch ist jeder menschliche Fingerabdruck einzigartig, weshalb, ebenfalls theoretisch, nur der Mensch, dem dieser Fingerabdruck gehört, einen Zugang passieren kann, der durch einen biometrischen Fingerabdruckscanner gesichert wird. Die Nachrichtendienstgemeinde hatte längst auf volle biometrische Sicherheitsverfahren umgestellt; die dabei verwendeten Fingerabdruckscanner waren auf dem höchsten und neuesten Stand der Technik.
Dennoch wies jede biometrische Identifizierungsmethode auch Lücken auf, sogar die teuersten Systeme, die von der Bundesregierung in Washington, D.C. bevorzugt eingesetzt wurden, und das galt auch für das System, das auf Watsons Desktop und Laptop installiert war.
Fingerabdrucksensoren funktionieren so ähnlich wie ein Virenscanner im Computer – durch den Vergleich von Dateninputs: Ein Finger wird auf einen Sensor gelegt, der ein Abbild der Papillarlinien des Fingers als biometrische Messdaten erfasst und mit einer Datenbank abgleicht, in der die sogenannten »Referenzabdrücke«, also die Fingerabdrücke aller Zugangsberechtigten, gespeichert sind. Ergibt der neue Scan einen Treffer, schaltet das System den Eintritt für die betreffende Person frei.
Das Problem besteht nun darin, dass meistens keine vollständigen Fingerabdruckscans an die Datenbank geliefert werden, aus welchen Gründen auch immer. In den meisten Fällen liegt der Fehler bei den jeweiligen Personen, etwa, weil sie fettige oder ölverschmierte Finger auf den Scanner legen oder weil die Scannerscheibe zu klein oder teilweise verschmutzt ist. Aber der Fehler beeinträchtigt dann auch das Ergebnis am anderen Ende des Prozesses: Mit ölverschmierten Fingern oder schmutzigem Scannerglas lassen sich eben nur teilweise korrekte Abdrücke erfassen.
Folglich können biometrische Scanner nur Teilabdrücke mit Teilabdrücken vergleichen.
Wie gesagt, man ist sich heutzutage fast sicher, dass jeder vollständige menschliche Fingerabdruck einzigartig ist. Aber Teile von Fingerabdrücken – Schleifen, Bogen, Wirbel – weisen erstaunliche Ähnlichkeiten auf.
Das Red Team hatte sich zum Ziel gesetzt, diese potenziellen Lücken auszunutzen. Das Team wollte ein auf künstlicher Intelligenz basierendes Programm entwickeln, das aus Millionen falscher beziehungsweise gefälschter Fingerabdrücke einen einzigen, universellen Abdruck, einen »PassPrint-Masterkey«, generierte, so ähnlich wie die Generalschlüsselkarten, mit der die Zimmerreinigung jedes Hotelzimmer aufschließen kann, auch wenn jede Tür durch einen eigenen Schließcode gesichert ist. Indem das Team genügend digitale Schleifen, Bögen und Wirbel kreierte, würde der damit erzeugte PassPrint-Masterkey genügend Fingerabdruck-Ähnlichkeiten aufweisen, um jedes biometrische System auszutricksen.
»Gestern Abend habe ich die letzten Simulationen durchgeführt«, antwortete Fung und fügte lächelnd hinzu: »Ich glaube, wir haben einen Sieger gefunden.«
»Das ist fantastisch! Auch deshalb, weil ich inzwischen den perfekten Weg entdeckt habe, wie wir den PassPrint-Masterkey einsetzen können.«